1 Einleitung

Die Bildungsbeteiligung wird wesentlich durch die Leistungen gesteuert, zu einem bestimmten Teil aber auch durch soziale Selektion. Soziale Unterschiede in der Bildungsbeteiligung sind seit vielen Jahren zu beobachten (Schimpl-Neimanns 2000), auch wenn sie in manchen Schulstufen abgenommen haben (zum Beispiel Entscheidung Hauptschule vs. Realschule in Deutschland; vgl. Baumert, Watermann & Schümer 2003). Allerdings wissen wir vergleichsweise wenig über Bildungsungleichheiten im Schweizer Bildungssystem (Baeriswyl et al. 2006). Insbesondere ist unklar, wie individuelle Leistungsunterschiede von Schülerinnen und Schülern in Wechselwirkung mit sozialen Faktoren schulische Übertrittsentscheidungen in die Sekundarstufe I und II beeinflussen.

Konkret werden in dieser Studie drei Fragen zu schulischen Übertrittsentscheidungen und Bildungsverläufen bearbeitet: (1) Welche Bedeutung besitzen Ergebnisse von standardisierten Leistungstests (kurz: Leistungen) im Vergleich zu schulischen Noten für die Übertrittsentscheidung in die Sekundarstufe I und den mittelfristigen Bildungsverlauf? (2) Wie wirken sich soziale Unterschiede im familiären Umfeld wie sozio-ökonomischer Status und elterliche Bildungserwartungen auf die Übertrittsentscheidung in die Sekundarstufe I und den mittelfristigen Bildungsverlauf aus? (3) Wie beeinflussen Verhaltensprobleme von Jugendlichen im Unterricht die Übertrittsentscheidung in die Sekundarstufe I und den mittelfristigen Bildungsverlauf?

Diese Fragen werden am Beispiel des Bernischen Bildungssystems bearbeitet. Generell sind Bildungssysteme von einer zunehmenden Öffnung der Bildungswege gekennzeichnet (Köller et al. 2004). Auch in der Schweiz finden wir solche Tendenzen der Flexibilisierung von Bildungswegen, vor allem in der Sekundarstufe II. Im Kanton Bern treten die Jugendlichen nach sechs Jahren integrierter schulischer Bildung in einen Schultyp mit Grundansprüchen (sog. Realschule; in Deutschland mit Hauptschule bezeichnet) oder mit erweiterten Ansprüchen (sog. Sekundarschule, in Deutschland mit Realschule bezeichnet) über. Die Durchlässigkeit zwischen den Ausbildungsniveaus in der Sekundarstufe I in den Kantonen Zürich und Bern beträgt aber nur etwa 4–6% (Neuenschwander 2007). Das Selektionsverfahren im Kanton Bern hat sich über die Jahre verändert. Im Jahre 2002, in welchem die vorliegende Untersuchung durchgeführt worden ist, bilden die Noten und die Wünsche der Eltern die formalen Grundlagen der Übertrittsentscheidung in die Sekundarstufe I; es wurden im Rahmen des Übertrittsverfahrens keine standardisierten Leistungsmessungen durchgeführt. Besonders die Elternanliegen besaßen einen sehr hohen Stellenwert.

Nach neun obligatorischen Schuljahren tritt eine Mehrheit der Jugendlichen in die duale Berufsbildung oder in das Gymnasium über. In der Schweiz werden im Unterschied zu anderen Ländern wie zum Beispiel Frankreich oder Österreich die gymnasialen Ausbildungsplätze sehr restriktiv vergeben, d. h. nur 20% je Schülerjahrgang treten in das Gymnasium ein, aber 47% in die duale Berufsbildung (Amos et al. 2003). Die übrigen Jugendlichen legen ein Zwischenjahr ein, besuchen eine Vollzeitberufsschule und nur 4% treten direkt ins Erwerbsleben über.

Baumert et al. (2003) diskutierten primäre und sekundäre Ungleichheiten im Bildungswesen: Primäre Bildungsungleichheiten basieren auf unterschiedlichen Schülerkompetenzen, sekundäre Bildungsungleichheiten entstehen aus schichtbedingt unterschiedlichen Bildungsentscheidungen der Eltern (vgl. Ditton, Krüsken & Schauenberg 2005). Diese Unterscheidung wurde von Boudon (1974) im Rahmen seiner Rational-Choice Theorie eingeführt. Übertrittsentscheidung und Bildungsverläufe hängen demzufolge nicht nur von Noten und Schülerleistungen ab, sondern auch von sozialen Selektionsprozessen. Wir vermuten, dass soziale Selektionsprozesse nicht nur durch den sozio-ökonomischen Status und die Erwartungen der Eltern bestimmt werden, sondern auch durch das soziale Verhalten bzw. Verhaltensprobleme der Jugendlichen im Unterricht. Das Konzept der sekundären Bildungsungleichheiten ausweitend, postulieren wir, dass familiäre Faktoren sowie Verhaltensprobleme von Jugendlichen im Unterricht die Bildungsentscheidung beeinflussen. Die Bedeutung von familiären Faktoren und Verhaltensproblemen im Unterricht im Verhältnis zu den Schülerkompetenzen hängt wesentlich vom kantonal vorgeschriebenen Übertrittsverfahren ab. Im Folgenden besprechen wir die drei Determinanten der Übertrittsentscheidung, Noten und Leistungen, familiäre Faktoren sowie Verhaltensprobleme im Unterricht.

1.1 Noten und Leistungen

Noten und Leistungen bilden zwei unterschiedliche Indikatoren für Schülerkompetenzen in bestimmten Schulfächern. Noten sind formale leistungsbezogene Lehrerrückmeldungen mit hohem Signalwert (formale Kompetenzen). Sie sind ein einfach lesbares Label, das Rückschlüsse auf die Kompetenzen erlaubt. Sie sind bezugsgruppenabhängig; die Vergabe von Noten hängt von der Verteilung der Leistungen in der Bezugsgruppe ab. Außerdem entspricht das Notenniveau einer Klasse nicht genau dem Leistungsniveau dieser Klasse; die gleichen Leistungen werden je nach Schulklasse unterschiedlich benotet (Kronig 2007). Noten repräsentieren eine Kombination von Schülerkompetenzen, Erwartungen und Attributionen von Lehrpersonen sowie sozialen Vergleichsprozessen in der Schulklasse (Trautwein & Baeriswyl 2007; Trautwein et al. 2006).

Im Unterschied zu den Noten erfassen Leistungen inhaltsbezogene Kompetenzen, die aufgrund der Performanzen in einer konkreten Leistungssituation erschlossen werden. Sie basieren im Unterschied zu den Noten auf einer punktuellen standardisierten Leistungsmessung. Sie werden in geringerem Ausmaß durch Lehrer- und Elternerwartungen verzerrt, wenn die Auswertungsverfahren in höherem Ausmaß standardisiert sind. Sie sind nicht von der Bezugsgruppe Klasse und einer klasseninternen Verteilungslogik abhängig, sondern sie können im Vergleich zu einer größeren Referenzstichprobe interpretiert werden.

Wir vermuten, dass Noten die Übertrittsentscheidung in die Sekundarstufe I besser vorhersagen als Leistungen, weil keine Leistungsmaße im Berner Übertrittsverfahren zur Verfügung standen (Hypothese 1). Hingegen ist die mittelfristige Vorhersagekraft von Noten im Vergleich zu den Leistungen unklar. Erstens könnte man annehmen, dass die Jugendlichen aufgrund von guten Noten eher in ein anspruchsvolles Schulniveau in der Sekundarstufe I übertreten, das sie wiederum in ein höheres Ausbildungsniveau in der Sekundarstufe II berechtigt (Hypothese 2a). Weil die Leistungen im Selektionsverfahren nicht berücksichtigt werden, dürften die Noten den Ausschlag geben.

Zweitens sind Noten wie oben angedeutet von der Bezugsgruppe abhängig (Bos et al. 2003). So werden die Jugendlichen aus leistungsstarken Klassen eher unterschätzt. Diesen Nachteil können sie in einer leistungsschwächeren Klasse oder in einem tieferen Schulniveau nach dem Übergang in die Sekundarstufe I kompensieren, sodass ihre Noten steigen. Die besseren Noten berechtigen sie zu einer anspruchsvolleren Ausbildung in der Sekundarstufe II. Die Noten unterliegen daher starken Bezugsgruppeneffekten, denen die Leistungen deutlich weniger unterworfen sind. Die Leistungen sagen daher den Bildungsverlauf mittelfristig besser vorher (Hypothese 2b).

Drittens könnten verschiedene Schulfächer wie Mathematik und Deutsch beim Übertritt in die Sekundarstufe II eine unterschiedliche Rolle spielen. Gemäß geltendem Übertrittsverfahren sind sie zwar für die Übertrittsentscheidung in die Sekundarstufe I gleich wichtig. Allerdings fließen Kompetenzen in Deutsch nicht nur in die Deutschprüfung ein, sondern sie spielen auch in den Prüfungen der anderen Fächer eine Rolle. Entsprechend könnten Noten und Leistungen in Deutsch für die Erklärung des Bildungsverlaufs wichtiger sein als in Mathematik (Hypothese 2c). Es gilt, diese drei Hypothesen zu testen und die Ergebnisse miteinander zu vergleichen.

1.2 Familiäre Faktoren

Frühere Forschung zeigt, dass schulische Leistungen, Leistungsbeurteilungen sowie Übertrittsentscheidungen von der familiären Herkunft abhängig sind (Sirin 2005; für deutschsprachige Länder: Baumert et al. 2003). So haben beispielsweise Schülerinnen und Schüler mit Eltern, die das Abitur haben, in der Lernausgangslagenuntersuchung LAU eine 6-fach höhere Chance eines Gymnasialbesuchs (Lehmann, Peek & Gänsfuß 1997. Einen analogen Befund für die Sekundarstufe I dokumentierten Moser und Rhyn (2000) für die Schweiz. Der letztgenannte Effekt bleibt selbst bei statistisch kontrollierter Leistung bestehen (Kronig 2007).

In der vorliegenden Studie beschränken wir uns nicht auf die Untersuchung des sozio-ökonomischen Status zur Erklärung des Übertrittentscheids und des Bildungsverlaufs, sondern schließen auch das soziale Kapital der Familie ein (Coleman 1988). Das soziale Kapital schließt die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern ein, aus denen sich normative Verhaltenserwartungen, insbesondere elterliche Bildungserwartungen entwickeln. Studien haben gezeigt, dass elterliche Bildungserwartungen einerseits mit dem sozio-ökonomischen Status (Davis-Kean 2005), andererseits mit der Übertrittsentscheidung (Schuchart & Maaz 2007) zusammenhängen. Diese Befunde legen nahe, dass Bildungserwartungen von Eltern den Einfluss des sozio-ökonomischen Familienstatus auf die Übertrittsentscheidung in die Sekundarstufe I und den Bildungsverlauf in die Sekundarstufe II vermitteln (Hypothesen 3 und 4: Mediation). Wir gehen davon aus, dass familiäre Faktoren unabhängig von den Noten und Leistungen der Jugendlichen die Übertrittsentscheidung in die Sekundarstufe I (Hypothese 5) und den weiteren Bildungsverlauf in die Sekundarstufe II (Hypothese 6) beeinflussen, obwohl zwischen den Elternerwartungen und den Leistungen enge Zusammenhänge zu finden sind (Neuen- schwander et al. 2007a).

1.3 Verhaltensprobleme von Jugendlichen im Unterricht

Wir vermuten, dass Leistungsbeurteilungen und Übertrittsentscheidungen unabhängig vom familiären Hintergrund auch durch unangepasstes Verhalten von Jugendlichen während des Unterrichts beeinflusst werden. Dies ist bisher unseres Wissens nicht untersucht worden. Verhaltensprobleme von Jugendlichen im Unterricht beeinträchtigen im Sinne des heimlichen Lehrplans nicht nur die Leistungsbeurteilung (Neuenschwander et al. 2005), sondern könnten auch als Ausdruck sozialer Selektion die Übertrittsentscheidung beeinflussen. Das heißt, dass verhaltensangepasste Schüler mit höherer Wahrscheinlichkeit in höhere Schulniveaus wechseln, weil sie im Gegensatz zu verhaltensauffälligen Jugendlichen von Lehrern und Schülern nicht als störend wahrgenommen werden (Houghton, Wheldall & Merrett 1988; Infantino & Little 2005).

Auch wenn Verhaltensprobleme im Unterricht nicht von gravierenden fremd- oder selbstschädigenden Folgen begleitet sind, wirken sie sich deutlich erschwerend auf den Unterrichtsablauf aus und belasten Lehrpersonen (Neuenschwander 2005). Damit kann eine negative Erwartungshaltung der Lehrperson gegenüber diesen Schülerinnen und Schülern begleitet sein, was Übertrittsentscheidungen und Bildungsverläufe in die Sekundarstufe II beeinträchtigt (Van Lier & Crijnen 2005; Vile Junod et al. 2005). Allerdings antizipieren Lehrpersonen je nach sozialer Herkunft der Schülerinnen und Schüler ein unterschiedliches Potenzial für Unterrichtsstörungen. Damit werden diese Jugendlichen nach Gomolla und Radtke (2002) institutionell diskriminiert.

Vor diesem Hintergrund vermuten wir, dass sich Verhaltensprobleme im Unterricht negativ auf die Übertrittsentscheidung auswirken (Hypothese 7). Wir nehmen an, dass Verhaltensprobleme im Unterricht zwar negativ mit Noten und Leistungen zusammenhängen, dass sie aber die Übertrittsentscheidung unabhängig davon beeinflussen. Da Verhaltensprobleme im Unterricht von der sozialen Dynamik der Schulklasse abhängen (Neuenschwander 2005), dürften sie während eines Klassenwechsels zu- oder abnehmen und damit für den weiteren Bildungsverlauf in die Sekundarstufe II bedeutungslos werden (Hypothese 8).

2 Methode

Die Hypothesenprüfung erfolgte mit Längsschnittdaten des Forschungsprojekts Familie-Schule-Beruf (FASE B). Es wurden sowohl Schülerinnen und Schüler als auch die wichtigste Bezugsperson des Kindes mit Elternfunktion mit standardisierten Fragebögen konsultiert. Die Elternfragebögen waren in Deutsch sowie in den fünf häufigsten Fremdsprachen des Kantons Bern (Italienisch, Spanisch, Albanisch, Türkisch, Serbisch) erhältlich. Zusätzlich füllten die Schülerinnen und Schüler einen Leistungstest aus. Alle Messinstrumente sind ausführlich in Neuenschwander et al. (2003a–d) beschrieben.

2.1 Stichprobe

Die Stichprobe wurde mittels eines geschichteten Auswahlverfahrens gebildet und ist für die Schülerinnen und Schüler des deutschsprachigen Kantons Bern der 6. Klassenstufe repräsentativ. Dabei wurden 26 Schulstandorte aus den vier deutschsprachigen Inspektoraten (entspricht geografischen Regionen) zu gleichen Teilen aus städtischen und ländlichen Regionen zufällig ausgewählt. In jeder Schule wurden zwei bis drei Klassen des Zielschuljahres zufällig ausgewählt.

Es nahmen insgesamt 234 Schülerinnen und 220 Schüler aus 25 Klassen teil (Durchschnittsalter 11.9 Jahre). Die erste Befragungswelle fand im Spätherbst 2002 statt. Der Rücklauf bei der Befragung der wichtigsten Bezugsperson („Elternbefragung“) lag bei 89% (N = 406), wobei in 85% der Fälle die leibliche Mutter und in 12% der Fälle der leibliche Vater den Fragebogen ausfüllten. Die Elternstichprobe bestand zum größten Teil aus Schweizerinnen und Schweizern (Anteil Schweiz 75%). Wir konnten keine systematischen Verzerrungen der Elternfragebögen feststellen.

Längsschnittstichprobe: Die gleichen Jugendlichen wurden im Frühsommer 2006 (9. Schuljahr) ein zweites Mal schriftlich befragt (N = 345) und im Winter 2007 (1. Jahr nach Schulaustritt) im Rahmen einer Internetbefragung ein drittes Mal befragt (N = 241). Es lagen keine systematischen Rücklaufverzerrungen zwischen den zum zweiten Messzeitpunkt teilnehmenden und den nicht teilnehmenden Jugendlichen in Bezug auf zentrale Variablen zum ersten Messzeitpunkt vor (Leistungen in Mathematik Effektstärke d = ,10, Leistungen in Deutsch d = ,13, Bildungserwartungen von Eltern d = ,03, ISEI d = ,07, Verhaltensprobleme im Unterricht d = ,07; Neuenschwander et al. 2007b).

2.2 Messinstrumente

Erster Messzeitpunkt

Schülerbefragung: Die Schülerinnen und Schüler gaben für die verschiedenen Fächer die letzten Zeugnisnoten an. Sie hatten als Grundlage dafür das Schulzeugnis des vorangegangenen fünften Schuljahres im Befragungszimmer verfügbar. Die Noten wurden auf einer Skala mit den Punkten 6 (sehr gut), 5 (gut), 4 (genügend), 3 (ungenügend), 2 (sehr ungenügend) und 1 (äußerst ungenügend) erfasst.

Verhaltensprobleme im Unterricht wurden mit neun Items wie zum Beispiel „bei Gruppenarbeiten rede ich meistens über andere Dinge als wir sollten“ und „Ich mache mit, wenn wir den Unterricht stören oder die Lehrpersonen ärgern wollen“ erfasst. Die Antworten wurden auf einer Skala mit 4 Punkten mit den Polen 1: stimmt überhaupt nicht und 4: stimmt genau, gegeben (α = ,82). Die Hauptachsenanalyse ergab einen Faktor mit Eigenwert  >  1, welcher 35% der Varianz erklärte.

Elternbefragung: Die Bildungserwartungen der Eltern an das Kind wurden mittels einer 4-stufigen Skala erfasst. Die Formulierung lautete: „Bitte kreuzen Sie an, welchen höchsten Abschluss Ihr Kind vermutlich haben wird, bevor es ins Erwerbsleben einsteigt“. Die Skala umfasste die vier Kategorien Anlehre (1), 10. Schuljahr/Berufslehre/Berufsmatura (2), gymnasiale Matura (3), (Fach-) Hochschulabschluss (4). Analoge Operationalisierungen von Bildungserwartungen wurden immer wieder verwendet (z. B. Englund et al. 2004; Neuenschwander et al. 2007a).

Der sozioökonomische Status der Familie wurde aufgrund der Berufsangaben der beiden wichtigsten Bezugspersonen des Kindes ermittelt. Die Berufsangaben wurden gemäß der International Standard Classification of Occupations (ISCO 88) kodiert. Danach wurde auf der Basis des ISCO-Codes ein Wert zum „Standard International Socio-Economic Index of Occupational Status“ (ISEI-Skala) zugewiesen. Zur Bestimmung des sozio-ökonomischen Status’ der Familie wurde der jeweils höhere ISEI-Wert der beiden wichtigsten Bezugspersonen des Kindes gewählt.

Leistungstests: Der Deutschtest in der 6. Klasse erfasste die Kompetenz der Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Hörverstehen, Leseverstehen, grammatische Korrektheit, Wortschatz und Textproduktion und orientierte sich an den Lehrplänen der Kantone Bern und Zürich. Mit Ausnahme der Textproduktion wurden Multiple-Choice-Fragen eingesetzt. Letztere wurden bezüglich Inhalt, Satzbau, Ausdrucksfähigkeit sowie sprachlicher Korrektheit von dafür trainierten Projektmitgliedern kodiert. Nach drei Monaten wurde einer zufällig ausgewählten Teilstichprobe der Test erneut vorgelegt und Test-Retest-Reliabilitäten der Schülerleistungen berechnet. Für den Gesamttest wurde keine Inter-Rater-Reliabilität berechnet. In der 6. Klasse lag das Leistungsmittel bei 42,4 Punkten (SD = 10,5, Minimum = 9, Maximum = 72, Test-Retest-Stabilität r = ,84). Der Summenwert wurde T-normiert (M = 50, SD = 10).

Der Mathematiktest erfasste die Kompetenzbereiche Vorstellungsvermögen/Kenntnisse/Fertigkeiten, Mathematisierfähigkeit, Arithmetik, Sachrechnen und Geometrie. Die Kompetenzbereiche und die konkreten Aufgaben wurden auf der Grundlage der Lehrpläne der Kantone Bern festgelegt. Die Punktevergabe für jede Aufgabe erfolgte durch geschulte Mitglieder der Projektgruppe. Der Test wurde nach drei Monaten einer zufällig ausgewählten Teilstichprobe erneut vorgelegt und Test-Retest-Reliabilitäten der Schülerleistungen berechnet. In der 6. Klasse lag das Leistungsmittel bei 17,4 Punkten (SD = 8,24, Minimum = 0, Maximum = 42, Test-Retest-Stabilität r = ,83, Inter-Rater-Reliabilität lag bei Kappa = ,98). Der Summenwert wurde T-normiert (M = 50, SD = 10).

Zweiter Messzeitpunkt

Schultyp: Die Schülerinnen und Schüler im 9. Schuljahr wurden gebeten, ihr Schulniveau (Realschule, Sekundarschule, Progymnasium) anzugeben. Dies war je nach Schule/Region bei integriertem Unterricht fachspezifisch (Deutsch, Mathematik, Französisch). Gemäß amtlichen Richtlinien wurden die Jugendlichen dem Schulniveau zugeordnet, das dem Schulniveau von mindestens zwei dieser drei Fächer entspricht.

Dritter Messzeitpunkt

Schultyp: Die Schülerinnen und Schüler wurden nach Austritt aus dem 9. Schuljahr gebeten anzugeben, in welchem Schultyp sie sich befanden (Optionen: Berufslehre (52%), Anlehre/Grundausbildung mit Attest (0,9%), Mittelschule (31%), Vollzeitberufsschule (0,7%), Zwischenjahr (12%), anderes (4%). Wegen der Sonderstellung des Zwischenjahrs beschränkten wir uns in den Analysen zur Anschlusslösung im 10. Schuljahr auf die beiden häufigsten Optionen, Berufslehre und Mittelschule und analysierten nur die Jugendlichen in diesen Optionen, obwohl dies zu einer Stichprobenreduktion führte.

2.3 Durchführung

Bei der ersten Datenerhebung besuchte ein Mitglied der Projektgruppe jede Klasse zwei Mal für 90 Minuten im Abstand von zwei bis drei Wochen. Beim ersten Besuch füllten die Schülerinnen und Schüler den Fragebogen aus und nahmen einen Briefumschlag mit einem Elternfragebogen nach Hause, der zum zweiten Zeitpunkt ausgefüllt wieder eingesammelt wurde. Beim zweiten Besuch wurden ihnen ein Deutsch- und ein Mathematiktest vorgelegt.

Für die Datenerhebung 2006 wurden die gleichen Jugendlichen aus verschiedenen Schulklassen und Schulhäusern zu Befragungsgruppen zusammengefasst und befragt. Jugendliche, die in keine solche Befragungsgruppe organisiert werden konnten, erhielten den Fragebogen per Post zugeschickt. Es wurde einmal gemahnt.

Die Erhebung im Winter 2007 wurde im Rahmen einer Internetbefragung durchgeführt. Alle Jugendlichen erhielten postalisch einen Zugangscode mit Passwort, mit dem sie sich in einen virtuellen Fragebogen einloggen konnten. Die Jugendlichen wurden einmal schriftlich gemahnt und erhielten bei Bedarf telefonische Unterstützung.

3 Ergebnisse

Im Folgenden sollen die eingeführten Hypothesen mit dem beschriebenen Datenmaterial überprüft werden. In die Analysen wird auch das Geschlecht eingeführt, weil sich Noten und Leistungen vermutlich zwischen den Geschlechtern unterscheiden und weil geschlechterbedingte Verzerrungen von Übertrittsentscheidung auftreten könnten (vgl. Imdorf 2005).

Im ersten Schritt wurden Korrelationen zwischen den postulierten Prädiktoren berechnet. Es lagen Korrelationen zwischen den Noten und den Ergebnissen der Leistungstests im Bereich ,53 ≤ r ≤ ,69 vor (vgl. Tab. 1). Diese Korrelationen sind hoch, wenn wir bedenken, dass sich die Leistungstests stärker als die Noten zwischen den Schulklassen unterscheiden. In der Tat konnten die Leistungen zum ersten Messzeitpunkt durch die Klassenzugehörigkeit stärker erklärt werden als die Noten (Varianzaufklärung durch die Klassenzugehörigkeit: Leistungen Deutsch R2 korr = 37%, Leistungen Mathematik R2 korr = 20%, Noten Deutsch R2 korr = 11%, Noten Mathematik R2 korr = 11%). Demnach wird eine bestimmte Leistung je nach Klasse unterschiedlich benotet. Die Noten sind bezugsgruppenabhängig und streuen um einen mittleren Wert zwischen 4,5 (genügend bis gut) und 5 (gut).

Tab. 1 Interkorrelationsmatrix zwischen den postulierten Prädiktoren t1

Ebenfalls zeigten sich die erwarteten Geschlechtseffekte, wonach weibliche Jugendliche bessere Noten und Leistungen in Deutsch erreichten als männliche Jugendliche, diese aber höhere Noten und Leistungen in Mathematik zeigten als weibliche Jugendliche. Die Korrelationen zwischen Noten bzw. Leistungen mit dem ISEI-Wert lagen im Bereich ,18 ≤ r ≤ ,29, die Korrelationen mit den Bildungserwartungen lagen im Bereich ,40 ≤ r ≤ ,43. Verhaltensprobleme im Unterricht korrelierten mit Noten und Leistungen, aber auch mit dem ISEI-Wert und den Elternerwartungen.

Zur Prüfung der Hypothesen rechneten wir stufenweise logistische Regressionsanalysen mit den z-standardisierten Variablen und verglichen nach dem schrittweisen Einbezug zusätzlicher Variablen die Modellpassung aufgrund der aufgeklärten Varianz (Nagelkerke). Außerdem interessierte uns, welche Prädiktoren des 6. Schuljahres die Schultypzugehörigkeit im 9. Schuljahr signifikant vorhersagten. Weil der Schultyp im 9. Schuljahr erfasst wurde, ergab sich, dass allfällige Falschzuweisungen, die im 7. oder 8. Schuljahr zu einem Schultypwechsel führten, in dieser Analyse korrigiert sind. Für diese Analysen beschränkten wir uns auf die Jugendlichen in Real- und Sekundarschulen. Weil im 9. Schuljahr keine ganzen Klassen befragt wurden und weil in der gleichen Klasse Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Schultypen waren, wurde auf Mehrebenenanalysen verzichtet. Um die Ergebnisse zwischen den einzelnen Regressionsgleichungen vergleichen zu können, wurden missing values für alle Jugendlichen, bei denen die abhängige Variable nicht missing war, mit der Software NORM 2,03 imputiert.

Gemäß den odds ratios in Tab. 2 zeigte sich, dass die Noten in Mathematik und Deutsch des fünften Schuljahres die Schultypzugehörigkeit vorhersagten und 52,0% der Varianz (Pseudovarianz, Modellpassung) erklärten. Wenn zusätzlich die Ergebnisse der Leistungstests in Mathematik und Deutsch einbezogen wurden, stieg die Varianzaufklärung auf 56,6%, die Modellpassung nahm nur wenig zu. Alle vier Leistungsindikatoren waren signifikant. Weil alle Prädiktoren z-standardisiert waren, konnten die Koeffizienten miteinander verglichen werden. Die Koeffizienten geben an, wie sehr die abhängige Variable sich verändert, wenn die unabhängige Variable um einen Skalenpunkt zunimmt. Ein Koeffizient über 1 bedeutet daher einen positiven Zusammenhang, ein Koeffizient zwischen 0 und 1 einen negativen Zusammenhang. In Übereinstimmung mit Hypothese 1 ist die Vorhersagekraft der Noten höher als diejenige der Leistungen.

Tab. 2 Vorhersage des Schultyps Realschule vs. Sekundarschule im 9. Schuljahr (logistische Regressionsanalyse, odds ratios, standardisierte Koeffizienten)

Im dritten Schritt wurden familiäre Variablen in die Gleichung einbezogen. Zunächst wurde nur der sozio-ökonomische Status berücksichtigt. Die Varianzaufklärung stieg auf 57,4%. Darauf wurden die Bildungserwartungen der Eltern zusätzlich berücksichtigt, die einen signifikanten Effekt zeigten. Der SES-Effekt war nicht signifikant. Damit wurde der postulierte Mediatoreffekt (Hypothese 3) bestätigt. Zur Kontrolle der Konfundierung von Noten und Leistungen wurde in einem nächsten Schritt die gleiche Analyse ohne die Testleistungen durchgeführt. Der Einfluss der Deutschnoten und der Elternerwartungen war in dieser Analyse vergleichbar hoch.

Im nächsten Schritt wurden das Schülergeschlecht und die Verhaltensprobleme zusätzlich berücksichtigt. Die Gesamtgleichung erreichte eine Modellpassung von 64,8%. Auch in diesem Modell bildeten Noten in Mathematik und Deutsch sowie die Leistungen in Mathematik die erklärungsstarken Prädiktoren, wobei auch Bildungserwartungen und die Verhaltensprobleme signifikant waren.

Zur Überprüfung der Hypothese 7 wurden zusätzlich die Vorhersagekraft von Verhaltensproblemen im Unterricht und das Geschlecht unter Ausschluss der Leistungen und der Noten analysiert. Der Koeffizient für das Geschlecht wurde nicht signifikant. Der Effekt der Verhaltensprobleme im Unterricht war vor und nach Einbezug der Noten und Leistungen etwa gleich groß. Offenbar ist ihr Effekt hypothesengemäß unabhängig von den Leistungen zu finden.

Von den Jugendlichen in der Sekundarschule wechselten 80 in eine Berufslehre und 61 in eine Mittelschule. Von den Jugendlichen in der Realschule traten hingegen 23 in eine Berufslehre und 4 in eine Mittelschule. Alle zehn Jugendliche in progymnasialen Klassen wechselten in eine Mittelschule. Der Schultyp der S-I strukturiert den Übergang in die Sekundarschule vor.

Zur Überprüfung der Hypothesen 2, 4, 6 und 8 rechneten wir analog zu den oben dargestellten Analysen und mit den gleichen z-standardisierten Prädiktoren stufenweise logistische Regressionsanalysen mit der abhängigen Variable Anschlusslösung im 10. Schuljahr (Gymnasium vs. duale Berufsbildung). Gemäß Tab. 3 wurden im ersten Schritt nur die Noten in Mathematik und Deutsch des 5. Schuljahres einbezogen. Sie sagten die Alternative Gymnasium vs. Berufsbildung signifikant vorher (Nagelkerke 31,8%). Beide Noten wurden signifikant. Wurden zusätzlich die Leistungen in Mathematik und Deutsch in der Gleichung berücksichtigt, wurden die Leistungen sowie die Noten in Deutsch, nicht aber in Mathematik, signifikant. Damit wurde Hypothese 2c bestätigt. Offenbar spielen weder Bezugsgruppeneffekte noch das Übertrittsverfahren die entscheidende Rolle, sondern das Fach (Deutsch vs. Mathematik).

Tab. 3 Vorhersage der Anschlusslösung Gymnasium vs. Berufsbildung im 10. Schuljahr (logistische Regressionsanalyse, odds ratios, standardisierte Koeffizienten)

Um die Hypothese 4 zu prüfen, wurden im nächsten Schritt familiäre Variablen wie der sozio-ökonomische Status berücksichtigt. Dieser zeigte einen signifikanten Effekt. Nach dem Einbezug von Bildungserwartungen war der SES-Effekt aber nicht mehr signifikant. Die Modellpassung stieg auf 49,3%. Hypothese 4 wird damit bestätigt. Diese Gleichung erlaubte auch die Prüfung der Hypothese 6. Die Bildungserwartungen waren signifikant, die Noten und Leistungen in Deutsch ebenfalls. Um die Konfundierung von Noten und Leistungen zu kontrollieren, wurde die gleiche Analyse ohne die Testleistungen gerechnet. Es wurden die Noten in Deutsch neben den Bildungserwartungen der Eltern signifikant. Offenbar wurde der Effekt der Noten in Deutsch durch die Leistungen in Deutsch reduziert (Suppressionseffekt). Die Bildungserwartungen und die Noten in Deutsch waren gemäß Hypothese 6 unabhängig voneinander immer noch einflussreich.

Besonders interessant war die hohe Erklärungskraft der Bildungserwartungen. In einer Kreuztabelle mit allen verfügbaren Jugendlichen (ohne Datenimputation) zwischen den Bildungserwartungen und den beiden Anschlusslösungen zeigte sich, dass 78,2% der Elternerwartungen zutrafen. In diesen Fällen wählten die Jugendlichen die Anschlusslösung nach dem 9. Schuljahr, welche die Eltern im 6. Schuljahr vorhergesagt hatten, was einer erheblichen Trefferquote entspricht.

Um Hypothese 8 zu untersuchen, wurden Geschlecht und Verhaltensprobleme im Unterricht zusätzlich in die Gleichung aufgenommen. Die Varianzaufklärung belief sich nun auf 51,5%; einzig die Bildungserwartungen der Eltern und das Geschlecht waren in dieser Gleichung signifikant. Weibliche Jugendliche waren im Gymnasium häufiger. Um Konfundierungen zwischen den Prädiktoren nachzugehen, wurde im nächsten Schritt nur der Effekt von Verhaltensproblemen und Geschlecht untersucht. Wir fanden einen Geschlechtereffekt, wonach sich mehr männliche Jugendliche in der Berufsbildung und mehr weibliche Jugendliche im Gymnasium befanden. Der Effekt der Verhaltensprobleme im Unterricht war nur tendenziell signifikant (p  <  .10). Dieser Effekt ging nach Einbezug der Noten und Leistungen verloren. In Übereinstimmung mit Hypothese 8 vermögen Verhaltensprobleme im Unterricht nicht, den Bildungsverlauf in die Sekundarstufe II vorherzusagen.

4 Diskussion

Ziel dieser Untersuchung war es, die Bedeutung von Leistungsindikatoren, familiären Faktoren und Verhaltensproblemen im Unterricht auf die Bildungsverläufe von Schülerinnen und Schülern im Kanton Bern zu bestimmen. Erstmals wurden Bildungsverläufe in der Schweiz über zwei Schulübergänge vorhergesagt.

Während einige Studien bereits den Übergang in die Sekundarstufe I thematisiert haben (z. B. Ditton & Krüsken 2006), ist der Laufbahnentscheid Gymnasium vs. Berufsbildung unseres Wissens bisher nie durch die Situation am Ende der Primarschule vorhergesagt worden. Mit dieser Untersuchung lassen sich Erkenntnisse über die Determinanten von Bildungsverläufen und die Standardisierung bzw. Offenheit des Bildungssystems gewinnen. Wir erhalten Wissen darüber, in welchem Ausmaß Leistungsindikatoren, familiäre Faktoren und Verhaltensprobleme in der Primarstufe den Bildungsverlauf in die Sekundarstufe II kanalisieren.

Noten und Leistungen: Eine Besonderheit der vorliegenden Studie liegt in der Trennung von Noten und Leistungen zur Vorhersage des kurz- und mittelfristigen Übertrittentscheids. Leistungen wurden als Resultate von standardisierten Leistungstests eingeführt. Unsere Ergebnisse zeigen, dass Noten und Leistungen miteinander zusammenhängen, was auf eine hohe Validität der Tests bzw. der Noten hinweist. Die Validität der Tests ergibt sich außerdem daraus, dass sich ihre Konstruktion an den Lehrplänen orientierte. Obwohl die Leistungstests reliabel sind, erklären die Noten im Vergleich zu den Leistungen die Übertrittsentscheidung in die Sekundarstufe I besser (Hypothese 1). Die Erklärungskraft der Noten ist allerdings in unserer Studie geringer als in den Studien von Häberlin, Imdorf & Kronig (2004) und von Baeriswyl et al. (2006). Dieser Unterschied könnte mit dem besonderen Übertrittsverfahren im Kanton Bern im Jahr 2002 zusammenhängen, in welchem der Elternwunsch für die Übertrittsentscheidung höheres Gewicht als die Noten erhalten hat. Dazu kommt, dass keine standardisierten Leistungstests vorlagen, sodass keine Leistungsvergleiche durchgeführt werden konnten. Dies dürfte eine Erklärung dafür sein, dass die Elternerwartungen ein hohes prognostisches Gewicht erhalten haben. In der theoretischen Konzeption von sozialer Selektion und Bildungsverläufen sollten deshalb die gesetzlichen Grundlagen der Übertrittsverfahren berücksichtigt werden.

Mittelfristig, d. h. beim Übergang vom 6. Schuljahr in die Sekundarstufe II, besitzen Noten und Leistungen einen ähnlich starken Effekt. Die Bezugsgruppeneffekte im 6. Schuljahr sind weniger stark als vermutet. Leistungen in Deutsch erhielten aber eine ähnliche prognostische Stärke wie die Noten in Deutsch, obwohl sie im Übertrittsverfahren nicht explizit berücksichtigt wurden. Gemäß Hypothese 2c erlauben die Noten in Deutsch bessere Vorhersagen als die Noten in Mathematik. Dies erstaunt, weil die Noten in Mathematik durchschnittlich tiefer sind als diejenigen in Deutsch und daher für die Promotion in das nächste Schuljahr häufiger ein Hinderungsgrund sein könnten. Die Bedeutung der Deutschnoten im Vergleich zu den Mathematiknoten könnte dadurch begründet werden, dass in Deutsch kommunikative Kompetenzen bewertet werden, die auch in das Fach Mathematik einfliessen.

Einfluss der Familie: Die Befunde zeigen, dass das soziale Milieu der Familie kurzfristige Übertrittsentscheidungen und mittelfristige Bildungsverläufe in die Sekundarstufe II beeinflusst. Sie stimmen mit Ergebnissen aus Deutschland überein (Baumert & Schümer 2001). Bisherige Studien haben nur selten sekundäre Disparitäten wie Bildungserwartungen von Eltern für die Vorhersage von mittelfristigen Bildungsverläufen berücksichtigt (vgl. aber Schnabel et al. 2002; Paulus & Blossfeld 2007; Maaz et al. 2006). Diese Studien zeigen, dass Bildungserwartungen die Übertrittsentscheidungen beeinflussen. In Übereinstimmung mit diesen Studien und unseren Hypothesen 3 und 4 zeigen unsere Befunde, dass der Effekt des sozialen Milieus auf die Übertrittsentscheidungen und den mittelfristigen Bildungsverlauf in die Sekundarstufe II durch die elterlichen Bildungserwartungen vermittelt wird. Für die Theoriebildung ist bedeutsam, dass sekundäre Bildungsdisparitäten in der Art von Bildungserwartungen erklären, wie die soziale Herkunft den Bildungsverlauf von Heranwachsenden beeinflusst. Unabhängig davon belegen die Ergebnisse in Übereinstimmung mit den Hypothesen 5 und 6 den starken familiären Einfluss auf die Übertrittsentscheidungen und den mittelfristigen Bildungsverlauf in die Sekundarstufe II. Herkunftseffekte, die sich in Bildungserwartungen konkretisieren, sind in Übereinstimmung mit früheren Studien (Schimpl-Neimanns 2000) relevanter als Leistungsindikatoren. Die Entscheidung Gymnasium vs. Berufsbildung basiert nicht in erster Linie auf Leistungen, sondern sie wird stark von den Prioritäten der Eltern beeinflusst. Damit können die großen Unterschiede nach der sozialen Herkunft erklärt werden, die Studien über die Schülerinnen und Schüler im Gymnasium berichten (Amos et al. 2003).

Verhaltensprobleme im Unterricht: Gemäß den vorliegenden Ergebnissen beeinträchtigen Verhaltenprobleme im Unterricht die kurzfristige Übertrittsentscheidung direkt, selbst nach Kontrolle von Noten, Leistungen, sozialer Schicht, Elternerwartungen und Geschlecht (Hypothese 7). Dieses Ergebnis kann mit dem Konzept der institutionellen Diskriminierung von Gomolla & Radtke (2002) erklärt werden, wonach Jugendliche mit höherem Problemverhalten im Unterricht im Übertrittsverfahren benachteiligt werden. Neben der leistungsbezogenen Selektion basiert die Übertrittsentscheidung auf einer sozialen Selektion, in welcher soziales Problemverhalten im Unterricht eine wesentliche Rolle spielt. Eine andere Erklärung dieses Effekts könnte sein, dass Verhaltensprobleme ein Ausdruck mangelnder sozialer Kompetenz sind und als solche die Übertrittsentscheidung beeinflussen (Malti & Noam 2008; Masten et al. 2005).

Mittelfristig fanden wir nur einen tendenziellen Effekt der Verhaltensprobleme im Unterricht auf die Entscheidung Gymnasium vs. Berufsbildung, der sich nach Einbezug der Leistungstestergebnisse auflöste. Verhaltensprobleme und Testleistungen korrelierten deutlich negativ. Gemäß Hypothese 8 finden wir keinen Einfluss der Verhaltensprobleme im Unterricht auf den mittelfristigen Bildungsverlauf. Verhaltensprobleme im Unterricht sind an die soziale Struktur einer Schulklasse gekoppelt und nicht primär individuelle Merkmale (Neuenschwander 2005). Die Neigung zu Verhaltensproblemen im Unterricht verändert sich nach dem Klassenwechsel in die Sekundarstufe I, sodass sie den mittelfristigen Bildungsverlauf in die Sekundarstufe II nicht vorhersagen kann.

Als Einschränkung zu dieser Studie muss angemerkt werden, dass sich Stichprobe und Ergebnisse auf die Übertrittssituation im Kanton Bern beziehen. Weil sich die Übertrittsverfahren und die Offenheit des Bildungssystems international und national deutlich unterscheiden, müssten analoge Studien in Ländern und Kantonen mit anderen politischen Bildungskontexten repliziert werden.