Einleitung

Am 31.08.2010 wurden die neuen Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz „für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ publiziert. Sie verstehen sich als Fortschreibung der am 27.09.2002 verabschiedeten Leitlinien „zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“. Die aktuellen Leitlinien sind wie die Vorgängerversion unter www.dbk.de abrufbar.

Hintergrund dieser Fortschreibung war die im Jahr 2010 durch das Bekanntwerden der Fälle im Berliner Canisius-Kolleg neu aufgeflammte Diskussion über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Schon 2002 war die aus Amerika herüberschwappende Debatte über Missbrauch von Minderjährigen durch katholische Geistliche Anlass zur Erstellung der ersten deutschlandweit geltenden Leitlinien. Bis dahin hatten die einzelnen Bistümer unterschiedliche Vorgehensweisen in solchen Fällen. Man stützte sich bei diesem heiklen Thema vorzugsweise auf katholische Fachleute. Entsprechende Psychiater und Psychologen wurden um Gutachten gebeten. Und auch die Leitlinien von 2002 gingen auf solche Experten zurück. Forensisch-psychiatrischer Sachverstand und die Kompetenz von Glaubhaftigkeitsgutachtern wurden offenbar nicht zugezogen.

Früherer Umgang mit sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche

Das Vorgehen entsprach einem ganz allgemeinen Trend zur Hochschätzung von Psychologie und Psychotherapie, der schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Kirchenkreisen zu beobachten war. In der Seelsorge wurde es üblich, Priesterkandidaten nach der Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers auszubilden. In Ordensgemeinschaften wurden Methoden der Gruppendynamik ausprobiert. Die Pastoraltheologie stützte sich auf vornehmlich psychoanalytisch inspirierte Sichtweisen. Eugen Drewermann ist der vielleicht bekannteste Exponent einer oft unkritischen Rezeption solcher psychologischen Konzepte. Es war eine Zeit, in der „Psychoexperten“ zunehmenden Einfluss in der Kirche bekamen. Gewiss gab es auch Widerstand, aber der galt gemeinhin aus „ewiggestrig“.

Die kirchlichen Oberen bemühten sich, nach Möglichkeit, „modern“ zu reagieren. Modern war aber in Fällen von Missbrauch, sofort entsprechende Psychoexperten einzuschalten, die sich dann der Fälle annahmen und das weitere Verhalten oft de facto bestimmten. Da kam es dann nicht selten vor, dass der Psychofachmann in einer Person die Diagnose stellte, die Therapie durchführte, zugleich für die Kontrolle des Täters zuständig war, schließlich das Ganze selber begutachtete und kaum zu übergehende Vorschläge für das weitere Vorgehen machte. Es gilt zwar zurzeit als gängige Sprachregelung, dass für Missbrauch insbesondere geschlossene Systeme anfällig waren, bei denen v. a. der Ruf der Einrichtung nach außen gewahrt werden sollte. Mag sein, dass das in einzelnen Fällen entscheidend war, aber zwei andere Aspekte, insbesondere in kirchlichen Kreisen, sollten nicht übersehen werden. Zum einen war es oft schlicht massive Scham, die die Verantwortlichen bei den berichteten Verbrechen ergriff, und daraus ergab sich schnell die Reaktion, dass für solche unglaublichen Untaten Experten zugezogen werden mussten. Damit wuchs kirchlichen Psychoexperten zusätzlich ein hoher Einfluss zu. Doch in Wirklichkeit war die Kompetenz dieser Experten bei allem guten Willen oft nur begrenzt. Bekanntlich kommen pädophile Täter in der Regel nicht freiwillig in Therapie, sodass nur die forensischen Psychiater über genügend Erfahrung mit dieser Patientengruppe verfügen. Die wurden aber nicht zugezogen, wissenschaftlich begründete Glaubhaftigkeitsbegutachtung war kaum bekannt, und gar die Opferperspektive lag für Erwachsenenpsychiater und -psychotherapeuten vor der wissenschaftlichen Etablierung der posttraumatischen Belastungsstörung eher im Schatten. So stand die Expertokratie in diesem Feld aus heutiger Sicht auf tönernen Füßen.

Man kann das Verhalten der Kirche in früheren Jahrzehnten als „naiv“ bezeichnen. Die Vorstellung, dass man dem reuigen Sünder verzeihen müsse, dass die göttliche Barmherzigkeit vor keinem Menschen halt mache, dass man jedem Menschen noch einmal eine Chance geben müsse, ist ja nicht falsch, aber sie ist auf einen hochriskanten Pädophilen nicht so einfach zu übertragen. Naivität ist in der Regel durch Wissenschaft aufzuklären. Doch das Tragische war in diesem Fall, dass die Wissenschaft für diese wichtige Aufklärungstätigkeit ausgerechnet damals nicht zur Verfügung stand. Denn diejenigen, die im Gegensatz zur Kirche wirklich etwas von Pädophilie verstanden, waren zu dieser Zeit womöglich noch „naiver“ als die Kirche. Sie plädierten nachdrücklich für die Entkriminalisierung pädosexueller Kontakte. Man trat für die „Befreiung der kindlichen Sexualität“ ein, und Eberhard Schorsch, einer der anerkanntesten Sexualwissenschaftler in Deutschland, erklärte 1970 bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag unwidersprochen: „Gewaltfreie Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern löst bei gesunden Kindern keinerlei Schädigungen aus“ [1]. Die katholische Kirche, deren Sexualmoral pädosexuelle Kontakte niemals gebilligt hatte, galt demgegenüber als lästige Bremserin einer sexuellen Emanzipationsbewegung, die sich anschickte, die letzten einschränkenden Tabus zu brechen. Anträge auf Parteitagen der Grünen auf Entkriminalisierung pädosexueller Kontakte waren daher keine grünen Spleens, sondern spiegelten die Haltung weiter Bereiche der Sexualwissenschaft wider. Noch 1989 erschien im renommierten Deutschen Ärzteverlag ein Buch, das nachdrücklich für die Entkriminalisierung der Pädophilie eintrat [2].

Es scheint, dass die meisten der jetzt bekannt gewordenen Fälle die 70er und 80er Jahre betreffen. Auch wenn es bereits in dieser Zeit gelungen wäre, die aus unterschiedlichen Gründen bestehende Fremdheit zwischen Sexualwissenschaft und katholischer Kirche zu überwinden, muss also befürchtet werden, dass sich daraus damals kaum effektive Strategien gegen Missbrauch entwickelt hätten. Wo die Wiederholungsgefahr bei pädophilen Tätern nicht als Gefahr beschrieben wurde, sondern als liebevolle Tendenz eines Menschen, möglichst viele Kinder sexuell zu beglücken, gab es niemanden Kompetenten, der die Kirche vor der „naiven“ Versetzung von pädophilen Tätern wirksam warnte, denn selbst die Juristen waren ja bei der Einschätzung der Wiederholungsgefahr auf psychiatrisch-psychologischen Sachverstand angewiesen. So blieb die Kirche zurückgeworfen auf ihre eigene jahrhundertelange Erfahrung im Umgang mit Schuld, ohne zu ahnen, dass man es hier mit einem Phänomen zu tun hatte, das man allein damit nicht angemessen in den Griff bekommen konnte. Eine kritische Aufarbeitung der kirchlichen Reaktionen, die sich nicht dem Vorwurf des Anachronismus aussetzt, wird erheblich differenzierter argumentieren müssen, als es in der aufgeheizten Debatte des Jahres 2010 geschehen ist, in der man einfach frühere Zeiten nicht selten auf der Basis von Einsichten judizierte, die damals gar nicht zugänglich waren. Heute und damals war freilich aus katholischer Sicht Kindesmissbrauch eine Sünde, und auch der untätige Mitwisser lud schwere Schuld auf sich.

Bekanntlich änderte sich dann Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre die wissenschaftliche Situation. Während einerseits, angestoßen durch feministische Beratungsstellen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Elend des Kindesmissbrauchs gerichtet wurde und v. a. darauf, dass es gewaltfreie Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern nicht gibt, da hier immer ein Machtgefälle und ein tiefes Missverständnis über die sexuelle Beziehung bestehen, sodass Eberhard Schorsch 1989 sein Diktum von 1970 öffentlich relativierte [1], nahm andererseits die wissenschaftliche Etablierung der posttraumatischen Belastungsstörung die Opfer mehr in den Blick. Natürlich gab es dabei Übertreibungen. Manche von feministischen Beratungsstellen im Eifer des Gefechts mit fragwürdigen Methoden ermittelten „Täter“ stellten sich als Opfer von verhängnisvollen Vorverurteilungen heraus. Auf die Bagatellisierung folgte die Hysterisierung der Debatte. Die Aufklärung des berühmt-berüchtigten „Wormser Falls“ im Jahr 1997 mithilfe von überzeugenden Glaubhaftigkeitsgutachten ließ endlich Ernüchterung eintreten.

Das war die Zeit, als dann zu Ende der 90er Jahre aus Amerika die ersten spektakulären „Fälle“ in den Medien erschienen. Der Papst reagierte 2001, indem er alle derartigen Fälle in die Zuständigkeit der Glaubenskongregation gab, die damals unter der Leitung von Kardinal Ratzinger stand. Dieser Schritt wurde international begrüßt, da es damit einem einzelnen ggf. inkompetenten Bischof deutlich erschwert wurde, einen solchen Fall einfach unter den Teppich zu kehren.

Die Leitlinien aus dem Jahr 2002

Im Jahr 2002 erließ die Deutsche Bischofskonferenz dann Leitlinien, die das Verfahren der einzelnen deutschen Diözesen vereinheitlichen sollten. Rechtlich konnten diese Leitlinien freilich erst Gültigkeit erlangen, indem sie von den einzelnen Diözesen in Kraft gesetzt wurden. Das geschah. Auch die Konferenz der Ordensoberen schloss sich für ihren Zuständigkeitsbereich an. Diese Leitlinien krankten zwar noch unter den Defiziten der vergangenen Jahre: keine Beiziehung forensisch-psychiatrischer Kompetenz, Überschätzung der Rolle von Therapeuten, keine hinreichende Opferkompetenz. Dennoch waren diese Leitlinien ein großer Schritt nach vorn, denn hier wurde für 27 deutsche Diözesen ein Verfahren eingeführt, das sich im Wesentlichen bewährt hat. Seit 2002 wurden so gut wie keine Neufälle bekannt, selbst nach der jetzt über Monate laufenden Kampagne, die Opfer ermutigt, sich zu melden.

Die Leitlinien von 2002 führten eine „beauftragte Person“ in jeder Diözese ein, an die sich Opfer wenden konnten und die dann die Prüfung des Verdachts durchzuführen hatte. „In erwiesenen Fällen“ wurde „dem Verdächtigen … zur Selbstanzeige geraten und je nach Sachlage die Staatsanwaltschaft informiert“. Bezüglich der Therapie hieß es: „Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft erweist sich Pädophilie als von der Neigung her strukturell nicht abänderbare und Ephebophilie als nur zum Teil veränderbare sexuelle Störung. Unbeschadet dieser Erkenntnis trägt eine differenzierte diagnostische Abklärung und fachkundige Therapie dazu bei, Wiederholungsfälle zu verhindern und dem Täter ein Leben ohne Ausübung seiner sexuellen Störung zu ermöglichen. Eine Therapie wird in jedem Fall verlangt.“ Und später wird sogar eine „ständige … therapeutische Begleitung“ dauerhaft verlangt. Über die Opfer heißt es: „Diese Vergehen haben einen zerstörerischen Charakter gegenüber Kindern und Jugendlichen. Sie verletzen deren Würde und Integrität tief. Die Opfer werden in ihrer Entwicklung schwer geschädigt, bei ihnen und bei ihren Angehörigen wird großes Leid ausgelöst.“ Im Übrigen wird ein „Arbeitsstab aus Psychologen, Psychotherapeuten, Ärzten, Juristen, Theologen, Geistlichen und Laien, Männern und Frauen“ eingerichtet. Es werden Präventionsmaßnahmen empfohlen. Nachgewiesenermaßen schuldige Täter werden nicht mehr in der Jugendarbeit eingesetzt und zur Kontrolle „in ein Netzwerk“ eingebunden.

Im Jahr 2003 fand dann im Vatikan ein Kongress führender internationaler Experten zum Thema „Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche – wissenschaftliche und juristische Perspektiven“ statt, an dem alle mit dem Thema befassten vatikanischen Behörden teilnahmen und dessen Ergebnisse 2004 in der Libreria Editrice Vaticana publiziert wurden [3].

Ein Ergebnis dieses Kongresses war, dass die in den Leitlinien von 2002 behauptete Dichotomie zwischen prognostisch ungünstiger „Pädophilie“ und dem problematischen Konstrukt der „Ephebophilie“ zumindest irreführend war und dass mithilfe forensisch-psychiatrischer Methoden gefundene individuelle Risikoprofile unabdingbar waren. Daher wurden im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz seit 2004 forensisch-psychiatrische Gutachten in entsprechenden Fällen in Auftrag gegeben. Außerdem wurde auf die Erforderlichkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten in Zweifelsfällen hingewiesen. In die Arbeitsstäbe wurden auch forensische Psychiater sowie Kinder- und Jugendtherapeuten aufgenommen. Außerdem wurde auf die Trennung von Kontrolle und Therapie geachtet, einschließlich der Problematisierung einer lebenslangen Therapieauflage. Schließlich wurde nach Kenntnis des Autors de facto in jedem nichtverjährten Fall, in dem der mutmaßliche Täter nicht zu einer Selbstanzeige bereit war, Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet, wenn das mutmaßliche Opfer oder seine rechtlichen Vertreter dies nicht ausdrücklich ablehnten.

Im Jahr 2005 fand dann in Berlin eine Veranstaltung statt, in der ein forensischer Psychiater, ein Glaubhaftigkeitsgutachter und ein Kinder- und Jugendpsychiater alle Personalchefs und „beauftragten Personen“ der deutschen Bistümer weiterbildeten.

Neufassung der Leitlinien

Als dann 2010 der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs 2 Altfälle öffentlich machte, geschah dies gerade aufgrund der Umsetzung der Leitlinien von 2002 nach Informationen durch die nach diesen Leitlinien eingesetzte beauftragte Person. Es konnte gar keine Rede davon sein, dass erst damit die „Mauer des Schweigens“ gebrochen war. Das war spätestens seit 2002 geschehen. Doch es gelang der Kirche nicht, diese Entwicklung medial angemessen zu vermitteln. Dennoch war es sinnvoll, die deswegen allgemein erhobene Forderung nach „Verschärfung der Leitlinien“ zum Anlass zu nehmen, die seit 2002 eingetretenen faktischen Verbesserungen nun auch unmissverständlich zu kodifizieren.

So haben die am 31.08.2010 veröffentlichten fortgeschriebenen Leitlinien insbesondere die Bedeutung forensisch-psychiatrischer Kompetenz hervorgehoben. Dem Beraterstab des Bistums sollen jetzt „Frauen und Männer mit psychiatrisch-psychotherapeutischem, möglichst auch forensisch-psychiatrischem, sowie juristischem Sachverstand und fundierter fachlicher Erfahrung und Kompetenz in der Arbeit mit Opfern sexuellen Missbrauchs“ angehören. Wenn bei verjährten Fällen eine staatliche Aufklärung entfällt, muss die Kirche gegebenenfalls selbst ermitteln. „Dabei sollen auch ein forensisch-psychiatrisches Gutachten zur Risikoabschätzung und ggf. auch ein Glaubhaftigkeitsgutachten zur Aussage des mutmaßlichen Opfers eingeholt werden.“ Und zur Frage nach der Weiterbeschäftigung des Täters heißt es: „Soweit die betreffende Person im kirchlichen Dienst verbleibt, wird ein forensisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt, das konkrete Angaben darüber enthalten soll, ob und ggf. wie der Täter so eingesetzt werden kann, dass es nicht zu einer Gefährdung von Minderjährigen kommt … Die forensisch-psychiatrische Einschätzung dient der Entscheidungsfindung des Diözesanbischofs“. Und schließlich heißt es unter der Überschrift „Auswahl von Klerikern, Ordensangehörigen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im kirchlichen Dienst“ nach der Erwähnung des Erfordernisses eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses für in der Kinder- und Jugendarbeit Tätige: „Wenn Anlass zur Sorge besteht, dass bei einer Person Tendenzen zu sexuellem Fehlverhalten vorliegen, wird eine forensisch-psychiatrische Begutachtung angeordnet“.

Im Übrigen wird jetzt konsequent zwischen Kontrolle und Therapie unterschieden. Therapie wird nur in Fällen, in denen eine behandelbare psychische Störung vorliegt, empfohlen. Das problematische Konstrukt einer unterschiedslos verpflichtenden dauerhaften therapeutischen Begleitung ist verlassen. Für die Kontrolle dagegen ist der Bischof unter Hinzuziehung seiner Mitarbeiter zuständig. Es gibt auch klare Regelungen für Personen, die mit einem entsprechenden Risiko behaftet sind, bei Umzug in eine andere Diözese und nach dem Ruhestand. Außerdem wird das schon seit Jahren übliche Verfahren nun klar kodifiziert, die Staatsanwaltschaft „bei tatsächlichen Anhaltspunkten für einen Verdacht“ zu informieren, wenn nicht „ausnahmsweise“ das mutmaßliche Opfer ausdrücklich widerspricht. Schließlich wird jede Formulierung vermieden, die unterschiedslos aus allen Opfern notwendigerweise gestörte Menschen macht. Die Leitlinien von 2010 betreffen schon im Titel diesmal nicht bloß Geistliche, sondern alle Mitarbeiter kirchlicher Einrichtungen. Der hier gewählte Missbrauchsbegriff wird jetzt ausdrücklich auf „Handlungen nach dem 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches, soweit sie an Minderjährigen begangen werden“ bezogen. Es wird aber ergänzt: „Zusätzlich finden sie entsprechende Anwendung bei Handlungen unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit, die im pastoralen oder erzieherischen sowie im betreuenden oder pflegerischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen eine Grenzüberschreitung darstellen.“ Alle Mitarbeiter im kirchlichen Dienst werden verpflichtet, entsprechende Hinweise der beauftragten Person mitzuteilen. Des Weiteren wird ausdrücklich die Unschuldsvermutung für den mutmaßlichen Täter erwähnt und auch die Verpflichtung, bei nachweislich unbegründetem Verdacht „den guten Ruf der fälschlich beschuldigten oder verdächtigten Person wiederherzustellen“.

Die Leitlinien von 2010 stützen sich auf den derzeitigen wissenschaftlichen Stand. Im Vorfeld wurden auch forensische Psychiater, Kinder- und Jugendpsychiater, Opferhilfeorganisationen etc. in die Entwicklung des Textes einbezogen. Doch der Umgang mit diesem heiklen Thema muss immer wieder neue Erkenntnisse berücksichtigen, sodass dieses Regelwerk selbstverständlich niemals ein Schlusspunkt sein kann. Wichtiger noch als ein solcher Text ist aber die Kultur eines angemessenen Umgangs mit diesem Problem. Es wird immer Tendenzen zur Bagatellisierung und zur Skandalisierung geben. Beides produziert Opfer. Nur wenn nicht bloß Taten schonungslos aufgeklärt werden, sondern wenn mit ebensolchem Freimut unschuldig Beschuldigte eindeutig rehabilitiert werden, entspricht der Umgang mit diesem schrecklichen Thema den humanen Grundprinzipien unserer Gesellschaft, unserer Rechtsordnung und letztlich auch der christlichen Überzeugung der Achtung vor jedem Menschen als Geschöpf Gottes. Jeder kann sich denken, dass es gerade für einen katholischen Priester, der außerhalb seines geistlichen Berufs keinerlei „bürgerliche Existenz“ hat, besonders katastrophal ist, wenn er unschuldig beschuldigt wird. Und auch der Umgang mit erwiesenen Tätern darf nicht auf die Vernichtung von Menschen herauslaufen. Als ein Aachener Priester, der wegen schrecklicher Taten verurteilt worden war und seine mehrjährige Strafe abgesessen hatte, im Diözesanarchiv eingesetzt wurde, standen Demonstranten vor dem Archiv und forderten seinen Herauswurf. Doch soll man es verantworten, dass dieser Mann sich eine kleine Wohnung neben einem Kinderspielplatz mietet und so unbeobachtet wieder seiner Orientierung nachgeht? Es waren atheistische Wissenschaftler, die ihren vatikanischen Zuhörern beim Kongress im Vatikan sagten: Auch Täter sind Menschen, auch sie haben einen Anspruch auf Barmherzigkeit! Doch diese Erkenntnis fällt unserer gesamten Gesellschaft noch sehr schwer.