1 Einleitung

Die gleichzeitig stattfindenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt am 13. März 2016 endeten mit überraschenden Wahlausgängen: In allen drei Bundesländern gab es rechnerisch keine Mehrheit für die auf Bundes- und Landesebene etablierten, lagerinternen Koalitionen aus CDU und FDP sowie SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Darüber hinaus reichte es in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt für Christ- und Sozialdemokraten nicht einmal zusammen zu einer absoluten parlamentarischen Mehrheit – selbst die Bildung einer „großen Koalition“, die bis dahin (fast) immer möglich war, stellte sich für beide Parteien als aussichtslos dar. Nach wochenlangen Koalitionsverhandlungen bildeten sich drei Landesregierungen, deren Zusammensetzung von politischen Beobachtern und den Medien als „ungewöhnlich“ – da nicht-etabliert oder sogar gänzlich neuartig – bezeichnet wurden (vgl. u. a. Fischer und Wischmeyer 2016): ein grün-schwarzes Bündnis aus Grünen und CDU in Baden-Württemberg, eine „Ampel“-Koalition aus SPD, Grünen und FDP in Rheinland-Pfalz und eine „Kenia“-Koalition aus CDU, SPD und Grünen in Sachsen-Anhalt. Der sehr deutliche Einzug der Alternative für Deutschland (AfD) in alle drei Landesparlamente erschwerte die Regierungsbildung, da ihre parlamentarische Existenz das eingeübte Koalitionsspiel und die Anzahl der Regierungsalternativen der anderen Parteien fundamental änderte. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, die Bildung dieser „ungewöhnlichen“ Koalitionen allein auf den Wahlerfolg einer als nicht-regierungsfähig angesehenen Partei zurückzuführen. Weitere „Ampel“-Koalitionen (Brandenburg 1990; Bremen 1991), schwarz-grüne Bündnisse (Hamburg 2008; Hessen 2013) und die saarländische „Jamaika“-Koalition aus CDU, FDP und Grünen 2009 wurden gebildet, ohne dass hierbei die AfD oder ähnliche populistische Parteien eine gewichtige Rolle spielten. Demnach muss es allgemeinere Faktoren geben, die zur Bildung neuer Koalitionen führen. Deshalb wird in diesem Beitrag die folgende Forschungsfrage beantwortet: Welche Bestimmungsfaktoren sind erforderlich, damit in den deutschen Bundesländern bislang nicht-etablierte Koalitionen gebildet werden?

In der Fragestellung ist bereits unsere theoretische Erwartung angelegt, dass es nicht nur einen einzigen Bestimmungsfaktor für die Bildung solcher Koalitionen geben sollte; vielmehr gehen wir von einer Kombination verschiedener Determinanten aus. Um solche potenziell unterschiedlichen Settings von Rahmenbedingungen identifizieren zu können, führen wir eine crisp-set Qualitative Comparative Analysis (csQCA) durch. Ziel des Beitrages ist es, die Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, unter denen Parteien „innovativ“ handeln und von eingeübten Pfaden der Koalitionsbildung abweichen, um bislang in den jeweiligen Bundesländern „ungetestete“ Koalitionen zu erproben. Unsere Analyse umfasst 20 nicht-etablierte Koalitionen in den deutschen Bundesländern zwischen 1990 und 2016. Diese geringe Fallzahl erlaubt zum einen keine Anwendung der in der quantitativ ausgerichteten Koalitionsforschung üblichen Discrete-Choice-Modelle (Bräuninger und Debus 2012; Glasgow et al. 2012; Martin und Stevenson 2001), zum anderen sind wir daran interessiert, den Einfluss verschiedener, durchaus auch in Kombination auftretender, Kausalfaktoren aus der Koalitionsforschung auf die Bildung neuer Koalitionsformate zu überprüfen. Im Unterschied zu qualitativ-vergleichenden Fallstudien ermöglicht die QCA die Identifizierung notwendiger und hinreichender Bedingungen (Ragin 1989), die zur Bildung „untypischer“ Landesregierungen führen.

Die wissenschaftliche Relevanz des Beitrags ist sowohl inhaltlicher als auch methodischer Natur. Inhaltlich trägt die Analyse nicht-etablierter Koalitionsoptionen zur Regierungsbildungsforschung in den deutschen Bundesländern bei und liefert in systematisch-vergleichender Weise neue Erklärungsmuster für die Bildung „innovativer“, von den politischen Akteuren neu auszutestende, Koalitionsmöglichkeiten. Methodisch stellt die Studie einen Beitrag zur Anwendung von QCA im Bereich der Koalitionsforschung dar, die bisher nahezu ausschließlich von quantitativ-empirischen Arbeiten geprägt wird (vgl. jedoch Keudel-Kaiser 2016).

Im nächsten Abschnitt definieren wir unser Konzept „nicht-etablierter“ Koalitionen. In Abschn. 3 werden die zentralen Koalitionstheorien und ihre potenzielle Erklärungskraft für die Bildung nicht-etablierter Koalitionen in den deutschen Bundesländern dargestellt. Im vierten Abschnitt präsentieren wir unsere methodische Vorgehensweise sowie die Operationalisierung nicht-etablierter Koalitionen und der jeweiligen theoretischen Erwartungen. Im fünften Abschnitt diskutieren wir die Ergebnisse der csQCA. Abschließend fassen wir die zentralen Erkenntnisse unseres Beitrags zusammen und geben einen Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf hinsichtlich der Erklärung nicht-etablierter Koalitionen.

2 Was sind nicht-etablierte Koalitionen?

Wir verstehen unter nicht-etablierten Koalitionen eine Kombination von Parteien, die zum Zeitpunkt der jeweiligen Regierungsbildung noch nicht auf der Bundesebene oder im betreffenden Land miteinander koaliert haben (vereinfacht ausgedrückt also „neue“ Koalitionsformate) und sich in einer kleinstmöglichen Gewinnkoalition – der „typische[n] Koalitionsentscheidungssituation in den deutschen Ländern“ (Pappi und Seher 2014, S. 196) – zusammenfinden.

Unser Konzept „nicht-etablierter Koalitionen“ lässt sich durch vier zentrale Kriterien definieren, die im Folgenden näher erläutert werden. Erstens ist zu klären, welche Koalitionsformate allgemein als „innovativ“ einzuordnen sind. Grundsätzlich unterliegt diese Einteilung einer zeitlichen Dynamik, d. h. neuartige Koalitionsformate können sich zu etablierten Optionen wandeln, wenn sie häufig genug gebildet wurden, während vormals ausgeschlossene Koalitionen zu potenziellen Regierungsoptionen werden oder Veränderungen des Parteiensystems völlig neue Regierungsalternativen ermöglichen. Dementsprechend sollten für die Regierungsbildung relevante Rahmenbedingungen, die dieser zeitlichen Dynamik unterliegen, möglichst stabil gehalten werden. Hierbei werden von der Koalitionsforschung insbesondere die Fragmentierung und das Format des Parteiensystems als entscheidende Bestimmungsfaktoren herausgearbeitet (die spezifische Rolle dieser Faktoren werden im fünften Abschnitt näher beleuchtet). Daher ist es sinnvoll, den Untersuchungszeitraum unserer Analyse an diese Aspekte zu knüpfen. Wir haben uns deshalb entschieden, die Untersuchung mit dem Startpunkt der aktuellen Phase des bundesdeutschen „fluiden Fünfparteiensystems“ im Jahr 1990 zu beginnen.Footnote 1 Dementsprechend sind alle Regierungen, die nicht zu den Optionen des älteren Zweieinhalb- bzw. Drei-Parteiensystems (sozial-liberal, christlich-liberal oder große Koalition) gehören, in der vorliegenden Untersuchung als nicht-etablierte Koalitionen zu verstehen. Der Begriff geht damit zum einen über die Formulierung „lagerübergreifender Koalitionen“ (vgl. Spier 2010) hinaus, da wir auch Parteienbündnisse innerhalb eines politischen Lagers, bspw. rot-rot-grüne Bündnisse zwischen SPD, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen, als neuartig ansehen. Zum anderen können nicht-etablierte Koalitionen auch nur aus zwei Parteien bestehen; sie sind deshalb nicht eingeschränkt auf „komplexe Koalitionen“ (vgl. Klecha 2011), die von mindestens drei Parlamentsfraktionen getragen werden. Vielmehr ist unser Konzept bewusst weit gefasst, um einerseits ein hohes Maß an inhaltlicher Heterogenität zwischen den Koalitionären zuzulassen und um andererseits formale Beschränkungen auf ein Mindestmaß an erforderlichen Rahmenbedingungen (scope conditions) zu beschränken. Es kann daher auch problemlos auf erst zukünftig entstehende Koalitionsoptionen angewendet werden und ist unabhängig von einem spezifischen Format des Parteiensystems.

Zweitens sind Koalitionen auch dann als nicht-etabliert zu bewerten, wenn die Parteienkombination zwar nicht „neu“ ist, sie aber in einem Bundesland mit vertauschten Rollen zustande kommt. Vereinfacht ausgedrückt: Die Position des MinisterpräsidentenFootnote 2 wird nicht von einer der beiden „Volksparteien“, sondern den bundesweit „kleinen“ Parteien gestellt. Dies begründet sich einerseits aus der für SPD und CDU neuartigen Entscheidungssituation, nicht Formateur, sondern nur Juniorpartner der Koalition zu werden, während umgekehrt Bündnis 90/Die Grünen oder DIE LINKE davorstehen, nicht nur Teil der Regierung zu sein, sondern diese auch zu führen. Andererseits kommt dieser Personalfrage eine herausgehobene Rolle bei den Koalitionsverhandlungen zu. Gerade den „Volksparteien“ sollte die Aufgabe ihres politischen Führungsanspruchs zugunsten der „Newcomer“ besonders schwerfallen und daher eine Entscheidungssituation erzeugen, die höchstens bedingt der eines etablierten Koalitionsformats entspricht (Oppelland und Träger 2016, S. 26).

Drittens ist das erstmalige Auftreten einer neuartigen Koalitionskonstellation in einem einzelnen Bundesland nicht mit einer sofortigen „Normalisierung“ dieses Regierungsformats gleichzusetzen. Oftmals sind es spezifische Charakteristika der Parteiensysteme oder der individuellen Parteien der einzelnen Länder (Müller 2009a), die innovative Koalitionen begünstigen und daher eine zeitlich unmittelbare Implementierbarkeit eines neuen Koalitionsformats in anderen Bundesländern verhindern (Bräuninger und Debus 2008, S. 321–323, 334 f.). Um dies angemessen zu berücksichtigen und um über diese landespezifischen Bedingungen hinausgehende, verallgemeinerbare Erklärungsfaktoren identifizieren zu können, betrachten wir alle Koalitionen als nicht-etabliert, solange sie im betreffenden Bundesland noch nie regiert haben.Footnote 3

Viertens nehmen wir an, dass Koalitionskonstellationen nicht mehr als „ungewöhnlich“ anzusehen sind, wenn diese bereits auf Bundesebene gebildet wurden. Die Bundesländer gelten als „Testlabore“ für noch nicht gebildete Koalitionskonstellationen im Bund (Switek 2010, S. 341), sodass spätestens mit der Regierungsbildung auf nationaler Ebene die Etablierung einer Koalitionskonstellation einhergeht. So wurde beispielsweise die Bildung der rot-grünen Bundesregierung 1998 als zentrales Etablierungskriterium für Koalitionen aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen angesehen (Egle et al. 2003, S. 10 f.; Niedermayer 1999, S. 31). Dieser Überlegung folgend werten wir rot-grüne Bündnisse ab 1998 als allgemein „etablierte“ Koalitionen.Footnote 4 Für diese, durchaus diskutable, Einschätzung stützen wir uns auf das tatsächliche Koalitionsverhalten beider Parteien in rot-grünen Landesregierungen. So wurden bis 1990 lediglich in drei Bundesländern (Hessen 1985, West-Berlin 1989 und Niedersachsen 1990) rot-grüne Bündnisse gebildet, von denen sowohl die hessische Koalition als auch das Berliner Bündnis vorzeitig auseinanderbrachen. Die erste rot-grüne Koalition, die eine vollständige Legislaturperiode regierte, endete 1994 in Niedersachsen. Es kann daher zu diesem Zeitpunkt kaum von einer ausreichenden „Erprobung“ der rot-grünen Regierungsoption die Rede sein.Footnote 5

3 Koalitionstheorien und die Regierungsbildung in den deutschen Bundesländern

Die theoretischen Ansätze zur Erklärung von Regierungsbildungen und ihre empirischen Überprüfungen auf nationaler und subnationaler Ebene sind zahlreich (Bräuninger und Debus 2008, 2012; Buzogány und Kropp 2013; De Winter 2002; Glasgow et al. 2012; Martin und Stevenson 2001, 2010; Mitchell und Nyblade 2010; Müller 2009b; Nyblade 2013). Den einzelnen Koalitionstheorien liegen hierbei vorrangig die Annahmen zugrunde, dass Parteien zum einen nach Ämtern streben (office-seeking), zum anderen aber auch ihre politischen Inhalte durchsetzen (policy-seeking) und ihren eigenen Wählerstimmenanteil erhöhen (vote-seeking) möchten (Müller und Strøm 1999). Diese Ziele können von den Parteien gleichzeitig verfolgt oder aber auch hierarchisiert werden. Im Folgenden werden nicht die allgemeinen Theorien der Koalitionsbildung, ihre Annahmen und Kritikpunkte vorgestellt (siehe hierzu Gross 2016, S. 59–86), sondern ausschließlich die empirischen Ergebnisse zur Regierungsbildung in den deutschen Bundesländern diskutiert.

Knapp drei Viertel aller Koalitionsbildungen in den deutschen Bundesländern lassen sich bereits mit einigen wenigen office- und policy-seeking-Variablen und unter Berücksichtigung zusätzlicher kontextueller Faktoren erklären (Bräuninger und Debus 2008, 2012). Es sind vor allem kleinstmögliche Gewinnkoalitionen, Bündnisse unter Einschluss der Partei mit den meisten Parlamentssitzen und Koalitionen mit geringen programmatischen Unterschieden in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen, die eine höhere Wahrscheinlichkeit zur Bildung der nächsten Landesregierung besitzen. Darüber hinaus sind potenzielle Koalitionen umso wahrscheinlicher, wenn es sich bei ihnen um die bereits amtierende Landesregierung handelt, die Parteien während des Wahlkampfs eine gemeinsame Koalitionsaussage getroffen haben, und wenn die potenziellen Koalitionen ausschließlich Parteien umfassen, die zum Zeitpunkt der Regierungsbildung auch auf Bundesebene in dieser Zusammensetzung miteinander koalieren (siehe auch Däubler und Debus 2009; Debus und Müller 2013a). Hierbei ist der incumbency-Effekt der Einzelfaktor mit dem höchsten Erklärungsgehalt für die Regierungsbildung in den Bundesländern, da es sich bei über 45 % aller Landesregierungen zwischen 1990 und 2007 um bereits zuvor amtierende Koalitionen handelte (Bräuninger und Debus 2008, S. 325, 329; vgl. auch Pappi et al. 2005).Footnote 6

Sogenannte cross-cutting coalitions bzw. inkongruente Koalitionen, d. h. Bündnisse, die Parteien umfassen, die sich auf Bundesebene sowohl in der Regierung als auch in der Opposition befinden (Däubler und Debus 2009), sind dagegen die unwahrscheinlichsten Regierungsoptionen. Landesparteien (und ihre nationalen Parteiführungen) versuchen solche Situationen zu vermeiden, da sie sich im Koalitionsvertrag auf eine Bundesratsklausel einigen und sich demnach bei Abstimmungen im Bundesrat enthalten, wobei diese Stimmen jedoch wie „Nein“-Stimmen behandelt werden. Hierdurch können Blockadesituationen entstehen, die auf Seiten der nationalen Parteien und der Landesparteien mit höheren Verhandlungs- und Transaktionskosten einhergehen. Diese Vermeidungsstrategie ist jedoch wegen der ansteigenden Fragmentierung des Parteiensystems als zunehmend erfolglos bzw. unbedeutender für die Regierungsbildung zu betrachten, da zwischen 1990 und 2005 bereits nahezu doppelt so viele inkongruente Regierungen zustande kamen wie im Zeitraum 1961–1990 (Detterbeck und Renzsch 2008, S. 48 f.).Footnote 7

Die Bildung von Landesregierungen, die nicht dem Koalitionsmuster der Bundesregierung entsprechen, wird jedoch umso wahrscheinlicher, je mehr sich das jeweilige Landes- vom Bundesparteiensystem unterscheidet (Bäck et al. 2013). Dies spielt bei der Erklärung nicht-etablierter Koalitionen auf Landesebene unmittelbar eine Rolle. Verschieben sich die Stimmengewichte der in den letzten Jahren auf Bundesebene vertretenen Parteien in hohem Maße zugunsten neuer „Herausfordererparteien“ (Hino 2012; Hobolt und Tilly 2016), so sollten die „typischen“ Koalitionsmuster über keine Mehrheit mehr verfügen, sodass sich neue Koalitionskonstellationen finden müssen. Darüber hinaus können sich Landesparteiensysteme vom Bundesparteiensystem vor allem dann unterscheiden, wenn Parteien in Landtage einziehen, denen auf nationaler Ebene der Einzug in den Bundestag verwehrt geblieben ist.

Der kritische Punkt des Forschungsstandes und Ansatzpunkt unserer Arbeit ist, dass sich bisherige Untersuchungen fast ausschließlich darauf konzentrieren, allgemeine Erklärungsfaktoren für das Zustandekommen von Koalitionsregierungen auf Länderebene zu identifizieren. Ziel ist es hierbei, die Variablen zu bestimmen, die die beste Vorhersagewahrscheinlichkeit für die tatsächlich gebildeten Regierungskonstellationen haben, es werden also insbesondere die am häufigsten auftretenden Koalitionen in den Fokus genommen (Bräuninger und Debus 2008, 2012; Pappi et al. 2005), während „ungewöhnliche“ Koalitionen (Minderheitsregierungen, übergroße Bündnisse, neue Koalitionen) nur bedingt erklärt oder als Anomalien behandelt werden (vgl. auch Keudel-Kaiser 2016). Grundlage hierfür ist, dass die betroffenen Akteure (der theoretischen Erwartung folgend) letztendlich Bündnisse präferieren sollten, die für sie den größtmöglichen Gewinn versprechen, wobei dieser bei bereits erfolgreich erprobten (insbesondere lagerinternen) minimalen Gewinnkoalitionen am sichersten sein sollte, da sie auf Erfahrungswerte mit einer solchen Koalition zurückgreifen können. Die Bildung bislang „ungetesteter“ Koalitionsformate ist dagegen nicht a priori nutzenmaximierend, da ihr Erfolg stets ungewisser und ihr policy- bzw. office-Nutzen nur in seltenen Fällen größer ausfällt als bei etablierten Regierungsoptionen. Der Forschungsstand erlaubt es daher, zwar „typische“ Koalitionsbildungen recht verlässlich vorauszusagen, offeriert aber kaum belastbare Erkenntnisse darüber, unter welchen Bedingungen politische Akteure sich für Bündnisse entscheiden, die nicht den maximal möglichen benefit erzielen (vgl. allerdings Spier 2010 zur Erklärung lagerübergreifender Koalitionen). Welche grundlegenden Rahmenbedingungen für die Bildung eben solcher Koalitionen verantwortlich sind, gilt es in diesem Beitrag zu ergründen.

4 Methode, Fallauswahl und Operationalisierung

4.1 Methodische Vorgehensweise: Crisp-Set Qualitative Comparative Analysis (csQCA)

Aufgrund der Überlegung, dass verschiedene Einflussfaktoren zur Erklärung nicht-etablierter Koalitionen eventuell erst in Kombination Wirkung entfalten, greifen wir auf das mengentheoretische Verfahren der QCA (vgl. u. a. Ragin 1989, 2000, 2008; Schneider und Wagemann 2012) zur Überprüfung der Hypothesen zurück. Ein erster Vorteil dieses Analyseverfahrens ist, dass es die Möglichkeit zulässt zu überprüfen, inwieweit einzelne Bedingungen erst kombiniert zum Auftreten eines Outcomes (in unserem Fall: die Bildung einer nicht-etablierten Koalition) führen und ob es eventuell mehrere Kausalpfade gibt, die das Outcome erklären können. Die Analyse nicht-etablierter Koalitionen ist hierbei ein geeignetes Anwendungsfeld für eine QCA, da in der Koalitionsforschung zwar eine Vielzahl an Erklärungsfaktoren zur Bildung von Koalitionen aufgeführt, diese einzelnen Faktoren allerdings als lineare additive Effekte angesehen werden. Es wird demnach angenommen, dass statistisch signifikante, unabhängige Variablen unabhängig voneinander die Bildungswahrscheinlichkeit potenzieller Koalitionen erhöhen. Dies ist eine sehr starke Annahme, wenn man sich vor Augen führt, dass viele soziale Phänomene – darunter sollte auch die Koalitionsbildung fallen – bereits von Natur aus sehr komplex sind (Ragin 1989). Wir gehen damit von einer „kausalen Komplexität“ (Ragin 1989) bei der Koalitionsbildung aus, die sich durch notwendige und hinreichende Bedingungen – in Kombination oder alleine – auszeichnet.

Ein zweiter Vorteil der QCA ist, dass diese im Unterschied zu statistischen Verfahren nicht nur die Analyse der tatsächlich erfolgten Koalitionsbildung erlaubt, sondern auch in systematisch-vergleichender Weise die Einbeziehung spezifischer Bedingungen, die zur Nicht-Bildung von bestimmten Koalitionen führen könnten, berücksichtigt. Mit anderen Worten: QCA ermöglicht es uns, diejenigen Fälle systematisch-vergleichend zu analysieren, in denen für die politischen Akteure rechnerisch die Möglichkeit zur Bildung einer „untypischen“ kleinstmöglichen Gewinnkoalition bestand und sich die politischen Akteure in einigen Fällen für und in manchen Fällen gegen die Bildung nicht-etablierter Koalitionen entschieden haben.

Wir verwenden die crisp-set-Variante von QCA, da wir sowohl beim Outcome als auch bei den einzelnen Bedingungen davon ausgehen, dass die jeweiligen Fälle entweder Vollmitglied in einem Konzept sind (Wert 1) oder den entsprechenden Faktor überhaupt nicht aufweisen (Wert 0).

4.2 Operationalisierung des Outcomes: Die Bildung einer nicht-etablierten Landesregierung

Grundvoraussetzung zur Erzielung verlässlicher Ergebnisse im Rahmen von QCA-Verfahren ist eine bewusste und problemorientierte Fallauswahl, da durch den strikt Logik-basierten Ergebnisaufbau bereits einzelne ungeeignete Fälle das Gesamtergebnis entscheidend verzerren können. Dementsprechend wird zunächst eine Reihe von Voraussetzungen entworfen, die sicherstellen soll, dass in den zu untersuchenden Regierungsbildungssituationen vergleichbare Ausgangsbedingungen für das Entstehen einer nicht-etablierten Koalition herrschten. Zur Eingrenzung der zu untersuchenden Fälle ist es von Bedeutung, zwischen zwei verschiedenen Bezugspunkten einschränkender Kriterien zu unterscheiden. So müssen einerseits bestimmte Fälle aufgrund ihres tatsächlichen Outcomes (der letztendlich gebildeten Regierung) ausgeschlossen werden. Andererseits kann ein Ausschluss aber auch auf Basis der möglichen Outcomes (den vorhandenen Koalitionsoptionen) notwendig sein. Dies wird im Folgenden bei der Darstellung der konkreten Fallauswahl ausführlicher erläutert.

Für die Fallauswahl werden folgende Voraussetzungen verwendet, wobei die Kriterien aufeinander aufbauend formuliert sind, so dass nachfolgende Kriterien die Erfüllung der vorhergehenden voraussetzen:

  1. 1.

    Das Ergebnis der Regierungsbildung muss eine kleinstmögliche Gewinnkoalition sein, d. h. alle Minderheitsregierungen, „übergroßen“ Koalitionen und Einparteienregierungen werden aus der Analyse ausgeschlossen.

  2. 2.

    Mindestens eine nicht-etablierte Koalitionsoption muss rechnerisch über eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze verfügen.

  3. 3.

    Nicht-etablierte Regierungsalternativen, die aus CDU/CSU und DIE LINKE sowie CDU/CSU und den Piraten bestehen oder Parteien am rechten Rand des ideologischen Spektrums (bspw. AfD, DVU, NPD, REP) enthalten, werden aus Gründen ideologischer Inkompatibilität als nicht realisierbar bewertet und daher auch nicht als Regierungsoption gezählt.Footnote 8

4.2.1 Kriterium Nr. 1: Analyse kleinstmöglicher Gewinnkoalitionen

Unser erstes Kriterium hat die Aufgabe, Minderheitsregierungen, „übergroße“ Koalitionen und Einparteienregierungen als potenzielle Störfälle zu entfernen. Erstens ist der Umgang mit Minderheitsregierungen innerhalb der vorliegenden Untersuchung aus mehreren Gründen problematisch. Diermeier et al. (2003, S. 54) argumentieren, dass die Entscheidung über die Bildung einer spezifischen Koalition davon abhängig sei, ob der Trade-off zwischen einer potenziell längeren Regierungsdauer und der erforderlichen Machtteilung mit einem Partner positiv ausfällt. Für Deutschland stellen die Autoren (wenn auch bezogen auf die nationale Regierung) den höchsten Anteil an kleinstmöglichen Gewinnkoalitionen, den niedrigsten Anteil an Minderheitsregierungen und eine hohe durchschnittliche Regierungsdauer gegenüber den europäischen Vergleichsländern fest (Diermeier et al. 2003, S. 44). Aus diesen Ergebnissen kann bereits eine grundlegende Präferenz deutscher Parteien zugunsten von Mehrheitsregierungen abgeleitet werden, die sich auch bei der Bildung von Landesregierungen nachweisen lässt (vgl. Bräuninger und Debus 2008, 2012; Pappi et al. 2005). Unklar ist allerdings, ob dieser Präferenzbonus auch existiert, wenn der Formateur nur zwischen nicht-etablierten Mehrheitskoalitionen und etablierten Minderheitsregierungen wählen kann. Letztendlich beruht die Bewertung des von Diermeier et al. (2003) beschriebenen Trade-offs nämlich auf der Verlässlichkeitsbewertung der Koalitionspartner. Über diese können aber nur informierte Kalkulationen auf Basis von gemeinsamer Regierungserfahrung gefällt werden, was Franklin und Mackie (1983) in ihrem Konzept der „familiarity“ fassen. Die familiarity (bzw. der hieraus erwachsende Nutzen) für nicht-etablierte Koalitionen beträgt jedoch immer Null, da die betroffenen Parteien zuvor noch nie in dieser Kombination miteinander regiert haben. Gleichermaßen beträgt aber der garantierte Gewinn aus einer höheren Berechenbarkeit des Partners (und dadurch potenziell längeren Kooperationsdauer) bei Minderheitskoalitionen auch Null, da die Koalitionsbildung an sich keine stabile Mehrheit schafft, sondern die Koalitionspartner vielmehr von der parlamentarischen Unterstützung weiterer Parteien abhängig sind. Aus theoretischer Perspektive sollten sich deshalb Minderheitsregierungen (ebenso wie nicht-etablierte Mehrheitskoalitionen) nur dann bilden, wenn keine etablierte Mehrheitskoalition möglich ist.

Dem stehen jedoch zwei empirische Widersprüche gegenüber. Zum einen bilden sich nicht-etablierte Koalitionen in Deutschland oftmals auch dann, wenn etablierte minimale Gewinnkoalitionen möglich sind. Zum anderen kommen neuartige Mehrheitskoalitionen deutlich häufiger zustande als eingeübte Minderheitskoalitionen. Es ist daher davon auszugehen, dass die für das jeweilige Outcome verantwortlichen Sets an Bedingungen in beiden Situationen voneinander abweichen. Martin und Stevenson (2001) zeigen, dass die grundsätzliche Präferenz für Mehrheitskoalitionen auf das Vorhandensein eines investiture vote zurückzuführen ist und nur bei dessen Fehlen ausgeglichene Wahrscheinlichkeiten zwischen der Umsetzung von Mehr- und Minderheitskoalitionsoptionen bestehen. Wenn daher nur eine Mehrheitskonstellation vorliegt, sollte diese trotz ihres faktischen Zwangscharakters (bzw. durch die dahinterstehende Variable des investiture vote) grundsätzlich gegenüber Minderheitsregierungen präferiert werden. Zur Erhöhung der Validität der Untersuchungsergebnisse ist es daher ratsam, die beiden sachsen-anhaltinischen Minderheitsregierungen des sog. „Magdeburger Modells“ (1994 und 1998) und Hannelore Krafts rot-grünes Minderheitskabinett von 2010 aus der Analyse auszuschließen.

Zweitens schließen wir auch „übergroße“ Koalitionen aus der Analyse aus. Dies sind diejenigen Bündnisse, bei denen zum einen keiner der Koalitionspartner alleine über eine absolute Mehrheit verfügt, zum anderen die Koalition aber mehr Parteien umfasst als zur Erlangung der absoluten Mehrheit notwendig sind (siehe hierzu Crombez 1996; Jungar 2000; Volden und Carrubba 2004). Grundsätzlich sind „übergroße“ Koalitionen seit dem Ende der Formierungsphase des bundesdeutschen Parteiensystems in den Landtagen sehr selten geworden.Footnote 9 Dies ist aus Parteiensicht unmittelbar einleuchtend: Der Einbezug jedes weiteren Koalitionspartners C, der nicht zur Erlangung der absoluten Parlamentsmehrheit erforderlich ist, bringt eine reduzierte Anzahl an Minister- und Staatssekretärsposten für die beiden Koalitionspartner A und B mit sich, die bereits zusammen eine kleinstmögliche Gewinnkoalition A–B bilden könnten. Der Einbezug einer weiteren Partei steht damit dem office-seeking der politischen Akteure A und B diametral entgegen, weil jede „übergroße“ Koalition von allen kleinstmöglichen Gewinnkoalitionen (in diesem Fall von der Parteienkombination A–B) dominiert wird (Shikano und Linhart 2010, S. 115). Darüber hinaus zeigen Shikano und Linhart (2010), dass auch die programmatisch-ideologischen Distanzen innerhalb einer „übergroßen“ Koalition immer mindestens genauso groß sind wie in der jeweiligen kleinstmöglichen Gewinnkoalition. Dementsprechend wird die „übergroße“ Bremer „Ampel“-Koalition aus SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen von 1991 nicht in unsere Untersuchung aufgenommen.

Drittens werden all diejenigen Fälle von der Analyse ausgeschlossen, in denen bereits eine Partei alleine über eine absolute parlamentarische Mehrheit verfügt. Die Entscheidung hierfür liegt auf der Hand: Wir analysieren diejenigen Faktoren, die zu neuartigen Koalitionen in den deutschen Bundesländern führten, d. h. wir befassen uns mit Bündnissen, die aus mindestens zwei Parteien bestehen. Einparteienregierungen wie die SPD-Landesregierung in Hamburg (2011–2015) oder die CSU-Landesregierungen in Bayern (1990–2008; seit 2013) werden demzufolge nicht betrachtet.

4.2.2 Kriterium Nr. 2: Eine der potenziell kleinstmöglichen Gewinnkoalitionen muss eine nicht-etablierte Koalition sein

Für unser zweites Kriterium gilt, dass mindestens eine neuartige Koalitionskombination rechnerisch über eine parlamentarische Mehrheit verfügte. Da solche Koalitionen keinen familiarity-Nutzen bringen können (die jeweiligen Partner haben bisher noch nie eine gemeinsame Regierung gebildet), muss der potenzielle Nutzen dieser Regierungsoption aus einem möglichen Machtzugewinn der Koalitionäre resultieren. Dieser liegt wiederum aber nur dann vor, wenn die betroffenen Parteien arithmetisch dazu in der Lage sind, eine stabile Mehrheitsregierung zu bilden. Dieses Kriterium ist notwendig, um bei der QCA Fälle mit einem negativen Outcome in die Analyse aufnehmen zu können, die unmittelbar mit den Fällen mit positivem Outcome vergleichbar sind.

4.2.3 Kriterium Nr. 3: Ausschluss politisch unrealistischer Koalitionsoptionen

Das dritte Kriterium befasst sich mit dem Ausschluss politisch nicht realisierbarer Koalitionsalternativen. Auch wenn es gerade der Anspruch der vorliegenden Untersuchung ist, das Zustandekommen ideologisch heterogener und innovativer Koalitionsformate zu erklären, sind einzelne Parteikonfigurationen (Stand heute) als grundsätzlich nicht politisch realisierbar einzuschätzen und daher bei der Bestimmung der möglichen Regierungsoptionen nicht mitzuzählen. Zu diesen inkompatiblen Koalitionen zählen erstens sämtliche Regierungen unter Einschluss von Parteien der extremen Rechten, namentlich der NPD, DVU und Republikaner. Zweitens gilt dies für jede Option, die eine Beteiligung der AfD vorsieht, da alle parlamentarisch vertretenen Landtagsparteien bislang bei sämtlichen Wahlen eine Kooperation mit der AfD explizit ausgeschlossen haben (Jesse 2016, S. 14). Drittens handelt es sich um Koalitionen, die die PDS bzw. DIE LINKE oder die PiratenFootnote 10 und wenigstens eine Partei des „bürgerlichen“ und/oder rechten Spektrums, also die FDP, CDU, CSU oder entsprechende regionale Kleinparteien (Schill-Partei, Bürger in Wut, Freie Wähler) umfassen würden (vgl. Klecha 2011, S. 336).

4.3 Operationalisierung der Bedingungen: Theoretische Erwartungen

Im Folgenden formulieren wir Bedingungen, die im Rahmen der anschließenden csQCA darauf geprüft werden, inwieweit sie als Erklärungsfaktoren für den Abschluss nicht-etablierter Koalitionsformate geeignet sind. Deshalb wird bei der Kalibrierung der Wert 1 immer dann vergeben, wenn wir theoretisch annehmen, dass das Vorliegen der Bedingung das Auftreten des Outcomes, d. h. die Bildung einer nicht-etablierten Koalition, begünstigt. Wir knüpfen hierbei an die Überlegung an, dass Faktoren, die dem Forschungsstand zufolge die Wahrscheinlichkeit der Bildung „herkömmlicher“ Koalitionen erhöhen, sich gleichzeitig negativ auf die Realisierung innovativer Koalitionen auswirken und daher nur eingeschränkt in unseren Positivfällen vorliegen sollten. Unser Untersuchungsinteresse gilt hierbei allgemeinen Faktoren, die die Bildung aller nicht-etablierten Koalitionen gleichermaßen beeinflussen. Deshalb bleiben Aspekte, die sich nur auf einzelne dieser Optionen positiv auswirken könnten (bspw. die inhaltliche Nähe der Wahlprogramme zwischen einzelnen Koalitionspartnern oder der variierende Grad an Pragmatik in der politischen Ausrichtung einzelner Landesverbände) – und gleichzeitig andere neuartige Bündnisse einschränken könnten – außen vor.

Wir beginnen unsere Überlegungen mit dem gewichtigsten Einzelfaktor der bundesdeutschen Koalitionsforschung, dem incumbency-Status. Da nicht-etablierte Koalitionen sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie zuvor noch nicht gebildet wurden, ist davon auszugehen, dass sich dieser Faktor negativ auf die Wahrscheinlichkeit innovativer Koalitionen auswirkt. Wegen der häufigen Wiederauflage bestehender Koalitionen in den Ländern kann zudem davon ausgegangen werden, dass das Vorhandensein einer Mehrheit für die amtierende Koalition bereits hinreichend für die Verhinderung alternativer Regierungen ist. Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass die betroffenen Akteure erst dann auf innovative Koalitionen zurückgreifen sollten, wenn die aktuelle Regierung ihre Arbeit nicht fortsetzen kann.Footnote 11 Das entsprechende Set Regierungsabwahl (RA) gibt daher an, ob die amtierende Regierung ihre Mehrheit an Parlamentssitzen verloren hat. Sollte dies der Fall sein, wird die Bedingungsausprägung mit 1 kodiert und bei einer weiterhin bestehenden Mehrheit für die amtierende Regierung mit 0.

Das Auftreten bestimmter Koalitionstypen ist eng mit der jeweiligen Ausgestaltung des Parteiensystems verbunden (Laver und Benoit 2015). Grundsätzlich sollte die Bildungswahrscheinlichkeit neuartiger Koalitionen umso höher sein, je unterschiedlicher – oder anders formuliert: je fragmentierter – das Landesparteiensystem gegenüber dem Bundesparteiensystem ausgestaltet ist. So bilden sich Koalitionen, die nicht ausschließlich aus im Bund regierenden Parteien bestehen (und nicht-etablierte Koalitionen sind ein Subtyp davon), deutlich häufiger in Parteiensystemen mit mehr als vier Parteien (Pappi et al. 2005). Umgekehrt werden kleinstmögliche Gewinnkoalitionen vor allem in Parteiensystemen gebildet, in denen die drei sitzstärksten Parteien jeweils miteinander Gewinnkoalitionen bilden können („top-three“ party system). Allerdings besteht die große Mehrzahl der Koalitionsregierungen in den deutschen Bundesländern aus kleinstmöglichen Gewinnkoalitionen (Pappi und Seher 2014, S. 196). Die Zugehörigkeit eines Falles zum Set der „top-three“ party systems würde deshalb nicht ausreichend zwischen den einzelnen Fällen diskriminieren. Verfügen beispielsweise die Grünen oder die FDP über die zweit- oder drittmeisten Sitze im Landtag mit einem „top-three“ party system (und stellen entweder die CDU oder die SPD die stärkste Fraktion), so nehmen wir an, dass die Christ- oder Sozialdemokraten mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre „üblichen“ (sprich lagerinternen) Zweiparteiengewinnkoalitionen (CDU–FDP; SPD–Grüne seit 1998) bilden werden. Beide Parteien bevorzugen die Bildung lagerinterner Koalitionen (resultierend aus dem zuvor beschriebenen hohen familiarity-Nutzen) und dies gilt insbesondere für die Christdemokraten (vgl. Spier 2010).Footnote 12 Für unsere Bedingung hinsichtlich der Bildung nicht-etablierter Koalitionen bedeutet dies, dass wir nicht auf die Parteiensystemstruktur an sich fokussieren, sondern darauf, inwieweit die beiden „Volksparteien“ bzw. „Führungsparteien“ (Spier 2013, S. 511) rechnerisch über eine Mehrheit zur Bildung ihrer „üblichen“ Zweiparteienkoalitionen verfügen. Im Set Fehlende Mehrheiten für „übliche“ Zweiparteienkoalitionen (FM) wird somit der Wert 1 vergeben, wenn CDU und SPD nicht über eine schwarz-gelbe oder (seit 1998) rot-grüne Mehrheit verfügen.

Eine weitere Bedingung könnte sich aus der Vormachtstellung bestimmter Regierungsparteien ergeben. Gerade in Bundesländern, in denen eine deutliche Asymmetrie zwischen den beiden größten Parteien vorliegt, anders ausgedrückt also die stärkste Partei kaum durch ein landesübliches swing vote von der Regierung abgelöst werden kann, sollte die Bildung nicht-etablierter Koalitionsformate deutlich begünstigt werden. Diese Dominanz kann in zwei gesonderte Aspekte unterteilt werden. Einerseits kann es sich um einen simplen Größenunterschied zwischen den Wählerpotenzialen der Parteien handeln, wie es u. a. zwischen der CSU und der bayrischen SPD der Fall ist. Andererseits kann es sich aber auch um eine parteiensystembedingte Dominanz handeln, die sich nicht unbedingt in deutlich disparaten Wahlergebnissen zwischen den größten Parteien ausdrückt. In solchen Fällen gelingt es schlichtweg der dominanten Partei, über sehr lange Zeiträume an der Macht zu bleiben und ihre Hauptkonkurrentin von dieser auszuschließen (siehe die Vormachtstellung der SPD in Brandenburg). In beiden Situationen ist ein potenzieller Machtwechsel über die bloße Veränderung des Wählerverhaltens schwierig zu bewerkstelligen und daher eher vom Koalitionsverhalten abhängig. Der vielversprechendste Weg der zweitgrößten Partei, ihre strukturelle Schwäche zu überwinden, sollte daher in einer größeren Offenheit gegenüber neuen bzw. alternativen Koalitionsoptionen liegen. Gleichzeitig ist im zweiten Fall davon auszugehen, dass es gerade das Verhandlungsgeschick (oder die strategische Positionierung im Parteiensystem) ist, welches der Partei der Ministerpräsidentin ihre langfristige Regierungsrolle sichert. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass auch die dominante Partei sehr anpassungsfähig gegenüber ihren potenziellen Partnern ist und versucht, alle vorhandenen Koalitionsoptionen zu ihrem Vorteil auszuschöpfen. Unser Set Regierungsdominanz (RD) zeigt daher an, ob die Partei, die zum Wahlzeitpunkt den Regierungschef stellt, dies bereits seit mindestens drei Legislaturperioden tut.Footnote 13 Bei einer vorliegenden zeitlichen Dominanz werden die Fälle mit 1 kodiert, da dies die Bildung neuartiger Koalitionen erleichtern sollte; bei einer fehlenden Dominanz hingegen mit 0.

Hiermit verknüpft ist der Aspekt der elektoralen Expansion der „kleineren“ Parteien. Seit dem Ende der 1990er-Jahre lässt sich in einzelnen Bundesländern eine zunehmende Ablösung der beiden alten „Volksparteien“ als üblicherweise stimmenstärkste Parteien beobachten. Mit zunehmender parlamentarischer Stärke der Drittparteien wird es für die beiden „Volksparteien“ schwieriger, diese dauerhaft von der Macht auszuschließen, während gleichzeitig das Bestreben der Herausfordererparteien, an der Regierung teilzuhaben, steigt. Wenn es also einer der „kleinen“ Parteien gelingt, SPD oder CDU als zweit- oder sogar stärkste Kraft abzulösen, sollte dies die Wahrscheinlichkeit nicht-etablierter Koalitionen erhöhen. Um diese Überlegung in eine Bedingung zu übertragen, haben wir die Fälle daraufhin geprüft, inwieweit sie dem Set Existenz einer kritischen Drittpartei (KD) zuzuordnen sind, d. h. ob es sich bei den beiden Parteien mit dem höchsten Stimmanteil nicht um CDU/CSU und SPD handelt. Da das Vorhandensein einer kritischen Drittpartei die Chancen „untypischer“ Koalitionen erhöht, werden Fälle, die die Bedingung erfüllen mit 1 und Fälle, in denen CDU/CSU und SPD die beiden stärksten Parteien stellen, mit 0 kodiert.

Des Weiteren nehmen wir an, dass nicht-etablierte Koalitionen gegenüber etablierten Regierungsformaten eines besonderen Rechtfertigungsaufwands bedürfen. So müssen die jeweiligen Parteien sowohl den Wählerinnen als auch ihrer Parteibasis die Tragfähigkeit und politische Eignung neuer Koalitionen vermitteln. Zentral hierfür ist das Vorliegen eines klaren politischen Mandats, da die Parteien sonst unter dem Eindruck eines rein machtgetriebenen Opportunismus stehen könnten. Dementsprechend prüft das Set Wahldynamik (WD), ob das Wahlergebnis einen besonderen Auftrag zur Regierungsumbildung impliziert. Das Set basiert dabei auf zwei Bedingungen, die beide erfüllt sein müssen, damit ein besonderes Wählerinnenmandat vorliegt. Erstens muss die Partei des Ministerpräsidenten bei den aktuellen Wahlen Stimmenanteile verloren haben. In Anbetracht der sehr hohen Bedeutung des incumbency-Faktors für die Regierungsbildung sollte nur eine klare „Abstrafung“ der aktuellen Regierung diese zu einer „freiwilligen“ Modifizierung der Regierungszusammensetzung bewegen. Zweitens muss die stärkste Oppositionspartei prozentuale Stimmengewinne verzeichnet haben. Da incumbency-Regierungen unserer Definition entsprechend immer als etabliert gelten, erfordert die Bildung nicht-etablierter Koalitionen immer die Einbindung mindestens einer Oppositionspartei. Diese sollte aber nur dann eine Regierungsbeteiligung aktiv einfordern können, wenn sie selber erkennbare Stimmgewinne zu verzeichnen hatte, wobei üblicherweise die größte Nichtregierungspartei den stärksten Anspruch hierauf erheben kann. Wenn beide Faktoren erfüllt sind, d. h. die Partei des Ministerpräsidenten mindestens zwei Prozentpunkte der Stimmen verliert und die stärkste Oppositionspartei mindestens zwei Prozentpunkte hinzugewinnt (Mattila und Raunio 2004, S. 272), ist von einem erkennbaren Auftrag der Wählerinnen zur Regierungsumbildung auszugehen und die Fälle wurden mit 1 codiert. Sobald eine der beiden Bedingungen nicht erfüllt wurde, wurde eine 0 vergeben.Footnote 14

5 Analysen und Resultate

Insgesamt umfasst unsere Studie 20 Fälle mit einem positiven Outcome (Bildung einer nicht-etablierten Koalition (NEK)) und 43 Fälle mit einem negativen Outcome (Bildung einer etablierten Koalition, bei der aber nicht-etablierte Koalitionen nach unseren drei Kriterien möglich waren). Die Fälle mit positivem Outcome gliedern sich dabei in zwölf Zwei-Parteien- und acht Drei-Parteien-Koalitionen. In unseren Daten haben wir es mit begrenzter empirischer Vielfalt zu tun. Bei fünf Bedingungen existieren 25 = 32 logisch mögliche Kombinationen dieser Bedingungen (siehe Tab. 1). Nicht in jeder Zeile der Wahrheitstafel findet sich ein empirisch beobachtbarer Fall wieder, sodass einzelne Zeilen „leer“ bleiben (in unserem Fall sind zehn von 32 möglichen Konfigurationen nicht durch empirische Fälle abgedeckt). Diese sogenannten „logischen Rudimente“ sind in sozialwissenschaftlichen Studien eher die Regel als die Ausnahme (Ragin 1989, S. 104–113). Deshalb werden bei den folgenden Analysen jeweils drei verschiedene Lösungsterme präsentiert, die sich hinsichtlich des Umgangs mit den logischen Rudimenten voneinander unterscheiden (Schneider und Wagemann 2012, S. 161–177).

Tab. 1 Wahrheitstafel

Die complex solution bzw. conservative solution basiert auf keinen Annahmen hinsichtlich der Behandlung logischer Rudimente und schließt deshalb alle Konfigurationen, für die keine empirisch beobachtbaren Fälle vorliegen, von der Analyse des Outcomes aus. Im Unterschied hierzu wird bei der most parsimonious solution anhand eines Computer-Algorithmus das sparsamste Ergebnis produziert, wobei die hierbei getroffenen, vereinfachenden Annahmen vom Forscher nicht direkt kontrolliert werden können. Als dritte Möglichkeit wird die intermediate solution präsentiert, bei denen einzelne, vereinfachende Annahmen auf Basis theoretischer Überlegungen getroffen werden. Hierbei haben wir festgelegt, dass diejenigen leeren Zeilen in der Wahrheitstafel, bei denen die notwendige Bedingung für das Auftreten nicht-etablierter Koalitionen – FM (siehe Tab. 2) – nicht vorliegt, nicht in den logischen Minimierungsprozess miteinbezogen werden, da diese notwendige Bedingung unmöglich sowohl zum Auftreten als auch zum Nichtauftreten des Outcomes führen kann (Schneider und Wagemann 2012, S. 223).

Tab. 2 Prüfung auf das Vorhandensein notwendiger Bedingungen

Für die folgende Analyse wurde ein Schwellenwert von einem Fall pro Zeile sowie eine Konsistenz von 0,7 festgelegt (Schneider und Wagemann 2012, S. 153).Footnote 15 Eine erste Prüfung auf das Vorhandensein notwendiger Bedingungen zeigt, dass eine fehlende Mehrheit für übliche Zweiparteienkoalitionen eine notwendige Voraussetzung für die Bildung nicht-etablierter Koalitionen ist (siehe Tab. 2). Keine der weiteren Bedingungen erreicht den empfohlenen Konsistenzwert für notwendige Bedingungen von 0,9 (Schneider und Wagemann 2012, S. 143). Dementsprechend prüfen wir im nächsten Untersuchungsschritt die verbliebenen Faktoren, unter Berücksichtigung der gefundenen notwendigen Bedingung, auf das Vorliegen von hinreichenden Bedingungen.

Tab. 3 präsentiert die drei Lösungsterme. Alle drei Lösungsterme bestehen aus jeweils drei Erklärungspfaden, wobei jeder äquifinale Pfad (durch ein Pluszeichen als Ausdruck des logischen „oder“ gekennzeichnet) bereits für sich alleine als eine hinreichende Bedingung für das Auftreten nicht-etablierter Koalitionen gilt. Mit Blick auf das Maß der jeweils abgedeckten Fälle lässt sich jedoch sagen, dass eine negative Wahldynamik und eine Abwahl der amtierenden Regierung den größten positiven Einfluss auf die Realisierung nicht-etablierter Koalitionen haben. Da sich die Erklärungspfade jedoch sehr deutlich voneinander unterscheiden, ist es erforderlich, diese jeweils für sich genommen näher zu erläutern.

Tab. 3 Erklärungspfade für das Auftreten nicht-etablierter Koalitionen

Der erste Erklärungspfad (FM*RA*~KD*~WD) kann dabei als „klassischer“ Weg zur Bildung nicht-etablierter Koalitionen interpretiert werden, da er mit 11 Fällen bereits über 50 % der untersuchten Positivfälle erklärt. So kommt es hier unter der Kombination einer Abwahl der amtierenden Regierung und fehlenden Mehrheit für übliche Lagerkoalitionen sowie der Abwesenheit einer besonders starken Drittpartei und dem Fehlen eines spezifischen Wählermandats zu nicht-etablierten Koalitionen. Unerwartet ist, dass nicht-etablierte Koalitionen hier gerade dann gebildet werden, wenn kein explizites Mandat der Wählerinnen gegen die bisherige Regierung vorliegt. Dies könnte einerseits darauf hindeuten, dass die betroffenen Akteure derartige Bündnisse strategisch vorbereiten bzw. im Wahlkampf Koalitionssignale in Richtung potenzieller nicht-etablierter Koalitionen senden und dabei den konkreten Veränderungen des Wahlverhaltens wenig Beachtung schenken, wie es beispielsweise bei der Bildung der „Dänen-Ampel“ in Schleswig-Holstein 2012 der Fall war (Horst 2012). Ähnliches ließ sich bei der Bürgerschaftswahl 2008 in Hamburg beobachten, bei der Bürgermeister Ole von Beust (CDU) eine schwarz-grüne Regierung im Wahlkampf zwar als eine Option hervorhob, allerdings nur, wenn es für eine absolute Mehrheit oder für eine Koalition mit der FDP nicht reichen würde, während sowohl die Parteieliten als auch die Parteibasis der Grünen zwischen rot-grünen, rot-rot-grünen und schwarz-grünen Bündnisoptionen hin- und hergerissen waren (Weckenbrock 2017, S. 454–456). Im Ergebnis schlossen ausgerechnet diejenigen Parteien ein Bündnis, die die größten prozentualen Stimmenverluste hinnehmen mussten. Alternativ könnte die fehlende Wahldynamik aber auch dahingehend interpretiert werden, dass die regierungsbildenden Parteien ein explizites Wählermandat genau umgekehrt wahrnehmen und eher etablierte Koalitionsformate umsetzen, die die Wählerinnen und Wähler üblicherweise als Konsequenz ihrer Stimmabgabe erwarten würden. Weiterhin ist zu erwähnen, dass bei keinem der hier erklärten Fälle zuvor eine große Koalition an der Macht war. Dies deutet bereits an (und wird durch den zweiten Erklärungspfad ebenfalls gestützt), dass der konkrete Weg zur Bildung nicht-etablierter Koalitionen in Abhängigkeit zum Format der vorhergehenden Regierung steht.

Der zweite Erklärungspfad (FM*~RA*RD*~WD) umfasst diejenigen Fälle, in denen die Regierung bei einem Vorhandensein einer dominanten Regierungspartei nicht abgewählt wird, keine Mehrheiten für übliche Lagerkoalitionen bestehen und erneut kein spezifisches Wählermandat gegeben ist. Eine genauere Betrachtung der abgedeckten Fälle deutet dabei zwei potenzielle Erklärungen für das Zustandekommen dieses Pfads an. Erstens könnte dies ein spezifischer Weg der Linkspartei an die Regierung sein, da er ausschließlich Fälle einer Regierungsbeteiligung der Linken erklärt. Zweitens könnte aber auch das Format der Vorgängerregierung entscheidend sein. So hatte in allen Fällen zuvor eine große Koalition in Kombination mit einer dominanten Partei regiert (was sich u. a. in der Bedingung der fehlenden Regierungsabwahl ausdrückt). Aussagekräftig ist hierbei die Kombination der Bedingungen einer Regierungsdominanz und der fehlenden Wahldynamik, die darauf hindeuten, dass es sich in diesen Fällen um strategische, vom Wahlergebnis relativ unabhängige Koalitionsentscheidungen handelt, so wie es sich in Brandenburg 2009 bei der Bildung der rot-roten Landesregierung zutrug (Niedermayer 2010, S. 368). Gleiches gilt für die aktuelle rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen, die bereits 2009 sehr aktiv von Bodo Ramelow mit umfangreichen Zugeständnissen an die SPD forciert wurde, letztlich aber am Widerstand des SPD-Spitzenkandidaten Christoph Matschie scheiterte, der wiederum 2014 keinen Einfluss mehr auf die Koalitionsverhandlungen nehmen konnte (Oppelland undTräger 2016, S. 29, 42).

Der dritte Erklärungspfad (FM*RA*KD*WD) entspricht schließlich dem einer „erzwungenen“ nicht-etablierten Koalition. So zeigen das Vorliegen einer Regierungsabwahl, das Fehlen einer Mehrheit für übliche Lagerkoalitionen, eine positive Wahldynamik und das Vorhandensein einer starken Drittpartei an, dass die betroffenen Akteure in diesen Fällen nur eng begrenzte (bzw. gar keine) Alternativen zur Bildung einer nicht-etablierten Koalition haben. Dies umfasst zum einen die jüngste Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2016, bei der das starke Abschneiden der AfD (und der Ausschluss jeglicher Koalitionen mit der AfD durch die anderen Parteien) dazu führte, dass es rechnerisch nur noch für nicht-etablierte Koalitionen eine Mehrheit gab. Zum anderen ist dies der Fall Baden-Württemberg 2011, bei dem die Grünen die „kritische Drittpartei“ waren und den Ministerpräsidenten stellen konnten, nachdem die CDU – ebenso wie in Sachsen-Anhalt – ihre jahrelange Regierungsdominanz verlor (die Regierungsdominanz findet sich in der intermediate und complex solution wieder).

Insgesamt gelingt es uns, die Bildung von 16 nicht-etablierten Koalitionen zu erklären. Allerdings verbleiben vier Fälle, die auf Basis der hier präsentierten Bedingungen nicht erklärt werden (Baden-Württemberg 2016; Hamburg 1997; Niedersachsen 1990 und Mecklenburg-Vorpommern 1998). Die Regierungsbildung in Mecklenburg-Vorpommern 1998 weicht in ihren Ausgangsbedingungen deutlich von denen aller anderen Fälle mit positivem Outcome ab. So erfüllt sie als einziger Fall lediglich die notwendige Bedingung der fehlenden Mehrheiten üblicher Lagerkoalitionen. Der kritische Punkt ist hierbei das Fehlen einer dominanten Regierungspartei (bei einem Vorliegen würde der Fall, wie die anderen Regierungsbeteiligungen der Linken, dem zweiten Erklärungspfad entsprechen). Eine dominante Regierungspartei konnte es in Mecklenburg-Vorpommern allerdings noch gar nicht geben, da wir hierfür eine Dominanz über drei Legislaturperioden vorausgesetzt haben, die Wahlen 1998 jedoch erst die dritten Landtagswahlen seit der Wiedervereinigung waren.

Die Tatsache, dass wir die Fälle Niedersachsen 1990 und Hamburg 1997 nicht erklären können, hängt mit der unerwarteten Wirkrichtung des Wählermandats zusammen. So sind wir davon ausgegangen, dass eine positive Wahldynamik die Bildung nicht-etablierter Koalitionen begünstigen sollte (wobei der größte Teil der Fälle mit einem positiven Outcome diese jedoch nicht aufweist). Auch wenn eine positive Wahldynamik selbstverständlich kein Hinderungsgrund für nicht-etablierte Koalitionen sein sollte, führt die Bedingungsausprägung zu Inkonsistenzen gegenüber den untersuchten Negativfällen und somit zu einem Ausschluss der Fälle. Da sich beide Fälle nur in dieser Bedingung vom ersten Erklärungspfad unterscheiden, kann aber zumindest vermutet werden, dass sich die Regierungsbildung unter einer gleichartigen Bedingungslogik abgespielt hat.

Nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg 2016 konnten die Parteien nicht zwischen bereits eingeübten und nicht-etablierten Koalitionsoptionen wählen, da alle rechnerisch möglichen Mehrheitsbündnisse nicht-etabliert waren. Dies war zwar auch bei der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl in Sachsen-Anhalt der Fall, allerdings bestand zum einen in Baden-Württemberg keine Regierungsdominanz der Ministerpräsidentenpartei, zum anderen konnten die Grünen unter Winfried Kretschmann ihren Stimmenanteil deutlich ausbauen, während die sachsen-anhaltinische CDU unter Reiner Haseloff Stimmenverluste hinnehmen musste. Eine Wahldynamik bestand deshalb in Baden-Württemberg nicht. Dem gegenüber steht die Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt 2006, die exakt die gleichen Bedingungsausprägungen wie die Regierungsbildung in Baden-Württemberg 2016 aufweist, allerdings mit einem – entscheidenden – Unterschied: Die sachsen-anhaltinischen Akteuren konnten zwischen nicht-etablierten Koalitionsformaten und der bereits erprobten großen Koalition aus CDU und SPD wählen. Schlussendlich entschieden sie sich für die Fortsetzung der amtierenden großen Koalition.

Abschließend gehen wir auf die Grenzen unserer Studie ein, indem wir die in Tab. 3 markierten Fälle diskutieren, bei denen im ersten Erklärungspfad die jeweiligen Bedingungsausprägungen für die Bildung nicht-etablierter Koalitionen vorliegen, sich die politischen Akteure aber dennoch für eine etablierte, nämlich stets große Koalition entschieden. In Baden-Württemberg 1992 verfügten die politischen Akteuren einzig über eine weitere Möglichkeit zur Bildung einer Zweiparteienmehrheitskoalition: „Schwarz-Grün“. Die großen Stimmenverschiebungen zwischen den Parteien zugunsten der Republikaner und die von der CDU wahrgenommene große programmatisch-ideologische Distanz zu den Grünen führten dazu, dass die Christdemokraten eine kurzfristige Strategie zur Machtsicherung (in der großen Koalition mit der SPD) einer langfristigen Strategie zur Erweiterung der eigenen Machtoptionen (mittels der erstmaligen Bildung einer schwarz-grünen Landesregierung) vorzogen (Downs 1998, S. 264). Der brandenburgische Fall stellt insoweit einen Sonderfall dar, da es dort eigentlich eine jahrzehntelange Regierungsdominanz der SPD gibt, diese Bedingung von uns allerdings erst ab drei Legislaturperioden als vorliegend betrachtet wird und es sich bei der Landtagswahl 1999 um die dritte Wahl seit 1990 handelte – die Bedingung konnte demnach noch nicht vorliegen.

In Mecklenburg-Vorpommern präferierte der SPD-Spitzenkandidat Harald Ringstorff 1994 ein rot-rotes Bündnis mit der PDS, allerdings stoppte die Bundes-SPD dieses Vorhaben und die Sozialdemokraten gingen als „Juniorpartner“ ein Bündnis mit der CDU ein (Olsen 2000). Dieser nur selten so explizit beobachtbare Einfluss nationaler Parteiführungen auf die Koalitionsbildung in den deutschen Bundesländern wird von unseren Bedingungen ebenso wenig erfasst wie das ebenfalls nur sehr selten auftretende Phänomen, dass CDU und SPD mit einer eindeutigen Koalitionsaussage zugunsten einer großen Koalition in den Wahlkampf ziehen, wie es bei den vorgezogenen Neuwahlen im Saarland 2012 der Fall war (Winkler 2012).

6 Fazit und Ausblick

Die Parteienlandschaft in den deutschen Bundesländern wandelt sich in den letzten Jahren immer schneller. Erstens verlieren die ehemals großen „Volksparteien“ CDU und SPD im Durchschnitt immer weiter an Wählern. Zweitens zogen neue Parteien in diverse Landtage ein. Diese beiden Faktoren erschweren in vielen Fällen die Regierungsbildung, da die „eingeübten“, lagerinternen Zweiparteienkoalitionen aus CDU und FDP sowie aus SPD und Grünen häufig nicht mehr über absolute Mehrheiten in den Landtagen verfügen (und dies mitunter sogar für das Koalitionsformat der großen Koalition gilt). Da Minderheitsregierungen weiterhin als zu instabil und daher ungeeignet wahrgenommen werden, sehen sich die Parteien dazu gezwungen, neue Koalitionsformate auszuprobieren.

Im vorliegenden Beitrag analysierten wir die Voraussetzungen für das Zustandekommen solcher neuartigen Bündnisse in den deutschen Bundesländern seit 1990. Wir identifizierten fünf Bedingungen, die alleine oder in Kombination zur Bildung nicht-etablierter Landesregierungen beitragen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Fehlen einer Mehrheit für die „typischen“ Zweiparteienlagerkoalitionen eine notwendige Voraussetzung zur Bildung nicht-etablierter Landesregierungen ist. Mit anderen Worten: Sobald CDU oder SPD rechnerisch die Möglichkeit haben, den „Sprung über den Lagergraben“ (Debus und Müller 2013b) zu vermeiden und ein Bündnis mit der FDP bzw. den Grünen einzugehen, tun sie dies auch. Diese notwendige Bedingung erklärt im Zusammenspiel mit anderen hinreichenden Faktoren 80 % aller Fälle, in denen auf Landesebene nicht-etablierte Koalitionen gebildet wurden.

Welche noch zu klärenden Fragen bzw. Potenziale für künftige Analysen ergeben sich aus unserer Untersuchung? Erstens zeigt unsere Analyse der 20 Fälle nicht-etablierter Koalitionen, dass es inzwischen eine Vielzahl an Landesregierungen gibt, die sich nicht durch den in quantitativen Studie gezeigten, wichtigsten individuellen Erklärungsfaktor einer bereits amtierenden Regierung erklären lassen (Bräuninger und Debus 2008, 2012). Zweitens deuten unsere Ergebnisse einen Zusammenhang zwischen spezifischen Erklärungspfaden und dem amtierenden Regierungsformat an. So umfasste der Erklärungspfad FM*RA*~KD*~WD nahezu ausschließlich Fälle, in denen die Vorgängerregierung entweder aus einer einzelnen Partei oder einer der beiden Volksparteien sowie einer bzw. mehrerer der „kleinen“ Parteien bestand, während der Pfad FM*~RA*RD*~WD ausschließlich Fälle mit einer amtierenden großen Koalition einschließt. Da große Koalitionen bisher kaum abzuwählen waren, können diese Fälle nur schwerlich die sonst erforderliche Voraussetzung einer Regierungsabwahl erfüllen. Dementsprechend müssen hier andere Rahmenbedingungen für die Bildung nicht-etablierter Koalitionen existieren. Diese scheinen insbesondere im Vorliegen einer Asymmetrie zwischen CDU und SPD zu liegen. Wenn eine der „Volksparteien“ eine dominante Rolle einnimmt, kann die große Koalition bestenfalls eine suboptimale Lösung für zumindest eine der beiden Parteien sein und damit die zukünftige Bildung nicht-etablierter Koalitionen begünstigen. So besteht das Problem für den kleineren Partner einer großen Koalition darin, nicht die Regierung führen und zu wenig elektoralen Nutzen aus der Koalition generieren zu können (Müller 2008, S. 507 f.). Der größere Partner muss dagegen überproportional bei Ämtern und Politikinhalten Zugeständnisse machen, weil er mit einer „Volks-“ anstelle einer „kleinen“ Partei koaliert (Spier 2013, S. 493–496). Zudem kann eine große Koalition in einer solchen Ausgangssituation die parteiinternen Forderungen nach einem Bündnis innerhalb des eigenen ideologischen Lagers, ggf. auch in einem innovativen Koalitionsformat, erhöhen. Während eine Abhängigkeit der Bedingungen vom vorgehenden Regierungsformat aus theoretischer und empirischer Perspektive plausibel erscheinen, sind weitere Untersuchungen notwendig, die diesen Faktor expliziter berücksichtigen, um einen solchen Zusammenhang zu bestätigen. Drittens gestaltete sich unsere Operationalisierung der Wahldynamik nicht unproblematisch. So führte eine nicht angepasste Verwendung der Bedingung teilweise zu theoretisch inkonsistenten Fallausschlüssen. Bei einer Nichtberücksichtigung der Bedingung kam es dagegen zu einer deutlichen Ergebnisverschlechterung. Die zentrale Herausforderung scheint hierbei jedoch nicht in der Definition eines geeigneten cut-off- points von Stimmengewinnen bzw. -verlusten zu liegen, sondern darin, die korrekten Parteien zu identifizieren, die hiervon betroffen sein müssen. An dieser Stelle könnten weitere konzeptionelle und empirische Verfeinerungen der Bedingung zur konsistenteren Erfassung ihres Einflusses auf die Regierungsbildung beitragen.