Geschlossene Unterbringung ist zwar politisch und fachlich ein hochumstrittenes Thema, dennoch gibt es eine längst existierende Praxis. Zu den Abläufen in einer Geschlossenen Unterbringung lassen sich jedoch kaum Erkenntnisse finden, sodass hier von einer „Blackbox“ gesprochen werden muss. Die Autorinnen konnten fast drei Jahre in eine solche Blackbox schauen. Als Innenansicht wird die Perspektive geschlossen untergebrachter Jungen skizziert.

Der Beitrag basiert auf ausgewählten Ergebnissen eines über 34 Monate laufenden Forschungsprojekts, das im Zusammenhang mit der Einrichtung einer „Geschlossenen Intensivtherapeutischen Wohngruppe (GITW) für dissoziale und/ oder hochdelinquente Kinder und Jugendliche im Alter von 10–14 Jahren“ stand (vgl. Oelkers/ Feldhaus/ Gaßmöller 2012). Die Einrichtung in Trägerschaft des Caritas-Sozialwerks St. Elisabeth (CSW) am Standort Lohne wurde als wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt Mitte 2010 eröffnet und ist die bisher einzige Geschlossene Unterbringung der Kinder- und Jugendhilfe Niedersachsens.

Die ‚Blackbox‘

Die Wohngruppe bietet sieben geschlossene stationäre Plätze für Jungen, vor allem aus dem Einzugsbereich Niedersachsen. Voraussetzung für die Aufnahme in die GITW ist eine familienrichterliche Genehmigung zur geschlossenen Unterbringung. In der Einrichtung sollen freiheitsentziehende Maßnahmen mit intensiver pädagogischer und therapeutischer Arbeit verbunden werden. Ziel der Maßnahme ist die Abwendung von Selbst- und/oder Fremdgefährdung, die in der Regel auf problematische Verhaltensweisen wie beispielsweise Delinquenz, Schulverweigerung, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie Aggressionen zurückzuführen ist. Konzeptionell ist die Unterbringung zunächst auf ein Jahr angelegt, im Durchschnitt blieben die Jungen bei erfolgreichem Betreuungsverlauf mit ca. 14 Monaten etwas länger.

Von September 2010 bis Juni 2013 wurde die GITW in Lohne durch die Autorinnen beforscht. Die Untersuchung stützte sich dabei in erster Linie auf mündliche und schriftliche Befragungen und hatte daher die subjektiven Wahrnehmungen der Beteiligten zum Gegenstand. In diesem Beitrag geht es insbesondere um die Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung. Befragt wurden zwölf Jungen, die nach Möglichkeit im fortgeschrittenen Verlauf bzw. gegen Ende der Maßnahme interviewt wurden, um ggf. auch die Einschätzung eigener Entwicklungen erheben zu können. Die Befragungen wurden in Form leitfadengestützter Interviews mit erzählgenerierenden Fragen durchgeführt.

Der hier zu Grunde gelegte Ausschnitt der umfänglichen Untersuchungsbefunde richtet sich besonders auf die Frage, wie es den Jungen in der ‚Blackbox‘ Geschlossene Unterbringung ergeht und ob bzw. welche Möglichkeiten der Mitbestimmung und Beschwerde es in diesem (geschlossenen) System gibt. Quer dazu folgen wir der Frage, in welcher Form es (institutionalisierte) Berührungspunkte nach außen gibt, die somit die Gefahren eines geschlossenen Systems abmildern.

In der ‚Blackbox‘

Geschlossenheit ist in erster Linie eine bauliche Gegebenheit (vgl. Pankofer 1994: 53; von Wolffersdorff/ Sprau-Kuhlen 1990: 22). Die Geschlossenheit der GITW zeigt sich an den Sicherungssystemen (Türen, Fenster, Mauer um den Hof) und auch an dem Raum für Time-Out Maßnahmen. Allerdings ist festzuhalten, dass der geschlossene Außenbereich vergleichsweise groß, die Fenster nicht vergittert und auch in den Zimmern der Jungen eigenständig zu öffnen sind sowie die Ausstattung (bspw. Toilettenbecken, Waschbecken, Duschen) bewusst nicht gefängnisähnlich ‚unkaputtbar‘ gestaltet ist. Die Unterschiede in Bezug auf die Bewegungsfreiheit der Jungen (je nach erreichter Stufe im Privilegiensystem) spiegeln sich raumbezogen in der Gestaltung des sogenannten gelben und roten Bereichs. Der rote Bereich kann gesondert verschlossen werden. Dort gibt es bspw. weniger Privatsphäre (keine Schranktüren) und eingeschränkte Gestaltungsmöglichkeiten (festgeschraubte Möbel). Im gelben Bereich können dagegen die Möbel umgestellt und verschoben werden.

„Schock war das“

Für viele der befragten Jungen war es kein schöner Moment, als sie von der geplanten Unterbringung in der geschlossenen Einrichtung erfuhren; zwei sprachen gar von einem „Schock“. Einige hätten durch ihre Eltern von der Unterbringung erfahren, andere von Fachkräften im Rahmen der Maßnahmen, in denen sie sich zu der Zeit befanden. Manche seien durch JugendamtsmitarbeiterInnen, RichterInnen oder erst im Vorgespräch mit MitarbeiterInnen der GITW informiert worden. Vereinzelt sei den Jungen nicht sofort klar gewesen, dass es sich bei der Einrichtung um eine geschlossene handeln würde. Ein Junge berichtete, die Einweisung in die geschlossene Einrichtung sei aus seiner Perspektive ohne jegliche Vorankündigung erfolgt — in Handschellen abgeführt durch die Polizei.

Aus den Befragungen wird deutlich, dass die Zeit der Ankunft und Eingewöhnung in der Einrichtung für viele Jungen schwer war, z.B. die Durchsuchung, die unbekannten Menschen und vor allem die Geschlossenheit. Besonders zu Beginn sei die Geschlossenheit ungewohnt und belastend gewesen, ebenso wie die dadurch eingeschränkten sozialen Kontakte: Heimweh und die Sehnsucht nach geliebten Menschen (FreundInnen, Familie) spielten vor allem zu Beginn der Unterbringung eine große Rolle, bevor Besuche und Heimfahrten stattfinden durften. Ein Junge gab dagegen an, keine großen Unterschiede zu vorherigen Wohngruppen wahrzunehmen. Ein anderer Junge berichtete, dass er die Unterbringung im geschlossenen Kontext entgegen seiner Erwartungen und trotz strenger Regeln als „eigentlich ganz in Ordnung“ empfinde. Andererseits gab es auch Schilderungen der Konfrontation mit der Mauer und der fehlenden Bewegungsfreiheit als schlimme Erfahrung („wie ein Tier im Käfig“).

Mitunter wurde die Geschlossenheit auch ambivalent beschrieben: „Einerseits fühlt man sich hier geschützt, aber andererseits auch so‘n bisschen eingesperrt“. Auffällig war, dass sich die meist sehr negativen Erwartungen der Jungen vor Beginn der Maßnahme („wie im Knast“) mit der Zeit oft relativierten. Häufig wurde davon berichtet, sich die Einrichtung schlimmer vorgestellt zu haben, vor allem bezogen auf ständige Geschlossenheit und bauliche Merkmale wie Gitter etc. Dennoch zeigten die meisten Jungen in den Interviews deutlich ihr Bedürfnis nach mehr Offenheit.

Ihre begleiteten oder unbegleiteten Ausgänge waren für die Jungen entsprechend ein wichtiges Thema („Aber das Beste ist natürlich, wenn man das erste Mal alleine raus darf“). Im Vordergrund standen dabei Treffen mit Gleichaltrigen, ungestörte Telefonate, Einkaufen, Fußball spielen oder Besuche im Internetcafé. Die meisten Jungen wünschten sich mehr bzw. längere Ausgänge. Nur einer gab an, ihm reiche die momentane Regelung mit zwei Ausgängen pro Woche.

„Hier entwickelt man Beziehungen und vielleicht auch so ein bisschen Zusammenleben und Wohlfühlen“

Die Phase der Eingewöhnung war nach Angaben der Befragten geprägt durch Konflikte, mangelnde Mitarbeit, Distanziertheit und/oder Entweichungen der Jungen und konnte sich oft über mehrere Monate erstrecken. Viele Jungen hätten erst nach und nach Beziehungen und Vertrauen aufbauen können.

Das Verhältnis zu den BetreuerInnen der Einrichtung wurde aus der Perspektive der befragten Jungen überwiegend positiv beschrieben. Auf allgemeine Nachfrage hin dominierten Darstellungen wie „sind alle ganz ok“, „lustig ausgeglichen“ oder „alle ziemlich cool“. Geschätzt wurden ihr Humor, Verständnis oder auch Engagement: „Man merkt, wie sie sich für jemanden einsetzen“. Mitunter wurden sie aber auch als „nervig“ oder „teils, teils“ beschrieben. Vor allem Strenge, negative Konsequenzen bzw. ein autoritärer Umgang (Schreien etc.) wurden von einigen Jungen als Gründe für diese ambivalente Bewertung angeführt.

Besonders positiv wurde der Kontakt zu den jeweils zugeteilten BezugsbetreuerInnen der Jungen beschrieben: „Das sind so die wichtigsten Ansprechpersonen, die ich hier habe“. Hervorgehoben wurden vor allem das vertrauensvolle Verhältnis zu ihnen sowie die Ansprechbarkeit bei Anliegen oder Problemen. Gegenseitiges Verstehen („Der versteht mich auch sehr gut“; „Wir haben viel gemeinsam“) und das Gefühl, als Akteur ernst genommen zu werden („und jetzt versuchen wir, einen Weg zu finden und das hinzukriegen“) erschienen hier als bedeutende Stellvariablen einer von den Jungen insgesamt als wertvoll und haltgebend beschriebenen pädagogischen Beziehung. Auch die empfundene Wertschätzung durch die BetreuerInnen spielte in den Interviews mit den Jungen mehrfach eine Rolle („Ja, sie setzen sich für uns ein, weil sie denken, jeder Mensch ist was wert“). Ein Junge benannte es z.B. als schöne Erfahrung, „zu spüren wie die Betreuer sich für einen einsetzen und wie schnell die dich ins Herz schließen“.

„Einfach mitmachen. Dann geht das hier besser“

Befragt nach etwaigen guten Ratschlägen für neue Mitbewohner äußerten sich die meisten Jungen sehr ähnlich: Angeführt wurde insbesondere, dass neue Bewohner sich zunächst zurückhalten sollten, da ansonsten Aggressionen in der Gruppe auftreten würden. Betont wurde überdies, „dass er sich hier an die Regeln von uns Jungs und von den Betreuern halten soll“. Diese Regelbefolgung würde der überwiegende Teil der Jungen etwaigen neuen Bewohnern nahelegen, um die Maßnahme schnellstmöglich beenden zu können: „Ich würde mich hier gut verhalten. Umso besser man sich hier verhält, umso schneller kommt man hier wieder raus“.

Streitereien und Konflikte (sowohl eigene ‚Ausraster‘ als auch die Aggressionen der anderen) wurden von den Jungen teilweise als fast alltäglich und nicht weiter schlimm, teilweise aber auch als belastend beschrieben. Bei diesen abweichenden Einschätzungen schien es vor allem um unterschiedliche Schweregrade der Konflikte zu gehen. In solchen Konfliktsituationen sollten die BetreuerInnen nach Angabe der Jungen z.B. „nicht gleich anfangen zu schreien“ und die Streitparteien auch „einfach mal in Ruhe lassen“. Mit einem klärenden Gespräch solle so lange gewartet werden, bis sich die Beteiligten soweit beruhigt hätten. Weitere Vorschläge für den Umgang waren „aufs Maul hauen“ oder aber den Verursacher „in den Time-Out Raum packen und nie wieder raus lassen“. Ein Junge wies den BetreuerInnen allerdings eine gewisse Ohnmacht zu.

Die untergebrachten Jungen nahmen aber durchaus auch schöne Erlebnisse in der Einrichtung wahr: Genannt wurden die regelmäßig stattfindenden Gruppenaktivitäten, Ausflüge oder auch sportliche Ereignisse (Fußballturnier, Segeltour, Nordseeausflug, Kart fahren etc.). Einem Jungen sei das gemeinsame Feiern und Tanzen an Weihnachten und Silvester positiv in Erinnerung geblieben. Auch die Schulsituation in der Einrichtung fanden die meisten Jungen deutlich positiver als zuvor und berichteten von besserer Konzentration, gutem Eingehen auf sie und deutlichen Fortschritten, z.T. bis hin zu Schulabschlüssen. Einige Jungen schienen regelrecht begeistert und bezeichneten die Schule beispielsweise als „cool“. Vereinzelt gab es jedoch auch negative Einschätzungen („immer noch langweilig, aber ich muss ja dahin — leider“).

„Was sollen wir machen?“

Die Möglichkeiten der Mitbestimmung wurden von den Jungen insgesamt sehr unterschiedlich wahrgenommen: Sie hätten keine bis viele Möglichkeiten. Konkret nannten sie neben den Zimmern im gelben Bereich vor allem die regelmäßig stattfindenden Gruppen- und Freizeitaktivitäten. Hierüber werde meist innerhalb der Gruppe abgestimmt. Weitere Beteiligungsmöglichkeiten beträfen die Bereiche Hygiene und Küchendienst, Kochen, Tagesstruktur und Ausnahmen im Regelsystem.

Auch zu ihren Beschwerdemöglichkeiten befragt, gingen die Meinungen der Jungen auseinander: Es gäbe mehrere oder keine Möglichkeiten zur Beschwerde bzw. Beschwerden würden nichts oder manchmal helfen. Als zentrale Ansprechpersonen bei alltäglichen Belangen nannten die Jungen dabei meist die (Bezugs-) BetreuerInnen. Konkrete Anliegen könnten außerdem wöchentlich in Form eines Antrags formuliert werden, worüber dann im Kreis der BetreuerInnen entschieden werde. Die Erfolgsaussichten möglicher Beschwerden oder Anliegen schätzten einige Jungen dabei durchaus positiv ein, besonders wenn sich mehrere Bewohner zusammentäten. Andere sahen dies skeptischer. Dennoch glaubten viele der befragten Jungen — wenn auch in unterschiedlichem Maße — dass ihre Meinung den BetreuerInnen „schon wichtig“ sei.

Als weitere Anlaufstellen für Beschwerden nannten vereinzelte Jungen das psychologische Personal, die Leitungsebene des Trägers, den Gruppensprecher der Jungen oder auch die Forschungsgruppe der Universität Vechta. Manche Jungen benannten dagegen gänzlich andere Strategien, mit Unzufriedenheit umzugehen. Einige reagierten etwa mit Rückzug. Andere teilten ihre Bedürfnisse offensiver mit: „Den nerven, den ärgern… vielleicht sogar hauen. Vielleicht provoziere ich auch einfach die Betreuer, bis die dann so bei mir sind, weil wenn ich so was mache, dann weiß man auch direkt, der hat irgendwas. Kommen die her und fragen: ‚Was ist denn los?‘. Dann erzähle ich das auch meistens“.

Ein Junge fasste die verschiedenen von ihm beobachteten Verhaltensalternativen zusammen: „Es gibt verschiedene Beispiele, wie wir reagieren. Manche rasten total aus. Manche beleidigen nur und gehen aufs Zimmer, manche bleiben einfach ruhig und halten lieber die Schnauze. Manche sprechen die Betreuer ordentlich darauf an. Ist total unterschiedlich“.

„Ich wollte nicht telefonieren, weil wir immer auf Lautsprecher machen“

Ein Mindestmaß an Privatsphäre schien relevant zu sein für das Wohlbefinden der Jungen in der Einrichtung, insbesondere aber auch für die Ausgestaltung ihrer Sozialkontakte. Zum erst genannten Bereich benannten die Jungen fast einhellig, wenn der Wunsch nach Ruhe innerhalb der Einrichtung aufkomme, den Rückzug ins eigene (abschließbare) Zimmer. Nur die BetreuerInnen hätten die Möglichkeit, das Zimmer von außen aufzuschließen, würden davon aber kaum Gebrauch machen. Vor dem Betreten des Zimmers würden sie in der Regel anklopfen. Teilweise benannten die Jungen aber auch wahrgenommene Einschränkungen ihrer Privatsphäre, wie die Kameras in der Einrichtung, begleitete Telefonate oder das Lesen der Briefpost. Einen Jungen störte es, dass es im roten Bereich keine Schranktüren gebe. In den Interviews wurde deutlich, dass die Jungen sich vor allem im Kontakt mit Familie und FreundInnen mehr Privatsphäre wünschten. Wichtige Ansprechpersonen und Sozialkontakte waren nach Angaben der Jungen insbesondere direkte Angehörige (Mutter, Vater, Oma etc.), FreundInnen oder auch andere Bewohner. Teilweise schlossen die Jungen neue Freundschaften im näheren Umfeld der Einrichtung.

Es zeigte sich, dass neben manchem Freund bzw. mancher Freundin vor allem die Familie der Jungen eine besondere Bedeutung für sie einnahm („Das sind die einzigen Menschen, die für mich wichtig sind“). Alle befragten Jungen berichteten von Kontakten zur Familie, z.B. durch regelmäßige Telefonate, Besuche der Angehörigen in der Einrichtung und/ oder Heimfahrten. Kontakte zu FreundInnen spielten in den Interviews oft eine kleinere Rolle und seien teilweise von den BetreuerInnen auch als problematisch eingestuft worden — so die Jungen. Kontakte zu FreundInnen waren daher und aus anderen Gründen für die Jungen meist schwierig zu gestalten. Z.B. beklagte ein Junge, dass er wegen der stark begrenzten wöchentlichen Telefonzeiten kaum die Möglichkeit habe, den Kontakt zu Gleichaltrigen aufrechtzuerhalten. Andere dagegen wollten lieber gar nicht telefonieren (zumindest im Beisein Erwachsener), sondern sich treffen oder übers Internet kommunizieren. Beste Freunde oder die Freundin im Heimatort waren somit für mehrere Jungen schwer erreichbar.

„Die Leute kamen und haben geredet und ich saß da einfach nur und habe zugehört“

Zu den Hilfeplangesprächen mit dem Jugendamt wurden von den Jungen überaus heterogene Eindrücke geschildert. Viele Jungen waren der Ansicht, dass diese Gespräche (sehr) gut verlaufen seien und sie die Möglichkeit bekommen hätten, ihre Perspektive einzubringen. Einer beklagte hingegen, er habe lediglich fünf Minuten an dem Gespräch teilnehmen und seine Sichtweise nicht einbringen können, sondern es sei bereits alles entschieden gewesen. Auch ein weiterer Junge schilderte die Erfahrung mangelnder Beteiligung: Eigene Vorschläge seien meist unberücksichtigt geblieben. Nun hoffe er jedoch mit Unterstützung der GITW darauf, eigene Interessen künftig besser durchsetzen zu können.

Über die Hilfeplangespräche hinausgehende Kontakte mit dem zuständigen Jugendamt fänden dagegen weniger statt, wobei vereinzelt und insbesondere im Fall von Vormundschaften etwas häufigere Kontakte geschildert wurden. Mitunter wurden von Seiten der Jungen starke Vorbehalte gegenüber dem Jugendamt deutlich. Die Behörde wurde oft als mächtige Institution „am längeren Hebel“ geschildert, der man eher hilflos gegenüberstehe und die aufgrund von Aktenlage und ohne Rücksicht auf die Vorstellungen der Jungen, Eltern oder anderer Bezugspersonen Entscheidungen treffe und durchsetze. Kritisiert wurde z.B. auch, dass die eigene Akte nicht eingesehen werden dürfe.

„Kinderanwälte, die vom Jugendamt bezahlt werden“

Sieben der befragten Jungen gaben an, eine/n VerfahrenspflegerIn zu haben. Einigen war die Funktion ihrer Verfahrenspflegschaft eher unklar, andere benannten ungefähre Vorstellungen über Aufgabenkreise und Funktion. In diesem Rahmen würde alles geregelt und besprochen, was die gerichtliche Genehmigung für die geschlossene Unterbringung angehe. Die Kontakte zur/zum VerfahrenspflegerIn wurden überwiegend in positiver Art und Weise und nur vereinzelt negativ beschrieben. Beispielsweise beklagte ein Junge, dass er seiner Ansprechperson in rechtlichen Belangen Fragen gestellt habe, die diese nicht habe beantworten können.

Licht im Dunkel der ‚Blackbox‘

Mit der Forschung zur GITW in Lohne konnte zumindest punktuell etwas Licht in das Dunkel der ‚Blackbox‘ Geschlossene Unterbringung gebracht werden. So spiegeln sich in den Aussagen der befragten Jungen deutlich die Ambivalenzen, die mit einer geschlossenen Unterbringung verbunden waren. Auf der einen Seite ist hier der „Schock“ zu benennen, der mit der Maßnahme verbunden war, auf der anderen Seite jedoch auch die Relativierung negativer Voreinschätzungen, die Gewöhnung an die Einrichtung und der damit verbundene Nutzen, insbesondere der Beziehungsangebote. Die Perspektive der Jungen verdeutlicht jedoch auch deren starke Anpassungsleistung an das System der Einrichtung. So empfahlen sie neuen Bewohnern explizit „mitzumachen“ und dies insbesondere im Hinblick darauf, dann schneller wieder draußen zu sein. Aus unserer Perspektive bleibt zu diskutieren, inwieweit eine meist negativ konnotierte Anpassungsleistung nicht zunächst einmal auch ein Ziel von Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe sein kann, um damit weitergehende Entwicklungen zu ermöglichen — die jedoch ohne Frage das eigentliche Ziel bilden müssen.

Die ausgewählten Kontakte der Jungen zeigen ebenfalls deutliche Ambivalenzen auf. So wird der Kontakt der Jungen zur Familie und zu ehemaligen FreundInnen durch die institutionellen Rahmenbedingungen deutlich erschwert bzw. die Hemmschwelle z.B. durch begleitete Telefonate erhöht. Dennoch scheint insbesondere die Familie — trotz der häufigen Konflikte — ein wichtiger Bezugspunkt für die Jungen während ihrer Zeit in der Einrichtung zu sein.

Weitere Berührungspunkte nach ‚Außen‘ ergeben sich aus dem System der Kinder- und Jugendhilfe: So werden Hilfeplangespräche von den Jungen sehr ambivalent wahrgenommen und es bleibt fraglich, ob die Jungen hierin eine vielversprechende Beschwerdeinstanz sehen. Dahingegen wird die vom Gericht bestellte Verfahrenspflegschaft — sofern sie den Jungen bekannt ist — deutlich positiver wahrgenommen. Dennoch zeigt die Unsicherheit einiger Jungen in Bezug auf ihre/n VerfahrenspflegerIn, dass hier eindeutigere Informationen und eine regelmäßigere Betreuung notwendig sind, damit die Jungen ihre Rechte auch faktisch nutzen können.

Abschließend ist allerdings kritisch anzumerken, dass auf der Grundlage dieser Untersuchungsbefunde keine generalisierbaren Aussagen über Geschlossene Unterbringungen in der Kinder- und Jugendhilfe getroffen werden können. Die Sichtweisen der Jungen aus einer einzigen Einrichtung sind zwar zentral, aber keine befriedigende Datengrundlage für weiter reichende Aussagen. Und ein weiteres Problem kommt hinzu: So wichtig die Perspektive der Jungen in der Untersuchung auch war, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass es zu Anpassungsprozessen (bspw. Kolonisierung, vgl. Goffmann 1973) gekommen sein kann und adaptive Präferenzen (vgl. Elster 1982) vorliegen können. Auch geschlossen untergebrachte Menschen entwickeln Zufriedenheit im Rahmen der gebotenen Möglichkeiten. Somit besteht beispielsweise die Gefahr, dass die Jungen ihre Lebenssituation in der GITW unverhältnismäßig positiv bewertet haben, was bezüglich der Befunde des Projekts berücksichtigt werden muss. Umso wichtiger werden institutionalisierte Möglichkeiten, um Licht in das Dunkel der ‚Blackbox‘ Geschlossene Unterbringung (aber auch anderer stationärer Jugendeinrichtungen) zu bringen. Denn im pädagogischen Alltag können Grenz- und Rechtsverletzungen gegenüber Kindern und Jugendlichen stattfinden bzw. als solche empfunden werden. Diese Gefahr ist per se in der Machtasymmetrie zwischen AdressatInnen und Fachkräften angelegt (vgl. Wolf 2010) und kann durch strukturelle Besonderheiten wie Abgeschlossenheit noch verstärkt werden (vgl. Goffman 1973). Deshalb ist die Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen immer auch zentrales Thema für alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Feldhaus /Gaßmöller/ Oelkers 2013). Und damit wird es umso wichtiger, Kindern und Jugendlichen einen Zugang zu Beschwerde- und Anlaufstellen zu ermöglichen. Und dies insbesondere aufgrund der wenig eindeutig wahrgenommenen Beschwerde- und Beteiligungsmöglichkeiten seitens der befragten Jungen.

DAS JUGENDAMT WURDE OFT ALS MÄCHTIGE INSTITUTION „AM LÄNGEREN HEBEL“ GESCHILDERT, DER MAN EHER HILFLOS GEGENÜBERSTEHE