1 Einführung

Das Beicht- und Abendmahls-Büchlein von Johann Christian Friedrich Burk, einem erweckungsbewegten Pfarrer aus Württemberg, wollte nach eigener Aussage jungen Menschen Anleitung geben, ihre Gedanken und Gefühle in Gebetsworte zu übertragen (1853, S. 5). Denn die Teilnahme am Sakrament des Abendmahls setzte eine Vorbereitung im Gebet voraus, eine Selbstprüfung, die „längere Zeit und eine geeignete Stimmung des Gemüthes“ erfordere (S. 7). Nach den Worten der Bibel solle man sich prüfen: „Habe ich den Herrn, meinen Gott, geliebet von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe? […] betete ich gläubig, ernstlich und anhaltend? Habe ich von ganzem Herzen mich auf Ihn verlassen, und stets alle meine Sorgen auf Ihn geworfen? […] Liebte ich um Seinetwillen auch meine Brüder?“ (S. 25–27). Nach lutherischem Verständnis vermittelt weder Ritual noch Kirche das Heil, sondern der Glaube des Einzelnen. Die bloße Anwesenheit in der Kirche bei der Beichte vor dem Abendmahl reicht also nicht aus, man muss mit ganzem, und das bedeutet, mit einem vorbereiteten Herzen dabei sein. Der Pfarrer kann die Worte der Absolution sprechen, aber nur dem, dessen Herz sich dabei mit Friede erfüllt, ist dann wirklich vergeben, denn dieses Gefühl ist das Zeichen, „dass der Geist Gottes in deinem Herzen […] die tröstlichen Worte [gesprochen hat]: Mein Sohn, meine Tochter, dir sind deine Sünden vergeben!“ (S. 42).

Die Formierung des moralischen Subjekts im Rahmen einer religiösen Erziehung geschieht in Bezug zu einer Transzendenz, zum Göttlichen, Erhabenen, oder Jenseitigen. Bei allen anderen Funktionen, die Religion haben mag, ist sie dort spezifisch religiös, wo sie diesen Gottesbezug erfahrbar macht, wo sie den Zugang zum Heiligen vermittelt. Die Passagen aus dem Konfirmationsbüchlein von Pfarrer Burk erinnern daran, dass diese Vermittlung im Protestantismus keineswegs nur über propositionales Wissen geschah, sondern ebenfalls Praktiken des Gefühls umfasste, die die Aufmerksamkeit nach innen richteten, emotionale Regungen deuteten, bestimmte Empfindungen anstrebten, das z. T. amorphe Innere artikulierten und somit Emotionen konstituierten.Footnote 1 Die Beziehung zu Gott sollte durch Liebe, Glaube, Hoffnung entstehen – jedenfalls über eine Verbindung von „innen“ heraus. Die Hinwendung zum Inneren, die schon in der Reformation in Abgrenzung zu einer „äußerlichen“ katholischen Glaubenspraxis formuliert worden war, zielte nicht nur auf den Verstand, sondern (in Anlehnung an das Matthäusevangelium 22,37) auf das ganze Herz, die ganze Seele, das ganze Gemüt. Das Wort war für deutsche Protestanten im 19. Jahrhundert ein wichtiges Medium für die Vermittlung von Gottes Gegenwart in ihrem Herzen, aber nicht das einzige: Musik, Raumwahrnehmung und Körperhaltungen hingen ebenfalls eng mit der angestrebten Emotionalität zusammen. Deshalb ist die Vermittlung christlichen Wissens, wie im Büchlein von Pfarrer Burk, immer im Zusammenhang mit der Vermittlung einer bestimmten emotionalen und körperlichen Praxis zu sehen. Protestantisch glauben lernen hieß: protestantisch fühlen lernen.

Diese These wird vor dem Hintergrund einer vor kurzem abgeschlossenen Studie zur Semantik der Innerlichkeit in allgemeinen Konversationslexika (Scheer 2011) sowie eines laufenden historisch-ethnografischen Forschungsprojekts zu Emotionen in der christlichen Glaubenspraxis des 19. und 21. Jahrhunderts folgendermaßen entwickelt: Die „protestantische Innerlichkeit“ stützt sich zu einem bedeutenden Teil auf Emotionen, die somit zum wichtigen Medium der Gotteserfahrung werden. Emotionen sind allerdings nicht von sich aus „innerlich“, sondern müssen dazu gemacht werden. Deshalb ist die Ästhetik des Protestantismus (im Sinne einer Kultivierung der Sinne und Gefühle, vgl. Morgan 1998; Schmidt 2000; Koch 2004; Meyer 2010) besonders stark von einer Grenzkontrolle zwischen innen und außen gekennzeichnet, die in Gefühlspraktiken und Emotionsbegriffen sichtbar wird.

In der protestantischen Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte kann ein andauerndes Verhandeln über Mediatisierung beobachtet werden, ein Tauziehen zwischen Wort und Ritus, zwischen Verstand und Sinnlichkeit (siehe dazu Meyer-Blanck 2010). Mein Interesse gilt insbesondere den Prozessen in diesem Tauziehen, die immer wieder unter verschiedenen Namen ihr Gewicht hinter die Gefühlsseite der Frömmigkeit warfen: Pietismus, Erweckungsbewegung, Evangelisations-, Gemeinschafts- und Heiligungsbewegungen, Freikirchen und die charismatische Bewegung. Diese Aneinanderreihung soll alle diese Erscheinungen keineswegs über einen Kamm scheren, sondern die Gemeinsamkeit hervorheben, die sie teilen: ihre besonders starke Betonung der Emotionen in der Glaubenspraxis. Sie werden von der institutionalisierten Staatskirche immer wieder als Problem erlebt, liefern dennoch wichtige Anregungen und Reformimpulse, die evangelische Pfarrer und Laien aufgreifen und in ihre Frömmigkeitsangebote integrieren, je nach Region, je nach Epoche in unterschiedlicher Intensität (Brecht et al. 19932004). Das Verhältnis ist deshalb immer ambivalent – die Erweckten scheinen etwas Wertvolles zu haben, aber es droht zu viel davon zu sein: Emotionalität, Engagement, Überzeugung. Dieses immer wiederkehrende Thema erschien ab etwa 1850 als besonders diskussionsbedürftig, weil zunehmend protestantische Freikirchen (in der zeitgenössischen Sprache: „Sekten“), unter anderem von der Second Great Awakening in den USA beflügelt, in Deutschland missionieren durften und dadurch ähnliche Aktivitäten in den Landeskirchen (Gemeinschaftsbewegung, Zeltmission) anregten, die umstritten waren (Ribbat 1996). In evangelischen Zeitungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich diese Diskussionen verfolgen, aus denen einiges über bürgerlichen Habitus und über implizite Theorien des Selbst – und somit über den richtigen Umgang mit Emotionen – herausgelesen werden kann. Dabei ist die Haltung dieser bürgerlichen Diskutanten nicht ausreichend mit dem von Norbert Elias beschriebenen Fortschreiten der Affektkontrolle erklärt (Elias 1976), noch ist sie eine rein rationalistische Ablehnung irrational gedachter Leidenschaften. Dass die Emotionen als Medium der Gotteserfahrung eingesetzt werden, ist nicht Stein des Anstoßes, sondern wie. Emotionen sollen v. a. erkennbar zu einem selbst gehören, deshalb sollen sie im Inneren stattfinden. Diese Innerlichkeit stellt sich jedoch nicht einfach so ein, sondern beruht auf einem gelernten körperlichen Vollzug, und über die Art und Autorisierung dieses Vollzugs wird gestritten. Die Zunahme von Aktivitäten unter erweckten Protestanten in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts fordert Kirchenvertreter also dazu heraus, eine weitgehend implizite Norm explizit zu formulieren.

2 Unterscheidungspraktiken

Der Protestantismus baut auf eine bestimmte Topologie des Selbst auf, die zwischen „innen“ und „außen“ unterscheidet (Taylor 1989, S. 111–207). Die Vorstellung vom äußerlichen und innerlichen Menschen ist für Christen unter anderem im zweiten Korintherbrief (4, 16–18) festgehalten, der das Innere dem Geistigen und das Äußere dem Körperlichen zuordnet, also eine klare Unterscheidung von Leib und Seele postuliert, die unterschiedlichen Temporalitäten unterworfen sind – der Körper ist vergänglich, die Seele ewig. Das Muster setzt sich in Martin Luthers Unterscheidung zwischen dem „inneren Menschen“, der unmittelbar zu Gott lebt, und dem „äußeren Menschen“, der an seinen Leib und seine soziale Umwelt gebunden ist, fort. Emotionen lassen sich nicht restlos und ohne weiteres dem einen oder anderen Bereich zuordnen, sie haben sowohl eine Erfahrungsseite (innen) als auch eine Ausdrucksseite (außen), dessen Verhältnis zueinander nicht von sich aus klar ist. Gerade am Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Definition der Emotion von William James – dass man nicht weine, weil man traurig sei, sondern traurig sei, weil man weine (James 1884) – kontrovers diskutiert. Entgegen der gängigen Annahme, dass Gefühle von innen kommen und im Körper lediglich ihren Ausdruck finden, ließ es sich durchaus behaupten, dass Emotionen ihren Ursprung im Körper haben und vom Geist nur wahrgenommen würden. Dies war bereits bei den überlieferten antiken und frühneuzeitlichen Diskursen zu den Leidenschaften der Fall gewesen, die als „mini-agents“ erlebt wurden (Dixon 2003, S. 106), über die der Wille und die Vernunft unzureichend Macht haben. Dass die Gefühle auch zwischen Menschen übertragen werden können – dass sie „ansteckend“ sind –, ließ ihren Ursprung ebenso zweifelhaft erscheinen. Emotionen konnten scheinbar sowohl von innen als auch von außen kommen.

Klarheit wurde durch eine „semiotische Ideologie“ (Keane 2007) geschaffen, die das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Form und Inhalt, Innen und Außen organisiert. Die semiotische Ideologie, die im bürgerlich-protestantischen Milieu zum Tragen kam, ist ein Essenzialismus: Das Wesen der Dinge im „Inneren“ ist „wirklich wirklich“, während „außen“ nur die „Erscheinung“ wahrgenommen wird. Das Spirituelle ist das eigentliche Selbst, das mit Gott in Verbindung treten kann, während das Materielle am eigenen Selbst nebensächlich ist; das „Fleisch“ führt sogar von Gott weg. In den Begriffsbestimmungen zu „innen“ und „außen“ in deutschen Konversationslexika ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Verflochtenheit von Konzepten aus protestantischer Theologie und deutschem Idealismus erkennbar, die man zusammengenommen als „modern“ bezeichnen könnte.Footnote 2 In sowohl augustinisch-lutherischer als auch kantianischer Lesart ist das Innen moralisch höherwertig, weil es als frei gilt, während das Außen die Freiheit einschränkt. Übertragen auf das Selbst bezeichnete das „Innere“, etwa unter diesem Stichwort im Universal-Lexikon von Pierer 1835, „innere Merkmale, die auf das Wesentliche deuten, eben so innerer Charakter“ (Bd. 10, S. 174). Das Subjekt wurde mit solchen Begriffsbestimmungen dezidiert ins Innere platziert: Wer ich bin, das ist das Immaterielle an mir, meine Seele, die eine gewisse Beständigkeit und Kontinuität aufweist. Und die echten Gefühle, die zu mir gehören, finden dort statt, in der Seele, oder genauer – in der Sprache des 19. Jahrhunderts – im Gemüt. Somit lautet die semiotische Ideologie der Emotionen: Das „Innen“ ist primär, es ist das „eigentliche Gefühl“; der Ausdruck ist als Abbild davon abhängig.

Zu dieser ideologisch geordneten Topologie gehört eine Unterscheidung und Hierarchisierung der Emotionen, die in den Begriffen ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtbar wird. In deutschen Konversationslexika wird unter den Stichworten Affekt, Gemütsbewegung, Leidenschaft, Gefühl usw. eine Einteilung in „leibnahe“ und „leibferne“ Emotionsarten unternommen (Frevert 2011, S. 31). Die Ausführungen über den Unterschied zwischen Affekt und Leidenschaft waren bspw. im ganzen 19. Jahrhundert hindurch stark von Kants Definition in der Kritik der Urteilskraft von 1790 geprägt. Der Brockhaus von 1815 erklärte zum Stichwort „Leidenschaft“, sie seien zwar „starke Begierden“, dennoch „reißen [sie] den Menschen nicht so außer sich, wie die Affecten“ (Bd. 5, S. 606). Während die Leidenschaft „gleichsam mit der Seele verschmolzen“ sei und vollkommen im Verborgenen wirken könne, sei der Affekt heftig und sichtbar. Er wurde durch primitivste, reaktive Mechanismen des Körpers vollzogen und galt deshalb als oberflächlich, weil er sich schnell wieder verflüchtigte (Scheer 2011, S. 57–62). Der „Affekt“ – ein typisches Beispiel wäre die Angst – war vergleichbar mit einem „Trieb“ oder einem Körperreflex. Auch die Etymologie verweist auf seinen Ursprung von außen: das Wort kommt von „afficere“ – antun – wie auch das „affiziert werden“.

Ganz anders das „Gefühl“: Vor 1800 hauptsächlich das „Getast“ (Gammerl 2011, S. 181), als Sinnestätigkeit der Haut definiert, verwandelte es sich in den Lexika der Biedermeier-Epoche zum Inbegriff der inneren, subjektiv erfahrenen Emotion v. a. geistiger Natur. „Gefühl“ war viel komplexer als „Affekt“, eine „höhere“ Emotion, ganz nah an Begriffen und Ideen. Bestimmte Gefühle konnte man erst durch einen langen Prozess der Gefühlsbildung entwickeln, v. a. ästhetisches Empfinden, das Gefühl fürs Erhabene, und eben auch religiöses Gefühl, für das Mysterium, für die schlechthinnige Abhängigkeit, die für Schleiermacher der Inbegriff des Glaubens war. Anhand von Begriffen wie „Affekt“ und „Gefühl“ wurden Emotionen also eingeteilt, manche ausgesondert, und nur bestimmte Emotionen für die Gottesbegegnung zur Verfügung gestellt: die „geistigen“ Gefühle.

Die emotionale Praxis der Innerlichkeit agiert diese Höherbewertung des Immateriellen aus und sorgt für ihre Einverleibung und Habitualisierung.Footnote 3 Bereits die Begriffsbestimmungen der Konversationslexika als eminent bildungsbürgerliches Medium konnten auf vorausgesetzten Kenntnissen von bürgerlichen Praktiken des Selbst aufbauen, die mit dem protestantischen Selbstverständnis eng verknüpft waren. Die Introspektion wurde in diesem Milieu etwa beim Schreiben im Tagebuch oder in Briefen kultiviert, die Wahrnehmung der eigenen Gefühle auch bei der Romanlektüre verfeinert (Reckwitz 2006, S. 155–175). Die so hergestellte Interiorität der Seele spiegelte sich in der scharfen Abgrenzung zwischen privat und öffentlich im sozialen Raum. Das Refugium des bürgerlichen Hauses diente als primärer Ort, wo die „sympathetischen Gefühle“, das besondere Distinktionsmerkmal bürgerlicher Privatbeziehungen (gegenüber den vermeintlich emotionslosen Zweckgemeinschaften der Aristokratie) in Familien- und Freundschaftsleben erlebt und habitualisiert werden konnten (Reckwitz 2006, S. 134–155; Budde 2009, S. 15–42). In dieses Set von Gefühlspraktiken gehört auch die Religion, oder besser: der Glaube, der tendenziell als höchst privat (bis hin zu seiner schwachen Bindung an die Institution Kirche, vgl. Hölscher 1990) und introvertiert galt. Protestantismus in den Landeskirchen verstand sich als Religion des Ohres, verließ sich auf die Verinnerlichung des Wortes Gottes und kultivierte im Hören der Kirchenmusik erbauliche und feierliche Gefühle, die man aber für sich behielt.

Solche Unterscheidungen – zwischen „leibnahen“ und „leibfernen“ Emotionen und zwischen privat und öffentlich – gehören zu einer Praxis der strikten Trennung des Spirituellen vom Materiellen, die die moderne semiotische Ideologie vorgab. Aber wie Webb Keane (mit Latour 1995) argumentiert, ist diese Reinhaltung zum Scheitern verurteilt, denn „this inability to achieve complete purification is inherent in the very materiality of semiotic form“ (Keane 2007, S. 80). Keane bezieht sich hierbei v. a. auf die Sprache, aber ich möchte seine Idee auf die Emotionen ausweiten, da sie ebenso Immaterielles und Materielles überbrücken und deshalb auch hybride Formen darstellen. Emotionen sind niemals rein „gedanklich“, sie involvieren per definitionem den Körper, und diese Materialität macht sie im Rahmen der semiotischen Ideologie des Protestantismus umstritten. „The materiality of semiotic forms is inescapable; to the extent that it mediates even inner subjectivity, it renders full purification impossible“ (Keane 2007, S. 24). Das bedeutet für die kulturwissenschaftliche Forschung, dass bei jeder noch so spiritualisierten Praxis die damit verbundene Materialität, Körperlichkeit und soziale Verortung auch analysiert werden soll. Für die Akteure bedeutet es, dass das Streben nach dieser Reinhaltung Teil ihrer alltäglichen emotionalen Praxis wird – oder, dass sie sie herausfordern.

3 Grenzziehungen

Die Ablehnung des emotionalen Überschwangs in der religiösen Praxis hat weniger mit einem Bestehen auf Vernunft und Gefühlskontrolle zu tun als mit dem Versuch, einen rein spirituellen Raum im Menschen zu konstituieren und aufrechtzuerhalten, der mit einem transzendenten Raum oder Wesen in Kontakt treten kann. Die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Geist und Materie, muss deshalb gut bewacht sein. Auseinandersetzungen zwischen Landeskirchen und erweckten Frömmigkeitsbewegungen liefern viele Belege für diese Grenzkontrolle und die Arbeit an der „richtigen“ Form protestantischer Innerlichkeit, die nur die „richtigen“ Gefühle einbezieht.

Ihr spannungsreiches Verhältnis kommt auch daher, dass die Erweckten eine vertraute und für das protestantische Selbstverständnis zentrale Sprache der Innerlichkeit requirieren, revitalisieren und ernst nehmen, die in der augustinischen Tradition der Mystik steht. Wie der Theologe Krister Stendahl es prägnant und prägend formulierte: Das „introspektive Gewissen des Westens“ geht nicht auf Paulus, sondern auf Luthers augustinische Lesart seiner Briefe zurück (1963). Ohne auf die Diskussion über Luthers Verhältnis zur mittelalterlichen Mystik einzugehen, soll hier lediglich darauf hingewiesen werden, dass diese Tradition eine hoch entwickelte Sprache auch für den Protestantismus zur Verfügung stellte, die Erfahrungen der Innerlichkeit konstituierte und autorisierte. Wie die körperlichen Sinne die Außenwelt, tasten in der Mystik „innere Sinne“ den Gemütsraum ab; geistige Dinge werden mit dem „inneren Auge“ gesehen, dem „inneren Ohr“ gehört, dem „inneren Geschmackssinn“ geschmeckt (vgl. Largier 2003). Die Begegnung mit dem geistigen Wesen, mit Gott, geschieht in diesem Innenraum, der vornehmlich im Herzen gedacht wird.

Diese Sprache ging, so können wir es bei August Langen (1968) nachlesen, in das pietistische Vokabular ein, das großen Einfluss auf die deutsche Barockdichtung und die Romantik hatte. In den englisch- und holländischsprachigen reformierten Pietismen und Puritanismen ist sie zu finden, im französischen Quietismus bei Madame Guyon, im englischen Methodismus bei John Wesley. Jonathan Edwards, der Protagonist des amerikanischen Great Awakening, schreibt in seinem Treatise concerning Religious Affections von 1746 ausführlich über den „spiritual“ oder „supernatural sense“, der durch die Gnade Gottes in der Seele eines Menschen geweckt werde. Dieser geistige Sinn war, in der Theorie zumindest, gänzlich verschieden von den natürlichen oder physischen Sinnen.

Aber in der Praxis war die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Sinnen nicht immer offensichtlich oder leicht aufrechtzuerhalten. Bekehrungsberichte aus erweckten Kreisen erzählen immer wieder davon, dass man Gottes Stimme ganz deutlich gehört habe, ob mit den inneren oder äußeren Ohren war nicht immer klar auszumachen. Die Grenze zwischen einer Vision und dem natürlichen Sehen konnte verschwimmen, genauso wie die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit; Zeichen und Wunder waren überall zu erkennen. Edwards, Wesley, Spener – Männer, die große Erweckungsbewegungen angeführt haben, kämpften stets mit dem Problem, dass Gott es offenbar doch immer wieder schafft, sich auch den äußeren Sinnen zu präsentieren (Taves 1999). Genauso – vielleicht besonders – schwierig ist die Unterscheidung bei den Emotionen. Woher weiß man, ob die Gefühle, die beim Zuhören einer Predigt hochkommen, rein spirituell sind, potenziell Zeichen der Berührung mit dem Heiligen Geist, oder doch nur von eigenen Vorstellungen angeregt, oder gar eine Übertragung vom Prediger oder den anderen Zuhörern? Es gab einen Namen für Menschen, die den wahren Ursprung ihrer Emotionen nicht erkennen konnten: Sie waren „Schwärmer“, Enthusiasten, die einer falschen Inspiration aufgesessen sind. Zu ihnen wollten weder Erweckte noch „Mainstream“-Protestanten gerechnet werden.

Den Begriff „Schwärmerei“ hatte Martin Luther schon gegen die Wiedertäufer eingesetzt, und er machte auch in der Aufklärung eine beachtliche Karriere als Pendant zum Aberglauben – beide beruhten auf falschen Vorstellungen und Wahrnehmungen (Heyd 1995). Deshalb waren die Vordenker von christlichen Revitalisierungsbewegungen intensiv damit beschäftigt, untrügliche Kennzeichen von wahrer Inspiration auszumachen. Bei Wesley wurde das in zwei berühmten Predigten zum „Zeugnis des Heiligen Geistes“ anhand der Art der Emotionen festgemacht: Liebe, Freude und v. a. die Gemütsruhe, das Fehlen heftiger Aufwallungen (die den Körper involvieren), sind die Kennzeichen, die der Heilige Geist im eigenen Geist hinterlässt (Scheer 2009, S. 198–202). Auch der eingangs zitierte Pfarrer Burk betrachtete den Frieden im Herzen als Zeichen göttlicher Gnade. Die Konversationslexika erkennen ebenso in überaus heftigen Gefühlen ein Zeichen für Schwärmerei, weil sie das Erkenntnisvermögen einschränken, wie in den Nebenbedeutungen sichtbar, die auf das Schwärmen als Rauschen, als Geräusch, das die Sinne verwirrt, oder auf den alkoholischen Rausch anspielen.Footnote 4 Die Lexikonautoren weisen bei verwandten Stichworten gerne auf Etymologien hin: Enthusiasmus, von en-theos, von einem Geist oder Gott gefüllt; Fanatismus, von fanatici, im antiken Griechenland Priester von Besessenheitskulten. Solche Herleitungen bieten Bilder von einem von Geistern oder Dämonen bewohnten Menschen an, der nicht mehr „Herr im eigenen Haus“ ist. Die analoge emotionale Invasion von außen wurde oft als Ergebnis von „Ansteckung“ gesehen, Gefühle anderer Menschen, die auf einen selbst überspringen. Deshalb galt es, nicht nur den eigenen Körper (in Gefühlsaufwallungen) zu bändigen, um die geistigen Gefühle klarer erkennen zu können, sondern auch eine Grenze zu anderen Körpern zu ziehen, indem man sie privatisierte. Man hatte den anderen die eigenen Gefühle nicht zuzumuten.

Erweckliche Frömmigkeit bezieht sich zwar genauso wie die institutionalisierte Theologie auf die semiotische Ideologie der Innerlichkeit, sie will im Kern eine intensive innere („persönliche“) Beziehung zu Gott fördern und sie hegt ähnliche Bedenken gegenüber katholischer „Sinnlichkeit“ und Bildfrömmigkeit. Aber in ihrem Bestreben, den „ganzen Menschen“ für das christliche Leben zu gewinnen, wird ihre Grenzkontrolle nach außen etwas weniger streng. Die Emotionen, die als Zeichen für Gottes Vergebung der eigenen Sünden erlebt werden, sind Teil der Konversionspraxis, die bei den Erweckten eine zentrale Rolle spielt. Sie zeigen sich bereit, auch die Emotionen in ihren Praktiken zuzulassen, die den Körper stärker involvieren, auch wenn sie noch immer unterscheiden und überwachen, um falsche Inspiration zu vermeiden.Footnote 5 Sie sind eher bereit, auf die Seite der Schwärmerei zu irren, wenn sie nicht auf das „Zeugnis“, auf die Gewissheit, die eine körperliche Erfahrung vom Heiligen liefert, verzichten müssen. Ihre praktischen Erfahrungen sagen ihnen auch, dass sich starke Emotionen sehr gut eignen, um andere zu überzeugen, weshalb sie sie in der Evangelisierung einsetzen wollen. Die Landeskirche fördert dagegen eine stärkere Grenzkontrolle nach außen, um die emotionalen Höhepunkte im regulären Gottesdienst, bei der Konfirmationsfeier oder dem Abendmahlsritus einzubinden.

Religiöse Institutionen stellen die zur Herstellung der Gotteserfahrung nötigen Medien zur Verfügung – und sie bestimmen darüber, welche Medien und welches Wissen nötig sind. Die „innerliche“ Erfahrung soll im Idiom „leibferner“ Emotionen erlebt werden, d. h., der Körper soll nicht als Vermittler dienen. Aber die Praxis zeigt, dass diese Reinhaltung nicht gelingt, denn auch die Innerlichkeit ist auf einen körperlichen Vollzug angewiesen: Das Zuhören der Predigt, das Lauschen der Musik, das Singen vertrauter Lieder zusammen mit anderen, die Körperhaltung, die beim Gebet oder bei der Bibellektüre für die nötige Geisteshaltung sorgt, die Wahrnehmung von anderen Körpern und Stimmen um einen herum im Gottesdienst – auch die körpergebundene Ästhetik protestantischer Religionspraxis vermittelt Innerlichkeit. Deshalb wird die Form und Ausübung dieser Praktiken überwacht, um bestimmte Subjektivitäten, die sie hervorbringen, zu autorisieren, andere dafür zu delegitimieren. Geistige Sinne und Gefühle kultivierte man, indem man die körperlichen regulierte. In der Kirche sollte man zur Ruhe kommen, still sein, selbst nicht sprechen, das schärfte das innere Gehör. Die Musik war gediegen, die Körper diszipliniert, weitgehend bewegungslos, Hände gefaltet und eng am Körper. Das kann auch heute in landeskirchlichen Gottesdiensten so beobachtet werden; Kirchenmitglieder einer Großstadt haben mir in Interviews berichtet, dass für sie das erstrebte emotionale Ziel eines Gottesdienstes v. a. die Ruhe sei.Footnote 6 In ihrer Ethnografie einer ländlichen Kirche im Schwäbischen hat auch Alexandra Kaiser nebst einer in den letzten zehn Jahren „verordneten ‚Rehabilitierung der Sinnlichkeit‘“ in der protestantischen Glaubenspraxis (2008, S. 119) die Aussage eines Pfarrers festgehalten, dessen Skepsis darüber tief sitzt: Für ihn stellt gerade die Unterbeanspruchung der Sinne, die Stille und die Leere des Kirchenraums, das Heilige dar: „Also ich denk’ so […] a schlichtere Kirche oder gar a leere Kirche, dass die mehr Freiraum gibt, ähh, zu mir zu finde, wie so a barocke Kirch’. […] So ein [barocker] Raum, der isch ja eigentlich… extrovertiert […], der lädt zum Nachauße-Gehe ein“ (S. 125).

Diese Beruhigung der Sinne mag der Verinnerlichung der Wahrnehmung gedient haben, aber nach den Klagen erweckter Christen zu urteilen, hat sie auch in manchen Fällen die Mediatisierung der Gotteserfahrung schlicht verhindert. Ein charismatischer Christ berichtete von seiner Unzufriedenheit mit einem landeskirchlichen Gebetskreis: „Gott war nicht da.“Footnote 7 Er konnte ihn nicht wahrnehmen. Die freikirchlichen Evangelisierungsbewegungen des 19. Jahrhunderts wollten, wie die charismatischen Gemeinden heute, mit einem Kontrastprogramm dieses göttliche Wahrnehmungsorgan schärfen. Phasen der Stille, des konzentrierten Betens wechselten mit Abschnitten ab, die die Menschen nach außen orientierten, zu einer bewegenden Predigt und Musik und v. a. zueinander. Gott spürte man im Herzen, aber auch in der Stimmung, die in der Luft lag. Erweckungsprediger aus der Tradition des Methodismus sprachen dann von der „Salbung“, die über die Gemeinde gekommen sei, die das Wirken des Heiligen Geistes bezeichnet, seine Gegenwart sowohl in jedem einzelnen Herzen wie auch über die ganze Gruppe. Wenn heutige charismatische Christen ihr emotionales Ziel beschreiben, dann sprechen sie von einem Erleben von „Kraft“ und erinnern sich an das Gefühl: „Das war der Hammer“.Footnote 8 Dass diese Wirkung in Seele und Körper zugleich stattfand, zeigte sich bei den Methodisten auf unterschiedliche Weise: Die körperlichen Erscheinungen, die man mit Emotionen verband, wie Hochgefühl, Zittern, Tränenfluss, Herzklopfen, Lachen, Ausrufen waren oft dabei. In manchen Gruppen war es nicht unüblich, in Ohnmacht zu fallen, oder zu erleben, dass der Heilige Geist sich der Gliedmaßen bemächtigte, Arme und Beine bewegte. Heutige charismatische Christen sprechen oft davon, dass sie eine „Energie“ spüren, eine Wärme, ein Kribbeln, das sei für sie die Wahrnehmung, dass der Heilige Geist in ihnen präsent ist (vgl. auch Elektrizitätsmetapher bei Meyer 2011, S. 24).

Die Grenze zwischen dem Immateriellen und Materiellen ihres Selbst scheint also bei Erweckten poröser zu sein als bei Besuchern landeskirchlicher Gottesdienste, dafür aber grenzen sie sich stärker gegen die „Welt“ ab. Diese Tendenz ist im Pietismus hinlänglich bekannt (Gestrich 2004); bei anderen Erweckten variiert ihre Ausprägung. Gemeinsam ist ihnen die Vorstellung, dass die „Welt“ Gott nicht in den Mittelpunkt stellt, dort lauert zudem die Versuchung. Sehen und Hören waren Öffnungen des Selbst in die Welt, die von Gott wegführt, sie waren potenzielle Portale für die Sünde. Die Sinne „reinhalten“ bedeutete dann zu kontrollieren, was sie aufnahmen. Man musste aufhören, Weltliches zu hören, damit man Christliches hören konnte (Schmidt 2000, S. 50 f.). Auch heutige charismatische Christen behelfen sich in der massenmedial überfrachteten „Welt“ mit eigenen Medien – christliche Fernsehprogramme, Filme, Websites, Popmusik – und ziehen oft die Gesellschaft Gleichgesinnter vor.Footnote 9 In diesem geschützten Rahmen kann die Überwachung der eigenen Außengrenze etwas entspannter ausfallen.

4 Beispiel: „Ekel vor dem Leichten“

Im Juni 1882 erschien in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung ein langer Bericht über die Heilsarmee, eine aus dem Methodismus hervorgehende Freikirche (Jg. 15, Sp. 553–555; 579–581; 605–607). Die war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Deutschland aktiv, aber ihr „Anmarsch“ über die Schweiz wurde gerade intensiv von den Landeskirchen beäugt. Um ihre Versammlungen rankten sich etliche Gerüchte, nicht zuletzt, weil Nachbarn und Passanten merkwürdige Geräusche vernahmen, die auf ein höchst bedenkliches Treiben hindeuteten.Footnote 10 Der ungenannte Autor, wie die meisten Autoren in dieser Zeitung vermutlich ein evangelischer Pfarrer, bot deshalb so etwas wie einen Undercover-Bericht aus London an, von wo aus die Bewegung ihren Ursprung genommen hatte.

„Um 8 U. wird die Versammlung eröffnet: der Leiter derselben stimmt ein Lied an, das in aufregender Weise abgesungen wird; jetzt kniet alles nieder, und jener spricht ein Gebet, unter fortwährenden Rufen der Uebrigen: Amen, Halleluja und sonstigen Aeußerungen der Zustimmung. Es war interessant, das Gebahren der Betenden zu beobachten: die einen unbeweglich, andere die Augen wie verzückt nach oben richtend, andere aufs lebhafteste agierend. An das Gebet schloß sich die Verlesung des 51. Psalms an und eine kurze Ansprache darüber […] [Danach] forderte der Vorsitzende jedermann auf, durch das Ablegen eines Zeugnisses von seiner Heilserfahrung die anderen zu erbauen“ (Sp. 579).

An dieser Stelle schilderte der Autor einige Eindrücke von diesen Zeugnissen: Mehr als 20 Personen hatten geredet, „darunter eine ziemliche Anzahl Frauenzimmer, die einen ganz kurz, die anderen länger, einige ruhig und ansprechend, die meisten aber überspannt: besonders fiel ein Mann auf, der durch sein Aussehen und ganzes Benehmen unheimlich an Irrsinn erinnerte; er schrie mit der vollen Kraft seiner Stimme, lief dabei wüthend auf und ab, schlug bald mit den Fäusten auf den Tisch, bald warf er sich auf die Knie nieder“ (ebd.).

Eine Frau habe behauptet „Ich habe jetzt eine vollkommene Liebe“, eine weitere: „so glücklich wie gerade im Augenblick habe [ich mich] noch nie gefühlt.“ Der Autor bemerkt: „So oft die Redner und Rednerinnen irgendeinen starken Ausspruch thaten, wurde Beifall geklatscht und lustig gelacht. Bei ganz besonderen Kraftstellen ließ der Leiter der Versammlung plötzlich Gesänge anstimmen, die mit ihren stürmischen Melodien und ihren Refrains ganz geeignet waren, die Gefühle der Anwesenden noch weiter aufzuregen und zu steigern“ (Sp. 580).

Die Heilsarmee meldete regelmäßig ans „Hauptquartier“ eine erkleckliche Anzahl von Bekehrungen, aber, so fragt der Autor des Berichts, was ist von ihnen zu halten? Er äußert einige Bedenken: „Es ist einfach als unevangelisch zu bezeichnen, wenn man die Bekehrung durch gewaltsame Gefühlserregung bewirken und sie dann augenblicklich zu einer fertigen Thatsache machen will“, schreibt er (Sp. 606) und zweifelt somit die Echtheit der Bekehrungen an. Er findet darüber hinaus das Zeugnisablegen problematisch; ein „nicht geringer Mangel an christlichem Zartgefühl, an wahrhaft frommer Scheu, dass diese Leute sich so gar nichts daraus machen, ihre innersten Herzenserfahrungen, wenn überhaupt solche vorhanden sind, vor aller Welt zum besten zu geben“ (ebd.). Er nimmt Anstoß am Sprechen der Frauen und verweist auf das paulinische Verbot; er appelliert an den Sinn für Anstand, dass man sein Innerstes nicht vor anderen so nach außen kehrt und impliziert, dass die Heilsarmee ihrer Erziehungspflicht nicht nachkommt, sondern geradezu die Unzivilisiertheit der unteren Schichten ausnutzt. Die Informalität der Predigt, in der man laut schreien dürfe oder zwischenrufen, das wilde Singen, auf den Tisch springen, die allgemeine Unordnung reiße die Menschen zu sehr außer sich, so sein Argument, so dass sie sich auf die eigenen Gefühle nicht besinnen, sie nicht wahrnehmen könnten – das Ergebnis ist „Selbsttäuschung“ (ebd.). Hinzu kommt, dass sie genötigt würden, Zeugnis abzulegen, was „unvermeidlich Unlauterkeiten und Unwahrheiten veranlassen“ würde (ebd.), denn das Innere muss vor dem Geäußertwerden bestehen, um ehrlich zu sein – es kann unmöglich im Zuge einer Äußerung zustande kommen. In dieser Kritik steckt also einiges an bürgerlicher Tugend und Moral, an Grenzziehungen zwischen privat und öffentlich, aber auch am eigenen Leib zwischen Innen und Außen, an der Konstruktion und Aufrechterhaltung moderner bürgerlicher Subjektivität. Die Kritik am Verhalten der Heilsarmeemitglieder impliziert eine Pflicht zur Erziehung der „Unterschichten“ zur bürgerlichen Subjektivität.

Dieses Beispiel bündelt Themen, die bei der Besprechung ähnlich emotionsbetonter Evangelisationsveranstaltungen in dieser Zeit immer wieder vorkamen. Die bürgerlichen Beobachter sahen dort keine erhabenen sittlichen Gefühle, sondern ein sehr körpergebundenes Lachen und Weinen. Im Revival wurde die semiotische Ideologie des bürgerlich-modernen Protestantismus verletzt: Innen und Außen wurden nicht deutlich genug voneinander getrennt. Im Tun der Heilsarmee erkennt der Kritiker keine Innerlichkeit, keine Schärfung der inneren Sinne, keine Stärkung des eigenen Gemüts gegen äußerliche Einflüsse. Die Ästhetik des Revivals erscheint den landeskirchlichen Pfarrern als „Emotionsmaschine“, die das Seelenleben von außen beeinflusst, aber keine wirkliche innere Wandlung verursacht. Bereits 1875 hatte sich ein Kommentator in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung über eine methodistische Evangelisationsveranstaltung beschwert: „Der Apparat, der aufgewendet wird, [ist] die auf großer Kenntniß des Seelenlebens beruhende berechnete Vertheilung von Singen, Beten, Reden, Seufzen, Tonfall, Gebärden, Steigerung des Gefühls auf die Erwartung eines großen unmittelbar eintretenden Segens“ (Jg. 8, Sp. 401). Diese Gefühle waren also mit „methodistischem Kalkül“ erzeugt worden, waren keine Gefühle, die durch den Heiligen Geist verursacht waren; sie waren nicht einmal Gefühle, die ihren Ursprung in den Seelen der Menschen hatten, sondern eher „Affekte“: rein körperliche und somit oberflächliche, schnell verfliegende Ergebnisse einer gekonnten Manipulation.

Solche Berichte gewähren auch einen Einblick in das implizite Körperwissen der Akteure, in den bürgerlichen Habitus der Pastoren. Die Kritik an der Heilsarmee appelliert bspw. an „Anstand“ – an den größtenteils einverleibten, unausgesprochenen Sinn für das, was sich ziemt. Dieser Appell bringt Empörung und Ekel über öffentlich zur Schau getragene, unkontrollierte Körperregungen zum Ausdruck – der Autor weiß auch deshalb, dass das nicht richtig sein kann, was er beobachtet, weil es sich nicht richtig anfühlt. Er rekurriert damit auf eine Haltung, die Bourdieu als „Merkmal der Herrschenden“ bezeichnet hat: die „Absage an Natürlichkeit“ oder Weigerung, sich den unmittelbaren sinnlichen Eindrücken und Gefühlen hinzugeben („man muß sich zu beherrschen wissen“, Bourdieu 1982, S. 80). Die bürgerliche Ästhetik findet ihren Sitz im bürgerlichen Körper, so Bourdieu, im „Ekel vor dem Leichten“, „einem physischen Widerwillen“ (ebd., S. 758). Seine Beschreibung dieses Körperwissens der Oberschicht macht deutlich, wie sehr sie auch die religiöse Ästhetik im bürgerlich-protestantischen Milieu prägt, wie sie die Kodierung von „innen“ und „außen“ aufgreift: „Die Ablehnung alles Leichten im Sinne von ‚einfach‘, ‚ohne Tiefe‘, ‚oberflächlich‘ und ‚billig‘ [erfolgt] deshalb, weil seine Entzifferung mühelos geschieht, von der Bildung her wenig ‚kostet‘, [es ist] unmittelbar zugänglich und deshalb als ‚infantil‘ oder ‚primitiv‘ verschrien“. Die Performanz der Emotionen bei den Heilsarmeemitgliedern ekelte den Autor des Berichts offenbar an: Er sah darin „Überspanntheit“ und „Irrsinn“, keine „wahren Gefühle“, sondern v. a. oberflächliche Sinnesreizung und Manipulation, infantile Glücksbekundungen und primitive Wutausbrüche. Die Konversionen der Heilsarmeemitglieder waren allzu leicht in dem Sinne, dass sie sehr schnell erfolgten, aber auch in Bourdieus Sinne von zu simpel: „Ueber ihrem Bestreben zu erwecken, vernachlässigt die Heilsarmee offenbar die mühsamere Arbeit der Erbauung“ (AELK Jg. 15, Sp. 606). Das Wissen um die Funktionsweise der Emotionsmaschine fand seinen Widerhall in der einverleibten Abneigung gegen Oberflächliches und im Gefühl, dass das nichts sein kann, was dem Geist nichts abverlangt.

5 Schlussbemerkung

Es ist mehrfach beklagt worden, dass die heutige Sprache wenige Wörter für Emotion kennt. Diese Verarmung der Gefühlssprache sei auf den Einfluss der Naturwissenschaften zurückzuführen, die mit dem Einheitsbegriff „Emotion“ die frühere Vielfalt der Gefühlsbegriffe überdeckten (Frevert u. a. 2011; Dixon 2003). Aber die Einteilung der Bandbreite an Gefühlserfahrungen war nie wertfrei, sondern immer auch in einem „moralischen Narrativ der Moderne“ (Keane 2007) eingebunden. Die Unterscheidung verschiedener Emotionserfahrungen diente dem Programm der Entwertung der Materie, um Freiheit für das Subjekt zu erlangen. Die Herstellung von Innerlichkeit kann als eine „Technologie des Selbst“ im Sinne Foucaults (1993) betrachtet werden, die zum Set der Disziplinierungstechniken gehört, die mit dem Entstehen des modernen Staates zusammenhängen. Insofern kann den Versuchen der Naturwissenschaft, Emotionen anders zu definieren, ein emanzipatorisches Moment abgewonnen werden. Da sie mit dem bürgerlich-modernen Subjektbegriff brechen, eröffnen sie Möglichkeiten, neue Subjektivitäten zu entwerfen.

Erweckte Christen fordern die bürgerlich-moderne Subjektivität auf andere Weise heraus, denn sie greifen das Primat der Innerlichkeit nicht an, sondern betreiben eine andere Praxis ihrer Herstellung, eine, die weniger auf die Einhegung des Körpers als auf eine „Spiritualisierung des Alltags“ (Gleixner 2005, S. 13) inklusive der Körpererfahrung abzielt. Diese erfordert eine andere Art der Disziplinierung, die im bürgerlich-modernen Modell als primitiv bis verwerflich – weil zu sehr von außen kommend – betrachtet wird. Ihr Erfolg zwingt die Landeskirche zur Auseinandersetzung mit der Erweckungsbewegungen, und manche Impulse werden aufgenommen. Es gibt eben unterschiedliche Wege, protestantisch zu fühlen.

Die Aufnahme solcher Forderungen nach „mehr Sinnlichkeit im Gottesdienst“ verlagert diesen Streit dann innerhalb der Landeskirchen. Zurzeit kann eine öffentliche Diskussion über den „Wohlfühlprotestantismus“ beobachtet werden, der unter anderem bei Kirchentagen und in „sinnlich orientierten“ Liturgie-Elementen zum Vorschein kommt und nach Meinung der Kritiker die christliche Botschaft trivialisiert (Graf 2011). Abgesehen vom darin eingebetteten Seitenhieb gegen eine vermeintliche „Verweiblichung“ der Kirche – zu viel schwammiges Gefühl, zu wenig strenge Analyse – greift diese Diskussion die Sorge um die „richtige“ Form der Herstellung von Innerlichkeit auf, die nicht zu körperbetont und nicht im Rahmen einer „Eventisierung“ stattfinden soll. Diese immer wiederkehrende Diskussion zeigt, dass es dabei nicht nur um Geschmacksfragen geht, über die man ohnehin angeblich nicht streiten könne, sondern um mehr: um die Grenzen des Selbst, um seine Autonomie – und deshalb um zutiefst moralische und religiöse Fragen.