1 Einleitung: Überlegungen zu einer künstlerischen Szene

Wer sich intensiver mit Phänomenen der ästhetischen Bildung beschäftigt, wird bei Betrachtung der auf Abb. 1 gezeigten Szene verschiedene Gedanken und Fragen entwickeln können. Das Foto aus einem Landschulheim zeigt Schülerinnen und Schüler beim Malen von Bildern. Es wird unmittelbar deutlich, dass mit dem Gestaltungsvorgang des Malens einige Aktivitäten verbunden sind, die auch andere als nur künstlerische Fähigkeiten betreffen. So ist z. B. am Malgestus der links vorne sitzenden Schülerin zu erkennen, dass sie Aufmerksamkeit und Konzentration aktiviert, um ihr malerisches Werk realisieren zu können. Die Schülerin im linken Hintergrund tritt möglicherweise soeben einen Schritt zurück, um ihr bisheriges Malergebnis kritisch zu prüfen und jenes Spiel von Einbildungskraft und Verstand zu inszenieren, das für jedwede ästhetische Wahrnehmung, aber wohl auch für Erkenntnistätigkeiten außerhalb der Kunst grundlegend ist: Habe ich hier zu viel Rot aufgetragen, so dass eine unstimmige Komposition entsteht? Wirkt das Bild künstlerisch – oder doch eher laienhaft? Kommt zum Ausdruck, was ich als malerisches Ergebnis intendierte? Oder ist gerade das unbeabsichtigte Ergebnis reizvoll? Wie ist das Verhältnis der Idee zum produzierten Objekt beschaffen, das des planenden Gedankens zur empirischen Realität?

Abb. 1
figure 1

Quelle: Rittelmeyer

Man kann sich analoge Beobachtungen im Hinblick auf andere künstlerische Tätigkeiten vorstellen. Wenn in einem Schultheater der Ausdruck von Furcht immer wieder geübt werden muss, weil der Protagonist diesen Zustand zunächst seelisch und damit mimisch nicht nachvollziehen kann, dann wird hier möglicherweise ein empathisches Vermögen eingeübt, das auch außerhalb der Theatersituation für den sozialen Umgang mit anderen Menschen bedeutsam ist.

Man erkennt bei der Reflexion solcher Gedankenexperimente, dass vermutlich in jedem Kunstunterricht kognitive, soziale, emotionale und körperliche Qualitäten eingeübt werden, deren praktische Bedeutung weit über die künstlerische Sphäre hinausgeht. Tatsächlich werden sie in der fachdidaktischen Literatur, in Rahmenrichtlinien oder Kerncurricula auch immer wieder hervorgehoben: Musik, bildende Kunst, Theater und Tanz wie auch die Belletristik sollen demnach die Erlebnisfähigkeit schulen und Wertvorstellungen sowie das Einfühlungsvermögen in andere Menschen fördern, sie sollen die Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeiten entwickeln sowie Kreativität und Gemeinschaftsgeist anregen. Es ist eigenartig, dass der Erfolg derartiger Erwartungen in Deutschland bisher kaum empirisch überprüft wurde (vgl. auch Ehrenspeck 1998), während es in den U.S.A dazu zahlreiche Studien gibt. Für diese Untersuchungen hat sich in den letzten Jahren der Begriff Transferforschung eingebürgert: Welche Bedeutung hat z. B. das Malen für die Ausbildung der Konzentrationsfähigkeit, das Theaterspielen für empathische Fähigkeiten, das aktive Musizieren für das räumliche Vorstellungsvermögen und damit für bestimmte Fähigkeiten des mathematischen Denkens (Geometrie, Topologie)?

Es werden zwar zum Teil heftige Kontroversen um die methodische Zuverlässigkeit vieler Untersuchungen ausgetragen, man kann jedoch inzwischen den Forschungsbefund festhalten, dass Kinder und Jugendliche hinsichtlich ihres intellektuellen Vermögens, ihrer Kreativität, ihrer Sensibilität für Umweltreize, ihrer sozialen und emotionalen Fähigkeiten und wahrscheinlich sogar bestimmter gesundheitsunterstützender Körperfunktionen durch künstlerische Tätigkeiten gefördert werden. Während Transfereffekte musikalischer Aktivitäten bisher weitaus am häufigsten untersucht wurden, gefolgt von Wirkungen der bildenden Künste, wurden Theater und Tanz in dieser Hinsicht eher selten studiert; das „Schlusslicht“ im Kanon der Transferforschung bildet die Lektüre belletristischer Literatur.

Ein wesentlicher Grund für die hierzulande beobachtbare Abstinenz auf dem Gebiet der Transferforschung dürfte in der verbreiteten Überzeugung zu suchen sein, dass man künstlerische Tätigkeiten durch solche Studien instrumentalisiert und dabei das Eigentümliche der ästhetischen Erfahrung, ihre Unbezogenheit auf äußere Zwecke, aus dem Blick verliert. Ich möchte indessen zeigen, dass die bildungspraktisch sinnvolle Frage nach außerkünstlerischen Auswirkungen ästhetischer Aktivitäten kein Epiphänomen der „eigentlichen“ künstlerischen Sphäre betrifft, sondern der Klärung des Ästhetischen selber substantiell zugehört. Daher ist das Wort „Transfer“, insofern es auf außerkünstlerische Wirkungen verweist, einerseits zutreffend, andererseits aber auch irreführend, weil es gar keine eigentümlich künstlerische Tätigkeit jenseits jener eben erwähnten, immer auch unspezifischen Aufmerksamkeiten, Konzentrationen, Bildreflexionen etc. gibt. Da inzwischen einige zusammenfassende Berichte zur Transferforschung publiziert wurden (vgl. zur Musik Jäncke 2008; Bundesministerium 2007, 2009, für die Bildende Kunst Winner und Hetland 2000, für bildende Künste und Theater/Tanz Deasy 2002; zusammenfassend Rittelmeyer 2010), soll es hier um eine systematische Positionierung der Transferforschung im Rahmen einer auch empirisch aufgeklärten Theorie ästhetischer Bildung gehen. Denn die genaue Betrachtung ästhetischer Szenen fördert weitere Einsichten zutage, die sowohl für die Transferforschung und ihre kritische Würdigung als auch allgemeiner für eine umfassende Theorie ästhetischer Bildung grundlegend sind; eine solche Theorie fordert dann ihrerseits neue Maßstäbe der Forschung.

2 Transferforschung aus der Perspektive ästhetischer Theorie

Wenn man nochmals die auf Abb. 1 gezeigte Malszene betrachtet, so wird man sich fragen können, ob beispielsweise das links im Vordergrund zu sehende Bild den Malstil Friedensreich Hundertwassers zitiert. Man wird dann vielleicht zugestehen, dass der Kunstunterricht nicht unbedingt authentische Kunstwerke hervorbringen soll, sondern eine Art ästhetische Alphabetisierung zu leisten hat, was durchaus in solchen nachahmenden Aktivitäten geschehen kann – so wie man analog das nicht immer schön anzuhörende Schulorchester unter dieser Perspektive gern akzeptiert. Aber für was wird da alphabetisiert? Was ist das eigentlich: Das Ästhetische? Unter welchen Bedingungen ist etwas künstlerisch, unter welchen unkünstlerisch?

Man kommt hier also nicht umhin, sich mit Begriffen bzw. Theorien des Ästhetischen zu beschäftigen. Unterscheidet man beispielsweise in der Tradition Kants und Schillers ästhetische Erfahrungen strikt von epistemischen und ethischen Bildungsprozessen, sieht man in ihnen das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand, das weder zur Erkenntnis noch zum moralischen Handeln unmittelbar etwas beiträgt, sondern das Individuum nur in einen freien Zustand versetzt (in einen Zustand der aktiven und realen Bestimmbarkeit, der Grundlage eigen-tätiger ethischer Überlegungen und Erkenntnisleistungen ist, wie Schiller vermutete), dann wird das bestimmte Tätigkeiten (beispielsweise ein mit moralischen Imperativen arbeitendes Agitprop-Theater) aus dem Kanon des Ästhetischen ausschließen (vgl. Kant 1968; Schiller 1988, 20./21. Brief). Erblickt man in Kunstwerken, semiologisch betrachtet, mit Umberto Eco „Idiolekte“ und „autoreflexive Botschaften“ (Eco 1972, S. 145 ff.), d. h. originäre Botschaften, die unsere Phantasie herausfordern, weil „sie wie eine Antwort aussehen, zu der die Frage erst gesucht werden muss“ (Hart Nibbrig 1978, S. 11), dann werden allzu platte Fingerzeige und Wirklichkeitserklärungen, aber auch suggestive Erfahrungs-Milieus diesem Anspruch nicht mehr gerecht.

Dieser Mangel an Reflexion darüber, was eine künstlerische Tätigkeit kennzeichnet, ist typisch für einen nicht unerheblichen Teil der Transferforschung: Das farbige Ausmalen von vorgezeichneten Tierumrissen in Grundschulen, die öffentliche Aufführung eines späten Streichquartetts von Beethoven oder die von einer Garagenband produzierte Popmusik werden hier als gleichwertige Beispiele ästhetischer Praxis präsentiert, während sie doch in Wahrheit hinsichtlich ihrer ästhetischen Qualität beurteilt werden müssten und zudem sehr unterschiedliche Erfahrungen ermöglichen oder – wie man auch sagen könnte – verschiedenartige Bildungsgehalte repräsentieren. Mit dieser letzten Bemerkung hängt ein dritter wichtiger Aspekt zusammen, der sich ebenfalls aus der Betrachtung von Szenen der auf Abb. 1 dargestellten Art ergibt.

Was ist mit dem „Bildungsgehalt“ einer ästhetischen Tätigkeit oder eines ästhetischen Objektes gemeint? Vergleicht man die auf Abb. 1 gezeigte Szene mit der Ansicht eines beim Üben oder bei einer öffentlichen Vorführung beobachteten kammermusikalischen Trios, so wird unter anderem auffallen, dass die Schülerinnen und Schüler beim Malen relativ isoliert voneinander arbeiten, jeweils individuell auf ihr Bild konzentriert, während die Mitglieder des Trios in höchster Konzentration und Wachsamkeit aufeinander bezogen sind. Gehör, Raumempfinden und Vigilanz für die Artikulationen der jeweils anderen sind hier ausgeprägt aktiviert. Wenn wir derartige Vorgänge analysieren, werden in beiden Aktivitäten auch verschiedenartige Leistungen, Emotionen und soziale Konstellationen im Sinne der eingangs beschriebenen Phänomenologie ersichtlich; sie werden von der Sache her gefordert und damit zur Erfahrungswelt Heranwachsender. Solche Vorgänge genau zu verstehen und darauf bezogen nicht nur abstrakt, sondern bildungstheoretisch fundiert (und natürlich auf die jeweiligen Milieus der Kinder bzw. Jugendlichen bezogen) über Transferwirkungen nachdenken zu können, möchte ich als Resultat von Strukturanalysen der jeweiligen ästhetischen Praxis bezeichnen. Diese beziehen sich jedoch nicht nur auf die entsprechenden Aktivitäten (vgl. ein Beispiel zum schulischen Theaterspiel bei Larson und Brown 2007), sondern auch auf die Objekte, also auf Kompositionen, Gedichte, Bilder, Theaterstücke oder Tanzchoreographien. Eine Komposition (etwa Anton Weberns Vertonungen von Trakl-Gedichten), in der jedem Klang sein eigenes Recht eingeräumt wird und doch eine stimmige kompositorische Gesamtgestalt entsteht, also ein symbolisches Gebilde wechselseitiger Unterstützung und „Anerkennung“ der Einzelklänge, konstituiert andere und – wie ich meine – zeitgemäßere Erfahrungslandschaften als eine Komposition, in der alles Individuelle in einem dicken Klangbrei verschwindet (ausführlich dazu auch Rittelmeyer 2012, S. 156 ff.).

Welche pädagogischen Institutionen geben solchen Erfahrungsmöglichkeiten Raum? Man muss wiederum nur die Abb. 1 betrachten, um das Naheliegende dieser Frage zu erkennen. Offenbar wird in dieser Institution bis in das Raumangebot hinein Gewicht auf die künstlerische Betätigung gelegt – wie das weltweit für viele Schulen gilt (vgl. Bamford 2006). Wenn die Vermutung der Transferforscher richtig ist, dass in jedem Kunstunterricht (wozu ich hier alle Kunstarten zähle) Fähigkeiten erworben werden, die auch außerhalb der künstlerischen Sphäre für die Bewältigung des Alltagslebens bedeutsam sind, dann müssten solche Effekte sich in pädagogischen Institutionen mit künstlerischem Schwerpunkt (Musikkindergärten, Musikschulen, Schulen mit dem Schwerpunkt kulturelle Bildung usw., vgl. z. B. Bertelsmann Stiftung 2011) besonders deutlich zeigen, wobei das „Künstlerische“ im zuvor genannten theoretischen und strukturanalytischen Sinn genauer zu klären wäre. Es gibt inzwischen einige empirische Studien, in denen durch genaue Beobachtungen des Unterrichtsgeschehens (und unter Umständen seiner institutionellen Rahmenbedingungen) Aufschlüsse darüber gewonnen wurden, welche besonderen Lernerfahrungen der künstlerische Unterricht ermöglicht (z. B. Bender 2010; Hetland et al. 2007), auch einige methodisch anspruchsvolle, multivariat angelegte Transferuntersuchungen wurden in den letzten Jahren publiziert, in denen Schulen ohne künstlerische Schwerpunktsetzungen mit solchen verglichen wurden, die sich auf musikalische Schwerpunkte oder auf Akzentsetzungen im Bereich der bildenden Künste spezialisiert hatten (vgl. Grebosz 2006; Dickinson 1997). Aber der Forschungskorpus ist in dieser Hinsicht noch nicht sehr umfangreich.

Neben den Transferforschungen, der Evaluation von künstlerisch akzentuierten sozialpädagogischen Projekten sowie von Kindergärten und Schulen, der genauen bildungstheoretischen Analyse dessen, was jeweils als „künstlerisch“ oder „ästhetisch“ deklariert wird und der Klärung des jeweils favorisierten Begriffs von Ästhetik gibt es eine fünfte Fragestellung, die in diesem Zusammenhang ebenso Beachtung verdient, sich jedoch aus einer Betrachtung konkreter künstlerischer Szenen nicht unmittelbar entwickeln lässt. Es geht hier um biographisch relevante Erfahrungen mit der Kunst und dem künstlerischen Tun. So berichtete z. B. eine Studentin rückblickend auf ihre Schulzeit von einer Unterrichtsstunde, in der die Malerei des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts behandelt wurde. Der Unterricht war nicht sonderlich interessant für sie. Gegen Ende der Schulstunde zeigte der Lehrer eher nebenbei noch rasch das von Picasso gemalte Bild Guernica, die Schülerin war plötzlich fasziniert und fragte, ob sie darüber ein Referat halten könne. Sie arbeitete sich intensiv in das Thema ein, berührte damit natürlich auch historische Fragen wie den Luftangriff auf die spanische Stadt Guernica und unternahm schließlich, inzwischen schon Studentin, eine Reise nach Madrid, um das Bild und die aufschlussreichen Vorstudien dazu im Original betrachten zu können. – In einem Rundfunkinterview wurde eine bekannte japanische Sängerin gefragt, was sie veranlasst habe, diesen Beruf zu ergreifen – und so gut Deutsch zu lernen, wie sie das in dem Gespräch demonstrierte. Ihre Antwort: Sie hatte als junges Mädchen in Japan einen Liederabend erlebt, in dem auch Goethes Erlkönig in der Vertonung von Schubert dargeboten wurde. Sie verstand kein Wort – war aber von dem vermuteten bedeutungsvollen Gehalt des Gesangsvortrages so tiefgreifend beeindruckt, dass sie beschloss, nicht nur Deutsch zu lernen, um zu verstehen, was da vorgetragen worden war, sondern auch Sängerin zu werden.

Die biographische Literatur enthält zahlreiche Berichte, die den ganzen Reichtum ästhetischer Schlüsselerlebnisse deutlich machen. Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht auch Umfragen des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Harris Interactive (vgl. dazu Rittelmeyer 2010, S. 92 ff. sowie www.harrisinteractive.com). Das sogenannte Harris-Poll vom November 2007, das sich auf musikalische Erfahrungen bezog, erbrachte im Hinblick auf den biographischen Aspekt ein besonders interessantes Ergebnis: 47 % der Befragten berichteten, dass sie auch in ihren beruflichen Fähigkeiten (z. B. der sozialen Kompetenz, der Kreativität, der Zielorientierung oder dem disziplinierten Vorgehen beim Lösen von Problemen) durch musikalische Erfahrungen gefördert wurden. 70 % jener US-Bürger, die Musikerziehung in Schulen genossen hatten (was wiederum auf 75 % der Befragten zutraf), fühlten sich durch diese Erfahrungen für ihr weiteres Leben mehr oder minder ausgeprägt persönlich bereichert.

Sieht man von solchen eher abstrakten Statistiken ab und beachtet biographische Berichte einzelner Personen, dann wird allerdings auch deren idiosynkratische Ausprägung im je individuellen Bildungsgang erkennbar. Wenn es dabei um – in der Transferforschung besonders häufig untersuchte – kognitive Lernerfahrungen geht, dann sind diese doch in einer viel breiteren singulären Lebensrealität verankert, als sie durch Tests in der Wirkungsforschung erfasst werden kann. Diese komplexen Kunsterfahrungen machen verständlich, warum die – z. B. pfadanalytisch nachgewiesenen – Effektstärken der Transferwirkungen oft nur gering bis moderat ausfallen (interpretiert man die Pfadkoeffizienten oder Partialkorrelationen kausal, dürften selten Effektstärken von maximal 5 % überschritten werden).

Biographische Berichte machen uns aber noch auf einen weiteren (sechsten) Aspekt aufmerksam, den es in einer umfassenden Theorie ästhetischer Erfahrungen zu beachten gilt: die individuellen Erlebnisse und Erfahrungen der Urheber und Rezipienten künstlerischer Produktionen. Diese werden zwar auch in biographischen Berichten und manchen Transferstudien beschrieben, sind aber eine für das Verstehen jeder ästhetischen Erfahrung grundlegende weitere Facette künstlerischer Tätigkeiten (z. B. Reinwand 2008). Man könnte ihre Erforschung oder Thematisierung als Erlebnisanalysen bezeichnen. Wenn früher gesagt wurde, dass die Schülerin links hinten in der Malszene vermutlich zurücktritt, um ihr Bild mit bestimmten Fragestellungen zu betrachten, dann wird hier die Tatsache angesprochen, dass mit dem ästhetischen Tun immer Reflexionen und Emotionen verbunden sind, die für die bildende oder auch nicht bildende Wirkungen entscheidend sind. Diese Erlebnisanalysen sind nicht identisch mit der sogenannten Kunstpsychologie, die sich auch auf Strukturanalysen und Transferforschungen bezieht (z. B. Schurian 1993; Schuster 2000).

3 Organische Manifestationen des Transfers

Es dürfte aufschlussreich sein, solche Erlebnisanalysen mit den Resultaten einiger neuerer Methoden der Transferforschung in Verbindung zu bringen. Neben der psychologisch orientierten empirisch-statistischen Wirkungsforschung, die den Hauptkorpus der Transferuntersuchungen bildet, haben sich in den letzten Jahren einige biologisch ausgerichtete Disziplinen herausgebildet, die uns tiefere Einblicke in die organischen Manifestationen künstlerischer Tätigkeiten liefern und die ich hier kurz charakterisieren möchte: die mit der psychologischen Wirkungsforschung häufig, aber nicht immer verbundene Hirnforschung sowie die Psychoneuroimmunologie und die Chronobiologie. Die Hirnforschung (z. B. Altenmüller 2003; Asbury und Rich 2008; Jäncke 2008) untersucht mit Hilfe von EEG-Studien und bildgebenden tomographischen Verfahren, welche physiologischen Prozesse sich während des Wahrnehmens von Kunstobjekten oder bei der künstlerischen Aktivität im Gehirn ereignen. Zwei elementare Einsichten neurologischer Forschung sind in diesem Zusammenhang für die Transferforschung aufklärend: Erstens die Tatsache der Plastizität des Gehirns, d. h. die Reduktion oder Bereicherung synaptischer Verbindungen in Abhängigkeit von den sensorischen, aber auch eigenaktiv generierten kognitiven sowie emotionalen Erfahrungen bzw. Tätigkeiten des Individuums. Komplexere und dichtere Vernetzungen der Hirnarchitektur wiederum scheinen organische Bedingungen dafür bereitzustellen, auch das eigene Denken, Fühlen und Handeln komplexer auszugestalten. Zweitens und speziell auf die künstlerische Tätigkeit bezogen kann man beobachten, welche Hirnareale durch welche ästhetischen Erfahrungen besonders stimuliert und damit reichhaltiger vernetzt werden. Die Effekte stellen sich z. B. bei klavierübenden Kindern schon nach wenigen Übungsstunden ein. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass es kein bestimmtes „Musikzentrum“ bzw. kein „Malzentrum“ im Gehirn gibt – es sind vielmehr immer zahlreiche Hirnareale betroffen, mit starken interindividuellen Unterschieden. So hören z. B. Musikexperten nicht weitaus überwiegend – wie viele Laien – mit den akustischen und motorischen Zentren, sondern auch mit neokortikalen Arealen im Vorderhirn, die anzeigen, dass sich hier vermutlich eine denkende oder die musikalische Struktur wahrnehmende Rezeption ereignet. Werden häufiger relativ komplexe Kompositionen gehört oder gespielt, vernetzen sich entsprechende Areale – so jedenfalls erste Indizien – komplexer, was wiederum, neben vielen weiteren Faktoren, Voraussetzungen eines komplexeren Zusammenwirkens geistiger und sensorischer Aktivitäten schafft (vgl. Birbaumer und Schmid 2006, 763 ff.). Transfereffekte künstlerischer Tätigkeiten werden aus Sicht der Hirnforschung dadurch erklärbar, dass z. B. die Fähigkeit, den emotionalen Gehalt der Äußerung eines anderen Menschen identifizieren zu können (eine wichtige Teilfähigkeit der Empathie), im akuten Vollzug solcher Verstehenshandlungen mit Aktivitäten des gleichen Hirnareals einhergehet, das auch besonders engagiert ist, wenn man Musik aktiv hört oder praktisch ausübt. Da sich diese Hirnregion durch musikalische Tätigkeiten komplexer ausbildet, wird ebenso jene Kompetenz der Identifikation prosodischer bzw. paraverbaler Botschaften in der Alltagskommunikation bereichert (vgl. Koelsch 2005; Jentschke und Koelsch 2009; Kraus et al. 2009; Strait et al. 2009). Es scheint mir für zukünftige neurologische Transferuntersuchungen wichtig zu sein, die künstlerisch provozierten organischen Veränderungen mit den psychologischen Selbstbeobachtungen der betreffenden Personen, die durch Erlebnisanalysen ermittelt werden können, in Beziehung zu setzen, um besser verstehen zu können, was sich hier in psychophysiologischer Hinsicht ereignet.

Im Rahmen psychoneuroimmunologischer Studien wurde z. B. gezeigt, dass sich bei vielen Menschen während des Singens die sogenannte Immunkompetenz erhöht – ein interessanter erster Hinweis auf mögliche salutogenetische Transfereffekte, die sich auf gesundheitspropädeutische Körperprozesse beziehen, also den Zusammenhang zwischen künstlerischer Tätigkeit und auch subjektiv erlebter Schülergesundheit ins Blickfeld der Forschung rücken. Der Forschungskorpus ist allerdings noch sehr schmal (z. B. Biegl 2004; Kreutz et al. 2004; Daykin et al. 2008; Köhl 2010). Die chronobiologische Transferforschung, die sich mit rhythmischen Prozessen insbesondere im Herz-Kreislauf- und Atmungssystem befasst, hat ebenfalls bisher primär solche Fragen menschlicher Gesundheit im Blick. Hier kommen nicht nur ästhetische Tätigkeiten im Rahmen der Kunsttherapie in den Blick, sondern auch ästhetisch gestaltete Umgebungen beispielsweise in Schulen, die tiefgreifende Auswirkungen unter anderem auf die Herzfrequenzvariabilität, d. h. die Anpassungsfähigkeit der Herztätigkeit an wechselnde Bedingungen haben können (vgl. Bonin et al. 2001; Grote et al. 2010; Frohmann et al. 2010). Damit ist also eine Perspektive auf Transferforschungen eröffnet, die bisher kaum beachtet wurde: Sie macht deutlich, dass Transferuntersuchungen sich nicht nur in psychologischer Hinsicht auf kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten und in biologischer Hinsicht auf das Gehirn konzentrieren dürfen, es muss vielmehr der „ganze Mensch“ in seinem ästhetischen Erleben auch als körperliches Wesen Beachtung finden. Im Rahmen der chronobiologischen und psychoneuroimmunologischen Wirkungsstudien wurden auch rudimentäre Erlebnisanalysen durchgeführt, die Gefühle der Belebung und Bereicherung, des Wohlgefühls und der Tatkraft auf analoge Harmonisierungen rhythmischer Körperprozesse, gesteigerter Herzfrequenzvariabilitäten und verbesserter „Immunkompetenzen“ beziehen konnten. Auch damit dürfte zusammenhängen, dass Konzert-, Opern- oder Museumsbesucher häufig ein Gefühl der Erfrischung und Belebung durch das musikalische oder visuelle Erlebnis berichten. Dieses spürbare Engagement des ganzen Leibes in ästhetischen Erfahrungen spricht dafür, in die Erlebnisanalysen auch solche körperbezogenen Studien einzubeziehen. Allerdings: Wenngleich die Transferforschung in ein derartiges komplexes und bildungstheoretisch begründetes Forschungsdesign eingebettet sein sollte, so dürfte auch in diesem Fall eine immer wieder vorgebrachte kritische Frage gestellt werden, die bisher noch nicht berührt wurde und die ich abschließend diskutieren möchte.

4 Transferforschung und ästhetische Bildung: Perspektiven eines kritischen Diskurses

Gegen die Transferforschung wird häufig eingewendet, dass sie die Frage ungeklärt lässt, warum man beispielsweise Empathie, räumliches Vorstellungsvermögen oder Arbeitsdisziplin ausgerechnet durch künstlerische Tätigkeiten erwerben soll – die Sicherheit der Raumorientierung könne man doch ebenso gut im Sport oder die Empathie durch die Lektüre von Krankengeschichten erwerben. Tatsächlich hat das „kreative Schreiben“ und Vorlesen aus der Perspektive vorgestellter anderer Personen, ersten Untersuchungen zufolge, eine erhöhte Einfühlungsfähigkeit für fremde Individualitäten und Ethnien zur Folge (critical incident writing, deep point-of-view-writing, vgl. z. B. Shapiro et al. 2006). Man könnte zwar antworten, dass die künstlerische Betätigung bestimmten Kindern und Jugendlichen Wege in empathische Erfahrungen, mathematisch-geometrische Denkformen, in „kulturelle Teilhabe“ usw. eröffnet, da sie eher als andere Lernformen ihre je individuelle Bildsamkeit anspricht – Projekte wie „Rhythm is it“ scheinen das zu bestätigen (dazu auch Lehmann-Wermser et al. 2010, S. 129 ff.). Aber damit ist der eigentliche Sinn jener kritischen Frage noch nicht berührt: Was macht die spezifische Qualität des Künstlerischen bei Transferwirkungen aus? Ich möchte versuchen, diese Frage mit Blick auf das eben erwähnte Beispiel einer Schülerin wenigstens hinweisend zu beantworten, die durch Picassos Bild Guernica so nachhaltig berührt wurde. Der Hinweis könnte helfen, ästhetische Tätigkeiten umfassend zu analysieren, statt sie nur aus dem Blickwinkel einer abstrakten Ästhetik, einer schmalspurigen psychologisch-statistischen Empirie, einer Kausalitäten nicht mehr aufdeckenden kasuistischen Unterrichtsbeobachtung oder einer bloß kunstwissenschaftlichen Werkanalyse zu beschreiben.

Es ist wahrscheinlich, dass sich mit der Betroffenheit der Schülerin durch die erste Begegnung mit Guernica keine Frage nach dem „Bildungswert“ dieser Erfahrung verbunden hat: Solche Fragen sind nicht typisch für ästhetische Erlebnisse, sondern für Außenstehende, die über diese nachdenken, oder für die Protagonisten selber, die auf solche Erfahrungen reflektierend zurückblicken. Ausgangspunkt meiner Überlegung ist, dass die Schülerin eher zufällig ein bestimmtes Bild Picassos sieht, sofort fasziniert ist und die Gelegenheit erbittet, darüber ein Referat zu halten. Die Faszination ist offensichtlich – aber die Jugendliche weiß noch nicht, was sie an diesem Bild so berührt: Das motiviert ihre Suchbewegung, ihr Verlangen, mehr darüber zu erfahren, um zu verstehen, was sie so beeindruckt hat.

Es ist interessant, dass einige Transfer-Studien hervorheben, dass im künstlerischen Tun eine unmittelbar praktisch werdenden Form der Aufmerksamkeit (executive attention) beobachtet werden kann, die durch einen hohen Grad der Offenheit und Sensitivität für die Gegenstände der Wahrnehmung geprägt ist (vgl. Posner et al. 2008). Einige Kritiker der Transferforschung argumentieren hingegen, dass die Effekte der ästhetischen Tätigkeit nicht durch diese, sondern nur von der durch sie erzeugten gesteigerten Aufmerksamkeit hervorgerufen werden (z. B. Bundesministerium 2007, Kap. 1) – eine Behauptung, die aus einer phänomenologischen Sicht der oben beschriebenen Art nicht aufrecht erhalten werden kann, da diese „executive attention“ ein substantielles Merkmal ästhetischer Erfahrung ist. Ich hörte vor einigen Monaten die nicht als Tastenspektakel, sondern mit höchster Formkraft und Differenzierung vorgetragene Klaviersonate op. 111 von Beethoven. Über diesen Artikel nachdenkend, die eigenen Reaktionen beim Mitvollziehen der musikalischen Geschehens genau beobachtend, ist mir aufgefallen: Ich habe mich selten im Zustand einer so angespannten Aufmerksamkeit und Wachheit befunden, verbunden mit dem mich in der Folgezeit beschäftigenden Eindruck, dass in diesem Spätwerk eine Tür zu Vorstellungsräumen und Erfahrungswelten aufgestoßen wurde, durch die man gehen möchte, ohne zu wissen, was einen dahinter erwartet – so wie es einem analog mit manchen Aphorismen Novalis’ oder mit späten Gedichten Hölderlins gehen mag. Ähnlich substanziell für das ästhetische Erleben erschien der früher erwähnten japanischen Pianistin ihre erste Begegnung mit Schuberts Erlkönig-Vertonung: Die gehörte Musik erzeugte durch ihre formale Gestalt eine aufs Höchste gesteigerte, Suchbewegungen und Bildungsimpulse auslösende Wachsamkeit. Solche idiosynkratischen ästhetischen Erfahrungen machen verständlich, dass Transferuntersuchungen in untersuchten Gruppen nur niedrige Korrelationswerte etwa mit der „executive attention“ zeigen: Es darf vermutet werden, dass z. B. das Anhören der erwähnten Sonate einige Hörer nicht interessieren würde – also gibt es dann auch keine ästhetisch motivierten Transfereffekte, bei anderen aktiv und interessiert zuhörenden Personen könnten hingegen starke Effekte zu konstatieren sein. Die (partialisierten) Korrelationen oder die Pfadkoeffizienten zeigen also nur einen Durchschnittseffekt an, der die stärkeren Auswirkungen bei einzelnen Personen kaschiert – das ist in bisherigen Metaanalysen dieser Forschungen zu wenig bedacht worden.

Aus der Perspektive einer Bildungstheorie des Ästhetischen ist der beschriebene Zustand einer Schülerin beim ersten Erblicken des Bildes Guernica genau jenes Spiel zwischen Einbildungskraft („ein beeindruckendes Bild“) und reflektierendem Verstand („Was ist es denn, was mich da so berührt“), das die Theorien Kants und Schillers als Inbegriff ästhetischer Erfahrungen bezeichnen, ein Spiel, das sich spontan, aber dann fortlaufend im Prozess der aktiven Betrachtung entfaltet und diese Schülerin in einen „Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit“ versetzt (Schiller 1989, 20. Brief). Denn die Suchbewegungen werden durch das Kunstwerk zwar motiviert, aber nicht determiniert. Wir können nur vermuten, wie sich durch die Beschäftigung mit dem historischen Anlass, dann aber auch in Madrid durch das genaue Studium der vielen Vorzeichnungen, die das künstlerische Ringen Picassos um einen ästhetischen Ausdruck des Inhumanen jenes Bombenangriffs nachvollziehbar machen, ein nicht vorhersehbarer Prozess epistemischer und ethischer Bildung ereignet. Es findet hier eine ästhetische Sensibilisierung statt, die ihrerseits den Blick in die Realität aufklären, aber vielleicht auch dekonstruieren kann. Das durch ein ästhetisches Ausgangserlebnis motivierte genaue Studium der Formensprache Picassos, die gewiss in vielerlei Hinsicht seelisch bereichern kann, ist wenigstens rudimentär das, was ich als Strukturanalyse bezeichnete. Nur ist hier kein akademischer Vorgang beschrieben, sondern eine in dieser Biographie vielleicht einmalig situierte lebendige, bereichernde objektanalytische Erfahrung. Was macht ihren Reichtum aus, wenn man sie beispielsweise aus der Sicht befragt, die in Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ entwickelt wird? Wenngleich wir heute auch durch empirische Untersuchungen wissen, dass die simple Unterscheidung von „Sinnlichkeit“ und „Verstand“ einem komplexeren Bild jener „Grundtriebe“ weichen muss, da unsere Sinne immer schon eine Präfiguration der Verstandes- oder Vernunfttätigkeit leisten (Rittelmeyer 2009), also keineswegs nur pathisch sind und da der Verstand keine „reine Spontaneität“ ist, nicht nur seiner lebensweltlichen Einbettung wegen, sondern auch aus Gründen dieser sinnlichen Verankerung, wird die Grundüberlegung Schillers damit nicht falsch. Was also ereignet sich aus dieser Sicht im ästhetischen Erleben?

Es ist zum einen das Erleben eines Zustandes geistiger Freiheit, denn das Ausgangserlebnis motiviert die Suchbewegung, die von der Schülerin auf ihre eigene Weise zu einem Projekt entfaltet wird. Dieses Erlebnis kann sich allerdings nur dann einstellen, wenn das Malen, Bildbetrachten oder Musikhören aktiv vollzogen wird, wenn ein Bild oder ein Musikstück nicht nur schöne Gefühle erzeugt, sondern auch geistig erfasst wird, ohne dabei allerdings „auf den Begriff“ gebracht werden zu können. Erst dann stellt sich auch eine bestimmte Selbsterfahrung ein: Jenes Spiel von Rezeptivität (das Werk beeindruckt unmittelbar) und Spontaneität (es motiviert zugleich durch seine ästhetische Unbestimmtheit die geistig-seelische Suchbewegung, das reflektierende Urteilen), also ein „Spiel“, das auch die Selbsterfahrung des Menschseins als geistig wie sinnlich tätiges Wesen ermöglicht. Interpretieren wir solche Situationen aus der bildungstheoretischen Perspektive Schillers (hier insbesondere der des 13. Briefs), dann machen ästhetisch Erlebende in diesem Zustand die symbolische Erfahrung menschlicher Kultur (oder sie vollziehen in sich selber einen Akt der Zivilisation): In ihr geht es einerseits darum, sich für die sinnlichen Phänomene der Welt zu öffnen, eine innere Beweglichkeit des Wahrnehmungsvermögens zu entwickeln, statt diese vorschnell „der gewalttätigen Usurpation der Denkkraft“ zu unterwerfen, andererseits aber auch eine möglichst ausgeprägte Formkraft, also Vernunfttätigkeit zu entwickeln, um zu verstehen, was sich da ereignet. Es ist interessant, dass eine in der Transferforschung als bedeutsam herausgestellte und eben schon erwähnte Eigenschaft, die „executive attention“, gerade diesen Aspekt einer Kultivierung des Wahrnehmungsvermögens thematisiert: Denn diese Form der durch künstlerische Tätigkeiten motivierten Aufmerksamkeit ist durch einen hohen Grad der Offenheit und Sensitivität für die Gegenstände der Wahrnehmung geprägt (vgl. Posner et al. 2008). Dass aber solche symbolischen Erfahrungen der eigenen Kultivierung sich in verschiedensten Facetten – etwa der Überraschung beim Anblick des Picasso-Bildes, der sich anschließenden rationalen Auseinandersetzung mit dem Bild, der Reiseerfahrung und schließlich der erneuten ästhetischen Konfrontation in Madrid – artikulieren können, machen gerade biographische Beispiele deutlich. Was die Schülerin bzw. Studentin aber aus dieser Erfahrung macht, bleibt offen. Wenn z. B. erwartet wird, dass sie Empathie im Hinblick auf die Opfer des Bombenangriffs entwickelt oder dass in einer musizierenden Gruppe, in einem Theaterspiel Einfühlungsvermögen erworben wird, weil anders das Zusammenspiel oder die authentisch wirkende Rollenübernahme nicht realisiert werden kann (vgl. Deasy 2002; Shapiro und Rucker 2003; Hojat et al. 2009; Schellenberg 2004), dann garantiert das dennoch keinen immer erfolgenden Transfer solcher Erfahrungen. Schauspieler oder Orchestermusiker können – wie bekannt – von Konkurrenzgedanken, Neid oder auch Genieüberzeugungen heimgesucht werden, die jene ästhetisch provozierten Disposition latent bleiben oder verkümmern lassen, weil sie mit ihnen interferieren.

In Zukunft sollten solche komplexen lebensweltlichen Prozesse einer ästhetisch bedingten Entwicklung bestimmter Fähigkeiten also auch durch kasuistische Studien aufgeklärt werden – sonst wird es auf dem Gebiet der Transferforschung keine wirklichen Fortschritte geben. Die geschilderten Überlegungen machen jedenfalls deutlich, dass kein prinzipieller Widerspruch zwischen der effektorientierten Transferforschung und den früher genannten Positionen Kants und Schillers bestehen muss, nach denen ästhetische Erfahrungen keine epistemischen oder ethischen Orientierungen garantieren – das Beispiel der Guernica-Liebhaberin macht vielmehr deutlich, wie offen diese Perspektive zunächst ist, ebenso jedoch, dass in einer jeweils individuellen Weise solche Folgen durch eigenaktive Suchbewegungen aus dem ästhetischen Zustand hervorgehen können. Gerade eine solche Erfahrungskonstellation bezeichnete Schiller als Zustand der realen (nicht vorgestellten, sinnlich provozierten) und aktiven (also eigenaktiven) Bestimmbarkeit (unterschieden von einer Bestimmung etwa durch ein suggestiv wirkendes Theaterspektakel oder durch moralische/epistemische Überlegungen). Werden daher bestimmte künstlerische Tätigkeiten (wie das Theaterspiel) für bestimmte Lernziele (wie die Einfühlungsfähigkeit) gezielt eingesetzt, dann muss notwendig offen bleiben, ob die intendierten Wirkungen eintreten. Wenn z. B. in der Ausbildung von Medizinern, denen – wie es scheint – im Verlauf ihres Studiums das Einfühlungsvermögen für Patienten systematisch ausgetrieben wird (vgl. Shapiro und Rucker 2003; Hojat et al. 2009), mit Erfolg empathiefördernde, als „poetisch“ deklarierte Rollen- und Theaterspiele zur Anwendung kommen, dann ist zu fragen, ob es dabei wirklich um ästhetische Erfahrungen im Sinne bestimmter Theorien geht. Rollenspiele sind jedenfalls nicht per se ästhetische Inszenierungen und Erfahrungen.

5 Schluss

Die skizzierte Einbettung der Transferforschung in eine umfassende und empirisch fundierte Bildungstheorie ästhetischer Erfahrung markiert nicht nur offene Forschungsfragen, sie macht auch eine pädagogische Qualifizierung dieser Forschung erst möglich. Wenn beispielsweise sechsjährige Kinder für ein Jahr auf vier randomisierte Experimental- bzw. Kontrollgruppen aufgeteilt und gezielt im Keyboardspiel, im Singen und Theaterspielen geschult werden und wenn sich dabei ein Zuwachs der Intelligenzfähigkeiten durch die ersten beiden Aktivitäten zeigt, dann bestätigt das zwar erneut die These von den außerkünstlerischen Wirkungen als künstlerisch bezeichneter Tätigkeiten (Schellenberg 2004). Aber aus der Perspektive einer Bildungstheorie des Ästhetischen, wie sie zuvor skizziert wurde, kann man keineswegs vorbehaltlos dem Urteil eines Berichterstatters folgen, dass diese Studie „in methodischer Hinsicht hohen Anforderungen entspricht“ (vgl. Bundesministerium 2007, S. 47). Ist es überhaupt sinnvoll, Kinder nach Zufallsprinzipien z. B. auf Keyboard- oder Theatergruppen aufzuteilen, ohne zu wissen, ob sie an solchen Tätigkeiten Gefallen finden oder ob sie dagegen eher Abneigung bekunden? (Frage der Erlebnisanalysen). Was genau wurde im Keyboardspiel gemacht, worin bestand das Theaterspiel, und warum werden gerade diese Tätigkeiten als „intelligenzfördernd“ angesehen? (Frage der Strukturanalyse). Welche biographischen Vorerfahrungen haben die Kinder im Hinblick auf diese Tätigkeiten? Wie sind solche Aktivitäten aus der Perspektive einer ästhetischen Theorie zu bewerten? Alle diese Fragen (und weitere wichtige) werden von dem Forscher nicht behandelt – es ist klar, dass dann auch die Resultate in pädagogischer Hinsicht nicht wirklich qualifizierbar sind. In zukünftigen Forschungen sollten daher genau solche komplexeren Fragestellungen in das Forschungsdesign eingehen. Eine derartige, jeweils auf konkrete Aspekte wie z. B. soziale oder kognitive Fähigkeiten bezogene umfassende Transferforschung, in die Reflexionen über das Ästhetische, genaue Analysen der jeweiligen Tätigkeiten und Produkte, psychologische Erlebnisanalysen, biographische Bezüge und praktische Erfahrungen z. B. in Kunstprojekten eingehen, kann nicht nur der Dauerkritik an der „Instrumentalisierung“ des Künstlerischen ernsthaft Paroli bieten, sondern unsere Auffassung des Ästhetischen aus ihrer oft spekulativ-abstrakten oder konkretistischen bzw. empiristischen Vereinseitigung erlösen, verlebendigen und einem sehr viel tieferen Verständnis öffnen, als wir es bisher in der erziehungswissenschaftlichen Literatur vorfinden.