1 Problemstellung

In der Erziehungswissenschaft zählt es zu den immer wieder in Anspruch genommenen Grundannahmen, dass Erziehung unter dem Anspruch steht, Bildung zu ermöglichen.

In diesem Zusammenhang bleibt eine Frage in der Regel jedoch ausgespart, zumindest aber bleibt sie unterbelichtet, die Frage nämlich, warum Erziehung unter den Anspruch der Bildung gestellt werden sollte. Es ist diese Frage, die ich in den Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stellen und anhand der Theorie des erziehenden Unterrichts behandeln möchte.

Die Theorie des erziehenden Unterrichts lässt sich als ein spezifischer Versuch interpretieren, eine Erziehung unter Bildungsanspruch zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund sprechen für die Auswahl dieser Position insbesondere die folgenden Gründe:

Erstens bietet die Theorie des erziehenden Unterrichts die Möglichkeit, die aktuell wieder verstärkt diskutierte Frage nach der Unterscheidung und dem Zusammenhang von Erziehung und Bildung aufzunehmen (vgl. Benner 2015). Dabei handelt es sich bei der Theorie des erziehenden Unterrichts um einen Entwurf, der seit Herbarts Allgemeiner Pädagogik (1806) in der Erziehungswissenschaft – auch immer wieder neu – diskutiert, problematisiert und weiterentwickelt worden ist. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass in der Theorie des erziehenden Unterrichts ein Problembewusstsein zum Ausdruck kommt, das berücksichtigt werden sollte, wenn heute eine Beschreibung von Erziehung unter Bildungsanspruch angefertigt wird (vgl. Hellekamps 1991, S. 14 ff.).

Für eine Bezugnahme auf die besagte Theorieposition spricht zweitens, dass der erziehende Unterricht nicht nur in theoretischer Hinsicht von Interesse ist, sondern hierunter auch ein Reformprojekt verstanden wird – ein Projekt, das heute u. a. aufgrund der Einrichtung von Ganztagsschulen erneut an Bedeutung gewinnen könnte. Damit rückt nämlich die Aufgabe in den Blick, Formen des Umgangs zu kultivieren, in denen die Heranwachsenden lernen können, Wissen, Urteilen und Handeln miteinander zu verbinden. Der erziehende Unterricht ist traditionell darauf gerichtet, Heranwachsenden dabei zu helfen, die besagten Verknüpfungen herzustellen. „‚Erziehender Unterricht‘ ist deshalb nicht nur die begriffliche Bestimmung eines systematischen Zusammenhangs, sondern zugleich ein Reformprogramm“ (Rekus 2010, S. 168). Vor diesem Hintergrund besitzt das Problem der Rechtfertigung eine besondere – vor allem auch bildungspolitische – Brisanz. Es stellt sich nämlich die Frage, wie ein erziehender Unterricht so begründet werden kann, dass staatliches Handeln, das darauf gerichtet sind, diesen an der öffentlichen Schule verbindlich zu verankern, als legitim angesehen werden kann.

Im Folgenden möchte ich insbesondere dadurch einen Beitrag zur Theorie des erziehenden Unterrichts leisten, dass ich auf das Problem der Rechtfertigung fokussiere. Wie ich zu zeigen versuche, führen in diesem Zusammenhang perfektionistische Begründungsansätze, d. h. solche, die von spezifischen Auffassungen des guten Lebens ausgehen, in eine Sackgasse. Dementsprechend möchte ich für eine antiperfektionistische Begründung des Bildungsanspruchs eines erziehenden Unterrichts argumentieren. Die These lautet, dass Bildung als Ausdruck des Prinzips des Respekts erläutert werden kann, und damit eines Prinzips, das es überhaupt erst ermöglicht, dass in modernen demokratischen Gesellschaften verschiedene Auffassungen von einem guten Leben entwickelt, stabilisiert, kritisiert, verteidigt und auch wieder verändert werden können.

2 Erziehender Unterricht und der Anspruch der Bildung

Die Idee, Erziehung als erziehenden Unterricht, genauer: als einen erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch zu begreifen, stammt bekanntlich von Johann Friedrich Herbart. Herbarts eigener Theorieentwurf markiert bis heute zentrale Problemvorgaben, denen eine an sein Werk anknüpfende, sich aber nicht auf es beschränkende Theorie der Erziehung Rechnung zu tragen hätte.

In der Theorie des erziehenden Unterrichts werden traditionell drei Grundformen von Erziehung unterschieden: Regierung, Unterricht und Zucht. Jeder dieser drei Grundformen erfüllt eine spezifische Funktion im Kontext der allgemeinen Aufgabe von Erziehung, Bildung zu ermöglichen und in diesem Sinne dazu beizutragen, „daß der Mensch mit freien Augen in die Welt schaue, und darin tue, nicht was die andern tun; sondern was gut und nötig und vielleicht eben darum, weil es die andern nicht tun, desto nötiger ist“ (Herbart 1919, S. 505).

Der Regierung kommt die Aufgabe zu, Schädigungen zu verhüten, die Heranwachsende angesichts von (noch) fehlender Einsicht sich selbst oder Anderen und Anderem zufügen würden, würden sie nicht durch eine Erzieherin oder einen Erzieher von einem spezifischen Handeln (z. B. dem unvorsichtigen Überqueren einer vielbefahrenen Straße) abgehalten werden. Regierung steht in diesem Sinne immer auch für die Orientierung an Regeln, die nicht zur Debatte stehen. Dabei bindet Herbart die Legitimität von Regierung an zwei Kriterien: Erstens darf die Regierung nur uneinsichtiges Handeln verhüten. Entsprechend wäre es nicht gerechtfertigt, durch bestimmte Maßnahmen (z. B. durch Strafen) zu versuchen, einen „Zweck im Gemüthe des Kindes zu erreichen“ (Herbart 1806/1964, S. 19). Zweitens muss die Regierung enden, sobald „sich Spuren eines ächten Willens beym Kinde zeigen“ (Herbart 1806/1964, S. 18), d. h., sobald dieses die Fähigkeit entwickelt, seinen Willen dem eigenen Urteil zu unterstellen und in diesem Sinne zu handeln.

Herbart sieht die Regierung als ein notwendiges Moment einer Erziehung als Bildungshilfe an. Zugleich gesteht er zu, dass die Regierung lediglich die Voraussetzungen für die „eigentliche Erziehung“ (Herbart 1806/1964, S. 25) schafft. Im Unterschied zur Regierung kommen „Unterricht“ und „Zucht“ darin überein, dass ihr „Zweck Bildung“ ist (Herbart 1806/1964, S. 111). Als Unterricht bezeichnet Herbart die Grundform von Erziehung, bei der eine Erzieherin oder ein Erzieher Heranwachsende zur Auseinandersetzung mit einem „Dritten“ (einer Sache, einem Inhalt) auffordert, und in diesem Sinne versucht, diesen Einsicht in den jeweiligen Sachverhalt zu ermöglichen (vgl. Herbart 1806/1964, S. 110). Ein Aspekt dieser Aufgabe besteht darin, Heranwachsenden dabei zu helfen, Einsicht in die Regeln zu gewinnen, die in der Regierung als scheinbar fraglos gültig in Anschlag gebracht werden.

Der Unterricht wird von Herbart dem Anspruch unterstellt, die Heranwachsenden dabei zu unterstützen, eine „Vielseitigkeit des Interesse“ (Herbart 1806/1964, S. 37) zu entwickeln. Der Begriff des Interesse sollte m. E. nicht vorschnell psychologisch interpretiert werden, obgleich sich eine solche Auslegung in der Literatur durchaus finden lässt. Meine Lesart von Herbart ist eine andere. M. E. gebraucht Herbart den Begriff des Interesse zumindest auch im Sinne von „inter esse“, d. h. „dazwischen, dabei sein“. „Interesse“ möchte ich als den Namen für den Umstand deuten, dass der oder die Einzelne gelernt hat, „bei der Sache“ zu sein, d. h. Einsicht in einen Sachverhalt gewonnen hat. Als vielseitig kann das Interesse dann bezeichnet werden, wenn sachliche Einsichten nicht nur aus einer Perspektive, sondern im Lichte verschiedener Perspektiven gewonnen worden sind, so dass die Heranwachsenden dazu in der Lage sind, einen Sachverhalt nicht nur im Horizont von Erfahrung und Umgang, sondern darüber hinaus auch in wissenschaftlicher, ästhetischer, politischer und religiöser Hinsicht zu verstehen.

Unterricht lässt sich vor diesem Hintergrund als dasjenige erzieherische Handeln begreifen, durch das die Heranwachsenden dabei unterstützt werden sollen, den Horizont ihres bislang maßgeblichen Selbst- und Weltverständnisses zu erweitern. Der Begriff „Vielseitigkeit des Interesse“ markiert dieser Lesart zufolge den Anspruch des Unterrichts, die Heranwachsenden zum Wissen zu führen, genauer: ihnen dabei zu helfen, „sich einen Gegenstand dadurch anzueignen“, dass er oder sie diesen „in seiner objektiven Vielgesichtigkeit erkennen lernt“ (Ramseger 1993, S. 833). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Sachverhalte durch einen Aspektereichtum gekennzeichnet sind, dem durch Unterricht dadurch Rechnung getragen werden soll, dass der jeweilige Sachverhalt im Lichte unterschiedlicher Perspektiven in seinen verschiedenen Facetten thematisiert wird. Auf diese Art und Weise soll den Heranwachsenden die Entwicklung eines vielseitig dimensionierten Selbst- und Weltverständnisses ermöglicht werden.

Die Zucht unterscheidet sich vom Unterricht strukturell dadurch, dass Erzieherinnen und Erzieher direkt auf die Heranwachsenden Bezug nehmen, um diese darin zu unterstützen, sachlichen Einsichten im Handeln zu entsprechen. Dies bedeutet für Herbart auch und vor allem, dass die Heranwachsenden lernen, den eigenen Handlungsentwurf daraufhin zu beurteilen, ob dieser im Lichte des Prinzips, andere Menschen als Selbstzweck zu behandeln, gerechtfertigt werden kann. Herbart knüpft hier an den kategorischen Imperativ Immanuel Kants an, wenn er ein im Lichte der Ideen des Wohlwollens, des Rechts und der Billigkeit begründetes Handeln als Medium der Entwicklung einer „Charakterstärke der Sittlichkeit“ (Herbart 1806/1964, S. 90) beschreibt.Footnote 1 Die Leitfrage der Zucht lautet dementsprechend: „Wie soll das Handeln nach eignem Sinn beschränkt und ermuntert werden?“ (Herbart 1806/1964, S. 119).

An dieser Stelle ist gegen Herbarts Theorie eingewandt worden, dass darin nicht hinreichend geklärt werde, wie Wissen und Handeln aufeinander bezogen werden können (vgl. Rekus 1993, S. 75 f.). Hinter diesem Einwand steht die Annahme, dass aus einem bestimmten Wissen nicht schon ein bestimmtes Handeln folgt. So legt z. B. die Einsicht, warum die Polkappen schmelzen, als solche keineswegs nahe, sich für die Umwelt zu engagieren. Die Entscheidung, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, impliziert ein Werturteil, nämlich dass dem Klimawandel und den damit verbundenen Konsequenzen entgegengearbeitet werden sollte. Jürgen Rekus macht in diesem Sinne darauf aufmerksam, dass der Zusammenhang zwischen Wissen und Handeln nicht fraglos gegeben ist, sondern gestiftet werden muss. Hierbei lautet der Vorschlag, dass es die „Aktivität des Wertens“ ist, die als „das in der Herbartschen Systematik noch fehlende Bindeglied zwischen Wissen und Handeln“ fungiert (Rekus 1993, S. 105). Erziehender Unterricht kann vor diesem Hintergrund als die Verknüpfung von Unterricht und Zucht begriffen werden: Die Heranwachsenden sollen zum Wissen geführt und zugleich in Situationen hineingezogen werden, in denen sie sich vor die Aufgabe gestellt sehen, im Lichte sachlicher Einsichten eigene Werturteile zu fällen sowie diesen im Handeln zu entsprechen. Erziehender Unterricht in diesem Sinne fällt damit mit der „eigentlichen Erziehung“ sensu Herbart zusammen (zu diesem Begriff eines erziehenden Unterrichts vgl. Schilmöller 1994; Benner 1995b; Fees 2000; Ladenthin 2008; Rekus 1993, 2010).

Erziehender Unterricht bedeutet also, die Hinführung zum Wissen (Unterricht) mit einer Unterstützung der Entwicklung von Urteils- und Handlungsfähigkeit (Zucht) zu verbinden und gerade dadurch den Heranwachsenden die Entwicklung einer vielseitig dimensionierten Selbstbestimmungsfähigkeit unter dem Anspruch von Moralität (Bildung) zu ermöglichen.

Als Selbstbestimmungsfähigkeit bezeichne ich die Fähigkeit, im Lichte sachlicher Einsichten und eigener Werturteile zu handeln. Selbstbestimmungsfähigkeit umfasst in diesem Sinne mindestens drei Komponenten: Erstens setzt Selbstbestimmungsfähigkeit voraus, dass der oder die Einzelne Einsichten in einen Sachverhalt gewonnen hat. Ohne sachliche Einsicht wären die Heranwachsenden nämlich nicht dazu in der Lage, eigene Werturteile zu fällen. Wie wollte sich jemand z. B. zu dem Umstand verhalten, dass bei der Entnahme embryonaler Stammzellen der Zellkörper in der Regel stirbt, wenn jemand um diesen Sachverhalt nicht weiß? Zweitens beruht Selbstbestimmungsfähigkeit darauf, dass der oder die Einzelne dazu in der Lage ist, sachliche Einsichten auf die eigene Lebensführung zu beziehen. Selbstbestimmungsfähigkeit setzt in diesem Sinne nicht nur Wissen, sondern auch eigene Werturteile voraus. Allerdings wäre es ebenfalls unzureichend, wenn jemand zwar dazu in der Lage ist, im Lichte sachlicher Einsichten eigene Werturteile zu fällen, die Person aber nicht die Fähigkeit besitzt, dem eigenen Werturteil im Handeln zu entsprechen. Selbstbestimmungsfähigkeit schließt deshalb drittens eine Fähigkeit mit ein, die traditionell als Charakterstärke bezeichnet wird, und die darin besteht, dass eine Person dazu in der Lage ist, ihr Leben im Lichte eigener Werturteile tatsächlich auch zu führen.

Wenn ich hier von einer vielseitig dimensionierten Selbstbestimmungsfähigkeit spreche, dann meine ich damit, dass eine Person dazu in der Lage ist, sich auf unterschiedliche Art und Weise zu sich selbst und zur Welt ins Verhältnis zu setzen und sich in diesen verschiedenen Modi des Selbst- und Weltverhältnisses selbst zu bestimmen. Diesem zweiten Aspekt des Bildungsanspruchs eines erziehenden Unterrichts liegt die Annahme zugrunde, dass das Leben und Zusammenleben in modernen demokratischen Gesellschaften in verschieden Kontexten seinen Ort hat, wobei diese Kontexte nach unterschiedlichen Logiken funktionieren, so dass eine mehr oder minder stark entwickelte Selbstbestimmungsfähigkeit in einem Kontext (z. B. Wissenschaft) noch nicht eine selbstbestimmte Lebensführung in anderen Kontexten (z. B. Religion) sicherstellt. Akzeptiert man die Annahme, dass Bildung in der Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit besteht, und akzeptiert man ferner, dass die moderne demokratische Gesellschaft als funktional differenziert beschrieben werden muss, so ergibt sich hieraus der Anspruch eines erziehenden Unterricht, die Entwicklung einer vielseitig dimensionierten Selbstbestimmungsfähigkeit zu ermöglichen.

Die Entwicklung einer vielseitig dimensionierten Selbstbestimmungsfähigkeit steht in der Theorie des erziehenden Unterrichts unter dem Anspruch der Moralität. Erziehender Unterricht ist deshalb auch darauf gerichtet, den Heranwachsenden dabei zu helfen, die Fähigkeit und Bereitschaft zu entwickeln, sich selbst in moralischer Hinsicht zu begrenzen, d. h. auch anderen Menschen die Freiheit einzuräumen, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Geht man von der Annahme aus, dass Bildung in der Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit besteht, und geht man ferner davon aus, dass die selbstbestimmte Lebensführung einen Freiraum benötigt, der im Miteinanderumgehen von Menschen nicht notwendigerweise gegeben ist, sondern allererst hergestellt und stabilisiert werden muss, dann folgt hieraus, dass es verkürzt wäre, Bildung allein als Entwicklung einer vielseitig dimensionierten Selbstbestimmungsfähigkeit zu begreifen. Bildung wird konsequenterweise als die Entwicklung einer vielseitig dimensionierten Selbstbestimmungsfähigkeit unter dem Anspruch von Moralität begriffen werden müssen – dies jedenfalls dann, wenn die Entwicklung einer vielseitig dimensionierten Selbstbestimmungsfähigkeit als ein Anspruch aller Menschen aufgefasst wird.Footnote 2

3 Bildung, staatliche Neutralität und das gute Leben

Ehe ich der Frage nach der Rechtfertigung des Bildungsanspruchs eines erziehenden Unterrichts nachgehe, möchte ich den Blick zunächst auf die Perfektionismus-Antiperfektionismus-Debatte richten, wie sie vor allem in der politischen Philosophie und – damit verbunden – der anglo-amerikanischen Philosophy of Education geführt wird (vgl. z. B. Clayton 2006). Diese Debatte scheint mir für eine Theorie des erziehenden Unterrichts deshalb besonders aufschlussreich zu sein, weil sie den Blick für die Möglichkeiten und Grenzen spezifischer Begründungsmuster eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch schärft.

In der politischen Philosophie vertreten Perfektionisten wie Joseph Raz, Steven Wall oder Kimberly Yuracko die Position, dass staatliches Handeln (z. B. Drogenverbote, die Förderung von Kunst, die Pflicht zum Besuch einer öffentlichen Schule) auch dann als legitim angesehen werden kann, wenn dieses letztlich nur in Bezug auf eine spezifische Auffassung von einem guten Leben gerechtfertigt werden kann – eine Auffassung, die von manchen Personen in der relevanten Öffentlichkeit unter Umständen nicht geteilt wird. Perfektionisten sprechen dem Staat die Aufgabe zu, Menschen dazu zu verhelfen, bessere Leben zu führen, als sie dies ohne die jeweiligen staatlichen Eingriffe führen könnten: „It is the goal of all political action to enable individuals to pursue valid conceptions of the good and to discourage evil or empty ones“ (Raz 1986, S. 133). Dies bedeutet zugleich, dass Perfektionisten das Neutralitätsgebot des liberalen Staates ablehnen, d. h. die Auffassung, dass sich der Staat gegenüber kontroversen Auffassungen von einem guten Leben neutral verhalten sollte.

Demgegenüber stehen Antiperfektionisten wie John Rawls, Charles E. Larmore, Jonathan Quong oder Martha Nussbaum für die Position, dass der Staat auf ein Neutralitätsgebot verpflichtet sei. „Governments must refrain from acting on the basis of any particular conception of what makes for a valuable, flourishing, or worthwhile life. Because we disagree about what makes life worth living, it would be wrong for the government to take sides on this question. Instead, the government should remain neutral on the issue of good life“ (Quong 2011, S. 2). Staatliches Handeln, so die Behauptung, müsse im Kontext einer modernen demokratischen Gesellschaft öffentlich gerechtfertigt werden, d. h., staatliches Handeln sei nur unter der Voraussetzung als legitim einzustufen, dass dieses durch Überzeugungen gerechtfertigt wird, die jede Person in der relevanten Öffentlichkeit als Grund akzeptieren kann. Weil dies im Falle kontroverser Auffassungen von einem guten Leben offensichtlich nicht der Fall ist, sei der Staat auf Neutralität verpflichtet.

An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass mit dem Neutralitätsgebot keine absolute Neutralität einhergeht. Dies ist z. B. schon allein dadurch erkennbar, dass staatliches Handeln unter den Anspruch gestellt wird, gegenüber allen Personen in einer relevanten Öffentlichkeit gerechtfertigt werden zu können. Dieses Prinzip der öffentlichen Rechtfertigung steht selbst wiederum in einer Beziehung zu dem Prinzip des Respekts, das von Antiperfektionisten als ein zentrales, wenn nicht sogar als das zentrale normative Prinzip einer modernen demokratischen Gesellschaft beschrieben wird (vgl. Larmore 1999).

Die Grundlage dafür, Menschen Respekt entgegenzubringen, sei der Umstand, so Larmore, dass Personen die „Fähigkeit besitzen, Überzeugungen zu entwickeln, die aus ihrer eigenen Perspektive heraus zu rechtfertigen sind“ (Larmore 1995, S. 67). Respekt sei von daher als die „Verpflichtung“ zu verstehen, andere Menschen „in einer bestimmten Weise zu behandeln“ (Larmore 1995, S. 67), nämlich so, dass ihrer „Fähigkeit“ Achtung erfährt, „eine eigene Weltsicht auszuarbeiten“ (Larmore 1995, S. 68), d. h. eine eigene Auffassung von einem guten Leben zu entwickeln. Das Prinzip des Respekts besitzt vor diesem Hintergrund zwei miteinander verbundene Aspekte: Zum einen gebietet es das Prinzip, Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben im Lichte einer eigenen Auffassung von einem guten Leben zu führen. Zum anderen formuliert das Prinzip die Verpflichtung, dass staatliches Handeln öffentlich rechtfertigbar sein muss, da nur so sichergestellt werden kann, dass Menschen keinen fremden Auffassungen von einem guten Leben unterworfen werden. Dies wäre der Fall, wenn staatliches Handeln allein im Rekurs auf eine kontroverse Auffassung von einem guten Leben gerechtfertigt werden kann.

Wie ich zu zeigen versucht habe, ist ein erziehender Unterricht mit Bildungsanspruch u. a. darauf gerichtet, Heranwachsenden dabei zu helfen, die Fähigkeit zu entwickeln, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Für einen erziehenden Unterricht ist damit auch und vor allem „the value of personal autonomy in a human life“ (vgl. Quong 2011, S. 4) zentral. Es ist dieser Umstand, wodurch grundlegende Fragen der Rechtfertigung eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch aufgeworfen werden, wie sie in der Theorie des erziehenden Unterrichts bis heute noch nicht einmal gestellt, geschweige denn systematisch behandelt worden sind. So erscheint es im Lichte der Perfektionismus-Antiperfektionismus-Debatte nicht mehr als selbstverständlich, überhaupt für eine Erziehung zur Selbstbestimmungsfähigkeit zu votieren. William Galston etwa weist eine solche Grundausrichtung von Erziehung – jedenfalls was das öffentliche Bildungssystem betrifft – ausdrücklich zurück. „Autonomy“, so Galston, „is one possible mode of existence in liberal societies – one among many others“ (Galston 1995, S. 525). Das aber bedeute, dass eine Erziehung zur Selbstbestimmungsfähigkeit „in fact represents a kind of uniformity that exerts pressure on ways of life that do not embrace autonomy“ (Galston 1995, S. 523). Um dies zu verhindern, so Galston, sei es erstens von zentraler Bedeutung, dass Eltern die Möglichkeit haben, ihre Kinder im Lichte der für sie jeweils maßgeblichen Auffassung von einem guten Leben zu erziehen. Neben solchen „wide parental rights, limited only by compelling state interests“ (Galston 1995, S. 529), bedürfe es zweitens eines „non-autonomy-based system of public education“ (Galston 1995). Der Grund für ein solches Votum ist darin zu sehen, dass eine Erziehung „that require or invite students to become skeptical or critical of their own ways of life“ (Galston 1995) von Galston als Ausdruck einer liberalen Auffassung von einem guten Leben gedeutet wird. Ein solcher Einwand hat Konsequenzen, was die Legitimität eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch betrifft. Sofern ein solcher nämlich nur perfektionistisch, d. h. in Bezug auf eine kontroverse Auffassung von einem guten Leben gerechtfertigt werden kann, so ist zu erwarten, dass sich Personen, die eine andere Auffassung von einem guten Leben haben, gegen die staatliche Privilegierung eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch wenden und sich hierbei auf das Neutralitätsgebot berufen werden.

Für unser Thema bedeutet dies: Will man sich nicht vorschnell von dem Reformprogramm eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch verabschieden, so dürfte man nicht daran vorbei kommen, etwaige perfektionistische um antiperfektionistische Begründungen zu ergänzen. Eine solche Suche nach Alternativen setzt freilich voraus, dass ein Votum für Selbstbestimmungsfähigkeit nicht schon per se als Ausdruck einer perfektionistischen Position, sondern als ein erzieherischer Anspruch begriffen wird, der sowohl perfektionistisch als auch antiperfektionistisch gerechtfertigt werden kann (vgl. Christman 2017, S. 21 f.).

Die Frage, wie der Bildungsanspruch eines erziehenden Unterrichts gerechtfertigt werden kann, hat wohl zu keiner Zeit die gleiche Aufmerksamkeit erfahren wie die Frage, was unter einem erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch verstanden werden kann bzw. sollte. Dies ist freilich nicht unproblematisch, dürfte die Zustimmung zu einer Beschreibung von Erziehung als erziehendem Unterricht doch in entscheidendem Maße davon abhängen, ob und, falls ja, inwiefern der damit verbundene Bildungsanspruch zu überzeugen vermag.

Hat man dieses Problem erst einmal erkannt, so dürfte schnell klar sein, dass der von Herbart ursprünglich vorgenommene Rekurs auf einen „höchsten Zweck des Menschen“ nicht mehr hinreicht, um den Bildungsanspruch des erziehenden Unterrichts zu rechtfertigen (vgl. Herbart 1804/1964, S. 259). Unter den Bedingungen einer modernen demokratischen Gesellschaft ist es nämlich umstritten, worin der „höchste Zweck“ des Menschen besteht. Die Beschreibung eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch könnte entsprechend mit dem Hinweis zurückgewiesen werden, dass der „höchste Zweck“ des Menschen doch auch anders bestimmt werden könnte. Warum sollte der „höchste Zweck“ des Menschen darin bestehen, ein selbstbestimmtes Leben unter dem Anspruch von Moralität zu führen – und nicht etwa in beruflichem Erfolg, persönlichem Wohlbefinden oder einem gottgefälligen Leben?

Das Problem scheint mir nun darin zu bestehen, dass neuere Begründungsversuche – können diese überhaupt ausgemacht werden – zwar nicht mehr auf einen vermeintlich „höchsten Zweck“ des Menschen rekurrieren, letztlich aber doch dem gleichen – nämlich perfektionistischen – Begründungsmuster verpflichtet sind. Ich möchte dies am Beispiel eines Arguments deutlich machen, das sich in verschiedenen Beiträgen zur Theorie des erziehenden Unterrichts findet (vgl. z. B. Benner 1995a, S. 154 ff.; Fees 2000, S. 9, 45, 64, 338). Zur Rekonstruktion des Arguments greife ich auf Arbeiten von Jürgen Rekus zurück, weil dieser das besagte Argument m. E. am deutlichsten zur Sprache bringt.

Warum soll Erziehung an der Aufgabe Orientierung finden, Heranwachsenden dabei zu helfen, die Fähigkeit zu entwickeln, ihr Leben selbstbestimmt zu führen? Antwort Rekus: „Im Pluralismus gibt es keine Wertposition, die über andere erhaben wäre. Deshalb kann Erziehung heute nur als Hilfe zum selbständigen (Wert‑)Urteilen und zur verantwortlichen Handlungsentscheidung verstanden werden“ (Rekus 2006, S. 228).

Meine These lautet, dass dieses Argument nur unter der Voraussetzung einer (verdeckten) Bezugnahme auf eine spezifische Auffassung von einem guten Leben „funktioniert“. So zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass das Argument keineswegs dazu zwingt, eine Erziehung zur Selbstbestimmungsfähigkeit zu akzeptieren. Warum, so ließe sich fragen, sollte Erziehung als eine Unterstützung des Entwurfs eigener Werturteile begriffen werden, nur weil es verschiedene Werteorientierungen gibt, die miteinander konfligieren? Der Umstand, dass Menschen unterschiedliche Werteorientierungen verfolgen, liefert für sich genommen keinen Grund, Heranwachsende nicht auf eine spezifische Werteorientierung festzulegen. Aus dem Faktum der Pluralität ergibt sich zunächst einmal nur, dass Erziehung nicht als Einführung in eine spezifische Werteorientierung begriffen werden muss, sondern auch als Hineinziehen der Heranwachsenden in den Widerstreit verschiedener Werteorientierungen und – damit verbunden – als Aufforderung zum Entwurf eigener Werturteile begriffen werden kann. Unter Pluralitätsbedingungen besteht die Möglichkeit, Erziehung als „Hilfe zum selbständigen (Wert‑)Urteilen“ zu verstehen – mehr zunächst einmal nicht.

Die Frage lautet also, was Rekus dazu veranlasst, aus dem Faktum der Pluralität auf eine Erziehung zur Selbstbestimmungsfähigkeit zu schließen. Rekus scheint hier eine nicht weiter problematisierte Voraussetzung in Anspruch zu nehmen, nämlich die Annahme, dass ein gutes Leben als ein solches begriffen werden muss, in dem eine Person ihr Leben im Lichte eigener Werturteile führt. An anderer Stelle bringt Rekus diesen „Haltepunkt“ explizit zur Sprache: „Ein gelingendes Leben ist heute nicht mehr durch das reibungslose Hineinwachsen in eine herrschende Kultur mit festgefügten Werten und Normen gekennzeichnet, sondern nur durch den gelingenden Prozess der mühsamen und riskanten eigenen Wert- und Normpositionierung“ (Rekus 2012, S. 232). Zugespitzt formuliert: Ein gutes Leben ist in modernen demokratischen Gesellschaften nur als ein selbstbestimmt geführtes Leben möglich.

Dieser Vorschlag einer perfektionistischen Rechtfertigung eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch ist anschlussfähig an die Argumentation, die Joseph Raz in The Morality of Freedom entwickelt hat. Eine Antwort auf die Frage, ob Autonomie „an essential ingredient of the good life“ (Raz 1986, S. 390) sei, ist nach Raz abhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen jemand aufwächst und sein Leben führt. Das bedeutet, dass keine allgemeine Antwort auf die besagte Frage gegeben werden kann. Die Antwort „depends on the general character of one’s environment and culture. For those who live in an autonomy-supporting environment there ist no choice but to be autonomous: there is no other way to prosper in such a society“ (Raz 1986, S. 391). Raz vertritt demnach die These, dass Selbstbestimmungsfähigkeit unter den Bedingungen einer modernen demokratischen Gesellschaft als notwendig für ein gutes Leben angesehen werden kann, und zwar deshalb, weil diese Art von Gesellschaft Menschen mit Situationen konfrontiert, in denen diese eigene Urteile fällen und entsprechend handeln müssen.

Man kann freilich versuchen, sich diesem „Zwang zur Freiheit“ zu entziehen. Man könnte sich im Widerstreit der Positionen auch unbefragt an bestimmte Positionen halten und mögliche Alternativen einfach ignorieren. Dies dürfte allerdings nur zu einem bestimmten Grad gelingen. Die Heranwachsenden werden früher oder später in Situationen hineinkommen, in denen sie im Lichte von Alternativen eigene Entscheidungen treffen müssen. Im Anschluss an Raz könnte deshalb argumentiert werden, dass es für die Heranwachsenden in modernen demokratischen Gesellschaften schwer, vielleicht sogar aussichtlos sein dürfte, sich Situationen zu entziehen, in denen sie sich vor die Aufgabe gestellt sehen, eigene Positionen zu entwickeln und zu leben, denn: „The value of personal autonomy is a fact of life. Since we live in a society whose social forms are to a considerable extent based on individual choice […], we can prosper in it only if we can be successfully autonomous“ (Raz 1986, S. 394).

Die hier nur skizzierte perfektionistische Rechtfertigung eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch erscheint auf den ersten Blick als durchaus plausibel. Jedoch machen insbesondere die Debatten in der zeitgenössischen Politischen Philosophie wie der Philosophy of Education auch den Preis deutlich, der mit einem solchen Begründungsmuster verbunden ist. Dieser Preis besteht zumindest darin, dass ein solcher Ansatz keine Ressourcen bereitstellt, um einen erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch öffentlich zu rechtfertigen, d. h. zumindest mit der Aussicht, im Kontext einer demokratischen Öffentlichkeit allgemeine Zustimmung zu erfahren. Das aber bedeutet zugleich, dass von der Idee Abstand genommen werden muss, Argumente bereitstellen zu können, die es erlauben, einen erziehenden Unterricht im öffentlichen Bildungssystem zu verankern. Die moderne, demokratisch verfasste Gesellschaft kennt nämlich eine Vielzahl an Auffassungen darüber, worin ein gutes Leben besteht, zumindest aber bestehen könnte. Das gute Leben in dieser Art von Gesellschaft als ein selbstbestimmt geführtes Leben zu begreifen, erscheint vor diesem Hintergrund als nur eine Vorstellung neben anderen. Hieraus folgt: Rechtfertigt man einen erziehenden Unterricht perfektionistisch, so bezieht man damit notwendig eine kontroverse Position. Geht man davon aus, dass der liberale Staat einem Neutralitätsgebot verpflichtet ist, so würde dies bedeuten, dass ein staatliches Handeln, das einer entsprechenden Grundausrichtung von Erziehung an der öffentlichen Schule zuarbeitet, zwangläufig eine Verletzung dieses Gebotes zur Folge hätte. Man könnte vor dem Hintergrund, dass das staatliche Neutralitätsgebot als Ausdruck des Prinzip des Respekts aufgefasst werden kann, noch einen Schritt weiter gehen und den Einwand formulieren, dass ein entsprechendes staatliches Handeln als Ausdruck mangelnden Respekts gegenüber all jenen Personen gewertet werden muss, die eine alternative Auffassung von einem guten Leben favorisieren (vgl. Nussbaum 2014, S. 153 ff.).

Damit ist die Problemkonstellation markiert, die sich ergibt, wenn man meint, einen erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch perfektionistisch begründen zu müssen, oder wenn man glaubt, diesen nur perfektionistisch begründen zu können. Es stellt sich von daher die Frage, ob eine Rechtfertigung von Bildung möglich ist, die es erlaubt, diese Problemkonstellation zu vermeiden.

4 Bildung als Ausdruck von Respekt

Ich möchte diese Frage im Folgenden positiv beantworten und zeigen, dass Bildung auch antiperfektionistisch begründet werden kann, d. h. so, dass die Rechtfertigung ohne die Bezugnahme auf eine kontroverse Auffassung von einem guten Leben auskommt. Mein Begründungsvorschlag knüpft dabei an Vorarbeiten an, in denen eine Erziehung unter Bildungsanspruch und – damit verbunden – eine Erziehung zu personaler Autonomie antiperfektionistisch zu rechtfertigen versucht wird. Während Krassimir Stojanov lediglich die Möglichkeit einer solchen Rechtfertigung erwägt (vgl. Stojanov 2014, S. 354), zeigt insbesondere Johannes Giesinger auf, dass gerade das Prinzip des gleichen Respekts die Möglichkeit bietet, die „Förderung von Autonomie“ als einen Anspruch zu begreifen, der zum „normativen Kernbestand des liberaldemokratischen Staates“ gehört (Giesinger 2014, S. 22) und in diesem Sinne eine „nicht-perfektionistische Argumentation für eine Erziehung zur Autonomie“ (Giesinger 2017, S. 310) erlaubt. Ich möchte diese Überlegung im Folgenden aufnehmen und für eine Theorie des erziehenden Unterrichts fruchtbar machen. Dabei geht es mir auch und vor allem darum, dass Argument aus pädagogischer Warte zu präzisieren und weiter zuzuspitzen, indem das Problem der Entwicklung eigener Auffassungen von einem guten Leben sowie das Problem der Unterstützung dieser Entwicklung in den Mittelpunkt der Überlegungen gerückt wird. Die These lautet: Unternimmt man den Versuch, das Prinzip des Respekts in Bezug auf beide Problemstellungen zu durchdenken, so eröffnet dies die Möglichkeit, einen erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch antiperfektionistisch zu rechtfertigen – und damit zugleich die problematischen Konsequenzen zu vermeiden, die ein Votum gegen eine Erziehung zur Selbstbestimmungsfähigkeit im Namen des Respekts mit sich führt.

So spricht sich z. B. Martha Nussbaum im Lichte des Prinzips des Respekts allein für eine Erziehung zu politischer, nicht aber zu personaler Autonomie aus. Mehr noch: Eine Erziehung an der öffentlichen Schule, die u. a. die kritische Reflexion auf überkommene Traditionen impliziert, wird von ihr aufgrund von fehlender Pluralismustauglichkeit ausdrücklich zurückgewiesen. Eine solche Position ist freilich nicht unproblematisch. Johannes Drerup weist zurecht darauf hin, dass sich Nussbaum mit ihrer Kritik an einem liberalen Perfektionismus in pädagogischer Hinsicht auf die „fragwürdige Position“ festlegt, „dass Respekt gegenüber Kindern und ihrer Würde es nicht nur erlaubt, sondern erfordert, diese nicht mit der Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion in persönlichen Angelegenheiten auszustatten“ (Drerup 2017, S. 74). Im Unterschied zu Drerup scheint es mir jedoch nicht ausgemacht zu sein, dass die Rechtfertigung einer Erziehung zu personaler Autonomie notwendigerweise perfektionistische Begründungsmuster erfordert (vgl. Drerup 2017, S. 77). Wie ich zu zeigen versuche, ist hierzu der Bezug auf das Prinzip des Respekts ausreichend.

Respekt, so hatte ich oben bereits ausgeführt, lässt sich begreifen als eine spezifische Art und Weise, Menschen zu betrachten und zu behandeln, nämlich so, dass diesen eine Würde zugesprochen wird, die Achtung verdient und die nur dann Achtung erfährt, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ihr Leben im Lichte einer eigenen Auffassung von einem guten Leben oder – wie man im Sinne der Theorie des erziehenden Unterrichts auch formulieren könnte – einer eigenen Werteorientierung zu führen. Meine These lautet nun: Unternimmt man den Versuch, das Prinzip des Respekts pädagogisch weiter zu denken, so eröffnet dies die Möglichkeit, einen erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch antiperfektionistisch zu rechtfertigen.

Das Prinzip des Respekts pädagogisch zu wenden, bedeutet erstens, das Problem der Genese einer eigenen Werteorientierung mit in die Überlegungen einzubeziehen. In diesem Fall wäre zunächst davon auszugehen, dass Heranwachsende noch nicht über eine eigene stabile Auffassung von einem gute Leben verfügen, sondern diese vielmehr in Entwicklung begriffen ist. Dies gilt streng genommen auch für bereits entwickelte eigene Werteorientierungen von Heranwachsenden, denn diese können sich unter bestimmten Umständen als problematisch erweisen, so dass sich der oder die Einzelne vor die Aufgabe gestellt sieht, nach einer neuen Werteorientierung zu suchen. Kurzum: In pädagogischer Perspektive kommen eigene Auffassungen darüber, was ein gutes Leben ausmacht, als etwas in den Blick, das entsteht, aufrechterhalten wird und sich auch wieder verändern kann, und das in diesem Sinne prinzipiell nichts Feststehendes ist (vgl. Benner 1995a, S. 152 f.).

Vor diesem Hintergrund lässt sich der Bedeutungsgehalt des Prinzips des Respekts in pädagogischer Perspektive in einem ersten Schritt wie folgt präzisieren: Respekt bedeutet, Heranwachsenden die Möglichkeit zu geben, eine eigene Auffassung von einem guten Leben zu entwickeln.

An dieser Stelle ist es aus meiner Sicht entscheidend, auf ein Problem aufmerksam zu machen, dass in seiner Relevanz vor allem dann in den Blick kommt, wenn man den Blick auf die Genese eigener Werteorientierungen richtet. Es stellt sich nämlich die Frage, in welchem Sinne Auffassungen von einem guten Leben als eigene Auffassungen begriffen werden können. Dabei möchte ich von einer eigenen Werteorientierung nicht schon dann sprechen, wenn jemand überhaupt eine Auffassung von einem guten Leben hat. Soll aber mit den Formulierungen „eigene Auffassung von einem guten Leben“ oder „eigene Werteorientierung“ mehr gemeint sein als eine Trivialität, soll also – mit anderen Worten – in einem anspruchsvollen Sinne von Authentizität die Rede sein, so muss man angeben, unter welchen Bedingungen eine Werteorientierung als authentisch gelten kann.

Ich kann dieses Problem hier nicht ausführlich behandeln, möchte aber die Position vertreten, dass von einer eigenen Werteorientierung erst dann gesprochen werden sollte, wenn diese dem Kriterium der „kritischen Reflektiertheit“ (Meyer 2011, S. 25) entspricht. Die These lautet: Die Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung einer eigenen Werteorientierung ist über eine Praxis des Gründe-Gebens und Nach-Gründen-Verlangens vermittelt. In der Praxis des Gebens und Verlangens von Gründen kommen Heranwachsende mit alternativen Auffassungen von einem guten Leben in Kontakt. Alternative Werteorientierungen ermöglichen Differenzerfahrungen, erlauben es also, dass sich der oder die Einzelne in Distanz zu bereits entwickelten Werteorientierungen begibt. Kritik eröffnet in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, Werteorientierungen, die an jemanden herangetragen und von diesen oftmals mit Nachdruck erwartet werden, nicht vorbehaltlos übernehmen zu müssen (vgl. Meyer 2011, S. 30 f.). Kurzum: Die Praxis des Gründe-Gebens und Nach-Gründen-Verlangens eröffnet einen Spielraum für Selbstbestimmung.

Diese Überlegung hat Konsequenzen dafür, was es bedeutet, vom Prinzip des Respekts auszugehen: „To respect someone means to recognize her as (at least potentially) being capable of reasoning“ (Stojanov 2012, S. 85). Aus pädagogischer Warte kommt es vor diesem Hintergrund nicht nur darauf an, das Problem der Genese zu berücksichtigen. Zentral für eine pädagogische Perspektive ist zweitens die Annahme, dass die Entwicklung einer eigenen Auffassung von einem guten Leben nicht erwartbar erfolgreich gelingen dürfte ohne Erziehung – eine Erziehung jedenfalls, die dafür Sorge trägt, dass das für den Entwurf eigener Werturteile erforderliche Sachwissen angeeignet wird (a), die Heranwachsende in eine Reflexion auf bereits entwickelte Werteorientierungen verstrickt (b), und die sicherstellt, dass Heranwachsende alternative Werteorientierungen, die an sie herangetragen werden, nicht fraglos akzeptieren (c).

Im Lichte dieser Annahme kann der Bedeutungsgehalt des Prinzips des Respekts ein zweites Mal präzisiert werden: Geht man davon aus, dass eigene Werteorientierungen in Entwicklung begriffen sind, und geht man ferner davon aus, dass die besagte Entwicklung ohne Erziehung nicht erwartbar erfolgreich gelingen dürfte, dann folgt hieraus, dass es im Lichte des Prinzip des Respekts geboten ist, die Heranwachsende darin zu unterstützen, eine eigene Auffassung von einem guten Leben zu entwickeln. Dies schließt mit ein, diesen dabei zu helfen, Werteorientierungen kritisch zu prüfen – nicht um sie abzulehnen, sondern um selbst darüber entscheiden zu können, ob man ihnen zustimmen oder ob man sie ablehnen möchte.

In einem erziehenden Unterricht wird die Bildsamkeit der Heranwachsenden deshalb in spezifischer Art und Weise angesprochen, nämlich so, dass diese nicht nur zum Wissen geführt, sondern auch dazu aufgefordert werden, eigene Werturteile zu fällen. Indem Erzieherinnen und Erzieher die Heranwachsenden in diesem Zusammenhang zur Prüfung von Geltungsansprüchen auffordern (vgl. Mikhail 2016, S. 208) und sie damit in eine Praxis des Gründe-Gebens und Nach-Gründen-Verlangens hineinziehen, ist ihr Handeln darauf gerichtet, den Heranwachsenden Bildung zu ermöglichen. Diese sollen so in die Kultur eingeführt werden, dass sie lernen können, sich zu dieser Kultur in ein prüfendes Verhältnis zu setzen. Erzieherinnen und Erzieher unterstehen diesem Anspruch – und das ist hier entscheidend –, weil es das Prinzip des gleichen Respekts gebietet, und nicht etwa deshalb, weil eine kontroverse (nämlich liberale) Auffassung von einem guten Leben als maßgeblich in Anschlag gebracht wird.

Halten wir fest: Wenn wir erstens davon ausgehen, dass Menschen einen Anspruch darauf haben, ihr Leben im Lichte einer eigenen Auffassung von einem guten Leben zu führen, wenn wir zweitens davon ausgehen, dass diese Auffassungen nicht einfach gegeben, sondern in Entwicklung begriffen sind, und wenn wir drittens davon ausgehen, dass die Entwicklung eigener Werteorientierungen ohne Erziehung nicht erwartbar erfolgreich gelingen dürfte, dann folgt aus dem Prinzip des Respekts in pädagogischer Hinsicht das Gebot, Heranwachsenden dabei zu helfen, eine eigene Auffassung von einem guten Leben zu entwickeln.

Abschließend möchte ich diese Rechtfertigung eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch gegenüber einem – m. E. gewichtigen – Einwand verteidigen, der bereits gegenüber ähnlich gelagerten Begründungen einer Erziehung zu personaler Autonomie vorgebracht worden ist (vgl. Drerup 2016, S. 144, 2017, S. 80 f.). Ich nenne diesen Einwand den Inkompatibilitätsvorwurf. Dieser lautet im Kern, dass eine antiperfektionistische Begründung eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch letztlich als der Versuch gewertet werden müsse, prinzipiell Unvereinbares miteinander zu vereinbaren. Dabei werde verkannt, dass es in diesem Zusammenhang prinzipiell nur zwei gangbare Optionen gibt: Die erste Möglichkeit lautet, für einen erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch zu votieren, zu dessen Rechtfertigung aber auf eine kontroverse Auffassung über das gute Leben zurückgreifen, d. h. perfektionistisch argumentieren zu müssen. Die zweite Option heißt, vom Prinzip des gleichen Respekts auszugehen, d. h. einen antiperfektionistischen Begründungsrahmen in Anspruch zu nehmen, und die Konsequenz akzeptieren zu müssen, in diesem Rahmen nicht für einen erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch als verbindliche Vorgabe für die öffentliche Schule votieren zu können (vgl. Drerup 2017, S. 77).

Aus meiner Sicht ist der Inkompatibilitätsvorwurf nur dann überzeugend, wenn man sich bereits darauf festgelegt hat, dass eine Erziehung zur Selbstbestimmungsfähigkeit letztlich nur in Bezug auf eine liberale Auffassung von einem guten Leben gerechtfertigt werden kann. Mit einer solchen Festlegung droht aber gerade die Pointe der vorgeschlagenen antiperfektionistischen Rechtfertigung aus dem Blick zu geraten, nämlich dass Antiperfektionisten sich täuschen, wenn sie glauben, aus Gründen des Respekts gegen eine Erziehung zu personaler Autonomie an der öffentlichen Schule votieren zu müssen.

Das Prinzip des gleichen Respekts besagt, dass jeder Mensch einen Anspruch darauf hat, sein Leben im Lichte einer eigenen Auffassung von einem guten Leben zu führen. Menschen darf in diesem Sinne keine bestimmte Vorstellung von einem guten Leben aufgezwungen werden. Aus pädagogischer Perspektive wäre nun zu berücksichtigen, dass eigene Auffassungen von einem guten Leben in Entwicklung begriffen sind und diese Entwicklung auf Erziehung angewiesen ist. Hieraus folgt, dass auch die Erziehung unter dem Gebot steht, Heranwachsenden keine Auffassungen von einem guten Leben aufzuzwingen, sondern diese darin zu unterstützen, eigene Werteorientierungen zu entwickeln. An dieser Stelle schuldet man eine Antwort auf die Frage, unter welchen erzieherischen Bedingungen eine sich entwickelnde Werteorientierungen als eine eigene bezeichnet werden kann. Hierzu zählt u. a., dass Heranwachsenden dabei geholfen wird, sich kritisch zu überkommenen Traditionen zu verhalten, um selbst darüber entscheiden zu können, im Lichte welcher Auffassung vom Guten sie ihr Leben führen möchten. Dies schließt Lebensentwürfe, die mit autonomiereduzierenden Konsequenzen verbunden ist, gerade nicht aus, sondern ein (ähnlich: Forst 2007, S. 200 f.). Ein erziehender Unterricht mit Bildungsanspruch, wie ich ihn im ersten Teil dieses Beitrags beschrieben habe, ist auf die Ermöglichung von Selbstbestimmungsfähigkeit in diesem Sinne gerichtet, und lässt sich von daher in Bezug auf das Prinzip des gleichen Respekts rechtfertigen (was nicht zugleich bedeutet, dass jede Konzeption einer Erziehung zu personaler Autonomie auf diese Art und Weise begründet werden könnte). Die Behauptung ist also: Jeder, der sich überhaupt zum Prinzip des Respekts bekennt, und der darüber hinaus dazu bereit ist, das besagte Prinzip pädagogisch weiterzudenken, „can accept all of this“ (Nussbaum 2006, S. 307) – und zwar unabhängig davon, welche spezifische Auffassung von einem guten Leben er oder sie hat.

Was ist der Gewinn dieser Überlegungen? Die Einsicht, dass ein erziehender Unterricht mit Bildungsanspruch perfektionistisch und antiperfektionistisch begründet werden kann, scheint mir mindestens in zweifacher Hinsicht weiterführend zu sein: Zum einen kann damit gezeigt werden, dass es eine pädagogisch nicht hinreichend reflektierte Position ist, wenn Antiperfektionisten personale Autonomie als verbindliches Erziehungsziel an der öffentlichen Schule aus Gründen des Respekts ablehnen. Zum anderen kann nun für einen erziehenden Unterricht an der öffentlichen Schule votiert werden, ohne dass ein solches Votum mit dem Neutralitätsgebot des liberalen Staates in Konflikt gerät. Die in diesem Beitrag beschriebenen Folgelasten einer perfektionistischen Rechtfertigung können dadurch vermieden werden. Dies ist deshalb der Fall, weil im Rahmen der hier vorgeschlagenen Begründung nicht eine kontroverse Auffassung von einem guten Leben, sondern der normative Kern der modernen demokratischen Gesellschaft selbst als Bezugspunkt fungiert.

5 Fazit

Im Zentrum dieses Beitrags stand die Frage nach der Rechtfertigung des Bildungsanspruchs eines erziehenden Unterrichts im Kontext moderner demokratischer Gesellschaften.

Im Lichte der Perfektionismus-Antiperfektionismus-Debatte habe ich einen zentralen Einwand gegenüber einer „education for autonomy“ rekonstruiert, der auch auf den Bildungsanspruch eines erziehenden Unterrichts bezogen werden kann. Dieser Einwand lautet, dass eine Begründung, die Argumente in Bezug auf eine spezifische Auffassung von einem guten Leben formuliert, keine Ressourcen bereitstellt, um einen erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch öffentlich zu rechtfertigen.

Geht man – weil die Debatte zwischen Perfektionisten und Antiperfektionisten nicht als abgeschlossen gelten kann – zumindest probehalber von einem Neutralitätsgebot des liberalen Staates aus, so erweist es sich als erforderlich, etwaigen perfektionistischen mögliche antiperfektionistische Begründungen des Bildungsanspruchs eines erziehenden Unterricht zur Seite zu stellen. Dies scheint mir vor allem dann angezeigt zu sein, wenn man unter erziehendem Unterricht auch ein Reformprogramm verstanden wissen möchte. Der hier vorgeschlagene antiperfektionistische Begründungsansatz besteht darin, den Bildungsanspruch eines erziehenden Unterrichts als Ausdruck des Prinzips des Respekts und damit des normativen Kerns moderner demokratischer Gesellschaften zu erläutern. Eine solche Rechtfertigung sollte dazu geeignet sein, für einen erziehenden Unterricht an der öffentlichen Schule zu votieren. Erziehender Unterricht kann vor diesem Hintergrund nämlich als eine dem normativen Kern der liberalen Demokratie entsprechende Grundausrichtung von Erziehung begründet werden – eine Ausrichtung, auf die Heranwachsende einen Anspruch haben, wenn sie überhaupt einen Anspruch auf Respekt haben.