Einleitung

In der Nacht vom 31.12.2015 auf den 01.01.2016 wurden in Köln im Bereich von Hauptbahnhof, Domplatte und Hohenzollernbrücke zahlreiche Straftaten, überwiegend Eigentums- und Sexualdelikte, verübt. Die mehrheitlich weiblichen Opfer beschrieben die Täter meist als nordafrikanisch-arabisch oder südländisch. Eine genaue Identifizierung der Tatverdächtigen und damit eine Aufklärung der Straftaten war allerdings nur in sehr wenigen Fällen möglich, sodass viele Fragen zum Hintergrund dieser Taten offenbleiben mussten (Behrendes 2016).

Diese Ereignisse, die unter der Bezeichnung „Kölner Silvesternacht 2015“ auch international bekannt wurden, führten zu zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Diskussionen und Reaktionen. Eine intensive inhaltliche Aufarbeitung des Geschehens erfolgte im Rahmen eines von Januar 2016 bis April 2017 tätigen Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Landtags Nordrhein-WestfalenFootnote 1. Dabei stand v. a. die Frage möglicher Fehler und Versäumnisse von Behörden des Landes Nordrhein-Westfalen, insbesondere der Polizei, sowie der Stadt Köln und der Bundespolizei im Mittelpunkt.

Der Autor dieses Beitrags analysierte im Auftrag des Untersuchungsausschusses die von der Polizei gesammelten Strafanzeigen anhand vorgegebener Fragestellungen (Egg 2016; Egg et al. 2016). Der vorliegende Beitrag befasst sich – aus kriminalpsychologischer Perspektive – mit dem Ablauf und den möglichen Ursachen der Kölner Silvesternacht sowie mit möglichen Schlussfolgerungen für die Prävention ähnlicher Ereignisse in der Zukunft.

Chronologie der Kölner Silvesternacht

  • Wie in ganz Deutschland üblich, wurden auch in Köln zum Jahreswechsel 2015/2016 zahlreiche Feuerwerkskörper (Raketen, Knaller, Böller etc.) von Privatpersonen auf öffentlichen Straßen und Plätzen abgebrannt. Dabei kam es offenbar bereits ab 17:00 Uhr zum gezielten Beschuss mit Böllern gegen die am nördlichen Bahnhofsvorplatz gelegene Kirche St. Mariä, wodurch die darin abgehaltene Messe erheblich gestört wurde. „Treffer auf die Kirche wurden jeweils mit einem auch in der Kirche deutlich zu hörenden Gejohle auf dem Bahnhofsvorplatz quittiert“ (Schlussbericht, S. 225). Auch der Jahresabschlussgottesdienst im Kölner Dom (von 18:30 Uhr bis 19:45 Uhr) wurde durch den Beschuss der Kirchenfenster mit Pyrotechnik massiv beeinträchtigt (Schlussbericht, S. 227 f.). Dabei handelte es sich um klare Verstöße gegen das SprengstoffgesetzFootnote 2, gegen die die Stadt Köln als Ordnungsbehörde hätte einschreiten müssen. Anders als früheren Jahren kam die Stadt dieser Aufgabe in der Silvesternacht 2015 jedoch nicht nach (Schlussbericht, S. 193).

  • Ab dem frühen Abend versammelte sich im Bereich des Bahnhofsvorplatzes, aber auch im Bahnhof selbst, eine wachsende Anzahl von Männern, die sich in kleineren Gruppen bewegten und von der Polizei als Migranten aus dem nordafrikanisch-arabischen Raum beschrieben wurden. Die Männer waren offensichtlich in Feierlaune, viele anscheinend auch erkennbar alkoholisiert. Sie bewarfen sich gegenseitig mit Feuerwerkskörpern, johlten und schrien. Ein Polizist schilderte diese Situation später vor dem Ausschuss so: „Es war komplett hemmungslos, als wären die in einer komplett anderen Welt, … wie die da feierten“ (Schlussbericht, S. 242).

  • Ab ca. 21:00 Uhr gab es zahlreiche Notrufe wegen Diebstahl, Raub und sexueller Nötigung sowie deutliche Hinweise darauf, dass an den jeweiligen Tatorten keine oder zu wenig Polizei erkennbar gewesen sei. Trotz dieser Mitteilungen forderte der Polizeiführer der Landespolizei keine zusätzliche Verstärkung an, da er die ihm zugeteilten Kräfte für ausreichend hielt (Schlussbericht, S. 245).

  • Bis ca. 22:00 Uhr stieg die Gesamtzahl der im Bereich des Bahnhofsvorplatzes und der Domplatte versammelten Gruppen auf über 1000 Menschen an. Die Lage wurde jetzt als zunehmend problematisch eingeschätzt. Die Polizei befürchtete das Entstehen einer Massenpanik – wie bei der Love Parade 2010 in DuisburgFootnote 3 – und beschloss daraufhin, den Bereich der Domtreppe sowie den angrenzenden Bahnhofsvorplatz zu räumen.

  • Diese Räumung erfolgte zwischen 23:30 Uhr und 0:15 Uhr. Die befürchtete Panik blieb zwar aus bzw. konnte verhindert werden, doch innerhalb der zurückgedrängten Menschengruppen kam es zu zahlreichen weiteren Eigentums- und Sexualdelikten.

  • Gegen Mitternacht kam es wegen der Überfüllung der Hohenzollernbrücke zu panikartigen Situationen auf den beiden Fußwegen der Brücke, die dazu führten, dass etliche Personen in ihrer Not auf die Gleisanlagen sprangen. Der gesamte Bahnbetrieb auf der Brücke musste daraufhin über eine Stunde (bis 1:30 Uhr) eingestellt werden, was eine Überfüllung des Hauptbahnhofs zur Folge hatte. Auch in diesem Gedränge wurden viele weitere Straftaten verübt.

  • Erst am frühen Morgen des 1. Januar beruhigte sich die Lage allmählich. Noch in der Nacht wurden erste Anzeigen wegen sexueller Übergriffe durch Gruppen sowie wegen Raub bzw. Diebstahl erstattet. Zahlreiche weitere Anzeigen folgten im Verlauf des Neujahrstages sowie an den nachfolgenden Tagen.

  • In der Pressearbeit des Polizeipräsidiums Köln blieben die Vorfälle der Silvesternacht 2015 zunächst unerwähnt. So hieß es in dessen Pressemitteilung am Morgen des 01.01.2016, die meisten Silvesterfeierlichkeiten seien „wie im Vorjahr friedlich verlaufen“. Erwähnt wurde lediglich die Räumung des Bahnhofsvorplatzes kurz vor Mitternacht – um eine Massenpanik durch das Zünden von Pyrotechnik zu verhindern. Trotz dieser „ungeplanten Feierpause“ habe sich die Einsatzlage entspannt dargestellt – auch weil die Polizei sich „an neuralgischen Orten gut aufgestellt und präsent gezeigt“ habe (Schlussbericht, S. 16).

  • Am 27.01.2016 beschloss der Landtag Nordrhein-Westfalen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gemäß Artikel 41 der Landesverfassung zu den massiven Straftaten in der Silvesternacht 2015 und zur Frage von rechtsfreien Räumen in Nordrhein-Westfalen („Untersuchungsausschuss Silvesternacht 2015“).

Auswertung der Strafanzeigen

Untersuchungsauftrag

Zur Unterstützung bei der Aufklärung der Geschehnisse der Kölner Silvesternacht 2015 im Bereich des Kölner Hauptbahnhofs beauftragte der Parlamentarische Untersuchungsausschuss IV (nachfolgend: PUA IV) mit Beschluss vom 05.07.2016 den Autor mit der Erstellung eines schriftlichen Gutachtens. Anhand eines differenzierten Fragenkataloges sollten dabei die dem Ausschuss vorliegenden anonymisierten Strafanzeigen der Ermittlungsgruppe NeujahrFootnote 4 (EG Neujahr) ausgewertet werden. Man erhoffte sich dadurch Erkenntnisse zu einer möglichen Typologie der begangenen Straftaten und zu einem evtl. organisierten Vorgehen der Täter.

Der Autor erhielt die auszuwertenden Daten am 23.07.2016 in digitaler Form zugesandt (pdf-Dateien im Umfang von 2,17 GB); als Abgabetermin für das Gutachten war der 30.09.2016 vereinbart worden. In dieser relativ kurzen Zeitspanne wurden sämtliche Datensätze gesichtet, codiert und hinsichtlich der Fragen des Ausschusses statistisch ausgewertet.Footnote 5 Zur Erläuterung des schriftlichen Gutachtens, das vollständig im Schlussbericht des Ausschusses enthalten ist, wurde der Autor vom PUA IV auch mündlich angehört (24.10.2016 und 30.01.2017).

Allgemeines Vorgehen/Methodik

Die Durchsicht der Datensätze ergab, dass viele der zunächst angelegten Vorgänge (Strafanzeigen) nachträglich zusammengefasst oder anderweitig erledigt wurden. Dadurch reduzierte sich die Gesamtzahl der inhaltlich auswertbaren Datensätze von ursprünglich 1580 Vorgängen auf 1022 („gültige“) Fälle. Dies ist gewissermaßen die Grundgesamtheit der Expertise (Zahl der „Fälle“). Da jede Strafanzeige mehrere Tathandlungen, mehrere Geschädigte und z. T. viele Beschuldigte umfassen konnte, ist diese Zahl nicht identisch mit den Zahlen der angezeigten Straftaten, der Tatopfer und der Tatverdächtigen.Footnote 6

Mithilfe einer Codierliste, die sich an den Fragestellungen des Untersuchungsausschusses orientierte, wurde jeder „Fall“ nach den vier Themenbereichen Straftat(en), beschuldigte Person(en), geschädigte Person(en) und Merkmale der Strafanzeige ausgewertet. Die codierten Daten wurden zunächst in Excel-Tabellen übertragen und anschließend mithilfe des Statistikpakets IBM® SPSS® Statistics 20 ausgewertet.

Art und Anzahl der angezeigten Straftaten

Die Strafanzeigen wurden vom Autor nach den darin enthaltenen Tatvorwürfen in vier Hauptgruppen aufgeteilt:

  • Sexualdelikte: Straftaten gemäß § 177 StGB (mit verschiedenen Untergruppen) und Beleidigung auf sexueller GrundlageFootnote 7 (§ 185 StGB);

  • Eigentumsdelikte: Straftaten, bei denen als Tatbestand Diebstahl (§ 242 ff. StGB), Raub (§ 249 ff. StGB) und/oder Hehlerei (§ 259 StGB) angegeben wurde;

  • Eigentums- und Sexualdelikte: Strafanzeigen, die Tatvorwürfe beider Deliktbereiche enthielten;

  • Sonstige Delikte: Strafanzeigen, die ausschließlich andere Tatvorwürfe, z. B. Körperverletzung (§§ 223, 224 StGB), Sachbeschädigung (§ 303 StGB) oder Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) betrafen.

In Tab. 1 ist gezeigt, dass 46,8 % der erfassten Strafanzeigen (auch) Fälle mit Sexualdelikten betrafen, wobei in 29,6 % der Fälle ausschließlich Sexualdelikte zur Anzeige gebracht wurden, in weiteren 17,2 % der Fälle betraf dies sowohl Sexual- wie Eigentumsdelikte. Demgegenüber bezogen sich 46,5 % der Anzeigen auf „reine“ Eigentumsdelikte. Nur sonstige Delikte wurden in 6,7 % aller Fälle angegeben.

Tab. 1 Art und Anzahl der angezeigten Straftaten

Tatorte und Tatzeiten

Die angezeigten Straftaten bezogen sich überwiegend (72,2 % der Fälle) auf Tatorte im Freien, insbesondere auf den Bahnhofsvorplatz, die (nördliche) Domplatte, den Breslauer Platz (auf der Rückseite des Bahnhofs) und die Hohenzollernbrücke. Tatorte innerhalb von Gebäuden (27,8 % der Fälle) betrafen v. a. unterschiedliche Räumlichkeiten des Bahnhofsgebäudes (die Eingänge, die Bahnsteige und die Aufgänge zu diesen), aber auch im Bahnhof befindliche Züge. Betrachtet man lediglich die angezeigten Sexualdelikte, dann ergibt sich eine ähnliche, noch deutlichere Verteilung: 79,4 % im Freien, v. a. auf dem Bahnhofsvorplatz, und 20,6 % innerhalb von Räumlichkeiten.

Bezüglich der in den Anzeigen festgehaltenen TatzeitenFootnote 8 wurden Intervalle gebildet, die sich – gemäß den Vorgaben des Ausschusses – am Verlauf des Silvesterabends orientierten: früher Abend, bis zur Räumung der Domplatte, während der Räumung, unmittelbar danach und später, früher und später Neujahrsmorgen. Betrachtet man lediglich die Ereignisse im Bereich Bahnhofsvorplatz und Domplatte, also den Schwerpunkt der Straftaten im Freien, dann wird deutlich (Tab. 2), dass bereits vor der Räumungsaktion (d. h. bis 23:35 Uhr) 33,6 % aller durch die Anzeigen erfassten Delikte verübt wurden. Bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Dauer der einzelnen Zeiträume (Zahl der Delikte pro Stunde), zeigt sich aber, dass der relative Schwerpunkt oder die größte Dichte der Taten erst danach zu verzeichnen war (Maximum zwischen 0:15 Uhr und 0:45 Uhr).

Tab. 2 Straftaten im Bereich Bahnhofsvorplatz und Domplatte (Tatzeit)

Dies bedeutet, dass die Räumung der Domplatte und des Bahnhofsvorplatzes kurz vor Mitternacht, die eine Paniksituation verhindern sollte, auf die Zahl der dort verübten bzw. angezeigten Straftaten offensichtlich keinen präventiven Effekt hatte. Manchen Anzeigen lässt sich sogar eine deutliche Verschärfung der Situation entnehmen, wie der folgende Ausschnitt einer sog. Online-Strafanzeige zeigt:

Die Polizei versperrte die Domplatte und drängte uns alle nach außen an den Rand, hierbei wurden wir wieder mehrfach unsittlich berührt, ebenfalls im Intimbereich … Wir baten einen Polizisten uns zu helfen, der meine Schwester anschrie, sie solle sofort zurück an den Rand gehen und schubste sie dorthin. Erneut wurde ich hinter mir von mehreren Händen angefasst.

Primäre Tatmotive

Wegen der großen Zahl der oft gleichzeitig und offenbar auch von denselben Tätergruppen verübten Eigentums- und Sexualdelikte liegt die Frage nahe, ob die Sexualdelikte zusätzlich zu den Eigentumsdelikten begangen wurden – wegen der günstigen Tatgelegenheit im Gedränge der Silvesternacht – oder ob diese lediglich instrumentellen Zwecken dienten, d. h. als eine Art Ablenkungsmanöver zur Ermöglichung der Diebstahls‑/Raubtaten. Was also war das primäre Motiv der Täter in dieser Nacht?

Die ausgewerteten Strafanzeigen sind allerdings nur wenig geeignet, diese Frage eindeutig zu beantworten. Dies liegt zum einen daran, dass nur in einer geringen Zahl der Fälle Angaben der Opfer zu den vermuteten „eigentlichen“ Motiven der Täter zu finden sind. Offenbar wurde danach bei der Anzeigenaufnahme nur selten gefragt, und vermutlich war diese Frage für viele Tatopfer auch gar nicht besonders relevant; für sie waren die erlebten Übergriffe maßgeblich, also die eigene Viktimisierung, nicht die Motive der Täter.

Doch auch dort, wo entsprechende Aussagen zu den mutmaßlichen Absichten der Täter gemacht wurden (z. B. auf die Frage: „War dies sexuell motiviert, oder wollten diese Männer an Ihre Wertsachen gelangen?“), finden sich unterschiedliche Einschätzungen der Opfer. Zur Veranschaulichung nachfolgend einige Beispiele aus den Anzeigen:

  • „Es war für mich sexuell motiviert. Diese Typen schienen daran einfach nur Spaß zu haben, und selbst als meine Wertsachen weg waren, gingen diese Berührungen weiter. Diese Männer wollten mich sexuell berühren.“

  • „Ich glaube, der Griff an mein Gesäß war ein Ablenkungsmanöver, damit die andere Person mein Handy entwenden konnte.“

  • „Ich wurde von mehreren Händen unsittlich berührt. Ich glaube nicht, dass das nur einer war. Ziel war es, mich zu beklauen.“

  • „Er hat gezielt in meinen Schritt gefasst. Er wollte nicht an meine Hosentasche.“

  • „Die Person hat offenbar meine Taschen nach Sachen abgesucht. Und dann wurde ich noch auf den Po gefasst. Ob es dieselbe Person war oder nicht, kann ich nicht sagen. Ich habe keinen gesehen.“

Angesichts dieser unterschiedlichen Einschätzungen erscheint es denkbar, dass die Suche nach dem zentralen Motiv der Kölner Täter im Kern verfehlt ist. Auch in Anbetracht der Vielzahl der an den Straftaten dieser Nacht beteiligten Personen ist die Hypothese einer homogenen Tätergruppe mit einer einheitlichen Tatmotivation wenig wahrscheinlich. Plausibler erscheint dagegen die Annahme einer heterogenen Gruppe mit unterschiedlichen Absichten und Zielen.

Ein Teil der Täter könnte also bereits mit der festen Absicht nach Köln gereist sein, vor Ort Diebstähle zu begehen. So berichtete ein aus Syrien stammender Arzt in einer Anzeige von einem Mann („sprachlich aus Libyen stammend“), der ihn in einem Schnellrestaurant im Hauptbahnhof aufgefordert habe, sich an Diebstählen zum Nachteil der „Kufar“ (Ungläubige) zu beteiligen. Diese hätten schließlich den Krieg in die arabischen Staaten gebracht, und deshalb könne man sie hier ruhig schädigen. Andere kamen wahrscheinlich ohne solche kriminellen Vorhaben nach Köln, wollten lediglich feiern oder irgendwie „Spaß“ haben (s. dazu auch Abschn. „Kriminalpsychologische Tatanalyse“).

Organisation der Täter

Ähnlich schwierig wie die Analyse der Tatmotive ist die Beantwortung der Frage, ob und ggf. wie sich die einzelnen Täter oder Tätergruppen vorher bzw. im Verlauf des Abends abgesprochen oder organisiert hatten. Auch dazu finden sich in den Strafanzeigen nur wenige Hinweise, was nicht weiter verwunderlich ist, denn außer Ad-hoc-Absprachen vor Ort dürften weitergehende Verabredungen oder Planungen der Täter für die Geschädigten in dem meist turbulenten Geschehen kaum wahrnehmbar gewesen sein.

Zur Erläuterung zwei kurze Beispiele aus den ausgewerteten Anzeigen:

  • „Eine der Personen schien noch minderjährig zu sein, vielleicht 15–16 Jahre alt. Er erhielt Tipps auf Deutsch von einem anderen Mann, wie er vorgehen sollte und auf was er achten sollte.“

  • „Ich hatte den Eindruck, dass sich immer mehr Männer dieser zunächst vierköpfigen Gruppe angeschlossen haben. Ich schätze, dass es zum Schluss etwa 20 Personen waren, die um uns herumstanden. Man hatte regelrecht das Gefühl, dass das organisiert abgelaufen ist und die Männer sich abgesprochen hatten.“

Aus solchen Aussagen lässt sich zwar vermuten, dass es in etlichen Fällen Absprachen kleinerer Tätergruppen gegeben haben dürfte, v. a. zur Blockierung bzw. Umzingelung möglicher Opfer oder zur geschickten Begehung von Taschendiebstählen. Dies könnte zur Folge gehabt haben, dass sich andere, zunächst unbeteiligte Personen diesen Kleingruppen anschlossen, wodurch sich kurzzeitig auch sehr große Tätergruppen (über 20 Personen) bilden konnten, die sich aber offenbar rasch wieder auflösten bzw. an anderer Stelle neu bildeten. Bezogen auf das Gesamtgeschehen der Silvesternacht lässt sich den Anzeigen dagegen ein höherer Grad an Organisation der Täter und Tätergruppen, etwa eine hierarchische Struktur oder das Vorhandensein von Anführern und festen Gefolgsleuten, nicht entnehmen.

Erlebnisse und Reaktionen der Opfer

In etwa 10 % der Anzeigen finden sich Angaben der Opfer zur subjektiv erlebten Schwere und Bedrohlichkeit der Situation sowie zu den eigenen Reaktionen.Footnote 9 Mit z. T. recht drastischen Worten schildern die Opfer dabei eine außergewöhnlich schwierige und angespannte Lage, die v. a. durch zwei Merkmale gekennzeichnet war:

  • wiederholte und z. T. intensive körperliche Berührungen (Grapschen), auch im Intimbereich, sowie das Abtasten von Hosentaschen, das Öffnen von Reißverschlüssen und das Entwenden von Wertgegenständen,

  • das hilflose Ausgeliefertsein gegenüber den Tätern, auch bei deutlicher Zurückweisung der Übergriffe.

Dies führte zu Angst, Wut und Demütigung sowie zu Ohnmachtsgefühlen. Zur Erläuterung hier einige Beispiele:

  • „Ich fühlte mich in dieser Nacht nicht wie ein Mensch, sondern eher wie ein Gegenstand.“

  • „Wir wurden von den Männern umkreist und abwertend angeschaut, als wären wir Abschaum.“

  • „Die Vorfälle … waren für mich sehr beschämend. Ich merkte, dass die Männer keinen Respekt vor mir und meiner Würde hatten. Als der Mann mir von hinten zwischen meine Beine fasste und mich dort sehr intim berührte, verspürte ich große Scham. Als ich mich dann umdrehte und die Männer auf mich zeigten und mich offensichtlich auslachten, wurde dieses Gefühl extrem verstärkt.“

  • „Es war ein ganz schrecklicher Abend für mich. Uns wurde das Gefühl gegeben, dass man als Frau nichts wert sei und dass man angefasst werden konnte, wie es den Männern gefällt. Man fühlte sich absolut wehrlos.“

  • „Ich habe mich in dem Moment hilflos gefühlt! Ich habe die ganze Zeit nichts gesehen, nur gespürt, weil meine Augen voller Tränen waren.“

  • „So eine Panik und Angst habe ich noch nie gehabt.“

Viele Opfer versuchten sich durch Schreien und einige wenige auch durch Schläge zu wehren, doch war dies anscheinend wenig erfolgreich:

  • „Man hat mich dann mit der flachen Hand mehrmals im Genitalbereich berührt. Ich habe mich umgedreht und ihn dann mit der rechten Faust ins Gesicht geschlagen.“

  • „Er hat mir mit seiner Hand richtig fest in meinen Schritt gefasst. Ich habe sofort mit meiner Hand in Richtung Mann geschlagen.“

  • „Ich habe versucht, die Hände wegzuschlagen, aber ich spürte einfach nur immer mehr, auch unter dem Kleid, es wurde an den Strümpfen gezogen.“

  • „Ich wurde mehrfach von einem Mann sehr fest und hastig im Intimbereich angefasst. Diesen Mann schlug ich mehrfach ins Gesicht und begann zu weinen und zu schreien.“

Noch in der Nacht machten einige Opfer bei der Anzeigenaufnahme die Erfahrung, dass man ihnen das Ausmaß der Bedrohung nicht glauben wollte:

  • „Uns wurde dann erklärt, wir sollten uns beruhigen, es sei sicherlich nicht so schlimm gewesen …“

Auch danach war es für die Opfer offenbar nicht immer einfach, das Erlebte anderen Personen zu vermitteln:

  • „Ich hatte das Gefühl, die ersten Vertrauten, denen ich von meinen Erlebnissen … berichtete, konnten sich überhaupt nicht vorstellen, wie dramatisch die Situation tatsächlich war, nur diejenigen, die selbst ebenfalls vor Ort waren. Nachdem es publik wurde, kamen die ersten Anfragen, war das denn wirklich so schlimm? Ja, das war es. Eine derartig bedrohliche Situation habe ich vorher noch nie erlebt und ich möchte es auch nicht.“

Präsenz und Verhalten der Polizei

In etlichen Anzeigen, insbesondere in solchen, die per E‑Mail eingingen, wurde auch das Verhalten der Polizei vor Ort thematisiert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, handelt es sich dabei meist um kritische Bemerkungen zur (mangelnden) Präsenz, zu geringer Aktivität und Hilfsbereitschaft der Polizeikräfte oder gar zu Vorwürfen gegen die Opfer. Hierzu ein paar erläuternde Beispiele:

  • „Die gesamte Bahnhofshalle war voll mit Menschen, doch es war keine Polizei in Sicht, die diese Situation unter Kontrolle bringen würde.“

  • Wir haben uns durch die Menge durchgekämpft und sind zu einem Polizisten gelangt. Wir haben ihn um Hilfe gebeten, er hat uns aber zurück in die Menge geschoben.

  • „Meinen Beobachtungen zufolge waren viel zu wenig Polizisten da vor Ort, wo sich die Menschenmassen aufhielten.“

  • „Ich habe einem Polizisten geschildert, was mir passiert ist und habe ihm auch die Männer gezeigt, die dies waren. Ich habe ihn aufgefordert, hier einzugreifen, was er allerdings nicht getan hat. Er sagte zu mir persönlich: Da kann ich nichts machen.“

  • „Die Polizisten, die wir angesprochen hatten, haben uns nicht geglaubt und auch nicht geholfen. Die haben sich das Ganze nur angeschaut und nichts getan. Wir sind ziemlich entsetzt darüber und auch verärgert.“

  • „Wir haben dann zwei Polizisten angetroffen und ihnen erzählt, was passiert ist und ob sie uns helfen könnten. Einer von den Polizisten sagte, geht weiter und fahrt nach Hause, ich kann euch nicht helfen.“

  • „Der eine Polizist ließ uns nicht ausreden, der andere drehte sich in Richtung Rheinufer und tat so, als ob er da etwas Wichtiges zu schauen hätte.“

  • „Vor den Bahnhofseingängen war das reine Chaos und im Eingangsbereich standen seelenruhig zwei Polizisten.“

  • „Eine Beamtin sagte zu mir, du kommst doch aus Köln, dann weißt du doch, dass du hier nicht feiern gehen darfst.“

  • „Enttäuscht bin ich auch von der Polizei, von der man Hilfe und Schutz erwartet hätte, aber nicht bekommen hat.“

In der Summe vermitteln diese Angaben den Eindruck, dass bei dem Silvestereinsatz 2015 in Köln eine viel zu geringe Zahl an Polizeikräften vor Ort war und dass diese wenigen Personen nicht in der Lage waren, die Situation zu kontrollieren oder zu stabilisieren, weder präventiv (Verhinderung von Straftaten) noch operativ (Unterstützung der Opfer, Festnahme von Verdächtigen etc.). Selbst für die Anzeigenaufnahme standen in dieser Nacht anscheinend viel zu wenig Personen zur Verfügung:

  • „Wir sind dann zur nächsten Polizeiwache. Dort haben wir länger gewartet und wollten eine Anzeige aufgeben, aber geholfen hat uns dort auch keiner. Uns wurde eher noch gesagt, wir seien selbst schuld an der Sache. Ein Polizist forderte uns auf zu gehen, da er keine Zeit hätte.“

Diese geringe Polizeipräsenz dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass im Bereich des Kölner Hauptbahnhofs in der Silvesternacht 2015 eine Art rechtsfreier Raum entstehen konnte, der zu einer Vielzahl von Straftaten führte. Die Täter konnten sich im Schutz der Dunkelheit und der großen Menschenmenge weitgehend sicher sein, nicht erkannt zu werden, und sie mussten auch keine Festnahme durch die Polizei oder sonstige nachteilige Konsequenzen fürchten.

Für die Eskalation der sexuellen Übergriffe und der Eigentumsdelikte, also für die große Zahl der Rechtsverletzungen über mehrere Stunden hinweg, ist das offensichtliche Versagen der für die Sicherheit in der Kölner Innenstadt verantwortlichen Personen und Institutionen deshalb von maßgeblicher Bedeutung. Allerdings kann damit allenfalls der progrediente Verlauf der Geschehnisse erklärt werden, nicht aber deren Beginn oder Anlass, also die eigentlichen Ursachen der Delikte. Für diese umfassende Tatanalyse sind weitere Schritte erforderlich, insbesondere eine Betrachtung der Täter und deren psychosozialer Bezüge.

Kriminalpsychologische Tatanalyse

Die Auswertung der Strafanzeigen ergab – wie oben gezeigt – nur wenige Informationen über die Motive und die Charakterisierung der Täter. Für eine gründliche Ursachenanalyse sind daher zusätzliche Informationen nötig, insbesondere die Ergebnisse des PUA IV. Danach ist davon auszugehen, dass es sich bei den Tätern der Kölner Silvesternacht weit überwiegend um Männer aus dem nordafrikanischen-arabischen RaumFootnote 10 handelte, die erst vor relativ kurzer Zeit als Flüchtlinge oder Asylsuchende nach Deutschland gekommen waren, also um Migranten. So konnten sich 70 Personen, die vor Ort kontrolliert wurden, z. B. weil sie Pyrotechnik benutzt hatten, lediglich mit einer „BÜMA“Footnote 11, also mit einem ein vorläufigen Aufenthaltspapier, ausweisen, das von den Behörden als Identitätsdokument vor einem Asylverfahren ausgestellt wird (Schlussbericht, S. 480). Sie befanden sich also erst seit kurzer Zeit in Deutschland und waren nicht, wie zunächst vermutet wurde, Teil der bereits seit längerer Zeit in Köln bekannten „Antänzer-Szene“Footnote 12 (Schlussbericht, S. 605).

Ein zweiter wesentlicher Punkt ist die Feststellung, dass die Ereignisse der Kölner Silvesternacht als ein völlig neuartiges Phänomen anzusehen sind, ein bisher nichtbekannter „modus operandi“ also. Zumindest in Deutschland gab es nämlich in der Vergangenheit keine vergleichbaren Fälle von massenhaften Eigentums- und Sexualdelikten aus Personengruppen heraus bei öffentlichen Veranstaltungen oder in größeren Menschenansammlungen (Bundeskriminalamt 2016, S. 38).

Zur kriminologischen Erklärung der Straftaten der Kölner Silvesternacht ist am ehesten ein mehrdimensionaler Ansatz in Betracht zu ziehen, der verschiedene allgemeine und situationsspezifische Risikofaktoren der genannten Tätergruppe berücksichtigt (auch: Bundeskriminalamt 2016, S. 45 f.):

  • Bei den Tätern handelte es sich augenscheinlich um meist junge Männer, die sich wegen ihres unsicheren Status als frisch eingereiste Zuwanderer aktuell in einer prekären, randständigen Situation befanden und deren Zukunftsperspektive weitgehend offen war.

  • Viele von ihnen dürften auch vorher unter ebenfalls wenig stabilen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen gelebt haben bzw. aufgewachsen sein. Die Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland war vermutlich der Hauptgrund für ihre zumeist aufwendige und risikoreiche Zuwanderung über die sog. Mittelmeerroute (in Booten krimineller Schlepper). Diese – als Folge falscher Informationen womöglich übertriebene – Hoffnung ließ sich aber aus verschiedenen Gründen (z. B. geringe soziale Bindungen, mangelnde Sprachkenntnisse, fehlende oder nichtausreichende schulische und berufliche Qualifizierung) nicht ohne Weiteres und schon gar nicht sehr rasch umsetzen. Dies dürfte der Nährboden für massive Frustrationserlebnisse gewesen sein, die sich in dieser Nacht in Form von aggressiven Handlungen zeigten.

  • Die Bereitschaft zur Tatbegehung, insbesondere zu sexuellen Übergriffen, kann bei den aus Nordafrika stammenden Männern durch eine andere kulturelle Prägung, insbesondere in Bezug auf das Geschlechterrollenverständnis und die Akzeptanz sexueller Gewalt gegenüber Frauen, weiter erhöht worden sein.

  • Der vor Ort praktizierte und womöglich ungewohnt starke Konsum von Alkohol und anderer berauschender Mittel dürfte zu einer Reduzierung sozialer Hemmungen geführt haben, wodurch sich die Bereitschaft zur Begehung sexuell-aggressiver Übergriffe weiter steigern konnte.

  • Eine womöglich ausschlaggebende Verstärkung der Tatbereitschaft kann darin gesehen werden, dass wegen der geringen Polizeipräsenz und der Wahrnehmung, dass Übergriffe anderer Personen folgenlos blieben, eine Art Nachahmungs- oder Sogeffekt entstanden ist, der auch solche Personen zu Übergriffen ermunterte, die zunächst ohne jede kriminelle Absicht an den Ort gekommen waren. Die scheinbare Regellosigkeit der Ereignisse schien den Anwesenden irgendwie alles zu erlauben.Footnote 13

Schlussbemerkungen

Die Kölner Silvesternacht 2015 bedeutete eine Zäsur für zahlreiche gesellschaftliche und gesellschafts- sowie rechtspolitische Diskussionen, die weit über das eigentliche Ereignis hinausgingen. Es war tatsächlich eine „Nacht, die Deutschland veränderte“ (Wiermer und Voogt 2017). Hatte schon die Entscheidung der Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 04.09.2015, die zu Tausenden in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge ohne jede Voraussetzung nach Deutschland einreisen zu lassen, mit der Folge, dass die bereits laufende Flüchtlingswelle nun erst richtig in Gang kam, zu äußerst kontroversen Diskussionen in Deutschland geführt (zwischen uneingeschränkter „Willkommenskultur“ und einer pauschalen Flüchtlingskritik „besorgter Bürger“), so verschärften die chaotischen Zustände der Kölner Silvesternacht die bestehende Debatte erheblich (etwa in Bezug auf eine Begrenzung der Aufnahme von Asylsuchenden oder hinsichtlich der Möglichkeiten einer konsequenten Abschiebung von Asylsuchenden ohne Bleibeperspektive).

Aus kriminologischer Perspektive ist die in diesem Zusammenhang oft gestellte schlichte Frage, ob Flüchtlinge generell krimineller sind als Deutsche, zwar naiv, weil kriminelles Verhalten nicht einfach ein Merkmal der Herkunft oder der Nationalität ist, sondern in der Regel als das Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener individueller und sozialer Risikofaktoren zu begreifen ist; gleichwohl ist die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Migration und Kriminalität notwendig und sinnvoll. Dies gilt schon deshalb, weil aktuelle Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik 2016 einen nichtunerheblichen Anstieg an Delikten von „Zuwanderern“Footnote 14 aufweisen. So stieg die Zahl der Tatverdächtigen dieser Personengruppe von 2015 bis 2016 in ganz Deutschland um 52,7 % (ohne ausländerrechtliche Verstöße), während die Zahl deutscher Tatverdächtiger im gleichen Zeitraum um 3,4 % zurückging (Bundeskriminalamt 2017). Dieser Anstieg dürfte zwar im Wesentlichen durch die deutlich angewachsene Zahl an Zuwanderern erklärbar sein, allerdings ergaben sich etwa im Bundesland Hessen bei einer ähnlich hohen Gesamtsteigerung von 49,9 % besonders hohe Zuwachsraten u. a. für Körperverletzung (+133,7 %) und Sexualdelikte (+183,5 %), während bei Diebstahl lediglich 9 % mehr tatverdächtige Zuwanderer erfasst wurden (Hessisches Landeskriminalamt 2017).

Eine detaillierte kriminologische Analyse solcher Veränderungen kriminalstatistischer Daten ist notwendig, um die jeweiligen Entstehungszusammenhänge zu erkennen und um angemessen darauf reagieren zu können. Entsprechende Studien sollten selbstverständlich ausschließlich nach allgemeinen wissenschaftlichen Standards erfolgen, also vorbehaltlos und ohne Tendenzen zu Beschönigung oder Skandalisierung. Nur so lassen sich geeignete Maßnahmen der Abwehr und Strafverfolgung, aber auch der Kriminalprävention begründen und entwickeln.