1 Einleitung

Die Diskussion über die Wirksamkeit der Lehrerausbildung führte im letzten Jahrzehnt zu zahlreichen Forschungsarbeiten, die die Kompetenzen angehender sowie berufstätiger Lehrkräfte untersuchten (u. a. Zlatkin-Troitschanskaia et al. 2009; Kunter et al. 2011b). Parallel dazu wurden die Relevanz des schulischen Praxisbezugs mit der Einführung neuer Studienstrukturen bekräftigt und längere Praxisphasen wie das Praxissemester in die Lehramtsstudiengänge integriert (Weyland und Wittmann 2015).

Die Forschungsarbeiten, die den Beitrag praxisbezogener Lerngelegenheiten zum Erwerb professioneller Kompetenzen bei angehenden Lehrpersonen analysieren, weisen jedoch darauf hin, dass Praxisphasen nicht per se eine positive Wirkung hinsichtlich des Aufbaus professioneller Kompetenzen besitzen (Hascher 2012; Gröschner und Müller 2013; Arnold et al. 2014). So zeigen Gröschner und Seidel (2012), dass die Betreuungsqualität einen zentralen Einflussfaktor für die Kompetenzentwicklung darstellt und insbesondere reflexiv gestaltete Lerngelegenheiten von Relevanz für den Kompetenzerwerb sind. Ferner verweisen Befunde von Ronfeldt und Reininger (2012) bezüglich des Formats praxisbezogener Lerngelegenheiten darauf, dass die eingeschätzte Qualität der Lerngelegenheiten von größerer Relevanz ist als die reine Praktikumsdauer (siehe hierzu auch Expertenkommission 2006). Insgesamt zeichnen die bislang vorliegenden Studien zur Kompetenzentwicklung in verlängerten Praxisphasen kein einheitliches Bild (Schubarth et al. 2012). Eine Schwierigkeit des Forschungsfeldes ist oftmals die mangelnde Vergleichbarkeit der Befunde, da die Studien meist unterschiedliche Bereiche von Kompetenzentwicklung betrachten und entsprechend mit variierenden Messinstrumenten arbeiten (Hascher und de Zordo 2015). Der vorliegende Beitrag analysiert daher im Rahmen eines multimethodalen Ansatzes die Entwicklung und das Verhältnis bislang separat betrachteter bildungswissenschaftlicher Kompetenzfacetten. Hierbei wird neben dem Effekt, den das Absolvieren des Praxissemesters auf die Entwicklung einzelner bildungswissenschaftlicher Kompetenzfacetten hat, auch der Effekt der Praxiserfahrung auf das Verhältnis der Kompetenzfacetten zueinander untersucht.

Im Folgenden werden entsprechende bildungswissenschaftliche Kompetenzfacetten genauer erläutert sowie unter Berücksichtigung aktueller Forschung erörtert, welches Potential das Praxissemester hinsichtlich der Entwicklung und einer möglichen Vernetzung der Kompetenzfacetten bietet. Daran anschließend werden die Rahmenbedingungen des Praxissemesters in Nordrhein-Westfalen (NRW) mit Spezifikationen für den Untersuchungsstandort Wuppertal als Studienkontext genauer dargestellt.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Bildungswissenschaftliche Kompetenzen

Domänenübergreifend wird Kompetenz als ein komplexes System persönlicher Voraussetzungen zur Bewältigung spezifischer – meist berufsrelevanter – Anforderungen definiert, das prinzipiell vermittel- und erlernbar ist (Weinert 2001; Kunter et al. 2013). Die professionelle Kompetenz einer Lehrperson umfasst dabei motivational-affektive Aspekte und das Professionswissen in unterschiedlichen Kompetenzbereichen (Shulman 1987; Bromme 1992; Baumert und Kunter 2006, 2011). Für den bildungswissenschaftlichen Teil der Lehramtsausbildung hat die Kultusministerkonferenz (KMK) Standards definiert, die vorgeben, welche bildungswissenschaftlichen Kompetenzen angehende Lehrkräfte während der ersten und zweiten Phase ihrer Ausbildung in den zugeordneten Bereichen Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren erwerben sollen (KMK 2004). Neben dieser inhaltlichen Differenzierung bildungswissenschaftlicher Kompetenzbereiche können auch unterschiedliche Formen von Kompetenz betrachtet werden (vgl. Schneider et al. 2011). So kann hinsichtlich des Professionswissens zwischen konzeptuellem und prozeduralem Wissen in den verschiedenen Inhaltsbereichen differenziert werden (König et al. 2014; König und Klemenz 2015). Im Rahmen des universitären bildungswissenschaftlichen Studiums wird insbesondere konzeptuelles Wissen gefördert, welches deklaratives und objektiviertes Wissen in unterrichts- und kontextbezogenen Inhaltsbereichen umfasst und bei entsprechender Vernetzung auch das Wissen über das Verhältnis der Konzepte zueinander (Linninger et al. 2015; Schneider et al. 2011). Prozedurales Wissen ist dagegen als stärker handlungs- und situationsbezogenes Wissen zu verstehen, das insbesondere im Rahmen von Routinehandlungen angewendet wird (König und Blömeke 2009).

Konzeptuelles Wissen und motivational-affektive Dispositionen stellen die Basis dafür dar, dass – mediiert über situationsspezifisch aktivierte Fähigkeiten – professionelles Verhalten in Handlungssituationen gezeigt werden kann (Blömeke et al. 2015). Zu diesen situationsspezifischen Fähigkeiten lässt sich im Unterrichtskontext auch die professionelle Unterrichtswahrnehmung zählen. Professionelle Unterrichtswahrnehmung umfasst sowohl die Beobachtung als auch die Interpretation von Unterrichtssituationen auf Grundlage konzeptuellen, unterrichtsnahen Wissens (Jahn et al. 2014). Die Transferleistung, entsprechendes Wissen auf authentische Unterrichtssituationen übertragen zu können, erfordert dabei prozedurales, anwendungsbezogenes Wissen (Seidel und Stürmer 2014). Mit zunehmender Professionalisierung können verschiedene Facetten unterrichtsnahen Wissens besser zueinander in Bezug gesetzt und konkrete Unterrichtssituationen differenzierter analysiert werden (van Es und Sherin 2008). Hierdurch können wiederum Konsequenzen für den weiteren Lehr-Lernprozess adäquater vorhergesagt werden, wodurch professionelles Verhalten begünstigt wird (Jahn et al. 2014).

Bislang etablierte Verfahren zur Erfassung bildungswissenschaftlicher Kompetenzen sind (1) Selbsteinschätzungsverfahren, (2) Wissenstests und (3) Videovignetten (Frey 2006; Zlatkin-Troitschanskaia et al. 2009; Kunter und Klusmann 2010; Frey und Jung 2011; Kuhn et al. 2016). (1) Selbsteinschätzungen zielen häufig auf performative Aspekte ab und sind weniger eng an rein konzeptuelles Wissen geknüpft (Gröschner 2009). So können Kompetenzselbsteinschätzungen und damit verbundene Selbstwirksamkeitserwartungen gerade bei anspruchsvollen Anforderungen handlungsleitend sein und gleichzeitig auch durch Feedback und Kompetenzerfahrungen im Handlungsprozess gesteuert werden (Bach 2013). Entsprechende Selbsteinschätzungen der eigenen Kompetenzen geben jedoch weniger Auskunft über das tatsächliche Kompetenzniveau als über die subjektiv empfundene Verfügbarkeit der Kompetenzen (Müller und Dieck 2011). Diese subjektiven Kompetenzeinschätzungen sind somit nicht als valide Aussage über die tatsächliche Kompetenz anzusehen, sondern als ein Ausdruck von Selbstwirksamkeitserwartungen, die eine wichtige Komponente der psychischen Regulationsfähigkeit im professionellen Handlungskontext umfassen. In Übereinstimmung mit Gröschner und Müller (2013) wird daher angenommen, dass Kompetenzselbsteinschätzungen durch ihre handlungsaktivierende Funktion einen relevanten Teil des Kompetenzprofils darstellen.

Der bislang überwiegende Einsatz dieses Verfahrens in der Lehrerbildungsforschung lässt sich dabei jedoch auch auf forschungsökonomische und -pragmatische Gründe zurückführen (König und Tachtsoglou 2012). Auch wenn Selbstbeurteilungsverfahren prinzipiell eine diagnostische Funktion übernehmen können, sind hinsichtlich einer standardisierten Kompetenzerfassung daher weitere testdiagnostische Verfahren notwendig. So stellen (2) Wissenstests eine Möglichkeit dar, das im Rahmen der universitären Lehrerausbildung vermittelte konzeptuelle bildungswissenschaftliche Wissen zu erfassen (König und Blömeke 2009; Seifert und Schaper 2012; Kunter et al. 2017). Ein Vorteil von Wissenstests ist die erhöhte Objektivität und Validität der Methode. Die mittels Wissenstest in der Regel sehr eng bemessene Erfassung konzeptuellen Wissens ist gleichzeitig auch eine Schwachstelle dieser Erhebungsmethode, wenn umfassendere Entwicklungsprozesse betrachtet werden sollen. Eine über die Erfassung konzeptuellen Wissens hinausgehende Erfassungsmethode stellen (3) Videovignetten dar, die eine Anwendung des Wissens auf konkrete Unterrichtssituationen erfordern und u. a. die Erfassung der professionellen Unterrichtswahrnehmung ermöglichen (Seidel und Prenzel 2007). So kann durch den Einsatz authentischer Unterrichtsvideos die Wahrnehmung und Interpretation unterrichtlicher Situationen erfasst und somit stärker prozedurales Wissen ermittelt werden (Jahn et al. 2014). Hierdurch kann eine größere Nähe zu Handlungssituationen hergestellt werden als es mit herkömmlichen Selbsteinschätzungsverfahren oder Wissenstest im Paper-Pencil-Format der Fall ist.

Bislang liegen nur vereinzelt Arbeiten vor, die Instrumente zur Kompetenzmessung kombinierend einsetzen (Blömeke et al. 2014) und somit eine Auskunft über das Verhältnis der unterschiedlichen Kompetenzfacetten zueinander liefern können. Befunde von König, Kaiser und Felbrich (2012) verweisen darauf, dass Zusammenhänge von Kompetenzselbsteinschätzungen und konzeptuellem Wissen lediglich bei Teilgruppen nachzuweisen und erwartungswidrig niedrig sind. Hinsichtlich des Zusammenhangs von konzeptuellem Wissen und professioneller Unterrichtswahrnehmung deuten Befunde von König et al. (2014) darauf hin, dass es sich um jeweils eigenständige Formen der Wissensrepräsentation handelt, die nur in einem geringen Zusammenhang zueinander stehen.

2.2 Kompetenzentwicklung im Praxissemester

Die Mehrzahl der deutschen Bundesländer hat im Rahmen jüngerer Reformen ein Praxissemester in die Lehramtsausbildung integriert. Zeitpunkt, Zielsetzung und inhaltliche Ausgestaltung dieser Praxisphase variieren deutlich (Weyland und Wittmann 2015). In Anlehnung an Kunter et al. (2011a) nehmen wir an, dass die Kompetenzentwicklung im Praxissemester maßgeblich von den im Rahmen dieser Ausbildungsphase zur Verfügung gestellten Lerngelegenheiten und deren individueller Nutzung durch die Studierenden moderiert wird. Die Qualität der Lerngelegenheiten im Praxissemester wird unter anderem von den Kompetenzen der involvierten Akteure der Universität, des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) und der Schule beeinflusst (vgl. Hascher und Kittinger 2014). So können bspw. schulische und universitäre Akteure mittels Feedback subjektive wie objektive Kompetenzentwicklungen beeinflussen (Bach 2013). Die individuelle Nutzung von Lerngelegenheiten im Praxissemester und die damit verbundene Kompetenzentwicklung ist jedoch ebenso von den persönlichen Voraussetzungen der Studierenden abhängig (Kunter et al. 2011a; Hascher und Kittinger 2014). Die unterschiedliche Nutzung impliziert sowohl deren Wahl, als auch die Intensität der Auseinandersetzung und die Tiefe der kognitiven Verarbeitung der Inhalte (Kunina-Habenicht et al. 2013).

Die Kompetenzselbsteinschätzungen der Praxissemesterstudierenden können sich zum einen durch eigene Erfahrungen sowie zum anderen durch stellvertretende Erfahrungen in den bildungswissenschaftlichen Kompetenzbereichen verändern (vgl. Bandura 1997; Bach 2013). Der persönlichen Erfolgserfahrung im Sinne einer erfolgreichen Bewältigung herausfordernder Situationen wird dabei ein positives Einflusspotential auf die Kompetenzselbsteinschätzungen zugeschrieben. Diesbezüglich bieten im Praxissemester insbesondere eigene Unterrichtsversuche sowie begleiteter Unterricht relevante Lernerfahrungen in den Bereichen Unterrichten, Erziehen und Beurteilen. Lernformate wie das Studienprojekt ermöglichen zusätzlich eigene Lernerfahrungen im Bereich Innovieren. Da Beobachtungen eines erfolgreichen – aber auch eines erfolglosen – Modells ebenso Einfluss auf subjektive Kompetenzeinschätzung nehmen können, wird reflektierten Beobachtungen von Lehrpersonen (Unterrichtshospitation) und Kommilitonen (Gruppenhospitation) ebenso ein Einflusspotential auf Kompetenzselbsteinschätzungen in unterrichtsnahen Bereichen zugesprochen (vgl. Bach 2013).

Darüber hinaus stellen entsprechende Reflexionen von Fremdbeobachtungen relevante Lerngelegenheiten zur Erhöhung der professionellen Unterrichtswahrnehmung dar. So sollen insbesondere Reflexionsformate wie Lerntagebücher die Studierenden darin fördern, Unterricht differenziert wahrzunehmen sowie das Gesehene unter Berücksichtigung lernrelevanter Aspekte wissensbasiert zu interpretieren. Insgesamt kann dem situierten Lernen (Mandl et al. 2002) im Praxissemester ein besonderes Potential für die Entwicklung bildungswissenschaftlicher Kompetenzen in Form prozeduralen Wissens zugeschrieben werden.

Die Kompetenzentwicklung von Lehramtsstudierenden in verlängerten Praxisphasen bildet noch einen recht neuen Forschungsschwerpunkt, der aufgrund der bildungspolitischen Rahmenbedingungen insbesondere im deutschsprachigen Raum jedoch ein stark wachsendes Forschungsaufkommen zu verzeichnen hat (Arnold et al. 2014; Besa und Büdcher 2014; Rothland und Boecker 2015). Die bislang vorliegenden Studien arbeiten meist mit Selbsteinschätzungen als Methode der Kompetenzmessung und kombinieren diese mitunter mit Fremdeinschätzungen (Müller 2010; Gröschner und Schmitt 2012; Schubarth et al. 2012). Die bestehenden Befunde weisen in Teilen auf eine positive Wirkung dieses Studienelements hin (Schubarth et al. 2014), wobei der höhere Nutzen im Vergleich zu anderweitigen Studienelementen bzw. kürzeren schulpraktischen Phasen bislang nicht eindeutig erkennbar ist (Dieck et al. 2010; Gröschner und Müller 2013; Rothland und Boecker 2015). Untersuchungen von Gröschner et al. (2013) zeigen einen systematischen Zusammenhang zwischen der universitären Lernbegleitung im Praxissemester und den Veränderungen der subjektiven Kompetenzeinschätzungen der Studierenden. Eine mit Videovignetten arbeitende Studie von Stürmer et al. (2013) deutet darüber hinaus auf einen positiven Einfluss des Praxissemesters auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung der Studierenden hin.

Insgesamt wird bei der Sichtung des Forschungsstandes zum Praxissemester jedoch deutlich, dass der Großteil bisheriger Forschungsarbeiten keine Vergleichs- oder Kontrollgruppe hinzuzieht. Dies schränkt die Aussagekraft der Befunde dahingehend ein, dass konstatierte (subjektive oder objektive) Kompetenzveränderungen nicht unweigerlich auf das Praxissemester zurückgeführt werden können, sondern auch reguläre universitäre Studienanteile oder allgemeine Entwicklungseffekte in Betracht kommen. Die zwischen den Untersuchungsstandorten variierenden Messinstrumente, welche in der Regel einzeln und nicht kombiniert eingesetzt wurden (Besa und Büdcher 2014), führen zu einer mangelnden Vergleichbarkeit der Befunde und geben bislang keine Auskunft über das Verhältnis unterschiedlicher Kompetenzfacetten zueinander sowie einer möglichen Veränderung dieses Verhältnisses aufgrund der erhöhten Praxiserfahrung. Gruber et al. (2006) gehen allerdings in Anlehnung an die medizinische Expertiseforschung (z. B. Boshuizen und Schmidt 1992) davon aus, dass unter dem Einfluss praktischer Erfahrungen Wissen eine qualitative Veränderung erfährt und entsprechende Wissensstrukturen fallbasiert reorganisiert und integriert werden können. Hinsichtlich der Kompetenzen (angehender) Lehrkräfte nehmen Blömeke et al. (2014) an, dass diese im Rahmen erster schulpraktischer Tätigkeiten ebenso Umstrukturierungsprozesse erfahren, wobei eine entsprechende empirische Bestätigung der Annahme allerdings noch nicht ausreichend vorliegt. Im Weiteren gilt es daher zu prüfen, ob im Rahmen des Praxissemesters nicht nur eine reine Erweiterung von Kompetenzen erfolgt, sondern auch eine Reorganisation und Integration bestehender Kompetenzfacetten stattfindet. Insbesondere hinsichtlich der bildungswissenschaftlichen Kompetenzselbsteinschätzung wird angenommen, dass durch die zunehmende Praxiserfahrung eine realistischere Einschätzung handlungsnaher Kompetenzen ermöglicht wird, wodurch entsprechende Selbsteinschätzungen in einem engeren Verhältnis zu prozeduralem Wissen stehen werden.

2.3 Rahmenbedingungen des Praxissemesters in NRW

In NRW wurde das Praxissemester durch die Verabschiedung des Lehrerausbildungsgesetzes von 2009 ein obligatorischer Part der universitären Lehrerausbildung, wobei der erste aktive Durchlauf auf Landesebene im Wintersemester 2012/2013 an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW) erfolgte. Die Durchführung des Praxissemesters wird in NRW von der Universität verantwortet, welche in Kooperation mit den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) und den Schulen eine wissenschafts- und berufsfeldbezogene Einbettung der Inhalte verfolgt. In Anlehnung an Gröschner et al. (2015) werden die strukturellen Merkmale sowie die Merkmale der Begleitung des Praxissemesters in NRW unter besonderer Berücksichtigung der Ausgestaltung am Standort Wuppertal im Folgenden genauer dargestellt.

Strukturelle Merkmale: Aus struktureller Perspektive stellt das Praxissemester in NRW das letzte und längste Pflichtpraktikum in der universitären Lehrerausbildung dar. Im Bachelorstudium sind ein Eignungs‑/Orientierungspraktikum von mindestens 25 Praktikumstagen sowie ein vierwöchiges Berufsfeldpraktikum abzuleisten (MSW 2017). Das im Masterstudium verortete Praxissemester ist dagegen als ein fünfmonatiges Mitwirkungspraktikum im Blockformat ausgelegt. Der schulpraktische Teil findet an vier Wochentagen am Lernort Schule statt. Zusätzlich ist ein Studientag pro Woche vorgesehen, der während der Vorlesungszeit in der Universität und außerhalb der Vorlesungszeit im ZfsL verortet ist (MSW 2017). Eine zwischen dem Ministerium für Schule und Weiterbildung und den an der Lehrerausbildung beteiligten Hochschulen des Landes NRW abgestimmte Rahmenkonzeption (Freimuth und Sommer, 2010; Herzig und Hecke 2016) legt die Ausgestaltung des Praxissemesters genauer fest und definiert auch dessen Professionalisierungsabsicht. So zielt das Praxissemester darauf ab, durch einen professionsorientierten Theorie-Praxis-Bezug eine Kompetenzbasis für den Lehrerberuf zu schaffen. Die Absolventinnen und Absolventen sollen demnach über die Fähigkeit verfügen, Lehr- und Lernprozesse professionell wahrzunehmen und unter Berücksichtigung fachlichen und bildungswissenschaftlichen Wissens mitzugestalten. Das Forschende Lernen stellt einen weiteren zentralen Bereich des Praxissemesters dar: Die Studierenden sollen dazu befähigt werden, theoriegeleitete Erkundungen im Handlungsfeld Schule durchzuführen. Hierbei sollen Erfahrungen in der Praxis den Ausgangspunkt für theoretisch oder empirisch fundierte Reflexionen darstellen und umgekehrt wissenschaftliche Befunde zum besseren Verständnis der Praxis genutzt werden. Die Studierenden sollen dadurch zu einer kritischen Anwendung sowie problemorientierten, flexiblen Erweiterung ihres konzeptuellen Wissens befähigt werden (Herzig und Hecke 2016; Werfel et al. 2016). Die Breite der Erfahrungsmöglichkeiten soll auch dazu beitragen, dass die Studierenden im Praxissemester die Basis für ein professionelles Selbstkonzept entwickeln und sich differenziert mit ihrem individuellen Kompetenzerwerb auseinandersetzen (Freimuth und Sommer 2010).

Merkmale der Begleitung: An der BUW ist das Praxissemester für das zweite oder dritte Semester des viersemestrigen Masters of Education vorgesehen, wobei der Studienzeitpunkt eine Empfehlung und keine Verpflichtung darstellt. Es wird insgesamt mit 25 Leistungspunkten (LP) kreditiert, von denen 13 LP auf den schulpraktischen Teil und 12 LP auf den universitären Teil entfallen und eine Benotung ausschließlich seitens der Universität stattfindet. Hinsichtlich der universitären Begleitung ist das Praxissemester sowohl in den beiden Unterrichtsfächern mit je 3 LP als auch in den Bildungswissenschaften mit 6 LP curricular eingebunden. In den Bildungswissenschaften sind eine viertägige Vorbereitung im Blockformat, eine medial vermittelte Begleitung sowie eine eintägige Nachbereitungsveranstaltung für die Praxissemesterstudierenden obligatorisch. Die Betreuung findet kontinuierlich durch einen Lehrenden der Bildungswissenschaften in Gruppen von ca. 20 Studierenden statt. Die Prüfungsform stellt eine Sammelmappe dar, welche die während des Semesters zu bearbeiteten Reflexionsaufgaben (z. B. Lerntagebücher) und Studienprojekte umfasst. Auf der Rahmenkonzeption aufbauend zielt die bildungswissenschaftliche Einbettung des Praxissemesters an der Bergischen Universität darauf ab, dass individuelle Erfahrungen und Beobachtungen der Studierenden durch das Verfassen von Lerntagebüchern und die Konzeption von Studienprojekten in Beziehung zu bildungswissenschaftlichen Theorieansätzen gebracht werden. Die Studienprojekte stellen dabei komplexe Lerngelegenheiten dar, in denen Beobachtungen aus der schulischen Praxis methodengleitet und auf Basis wissenschaftlicher Befunde analysiert sowie im Hinblick auf die eigene Professionalisierung reflektiert werden sollen (van Ackeren und Herzig 2016). Im Zuge der Reflexionsaufgaben und Studienprojekte sind wissenschaftliche Reflexionen gezielter Selbst- und Fremdbeobachtungen daher ein fester Bestandteil der bildungswissenschaftlichen Begleitung, die auf die Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung abzielen und eine kritische Selbsteinschätzung berufsrelevanter Kompetenzen ermöglichen sollen.

Der schulpraktische Teil des Praxissemesters umfasst mindestens 390 Zeitstunden, welche neben Anwesenheitszeiten von etwa 250 Zeitstunden in der Schule auch Veranstaltungszeiten in den ZfsL beinhalten (MSW 2017). In der schulischen Anwesenheitszeit sind ca. 70 Unterrichtseinheiten unter Begleitung nachzuweisen. Für jedes Fach sind darüber hinaus eigene Unterrichtsvorhaben in einem Umfang von ca. 12 bis 15 Unterrichtsstunden durchzuführen, im Rahmen derer auch je ein Unterrichtsbesuch durch eine Lehrkraft des ZfsL vorgesehen ist. Diese Unterrichtselemente sollen die Studierenden dabei schrittweise an das eigenständige Unterrichten heranführen (Herzig und Hecke 2016). Ebenso soll der Erziehungsauftrag der Schule während des Praxissemesters wahrgenommen und aktiv unterstützt werden (Freimuth und Sommer 2010). So stellt auch die Teilnahme an Konferenzen, Elterngesprächen und weiteren Bereichen des Schullebens (bspw. Ganztagsbetreuung) ein reguläres Element dieser Ausbildungsphase dar. Abgeschlossen wird der schulpraktische Teil durch ein individuelles Bilanz- und Perspektivgespräch, an dem je eine an der Ausbildung beteiligte Person des ZfsL und der Schule teilnehmen (MSW 2017).

2.4 Fragestellungen

Insgesamt besteht aktuell kein ausreichendes Wissen darüber, welchen Effekt das Praxissemester auf die Entwicklung und Vernetzung bildungswissenschaftlicher Kompetenzfacetten angehender Lehrkräfte hat und ob bislang konstatierte Veränderungen auf das Praxissemester zurückzuführen sind. Im Rahmen der vorliegenden Studie werden daher Lehramtsstudierende, die im Untersuchungszeitraum kein Praxissemester absolvieren und dadurch ein rein universitäres Lernsetting haben, im Sinne einer Vergleichsgruppe berücksichtigt. Die Studie untersucht folgende Forschungsfragen:

  1. 1.

    Zeigen Praxissemesterstudierende eine Entwicklung bildungswissenschaftlicher Kompetenzselbsteinschätzungen, konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissens sowie professioneller Unterrichtswahrnehmung und ist diese Entwicklung höher als die der Lehramtsstudierenden, die kein Praxissemester absolvieren?

Es wird aufgrund der dargestellten Lernbedingungen des Praxissemesters angenommen, dass sich bildungswissenschaftliche Kompetenzselbsteinschätzungen sowie die professionelle Unterrichtswahrnehmung im Kontext des Praxissemesters stärker erhöhen als in einem rein universitären Lernsetting. Hinsichtlich des konzeptuellen Wissens wird angenommen, dass durch den im Praxissemester geforderten Theorie-Praxisbezug (u. a. durch Lerntagebücher und Studienprojekte) Wissenskomponenten stärker kontextualisiert und gefestigt werden. Das Verhältnis der untersuchten Kompetenzfacetten zueinander sowie die Wirkung des Praxissemesters auf ihre Vernetzung ist allerdings bislang empirisch nicht ausreichend geklärt. Daher wird ergänzend folgende Forschungsfrage untersucht:

  1. 2.

    In welchem Zusammenhang stehen bildungswissenschaftliche Kompetenzselbsteinschätzungen, konzeptuelles bildungswissenschaftliches Wissen sowie professionelle Unterrichtswahrnehmung zueinander und ändert sich dieses Verhältnis durch das Absolvieren des Praxissemesters?

Die Eigenständigkeit der betrachteten Kompetenzfacetten führt zu der Annahme, dass lediglich schwache, aber dennoch positive Zusammenhänge zwischen den betrachteten Kompetenzfacetten bestehen. Auf Basis von Befunden der Expertiseforschung (Bromme 1992; Gruber et al. 2006; van Es und Sherin 2008) wird angenommen, dass durch eine zunehmende Praxiserfahrung qualitative Veränderungen von Kompetenzen erfolgen und unterschiedliche Kompetenzfacetten stärker miteinander vernetzt werden können.

3 Methode

3.1 Studiendesign

Die Untersuchung nutzt ein 2 × 2 mixed-Design, in dem die Gruppenzugehörigkeit (Praktikumsgruppe vs. Vergleichsgruppe) als Zwischensubjektfaktor und der Messzeitpunkt (t1 vs. t2) als Innersubjektfaktor verwendet werden.

Die Praktikumsgruppe besteht aus Studierenden des Master of Education der Bergischen Universität Wuppertal, die im Untersuchungszeitraum das Praxissemester absolvierten. Die Vergleichsgruppe setzt sich aus Studierenden derselben Studienordnung zusammen, die nach eigenen Angaben im Untersuchungszeitraum universitäre Kurse der Bildungswissenschaften besuchten und erst nach dem Untersuchungszeitraum das Praxissemester absolvierten. Da es sich bei dem Praxissemester um ein verpflichtendes Studienelement handelt und Studierende derselben Universität sowie Prüfungsordnung gewählt wurden, um möglichst vergleichbare Bedingungen zu haben, konnte keine Randomisierung bei der Gruppenzugehörigkeit erfolgen, so dass ein quasi-experimentelles Design vorliegt. Zu t1 wurden die Lehramtsstudierenden am Ende des Sommersemesters 2015 im Rahmen einer bildungswissenschaftlichen Grundlagenvorlesung sowie in den Vorbereitungskursen des Praxissemesters befragt. Die Messung von t2 fand ein halbes Jahr später am Ende des Wintersemesters 2015/2016 im Rahmen der Vor- und Nachbereitungskurse des Praxissemesters statt.

3.2 Stichprobe

Insgesamt nahmen zu t1 322 und zu t2 364 Lehramtsstudierende der BUW an der Untersuchung teil. Die vorliegende Analyse berücksichtigt ausschließlich die Werte der 177 Studierenden, die an beiden Messzeitpunkten teilnahmen und deren Angaben mittels eines anonymisierten Codes einander zugeordnet werden konnten. Von der betrachteten Stichprobe absolvierten 142 Studierende im Untersuchungszeitraum das Praxissemester. 35 Studierende befanden sich zu t1 am Ende einer bildungswissenschaftlichen Grundlagenvorlesung und begannen erst ein halbes Jahr später – zum Zeitpunkt von t2 – mit dem Praxissemester, weshalb sie als Vergleichsgruppe dienten.

Entsprechend der curricularen Vorgaben der BUW haben die Studierenden der Vergleichsgruppe im Untersuchungszeitraum bildungswissenschaftliche Lehrveranstaltungen im Bereich „Diagnostizieren, Unterrichten, Fördern“ sowie im Bereich „Bildung, Erziehung und Profession“ besucht. Da die besuchten universitären Kurse der Vergleichsgruppe während des Untersuchungszeitraums bzgl. ihrer inhaltlichen Ausrichtung und methodischen Ausgestaltung nicht genauer erfasst wurden, gilt diese Gruppe lediglich als Baseline einer möglichen Kompetenzentwicklung über ein Semester hinweg. Vor Beginn des Praxissemesters wurden daher für die Praxissemester- als auch für die Vergleichsgruppe die Baseline Characteristics (siehe Tab. 1) bestimmt (Bleuer et al. 2017). Bezüglich der dort berichteten Maße wurde kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen ermittelt und eine homogene Varianz in den Merkmalen nachgewiesen. Ebenso zeigte sich kein signifikanter Unterschied bzgl. der Praxiserfahrung, die außerhalb der Pflichtpraktika gesammelt wurde. Der Unterschied in den Gruppengrößen wird in den weiteren Analyseverfahren berücksichtigt.

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung

Zu beiden Messzeitpunkten wurden die Studierenden gebeten, auf einer vierstufigen Skala (1 = 0–25 %; 4 = 75–100 %) anzugeben, wieviel Prozent des bildungswissenschaftlichen Studiums sie bereits absolviert haben. Zu t1 gab der Großteil der Vergleichsgruppe an, zwischen 25–50 % der bildungswissenschaftlichen Studienanteile im Master absolviert zu haben. Zu t2 haben Studierende der Vergleichsgruppe nach Eigenangaben durchschnittlich zwischen 50–75 % der bildungswissenschaftlichen Studienanteile absolviert, so dass davon ausgegangen werden kann, dass im Untersuchungszeitraum reguläre – also rein universitäre – Kurse der Bildungswissenschaften besucht wurden.

3.3 Instrumente

Die Messung bildungswissenschaftlicher Kompetenzselbsteinschätzungen, des konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissens sowie der professionellen Unterrichtwahrnehmung erfolgte mittels bereits validierter Instrumente. Die Messinstrumente wurden jeweils zu t1 als auch zu t2 eingesetzt. Aufbau und Inhalte der Instrumente werden im Folgenden dargestellt.

3.3.1 Kompetenzselbsteinschätzungen

Das zur Erfassung bildungswissenschaftlicher Kompetenzselbsteinschätzungen eingesetzte Instrument (Gröschner 2009) basiert inhaltlich auf den von der KMK (2004) formulierten Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Der Fragebogen erfasst im Paper-Pencil-Format praxisbezogene Kompetenzselbsteinschätzungen in den Bereichen Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren auf Basis einer siebenstufigen Ratingskala (1=gar nicht kompetent; 7=voll und ganz kompetent). Die vier Skalen (siehe Tab. 2) umfassen insgesamt 33 Items, die an die Bedingungen schulpraktischer Lehr-Lernsituationen angepasst wurden (Gröschner und Schmitt 2012).

Tab. 2 Aufbau und Beispielitems der Skalen zur Kompetenzselbsteinschätzung

Die Selbstauskünfte dienen in der vorliegenden Arbeit der Erfassung subjektiver Kompetenzeinschätzungen und werden durch die folgenden objektiven Messverfahren ergänzt.

3.3.2 Bildungswissenschaftlicher Wissenstest

Zur Erfassung des konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissens wurde ein Wissenstest mit Multiple-Choice-Fragen (Seifert et al. 2009; Seifert und Schaper 2010, 2012) eingesetzt. Mithilfe des validierten Wissenstests können fächerübergreifende Wissens- und Fähigkeitsanteile von angehenden Lehrkräften operationalisiert und gemessen werden. Die Grundlage der Itementwicklung bildet ein Rahmenmodell, das sich an den Strukturmodellen der Lehrerbildungsstudien wie MT21 und COACTIV orientiert und ebenso auf die von der KMK (2004) formulierten bildungswissenschaftlichen Kompetenzstandards im Lehramtsstudium ausgerichtet ist. Das in Tab. 3 dargestellte Modell bildungswissenschaftlicher Kompetenzen von Seifert und Schaper (2012) liegt dem eingesetzten Wissenstest zugrunde und differenziert verschiedene Inhaltsbereiche und Anforderungsstufen.

Tab. 3 Rahmenmodell bildungswissenschaftlicher Kompetenzen mit stichwortartig formulierten Beispielen (Seifert und Schaper 2012, S. 185)

Die eingesetzte Kurzversion (Seifert et al. 2009) des Wissenstests umfasst sieben Aufgabenitems im reproduzierenden Anforderungsbereich, elf Aufgabenitems im anwendenden Anforderungsbereich sowie fünf Aufgabenitems im bewertenden Anforderungsbereich. Die curriculare Validität der Items für das bildungswissenschaftliche Curriculum am Untersuchungsstandort wurde mittels Expertenbefragung sichergestellt. Bei der Expertenbefragung wurden die Inhalte und Fragestellungen des Wissenstests mit den Modulbeauftragten für das Praxissemester und dem für das erste Mastersemester vorgesehenen Modul „Diagnostizieren, Unterrichten, Fördern“ abgeglichen und besprochen.

3.3.3 Videovignetten

Die Erfassung der professionellen Unterrichtswahrnehmung der Lehramtsstudierenden geschah mittels einer Kurzversion (3 Unterrichtsvideos) des Diagnoseinstruments Observer – videobasiertes Tool zur Diagnose professioneller Unterrichtswahrnehmung bei Lehrpersonen (Seidel et al. 2010). Das validierte Instrument beruht auf einer standardisierten Auseinandersetzung mit Videovignetten von Unterrichtssequenzen und erfasst die Fähigkeit, Ereignisse im Unterricht zu beschreiben, sie zu erklären und Konsequenzen für die weiteren Lernprozesse der im Video gezeigten Schülerinnen und Schüler vorherzusagen (Seidel und Stürmer 2014). Als Merkmale erfolgreichen Unterrichts werden im Instrument die Zielorientierung, Lernbegleitung und Lernatmosphäre unterschieden. Die jeweils zwei- bis vierminütigen Unterrichtsvideos wurden in einem mehrstufigen Expertenverfahren ausgewählt, wobei insbesondere auf die Authentizität der Filme geachtet wurde (Jahn et al. 2011, 2014). In der Erhebung wurde den Studierenden zuerst eine kurze Definition der drei Unterrichtskomponenten genannt. Daran anschließend erhielten sie zu jedem Clip eine kurze Erläuterung bezüglich der Jahrgangsstufe und des Themas der Stunde. Nach dem Zeigen eines Videos (Präsentation auf der Leinwand) wurden die Studierenden gebeten, im Paper-Pencil-Format standardisierte Multiple-Choice-Items auf einer vierstufigen Likert-Skala (1 = trifft nicht zu; 4 = trifft zu) einzuschätzen. Pro Unterrichtsvideo waren zwei der drei Unterrichtskomponenten (z. B. Zielorientierung und Lernbegleitung) anhand von 36 Items zu bewerten. Die Items sind in gleichen Teilen darauf ausgerichtet, (1) die gesehene Situation zu beschreiben, (2) zu erklären und (3) Vorhersagen hinsichtlich des Lernerfolgs der betrachteten Lerngruppe zu formulieren (Jahn et al. 2014). Als Bezugsnorm für die Itemauswertung wurde ein Expertenrating verwendet, das von Seidel et al. (2010) entwickelt wurde und sich als reliabel und praktikabel erwies.

3.4 Analysen

3.4.1 Entwicklungen der Kompetenzwerte mit und ohne Praxissemester

Zur Überprüfung der statistischen Signifikanz der angenommenen Gruppenunterschiede in der Entwicklung der Kompetenzfacetten werden Interaktionseffekte von Gruppenzugehörigkeit und Messzeitpunkt mittels einer ANOVA mit Messwiederholung gerechnet. Da Praxissemestergruppe und Vergleichsgruppe eine unterschiedliche Gruppengröße aufweisen, liegt den Berechnungen ein unausgewogenes Modell zugrunde. Dies berücksichtigend werden in den Analysen Quadratsummen des Typs III gewählt. Der Vorteil dieses Typs ist, dass die Quadratsummen invariant bezüglich der Zellenhäufigkeiten sind, wenn eine allgemeine Form der Schätzbarkeit konstant vorliegt (Bortz und Schuster 2010; IBM 2016). Zur Untersuchung der Effektstärke wird ein Programm von Lenhard und Lenhard (2017) zur Berechnung von Mittelwertsunterschieden zweier verschieden großer Gruppen verwendet. Die gepoolte Standardabweichung wird in dieser Berechnung um einen kleinen positiven Bias korrigiert, wobei das Verfahren im Wesentlichen dem von dCohen entspricht. Durch diese geringfügige Fehlerkorrektur in der Ermittlung der Effektstärken soll verhindert werden, dass Effekte allein aufgrund der unterschiedlichen Gruppengrößen und nicht tatsächlicher Merkmalsausprägungen auftreten.

3.4.2 Verhältnis der Kompetenzfacetten zueinander

Zur Untersuchung des Zusammenhangs der durch (1) Selbsteinschätzung, (2) Wissenstest und (3) Videovignetten erfassten Kompetenzfacetten der Praxissemesterstudierenden (N = 142) wird ein Strukturgleichungsmodell berechnet. Dieses kann als ein multivariates Regressionsmodell verstanden werden, das Zusammenhänge zwischen den betrachteten Variablen beider Messzeitpunkte schätzt (Geiser 2011). Es dient dabei einer explorativen Analyse des Verhältnisses von selbsteingeschätzter Kompetenz, konzeptuellem bildungswissenschaftlichen Wissens und professioneller Unterrichtswahrnehmung vor und nach dem Absolvieren des Praxissemesters. Da das Erkenntnisinteresse auf der Veränderung des Verhältnisses der Kompetenzfacetten aufgrund zunehmender Praxiserfahrung liegt, wird auch unter Berücksichtigung der geringen Stichprobengröße der Vergleichsgruppe auf ein Strukturgleichungsmodell für die Vergleichsgruppe verzichtet.

4 Ergebnisse

4.1 Entwicklung bildungswissenschaftlicher Kompetenzselbsteinschätzungen

Ein Vergleich der subjektiven Kompetenzeinschätzungen in den vier erfassten Bereichen zeigt, dass beide Gruppen sich zu t1 in den betrachteten Bereichen bereits als mittelmäßig bis eher kompetent bewertet haben (Tab. 4). Ebenso geht hervor, dass die Werte der Praxissemesterstudierenden in allen vier Kompetenzbereichen im Verlauf des Praxissemesters ansteigen. Die stärkste Veränderung findet dabei im Kompetenzbereich Innovieren ∆M = 0,87 statt, in welchem auch die niedrigsten Eingangswerte zu t1 verzeichnet wurden.

Tab. 4 Mittelwerte und Standardabweichungen der Kompetenzeinschätzungen in den erfassten Bereichen (1 = gar nicht kompetent, 7 = voll kompetent)

Multivariate Tests zu t1 zeigen keinen signifikanten Unterschied in den Selbsteinschätzungen hinsichtlich der betrachteten Kompetenzbereiche Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren zwischen der Praxissemester- und der Vergleichsgruppe (F(4, 171) = 0,88, p = 0,48, ηp2 = 0,02). Dies bestätigt die vergleichbaren Eingangsvoraussetzungen beider Gruppen. Die Analysen zu t2 zeigen dagegen einen starken Effekt der Gruppenzugehörigkeit bezüglich der erfassten Kompetenzselbsteinschätzungen (F(4, 171) = 6,87, p < 0,001, ηp2= 0,14). In den Berechnungen mittels ANOVA mit Messwiederholung wird die Entwicklung der einzelnen Kompetenzbereiche über den Untersuchungszeitraum unter Berücksichtigung der Gruppenzugehörigkeit daher genauer analysiert. Im Kompetenzbereich Erziehen zeigt der signifikante Interaktionseffekt von Gruppenzugehörigkeit und Zeit, dass Studierende der Praxissemestergruppe eine stärkere Zunahme der selbsteingeschätzten Kompetenz aufweisen als die Studierenden in der Vergleichsgruppe (F(1, 173) = 7,59, p < 0,01, ηp2 = 0,04). Der Interaktionseffekt hat jedoch eine geringe Effektstärke. In allen weiteren Kompetenzbereichen zeigen sich ebenfalls signifikant höhere Anstiege in der Praxissemestergruppe als in der Vergleichsgruppe, wobei jeweils ein Effekt mittlerer Größe vorliegt (Unterrichten: F(1, 173) = 23,07, p < 0,001, ηp2 = 0,12; Beurteilen: F(1, 173) = 21,56, p < 0,001, ηp2 = 0,11; Innovieren: F(1, 173) = 20,06, p < 0,001, ηp2 = 0,10).

4.2 Entwicklung konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissens

Tab. 5 stellt die durchschnittliche Gesamtpunktzahl im bildungswissenschaftlichen Wissenstest für beide Gruppen zu t1 und t2 dar. Die Praxissemestergruppe hat von t1 zu t2 durchschnittlich ∆M = 1,64 Punkte mehr im Wissenstest erreicht. Die Vergleichsgruppe weist einen Zuwachs von ∆M = 1,86 Punkten auf.

Tab. 5 Mittelwerte und Standardabweichungen der erreichten Punktzahl im Wissenstest (Wertebereich 0–98 Punkte)

Die statistischen Analysen zeigen, dass weder der Haupteffekt der Gruppenzugehörigkeit (F(1, 175) = 1,15, p= 0,29, ηp2= 0,01) noch der Haupteffekt Zeit (F(1, 175) = 2,5, p = 0,12, ηp2 = 0,01) signifikant sind. So wird zu t1 kein signifikanter Gruppenunterschied errechnet (t(175) = 0,97; p= 0,34; d=0,18), ebenso wie zu t2 (t(175) = 0,85; p= 0,39; d=0,16). Hinsichtlich des konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissens zeigt weder die Praxissemestergruppe eine signifikante Zunahme von t1 zu t2 (t(141) =1,75; p< 0,08; d=1,13) noch die Vergleichsgruppe (t(34) =−0,8; p=0,43; d=1,11). Dies bedeutet, dass sich die Gruppen weder zu t1 noch zu t2 signifikant in ihrem konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissen unterscheiden und keine der beiden Gruppen im betrachteten Zeitraum eine signifikante Veränderung des konzeptuellen Wissens aufweist. Damit einhergehend erweist sich der Interaktionseffekt von Gruppenzugehörigkeit und Zeit ebenso als nicht signifikant (F(1, 175) = 0,01, p = 0,92, ηp2 = 0,00).

4.3 Entwicklung professioneller Unterrichtswahrnehmung

Die prozentuale Übereinstimmung der studentischen Bewertungen mit dem Expertenrating wird in Tab. 6 für beide Gruppen zu t1 und t2 dargestellt.

Tab. 6 Mittelwerte und Standardabweichung der professionellen Unterrichtwahrnehmung gemessen in prozentualer Übereinstimmung mit Expertenrating

Hinsichtlich der professionellen Unterrichtswahrnehmung besteht insgesamt kein signifikanter Unterschied zwischen der Praxissemester- und der Vergleichsgruppe (Haupteffekt Gruppe: F(1, 175) = 3,64, p = 0,06, ηp2 = 0,02). So kann zu t1 kein signifikanter Unterschied hinsichtlich der professionellen Unterrichtswahrnehmung zwischen den Gruppen ermittelt werden (t(175) = 0,52; p= 0,61; d=0,1), was wiederum auf die vergleichbaren Eingangsvoraussetzungen beider Gruppen verweist. Bezüglich der Messzeitpunkte liegt wiederum ein signifikanter Unterschied zwischen den Messungen t1 und t2 vor (Haupteffekt Zeit: F(1, 175) = 0,71, p < 0,01, ηp2 = 0,004). So weist zu t2 der Gruppenunterschied einen mittleren Effekt auf (t(175)= 2,76; p< 0,01; d= −0,52). Die Praxissemestergruppe zeigt dabei eine signifikante Zunahme der professionellen Unterrichtswahrnehmung von t1 zu t2 (t(141) =4,07; p< 0,01; d=0,79). Bei der Vergleichsgruppe wird dagegen keine signifikante Veränderung ermittelt (t(34) = 1,1; p< 0,28; d=0,18). Der Interaktionseffekt von Gruppenzugehörigkeit und Zeit zeigt eine signifikant stärkere Zunahme der professionellen Unterrichtswahrnehmung in der Praxissemestergruppe als in der Vergleichsgruppe (Interaktionseffekt Gruppe * Zeit: F(1, 175) = 7,75, p< 0,01, ηp2 = 0,04).

4.4 Verhältnis der Kompetenzfacetten zueinander

In Abb. 1 ist das zur Untersuchung des Zusammenhangs der bildungswissenschaftlichen Kompetenzfacetten (1) Kompetenzselbsteinschätzung, (2) konzeptuelles Wissen und (3) professioneller Unterrichtswahrnehmung erstellte Strukturgleichungsmodell abgebildet. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden nur die latenten Variablen angegeben, wobei die zugrundeliegenden Items ausreichende Ladungen von 0,65 bis 0,95 aufweisen. Die Fitindices (χ2 = 242,42, df = 155, p < 0,01, RMSEA = 0,06, CFI = 0,95, TLI = 0,94, SRMR = 0,06, Schätzer = ML) zeigen eine signifikante Abweichung zwischen Messmodell und Daten und weisen nur in Teilen auf einen akzeptablen Modellfit hin (Geiser 2011, S. 61). Hinsichtlich des Verhältnisses der unterschiedlichen Messwerte zueinander zeigt sich zu t1 ein signifikant negativer Zusammenhang geringer Stärke (β = −0,19, p < 0,05) zwischen den Kompetenzselbsteinschätzungen und dem konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissen. Ferner besteht zu t1 kein signifikanter Zusammenhang zwischen Kompetenzselbsteinschätzung und professioneller Unterrichtswahrnehmung. Zu t2 liegt zwischen diesen Dimensionen dagegen ein hochsignifikanter Zusammenhang mittlerer Stärke vor (β = 0,32, p < 0,01). Zwischen konzeptuellem bildungswissenschaftlichem Wissen und professioneller Unterrichtswahrnehmung lassen sich zu keinem Messzeitpunkt signifikante Zusammenhänge ermitteln. Über beide Messzeitpunkte hinweg besteht jeweils zwischen den Messwerten eines Instruments ein mittlerer bis starker Zusammenhang. Kein Konstrukt in t1 stellt jedoch einen signifikanten Prädiktor für ein anderes Konstrukt zu t2 dar.

Abb. 1
figure 1

Strukturgleichungsmodell der erfassten Kompetenzfacetten der Praxissemesterstudierenden zu beiden Messzeitpunkten

5 Diskussion

5.1 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse

Die vorliegende Studie untersuchte, ob Praxissemesterstudierende eine höhere Zunahme bildungswissenschaftlicher Kompetenzen zeigen als Lehramtsstudierende, die kein Praxissemester absolvierten, sondern rein universitäre Veranstaltungen (Vergleichsgruppe). Weiterhin wurde betrachtet, welchen Effekt die erhöhte Praxiserfahrung auf die Vernetzung unterschiedlicher bildungswissenschaftlicher Kompetenzfacetten hat. Dabei wurden drei Facetten bildungswissenschaftlicher Kompetenzen betrachtet: (1) bildungswissenschaftliche Kompetenzselbsteinschätzungen, (2) konzeptuelles bildungswissenschaftliches Wissen und (3) die professionelle Unterrichtswahrnehmung. Die Ergebnisse zeigten einen stärkeren Anstieg subjektiver Kompetenzeinschätzungen und professioneller Unterrichtwahrnehmung in der Praxissemestergruppe als in der Vergleichsgruppe. Hinsichtlich des konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissens konnte für beide Gruppen keine signifikante Veränderung nachgewiesen werden. Das Modell zur Untersuchung des Zusammenhangs der erfassten bildungswissenschaftlichen Kompetenzfacetten weist darauf hin, dass diese vor dem Praxissemester weitestgehend unabhängig voneinander waren. Erst nach dem Absolvieren des Praxissemesters ließ sich ein positiver Zusammenhang zwischen Kompetenzselbsteinschätzungen und professioneller Unterrichtswahrnehmung feststellen. Das konzeptuelle bildungswissenschaftliche Wissen stand dagegen vor Beginn des Praxissemesters in einem schwachen negativen Zusammenhang mit den bildungswissenschaftlichen Kompetenzselbsteinschätzungen, welcher nach dem Praxissemester jedoch nicht mehr vorlag.

Der nachgewiesene Anstieg der Kompetenzselbsteinschätzung bestätigt bestehende Untersuchungen zum Praxissemester, die Selbsteinschätzungen erfassten und auf ein erhöhtes Niveau bildungswissenschaftlicher Kompetenzselbsteinschätzungen bei Studierenden am Ende des Praxissemester verweisen (Gröschner et al. 2013). Die hier vorgelegten Befunde stellen dabei eine Erweiterung der bisherigen Ergebnisse dar, da sie sich zum einen auf einen anderen Untersuchungsstandort mit veränderten Rahmenbedingungen beziehen und zum anderen mit Hilfe des quasi-experimentellen Designs eine Steigerung der Kompetenzselbsteinschätzungen aufgrund allgemeiner Entwicklungsprozesse oder der Studiendauer unwahrscheinlich erscheint. Insgesamt wird die Annahme bekräftigt, dass diese verlängerte Praxisphase zu einer positiven Veränderung in den Kompetenzselbsteinschätzungen von Lehramtsstudierenden in berufsrelevanten Bereichen beiträgt. Der hier vorliegende Befund, dass die stärkste Veränderung der Kompetenzselbsteinschätzung im Bereich Innovieren stattfand, deutet darauf hin, dass die Studierenden sich nach dem Praxissemester eher dazu in der Lage sehen, beispielsweise ein Evaluationsdesign für ein schulisches Problem zu bewerten oder schulische Probleme mithilfe eines Instruments zu analysieren. Ob die Studierenden tatsächlich ihre Kompetenzen in diesem Bereich erweitert haben und inwieweit die im Praxissemester bearbeiteten Studienprojekte dieses gesteigerte Kompetenzempfinden evtl. begünstigt haben, gilt es in weiteren Arbeiten differenzierter zu untersuchen und zu prüfen. Ferner gilt es zu berücksichtigen, dass Arbeiten von Hascher (2006) bereits gezeigt haben, dass Studierende die Wirkung von Praxisphasen mit einem zeitlichen Abstand kritischer einschätzen als im direkten Anschluss. Es ist daher fraglich, wie langfristig die in der Studie am Ende des Praxissemesters aufgezeigten erhöhten Kompetenzselbsteinschätzungen anhalten werden.

Der konstatierte höhere Anstieg der professionellen Unterrichtswahrnehmung im Praxissemester als im rein universitären Lernsetting spricht für ein lernförderliches Format dieser curricular eingebundenen schulpraktischen Phase. Hierdurch können Befunde von Stürmer et al. (2013) erweitert werden, die ebenfalls eine Erhöhung der professionellen Unterrichtwahrnehmung während eines fünfmonatigen Blockpraktikums mit regelmäßig geforderten Unterrichtsbeobachtungen aufzeigten. Die vorliegenden Ergebnisse verweisen darauf, dass auch unabhängig von einer speziell mit Videotrainings arbeitenden universitären Begleitung eine Erhöhung der professionellen Unterrichtswahrnehmung in verlängerten Praxisphasen stattfinden kann. Ob die Zunahme der professionellen Unterrichtswahrnehmung vorrangig auf die reine Teilnahme an schulischer Praxis oder auf die universitär geforderte differenzierte und theoriegeleitete Reflexion von Unterrichtsbeobachtungen zurückzuführen ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Die vorliegenden Befunde können aber aufgrund der Standorterweiterung mit einem entsprechend variierenden universitären Begleitformat und des quasi-experimentellen Designs die Annahme bekräftigen, dass verlängerte Praxisphasen im Studium zu einer Erhöhung der professionellen Unterrichtswahrnehmung beitragen können. Weitere Befunde von Stürmer et al. (2015) zeigen jedoch auch, dass die professionelle Unterrichtswahrnehmung bei entsprechender Zielausrichtung bereits durch rein universitäre Kurse gefördert werden kann. Eine Analyse, welches Format universitärer Lehre und Praxisbegleitung optimale Bedingungen für Lehreamtsstudierende unterschiedlicher Ausbildungsstufen bietet, erscheint daher insbesondere vor dem hohen organisatorischen Aufwand des Praxissemesters (Gröschner und Müller 2013; Hascher und de Zordo 2015) sinnvoll und notwendig.

Hinsichtlich des konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissens konnte für die Studierenden beider Gruppen keine signifikante Veränderung nachgewiesen werden. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass beide Gruppen zu t1 bereits die Grundlagenvorlesung mit zentralen bildungswissenschaftlichen Themen besucht hatten und ihr Wissen im Untersuchungszeitraum in stärker variierenden Bereichen erweitert haben. Ferner ist anzunehmen, dass Studierende im Praxissemester vorrangig mit bereits vorhandenem Theoriewissen Praxisphänomene analysieren und dieses primär festigen und kontextualisieren, statt es zu erweitern. So erscheint die im Praxissemester formal geforderte Transferleistung, aus der praktischen Erfahrung heraus Fragen an die Theorie zu entwickeln (Freimuth und Sommer 2010), im untersuchten Format dennoch nicht zu einer signifikanten Erweiterung des konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissens zu führen.

Die Untersuchung des Zusammenhangs der multimethodal erfassten bildungswissenschaftlichen Kompetenzen zeigte folgende Ergebnisse: Vor Beginn des Praxissemesters bestand ein geringer negativer Zusammenhang zwischen konzeptuellem Wissen und praxisbezogener Kompetenzselbsteinschätzung. Nach dem Absolvieren des Praxissemesters sind die Werte des Wissenstests sowohl von der professionellen Unterrichtswahrnehmung als auch von der Selbsteinschätzung unabhängig. Da die eingesetzten Selbsteinschätzungsskalen sowie Videovignetten im Vergleich zum Wissenstest einen erhöhten Handlungsbezug aufweisen, bestärkt dies die Annahme einer Differenz zwischen konzeptuellem und prozeduralem, anwendungsbezogenem Wissen (König und Tachtsoglou 2012; König et al. 2014). Ferner wurde gezeigt, dass sich der Zusammenhang von Kompetenzselbsteinschätzungen und professioneller Unterrichtswahrnehmung zum zweiten Messzeitpunkt hin erhöht und signifikant wird. Dies unterstützt die Annahmen, dass bei zunehmender Expertise und Handlungserfahrung unterschiedliche Wissensbereiche qualitativ anders strukturiert und stärker vernetzt werden können (Bromme 1992; Gruber et al. 2006; van Es und Sherin 2008). So werden Selbsteinschätzungen differenzierter vorgenommen (Bach 2013) und in einen engeren Zusammenhang mit prozeduralen Wissensfacetten gebracht (König und Tachtsoglou 2012). Allgemein gilt es jedoch zu betonen, dass die gängigen Messverfahren durchaus abweichende Konstrukte erfassen, die wenn überhaupt in einem schwachen Zusammenhang miteinander stehen. Eine entsprechend differenzierte Sichtweise auf die den aktuellen Debatten um die Effektivität der Lehrerbildung zugrundeliegenden Forschungsarbeiten scheint daher dringend erforderlich.

5.2 Limitationen und Ausblick

Hinsichtlich der vorgestellten Ergebnisse ist zu betonen, dass auch bei einer multimethodalen Kompetenzmessung normative Entscheidungen getroffen wurden, da bereits die Wahl der Instrumente eine Fokussierung auf spezielle Kognitionen der Studierenden darstellt. Diese Fokussierung trägt dazu bei, dass nicht alle im Praxissemester intendierten Ziele in ihrer Breite untersucht werden konnten. So betonen auch Pfadenauer und Kunz (2012), dass der Messung von Bildungsprozessen stets Grenzen gesetzt sind, weshalb sich die vorliegende Arbeit lediglich als eine Orientierung im Forschungsfeld des Praxissemesters versteht. Bezüglich der Aussagekraft der untersuchten Kompetenzselbsteinschätzungen lässt sich einschränkend festhalten, dass handlungsbezogene Selbsteinschätzungen vorab ausreichende Erfahrungen in entsprechenden Kontexten erfordern. Dies ist problematisch, da Probanden diesbezüglich sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen können. Hier gilt es, entsprechende Urteilsverzerrungen – die aufgrund der geringeren Praxiserfahrung insbesondere bei der Vergleichsgruppe vorliegen können – zu beachten (vgl. Cramer 2010). Ferner lassen sich durch den verwendeten Wissenstest kaum die spezifische Vertiefung und Vernetzung des Wissens abbilden, die im Rahmen der Studienprojekte ermöglicht werden. So sehen die Studienprojekte sowohl auf theoretischer als auch auf methodischer Ebene eine differenzierte Auseinandersetzung mit einem konkreten Beobachtungsschwerpunkt vor, dessen thematische Auswahl von den Interessen der Studierenden sowie den kontextuellen Begebenheiten der Schule abhängig ist. Dies legt nahe, dass der eingesetzte Wissenstest eine mangelnde Sensitivität gegenüber den Wissensveränderungen hat, die im Praxissemester stärker von individueller Natur sind, da die Schwerpunkte individuell in Abhängigkeit von den schulischen Begebenheiten gewählt werden können. Unter Berücksichtigung des im Praxissemester geforderten Forschenden Lernens erscheint daher ein Testformat, das weniger an konkrete Inhaltsbereiche gebunden ist und stärker bildungswissenschaftliche Forschungskompetenzen erfasst (bspw. Schladitz et al. 2015), möglicherweise als sensitiver für Veränderungen. Hinsichtlich der qualitativen Veränderung des konzeptuellen bildungswissenschaftlichen Wissens stellt eine zusätzliche Limitation des eingesetzten Wissenstests dar, dass dieser nur mit Multiple-Choice-Items arbeitet und somit keine Aussage über die Qualität von Argumentationen gegeben werden kann. Der von Kunter et al. (2017) im Projekt BilWiss konstruierte bildungswissenschaftliche Wissenstest erscheint daher ebenfalls als eine mögliche Alternative in der Instrumentenwahl, da dieser neben Multiple-Choice und Complex-Multiple-Choice auch offene Antwortformate beinhaltet.

Insgesamt wird bei der Betrachtung der Kompetenzfacetten deutlich, dass im aktuellen Format des Praxissemesters am Untersuchungsstandort die Fähigkeit zur Anwendung bildungswissenschaftlichen Professionswissens in authentischen Situationen gesteigert wird, es jedoch nicht zu einer Erweiterung des (gemessenen) konzeptuellen Wissens führt. Es wurde allerdings nicht betrachtet, welche Rolle der Faktor Zeit bei der Effektivität des Praktikums spielt. So können durch das verwendete Pre-Post-Design lediglich Aussagen über den Effekt des gesamten Praxissemesters in voller Länge getroffen werden. Ob möglicherweise bereits nach kürzerer Zeit eine Art Sättigungseffekt bei der konstatierten Entwicklung der Messwerte zu verzeichnen ist, kann auf Basis der vorhandenen Daten nicht beurteilt werden. Insbesondere unter Berücksichtigung der Forschungsergebnisse von Ronfeldt und Reininger (2012), die der Qualität der schulpraktischen Phase eine eindeutig höhere Bedeutung zuweisen als ihrer Länge, gilt es, diesen Aspekt daher in weiteren Arbeiten genauer zu untersuchen (siehe auch Gröschner und Müller 2013; Hascher und de Zordo 2015).

Da nur in Teilen und in geringem Ausmaß Varianzen der Kompetenzwerte von Praxissemesterabsolventen aufgeklärt werden konnten, gilt es in Anlehnung an Kunter et al. (2011a), weitere institutionelle und persönliche Einflussfaktoren zu untersuchen. In ergänzenden Forschungsarbeiten sollen daher die institutionelle Gestaltung der Lerngelegenheiten sowie die persönlichen Voraussetzungen als relevante Faktoren analysiert werden, um weiteren Aufschluss über förderliche Bedingungen der Kompetenzentwicklung im Praxissemester geben zu können (Mertens et al. im Druck, 51,52,a, b). Hierbei werden unter anderem die studentischen Bewertungen der Lerngelegenheiten im Praxissemester unter Berücksichtigung ihrer Kompetenzentwicklung analysiert. Dies soll einen Einblick in die Nutzung der institutionell gestalteten Lerngelegenheiten liefern und darüber hinaus zur Qualitätsentwicklung beitragen. Des Weiteren erscheint es hinsichtlich des in der vorliegenden Studie verwendeten Designs der Vergleichsgruppe als Baseline für weitere Forschungsarbeiten erstrebenswert, unterschiedliche Begleitformate bei sonst vergleichbaren Rahmenbedingen des Praxissemesters zu untersuchen.

Insgesamt hilft die vorliegende Studie jedoch, die Wirksamkeit von Praxisphasen in der Lehrerausbildung differenzierter zu beurteilen und relevante Bereiche der Kompetenzentwicklung zu konkretisieren. Das verwendete Forschungsdesign mit Multi-Messverfahren und Vergleichsgruppe repräsentiert in diesem Zusammenhang eine entsprechende Erweiterung bestehender Forschung, das einen Einblick in das Verhältnis unterschiedlicher bildungswissenschaftlicher Kompetenzfacetten bietet.