1 Einleitung

Im Zuge des Bologna-Prozesses wurde an den deutschen Hochschulen eine Vielfalt an Neukonzeptionen zum Lehramtsstudium entwickelt (Terhart et al. 2010). Ein Spannungsfeld in der Ausgestaltung der neuen Studienstrukturen besteht insbesondere bezüglich der lehramtsspezifischen versus polyvalenten Ausrichtung des Bachelors. Während der lehramtsspezifische Bachelor das Modell einer grundständigen Lehrerbildung in die konsekutive Studienstruktur überführt und von Anfang an auf den Master of Education (M. Ed.) und den Lehrerberuf vorbereitet, soll der polyvalente Bachelor neben der Lehramtsoption für eine Bandbreite an Berufsfeldern und Masterstudiengängen qualifizieren und den Studierenden ermöglichen, die Entscheidung für den Lehrerberuf bis zum Ende des Bachelorstudiums aufzuschieben.

Ein Spannungsfeld ergibt sich dabei in zweierlei Hinsicht. Erstens stehen die Hochschulen aktuell unter Zugzwang, sich bei der Gestaltung von Studiengängen zwischen den widersprüchlichen Anforderungen zu verorten, die aus den gleichzeitigen politischen Forderungen nach einer polyvalenten Bachelorstruktur (HRK 2006a; Wissenschaftsrat 2001) und einem von Beginn an integrativen Studium (KMK 2005) von Fachwissenschaften, Fachdidaktiken, Bildungswissenschaften und schulpraktischen Studien entstehen (Baumert et al. 2007; Tillmann 2007). Wie die Hochschulen diese Widersprüchlichkeiten auflösen und sich auf dem Kontinuum einer polyvalenten vs. lehramtsspezifischen Ausrichtung verorten, ist bislang empirisch kaum untersucht. Erste Analysen legen nahe, dass ein Großteil der aktuellen Bachelorstudiengänge – offen oder in Form „verdeckter Obligatorik“ (Terhart et al. 2010, S. 37) – von Anfang an einen deutlichen Lehramtsbezug aufweisen und eine frühe Entscheidung für den Lehrerberuf erfordern (Reuter 2010a). Systematische indikatorenbasierte Analysen, die Polyvalenzfacetten unter Verwendung eines Kategoriensystems erfassen und zwischen Studiengängen vergleichen, liegen aktuell jedoch nicht vor. Zweitens hat sich neben den Fragen nach der strukturellen Umsetzbarkeit und realen Umsetzung von Polyvalenz eine Debatte darüber entzündet, inwiefern eine polyvalente Anlage des Bachelorstudiums die lehramtsbezogene Professionalisierung Studierender im Studienverlauf behindert (Arnold und Reh 2005; Bellenberg 2009; Fried 2004; Keuffer 2010; Reuter 2010b; Rieken 2007; Tillmann 2007). Diese Debatte wird vielerorts auf Basis von Plausibilität, individuellen Erfahrungen und Einzelfallbeispielen geführt. Es fehlt an detaillierten empirischen Analysen zur Umsetzung polyvalenter Studienstrukturen, an die weitere Studien zu deren Auswirkungen auf die professionsbezogene Entwicklung der Studierenden anknüpfen könnten.

Um die erläuterten Fragen zur Gestaltung von polyvalenten versus lehramtsspezifischen Studiengängen empirisch zu untersuchen, verfolgt der vorliegende Beitrag mehrere Ziele: Erstens soll die Umsetzung verschiedener Facetten von Polyvalenz in aktuellen Studienprogrammen der deutschen Lehrerbildung systematisch untersucht werden. Hierzu analysierten wir Portfolios von Studiengangdokumenten zu neun Studiengängen in der gymnasialen Lehramtsausbildung zum Wintersemester 2009/2010. Zweitens gehen wir der Frage nach, ob polyvalente Studiengänge besonders für solche Studienanfängerinnen und -anfänger attraktiv sind, die sich in ihrer Entscheidung für den Lehrerberuf weniger sicher sind. Zweck einer polyvalenten Studienstruktur ist es gerade, diese Entscheidung zeitlich nach hinten zu verlagern und Optionen für andere Berufsfelder offen zu halten (Baumert et al. 2007; HRK 2006a; Terhart et al. 2010; Wissenschaftsrat 2001). Sollten sich Lehramtsstudierende, wie es einige bisherige Befunde nahe legen (Rothland 2010; Willich et al. 2011), in ihrer Berufswahl relativ sicher sein, wäre dies als Einschränkung der Relevanz der Forderung nach polyvalenten Studienstrukturen zu werten (Tillmann 2007). In welchem Ausmaß es jedoch Differenzen in der Berufswahlsicherheit zwischen Studierenden verschiedener Studienmodelle gibt und ob dabei auch lehramtsspezifische Differenzen auftreten, ist kaum untersucht.

2 Theoretischer und hochschulpolitischer Hintergrund

2.1 Forderung nach Polyvalenz und Umsetzung polyvalenter Studienstrukturen in der Lehrerbildung

Die Forderung nach Polyvalenz in der Lehrerbildung ist deutlich älter als der Bologna-Prozess (Brandt 1983; Schützenmeister 2002). Aktuell ist sie jedoch untrennbar mit den Studiengangreformen verbunden, deren Triebfeder u. a. der Bologna-Prozess der europäischen Hochschulreform ist (Baumert et al. 2007; Tenorth 2007). Die Aktualität der Polyvalenzforderung erscheint dabei aus folgenden Gründen zunächst überraschend: Erstens ist Polyvalenz kein explizites Zielelement der Bologna-Beschlüsse (Eurydice 2010; HRK 2006b) und taucht auch in der zugehörigen Hochschulforschungsliteratur nicht (z. B. Teichler 2009; de Witt 2006) bzw. nur im spezifischen Kontext der Lehrerbildung auf (HRK 2006a; Wissenschaftsrat 2001). Zweitens wurde Polyvalenz in der Regel dann zur Forderung, wenn einem geringen Lehrerbedarf eine ‚Überproduktion‘ an Absolventinnen und Absolventen gegenüber stand (Fried 2004; Schützenmeister 2002; Titze 1981). Für die aktuelle Polyvalenzdebatte scheint dies allerdings wenig relevant zu sein, da aktuelle Prognosen – zumindest für spezifische Fächerkombinationen – eher die Tendenz eines Lehrermangels konstatieren (Klemm 2010).

Schließlich wurde die Relevanz der Polyvalenzforderung mit dem Verweis auf Befunde in Zweifel gezogen, dass die Mehrzahl der Studierenden sich ihrer Wahl für den Lehrerberuf relativ sicher zu sein scheint (Reissert und Grützmacher 2007; Tillmann 2007). Die subjektive Berufswahlsicherheit der Studierenden kann damit als ein – wenn auch grober – Indikator für die potenzielle Nachfrage nach Polyvalenzoptionen auf Studierendenseite dienen (Grützmacher und Jaeger 2010). Allerdings existieren zu wenige aktuelle Studien, die hierzu mehrere Studiengangmodelle vergleichen. Rothland (2010) verglich die Berufswahlsicherheit von grundständig Lehramtsstudierenden (Staatsexamen) mit Studierenden in polyvalenten Bachelorstudiengängen mit Lehramtsoption sowie M. Ed.-Studierenden fünf verschiedener Universitäten. Die Ergebnisse belegen eine hohe Berufswahlsicherheit der Studierenden insgesamt, wobei die Berufswahlsicherheit der Bachelorstudierenden geringer war als die der Staatsexamens- (d = 0.28) bzw. der Masterstudierenden (d = 0.16).Footnote 1 Allerdings müssten solche Befunde zusätzlich nach Lehramtstypen (vgl. Terhart 2008) differenziert werden, denn existierende Befunde verweisen auf Unterschiede in der subjektiven Berufswahlsicherheit zwischen den Lehrämtern. So fand Ulich (2004) in einer Studie an sechs Universitäten, dass sich Studierende des Gymnasiallehramts ihrer Entscheidung zum Lehrerberuf weniger sicher sind als solche des Grund-, Haupt- und Realschullehramts. Diese Befunde wurden jedoch wiederum nicht nach Studiengangmodellen differenziert. Es bedarf also weiterer Studien, die auf Basis ausreichend großer Stichproben gleichzeitig die Analyse von Unterschieden in der Berufswahlsicherheit zwischen Studierenden verschiedener Lehrämter und Studiengangmodelle erlauben.

Zusammenfassend lässt sich die Polyvalenzforderung weder primär durch die Zielsetzungen des Bologna-Prozesses legitimieren noch aus der vorliegenden Evidenz zu den Bedürfnissen der Mehrheit der Studierenden heraus begründen. Ihre Aktualität liegt vielmehr darin begründet, dass sich der M. Ed. inzwischen de facto neben dem Staatsexamen als Zugangsvoraussetzung zum Vorbereitungsdienst etabliert hat (Keuffer 2010; KMK 2008; Terhart 2008; Winter 2008). Der Bachelor stellt damit lediglich eine Zwischenstufe der Lehramtsausbildung dar (Weiler 2007), die keinen Zugang zum Schuldienst ermöglicht. Um dennoch die Forderung des Bologna-Beschlusses von 1999 zu erfüllen, bereits der Bachelorabschluss solle eine für den Arbeitsmarkt relevante Qualifikation darstellen, wird unter dem Stichwort Polyvalenz pauschal auf Zugangsmöglichkeiten zu Berufsfeldern außerhalb der Schule verwiesen (Winter 2008). Polyvalenz wurde somit im Kontext der Reform der Lehrerbildung zu einem kaum ignorierbaren Desiderat, das als Beurteilungskriterium Eingang in Akkreditierungsverfahren gefunden hat, die zur formellen Anerkennung der Studienprogramme führen. Tabelle 1 kann entnommen werden, dass die Mehrheit der Bundesländer, die Bachelor/Master-Konzeptionen eingeführt haben, aktuell den polyvalenten Bachelor favorisiert (vgl. Bauer et al. 2010; Bellenberg 2009; Ebitsch 2009; Jähne und Müller 2011; Lehrerbildungszentrum der LMU München 2009). Gleichzeitig legen die bisherigen Überblicksarbeiten zur Reform der Lehrerbildung den Schluss nahe, dass – entsprechend der KMK-Forderung nach einer frühen Professionsorientierung im Lehramtsstudium (2005) – die meisten existierenden Studiengänge trotzdem bereits in der Bachelorphase lehramtsspezifische Studienanteile enthalten (Arnold und Reh 2005; Bellenberg 2009). Dies widerspricht klar dem Ziel einer polyvalenten Studienstruktur, denn je umfangreicher diese lehramtsspezifischen Studienanteile ausfallen, desto geringer ist die Anschlussfähigkeit des Bachelor an andere Fachmasterstudiengänge (Baumert et al. 2007; Reuter 2010a; Terhart et al. 2010; Tillmann 2007; Winter 2008). Aktuell ist jedoch unbekannt, wie stark der Lehramtsbezug im Bachelor zwischen Hochschulen variiert bzw. wie polyvalent so bezeichnete Studiengänge tatsächlich sind. Zur Beantwortung dieser Fragen sind empirische Studien nötig, die relevante Indikatoren der Polyvalenz systematisch erfassen und zwischen Studiengängen vergleichen.

Tab. 1 Ausrichtung der Bundesländer in der Lehramtsausbildung

2.2 Was ist Polyvalenz? Facetten und Indikatoren

Wie oben angedeutet bezieht sich der Begriff Polyvalenz zunächst auf die Anschlussfähigkeit des Bachelorabschlusses an andere Berufsfelder als das Lehramt bzw. auf die Offenheit für einen Übertritt in andere Masterstudiengänge als den lehramtsbezogenen M. Ed. (Baumert et al. 2007; Bellenberg 2009; HRK 2006a; Terhart et al. 2010; Wissenschaftsrat 2001). Um die Polyvalenz eines Studiengangs empirisch fassbar zu machen, bedarf es jedoch einer weitergehenden Klärung relevanter Facetten des Konzepts. Hierzu lassen sich zwei Varianten einer professionsbezogenen sowie eine lehramtsbezogene Interpretation von Polyvalenz unterscheiden (Thierack 2007). Professionsbezogen betrifft dabei die Entscheidung für oder gegen den Lehrerberuf bzw. ein darauf hinführendes Masterprogramm, lehramtsbezogen die Entscheidung für einen Lehramtstyp. Die Varianten werden in Abb. 1 veranschaulicht und im Folgenden weiter ausgeführt.

Abb. 1
figure 1

Facetten des Polyvalenzkonzepts (Ba = Bachelor; M. Ed. = Master of Education)

Die erste professionsbezogene Interpretation bezieht sich auf die direkte Relevanz des Bachelorabschlusses für Berufsfelder neben dem Lehramt (HRK 2006a; Wissenschaftsrat 2001), etwa im Bereich der studierten Unterrichtsfächer sowie im außerschulischen Bildungsbereich. Welche konkreten Stellenaussichten (Lehramts-)Bachelorabsolventen in diesen Bereichen im Vergleich zu Hauptfachabsolventen jedoch haben, ist weitgehend unklar (Tillmann 2007). Zudem können die Hochschulen zwar die berufliche Relevanz ihrer Angebote reflektieren und die Studierenden auf relevante Berufsfelder aufmerksam machen, eine Sicherstellung von Beschäftigungsoptionen liegt aber nicht in ihrem Einfluss- und Verantwortungsbereich (Teichler 2009; Wolter 2010). Im weiteren Verlauf dieses Beitrags werden wir diese Perspektive deshalb nicht weiter verfolgen.

In der zweiten Variante wird professionsbezogene Polyvalenz als die Anschlussfähigkeit des Bachelorstudiums an verschiedene Masterstudiengänge verstanden. Der Übergang in einen M. Ed. ist damit nur eine mögliche Option neben dem Übertritt in ein Masterprogramm der studierten Unterrichtsfächer oder der Erziehungswissenschaft. Baumert et al. (2007) schätzen allerdings, dass bei einem Zwei-Fächer-Studiengang im Bereich der Sekundarstufe die Möglichkeit, ohne Zeitverlust in ein Fachmasterprogramm einzusteigen, längstens bis zum Ende des zweiten Bachelorstudienjahres aufrecht erhalten werden kann. Danach muss die Entscheidung für das Lehramt oder ein Studiengangwechsel erfolgen. Ebenso wird die Anschlussfähigkeit von Bachelorabschlüssen in der Lehrerbildung an erziehungswissenschaftliche Hauptfachstudiengänge aufgrund der insgesamt geringen Umfänge bildungswissenschaftlicher Studienanteile im Lehramtsstudium als schwach bewertet (Reuter 2010b; Tillmann 2007).

Die lehramtsbezogene Interpretation von Polyvalenz bezieht sich schließlich auf die Offenheit des Bachelorstudiums für verschiedene Lehramtstypen (Thierack 2007). In dieser Lesart ist ein Studiengang polyvalent, wenn die Entscheidung für das Lehramt einer bestimmten Schulart bzw. -stufe spät – möglichst erst zum Master – getroffen werden muss.

In Anschluss an diese Unterscheidungen beziehen wir Polyvalenz im vorliegenden Artikel auf den nach hinten verlagerten Zeitpunkt der Entscheidungen für den Lehrerberuf und für eine Schulart. Insbesondere vertreten wir die Auffassung, dass Polyvalenz darin besteht, mit möglichst wenig Zeitverlust in andere Masterstudiengänge als den M. Ed. eintreten zu können (vgl. Baumert et al. 2007; Bellenberg 2009; HRK 2006a; Terhart et al. 2010; Winter 2008; Wissenschaftsrat 2001). Ein Bachelorstudiengang ist aus dieser Sicht als umso polyvalenter zu bewerten, je später sich Studierende ernsthaft mit der Entscheidung für den Lehrerberuf sowie für eine bestimmte Schulform bzw. -stufe auseinander setzen müssen, wollen sie nicht im Falle eines Wechsels einen erheblichen Zeitverlust durch nunmehr obsolete absolvierte Studienleistungen oder nachzuholende Studienanteile in Kauf nehmen. Dabei ist anzunehmen, dass sich Studierende dieser Entscheidung spätestens dann widmen, wenn sie beginnen, Studienzeit in lehramtsspezifische Studienanteile zu investieren, die bei einem Wechsel des Berufsziels voraussichtlich obsolet werden (Becker 1993; Denzler und Wolter 2009; Terhart et al. 2010). Als polyvalenzeinschränkend sind deshalb insbesondere folgende Merkmale von Studienstrukturen zu bewerten (vgl. Baumert et al. 2007; Bellenberg 2009; Terhart et al. 2010):

  • frühe Zeitpunkte und hohe Umfänge obligatorischer Studienanteile in der Bachelorphase, die spezifisch auf den Lehrerberuf vorbereiten – also fachdidaktische, bildungswissenschaftliche und schulpraktische Anteile (ggf. mit Ausnahme von Orientierungspraktika);

  • eine frühe Differenzierung des Studiums nach Lehrämtern in Verbindung mit verschiedenen lehramtsspezifischen Studienanteilen, die einen späteren Wechsel zwischen den angestrebten Lehrämtern erschwert;

  • Equal-Modelle (Studium zweier Fächer im gleichen Umfang) gegenüber Major-Minor-Konstellationen (Hauptfach/Nebenfach), die für die Anschlussfähigkeit insbesondere an Fachmasterstudiengänge im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich nachteilig sein dürften.

Die aufgeführten Aspekte werden im Folgenden als Basis für ein Indikatorensystem genutzt, um bestehende Bachelorstudiengänge der Lehrerbildung in Hinblick auf Polyvalenz zu analysieren.

3 Fragestellungen

In der vorliegenden Studie gehen wir folgenden Fragestellungen nach:

  1. 1.

    Wie und in welchem Ausmaß wird Polyvalenz in aktuellen Bachelorstudiengängen auf der Ebene organisatorischer Studienstrukturen im Vergleich zu lehramtsspezifischen Bachelorstudiengängen umgesetzt? Wie groß ist die Heterogenität innerhalb und zwischen diesen Studiengangtypen? Wie aussagekräftig ist auf dieser Basis die Denomination von Studiengängen als polyvalent oder lehramtsspezifisch?

  2. 2.

    Wie sicher sind sich Bachelorstudienanfänger/-innen, Lehrer/-in werden zu wollen, im Vergleich zu Studierenden, die sich bereits im M. Ed. bzw. fortgeschrittenen Staatsexamensstudium befinden und sich damit schon stärker auf den Lehrerberuf festgelegt haben? Befinden sich in polyvalenten Bachelorstudiengängen Erstsemesterstudierende, die sich bezüglich ihrer Berufswahl weniger sicher sind, als solche in lehramtsspezifischen Studiengängen? Gibt es Unterschiede in der subjektiven Berufswahlsicherheit zwischen Studierenden, die Lehrämter verschiedener Schularten anstreben?

In Bezug auf Fragestellung 1 fokussieren wir exemplarisch auf Studiengänge, die auf den Zugang zum Gymnasiallehramt abzielen bzw. eine entsprechende Option eröffnen, weil diese durch ihre insgesamt starke Fachausrichtung Polyvalenz vermutlich stärker umsetzen als Studiengänge anderer Lehrämter (Terhart et al. 2010). Anschließend an Baumert et al. (2007) gehen wir von der Hypothese aus, dass es nur wenige Studiengänge gibt, in denen die Entscheidung für den Lehrerberuf bzw. für einen Lehramtstyp bis zum Ende des Bachelorstudiums aufgeschoben werden kann. Zudem dürfte es auch innerhalb des gleichen Studiengangtyps eine erhebliche Varianz in der Ausgestaltung realer Polyvalenzoptionen geben.

Bezüglich Fragestellung 2 gehen wir in Anschluss an die oben skizzierten Befunde davon aus, dass sich die befragten Studierenden ihrer Berufswahl insgesamt relativ sicher sind. Zudem erwarten wir, dass sich die Studierenden in polyvalenten Studiengängen ihrer Berufswahl weniger sicher sind als solche in lehramtsspezifischen Studiengängen. Schließlich vermuten wir im Anschluss an die Befunde von Ulich (2004), dass sich Studierende des Gymnasiallehramts ihrer Studienwahl weniger sicher sind als solche des Grund-, Haupt- und Realschullehramts.

4 Methode

4.1 Datenmaterial und Stichproben

Für die vorliegende Studie wurden a) Portfolios studiengangrelevanter Dokumente zu neun Bachelor-Studiengängen mit Gymnasiallehramtsoption sowie b) Studierendenstichproben der entsprechenden Hochschulen genutzt, die im Kontext des Projekts „PaLea – Panel zum Lehramtsstudium“ erhoben wurden. PaLea zielt darauf ab, Studienstrukturen im Lehramtsstudium sowie die professionsbezogene Entwicklung angehender Lehrkräfte an dreizehn deutschen Hochschulen vergleichend zu untersuchen (zu einer ausführlichen Projektbeschreibung s. Bauer et al. 2010). Die PaLea-Hochschulstichprobe wurde systematisch zusammengestellt, um die verschiedenen aktuellen Modelle der deutschen Lehrerbildung abzubilden. Für die vorliegende Studie fokussieren wir auf neun Standorte, die auf Bachelor/Master-Studiengänge umgestellt haben. Dies sind die Freie Universität Berlin, die Universität Bielefeld, die Georg-August-Universität Göttingen, die Universität Hamburg, die Christian-Albrechts-Universität Kiel, die Universität Koblenz-Landau, die Technische Universität München, die Westfälische Wilhelms-Universität Münster und die Bergische Universität Wuppertal. Davon vertreten sieben Standorte eine polyvalente und zwei eine lehramtsspezifische Ausrichtung. Insgesamt deckt die Stichprobe mit Ausnahme Bremens alle Bundesländer ab, die schwerpunktmäßig den polyvalenten Bachelor anbieten. Die lehramtsspezifisch denominierten Studiengänge dienen für unsere Analyse als Referenz, um die Gestaltung der polyvalent denominierten Studiengänge besser einschätzen zu können. Aus Rücksichtnahme auf die Partnerhochschulen erfolgt die Darstellung im weiteren Verlauf des Artikels anonymisiert.

Portfolios studiengangrelevanter Dokumente.

Die Portfolios beschreiben die zum Wintersemester 2009/2010 aktuellsten Studiengänge im Gymnasiallehramt an den gewählten Standorten. Sie umfassen unter anderem Prüfungs- und Studienordnungen, Modulkataloge, Akkreditierungsanträge, Broschüren und Leitfäden zur Studienberatung. Die Dokumente wurden von Hochschullehrerinnen und lehrern zusammengestellt, die an den Partnerhochschulen in die Lehrerbildung involviert sind. Auf diesem Weg konnten auch relevante interne Dokumente zu den Studiengängen gesammelt werden. Zusätzlich bearbeiteten die Partner einen strukturierten Fragebogen, der u. a. Aspekte der institutionellen Rahmenbedingungen und Strukturen sowie Vorgaben des Studienprogramms erfasst. Die Partner wurden angehalten, ihre Angaben im Fragebogen universitätsintern zu validieren. Dies geschah überwiegend in Zusammenarbeit mit den Zentren für Lehrerbildung. Die von den Partnern gesammelten Dokumente wurden durch eigene Internetrecherchen auf den lehrerbildungsrelevanten Universitätswebseiten ergänzt. Insgesamt schätzen wir die Glaubwürdigkeit und das Erkenntnispotenzial der Portfolios als hoch ein, da es sich bei den meisten herangezogenen Dokumenten um rechtsverbindliche Ordnungen, institutionelle Nachweise und interne Dokumente handelt (vgl. Terhart et al. 2010). Die Gefahr von Verzerrungen durch Selbstdarstellungstendenzen ist insbesondere in den relevanten Ordnungen gering.

Studierendenstichproben.

Für die Untersuchung der Sicherheit der Berufswahl wurden Erstsemesterstudierende in Bachelorstudiengängen (N = 2585) und Erstsemesterstudierende in Masterstudiengängen bzw. fortgeschrittene Staatsexamensstudierende im durchschnittlich 7. SemesterFootnote 2 erhoben (N = 928; der Einfachheit halber im Folgenden als Masterstudierende bezeichnet), die zum Wintersemester 2009/2010 an den genannten Universitäten studierten. Dabei wurde auf Studierende der Lehrämter Grund-, Haupt-, Realschule, Sekundarstufe I, Sekundarstufe II sowie Gymnasium fokussiert. Die Rekrutierung der Stichprobe erfolgte über die Partnerinnen und Partner an den Hochschulen. Dadurch konnte ein besserer und an die lokalen Besonderheiten angepasster Kontakt zur Zielgruppe realisiert werden als dies bei einer rein zentralen Koordination der Erhebungen der Fall gewesen wäre. Die Teilnahme an der Studie war für die Studierenden freiwillig, wobei zielgruppenadäquate Anreize zur Erhöhung der Teilnahmebereitschaft eingesetzt wurden (i. d. R. Gutscheine).

Die Aufteilung der Stichprobe auf die Universitäten und Lehrämter kann Tab. 3 entnommen werden. Zu beachten ist, dass bei den Studierenden der Lehrämter Haupt- und Realschule bzw. Sekundarstufe I sowie bei den Masterstudierenden teilweise kleine Zellenbelegungen n < 30 vorliegen, so dass die jeweiligen Statistiken nur vorsichtig interpretiert werden sollten.

Obwohl der Umfang fehlender Werte in den verwendeten Daten insgesamt gering war (durchschnittlich 1.5 %), wurden die fehlenden Werte mit SPSS 18 multipel imputiert (Rubin 1987), um die vorliegenden Fälle vollständig nutzen zu können. Dafür wurde ein Hintergrundmodell verwendet, in das neben den untersuchten Variablen zahlreiche Hilfsvariablen eingingen, u. a. Indikatoren zu Soziodemografie und Studium (z. B. Alter, Geschlecht, finanzielle Situation, Hochschulsemester, Studiengangwechsel), Fähigkeiten (z. B. Abiturnote, pädagogische Vorerfahrungen) und motivationalen Orientierungen (z. B. Berufswahlmotive, studienbezogene Selbstwirksamkeit und Selbstkonzepte). Die berichteten Ergebnisse basieren auf m = 5 imputierten Datensätzen.

4.2 Instrumente

Polyvalenzindikatoren.

Folgende Indikatoren wurden zur Bewertung der Polyvalenz der Studiengänge ermittelt: a) Major-Minor- vs. Equal-Modell; b) Umfänge verpflichtender professionsspezifischer Studienanteile in Fachdidaktiken, Bildungswissenschaften und Schulpraktika (jeweils in Credit Points [CP]); c) obligatorisches bzw. empfohlenes Fachsemester des Beginns verpflichtender Studienanteile in Fachdidaktiken, Bildungswissenschaften und Schulpraktika. Anhand dieser objektiven Indikatoren wurden zudem die Zeitpunkte der Entscheidungen d) für den Lehrerberuf und e) für eine Schulform geschätzt. Die Schätzung zur Entscheidung für den Lehrerberuf wurde – sofern keine anderen Restriktionen, wie etwa eine verpflichtende Einschreibung in ein lehramtsbezogenes Profil, in den Studienregularien vorlagen – anhand des ersten Zeitpunkts verpflichtender professionsspezifischer Veranstaltungen geschätzt; die Schätzung des Zeitpunkts der Entscheidung für eine Schulart – sofern keine anderen Restriktionen vorlagen – anhand des Zeitpunkts, zu dem eine Differenzierung des Studiums nach Lehrämtern in Verbindung mit verschiedenen lehramtsspezifischen Studienanteilen erfolgt.

Subjektive Sicherheit der Berufswahl.

Die subjektive Sicherheit der Berufswahl der Studierenden wurde über zwei Items gemessen („Ich bin mir sicher, dass ich Lehrerin bzw. Lehrer werden möchte“; „Ich kann mir gut vorstellen, etwas anderes zu machen“ [invertiert]; Antwortstufen: 1 = trifft überhaupt nicht zu; 4 = trifft völlig zu; a = 0.72). Dabei lautete das erste Item für die Masterstichprobe etwas anders: „Ich bin mir meiner Entscheidung zum Lehrerberuf sehr sicher“ (a = 0.73).Footnote 3

4.3 Analysen

Analysen der Portfolios.

Im Zentrum der Portfolio-Analysen stand die Ermittlung der Umfänge und Zeitpunkte von Studienanteilen in Fachdidaktiken, Bildungswissenschaften und Schulpraktika über den Bachelorstudienverlauf hinweg. Hierzu wurden die relevanten Informationen von drei unabhängigen Personen in den Portfolios ermittelt und in der Software MAXQDA 10 kodiert. Obwohl es sich bei der Mehrzahl der gewählten Indikatoren prinzipiell um objektive Gegebenheiten der Studienstrukturen handelt, war dieses Vorgehen aufgrund des komplexen Datenmaterials erforderlich, in dem relevante Informationen über viele Dokumente hinweg verstreut sind. Dabei wurde die Strategie verfolgt, relevante Informationen immer zuerst in hoch verbindlichen Dokumenten zu identifizieren (insb. veröffentlichten Studien- und Prüfungsordnungen, Modulhandbüchern). Wenn die gesuchte Information dort nicht zu finden war, wurde auf andere Dokumente zurückgegriffen. Für die ermittelten Indikatoren wurde die Beurteilerübereinstimmung in Form der Intraklassenkorrelation ICC (A, 3) berechnet (McGraw und Wong 1996). Wenn für Indikatoren Spannweiten anstatt Punktangaben resultierten (z. B. 8–10 Credit Points), wurden Mittelwerte der entsprechenden Spannweiten für die Berechnung der Beurteilerübereinstimmung verwendet. Die ermittelten Übereinstimmungen waren für alle Indikatoren hoch (vgl. Tab. 2).

Analysen der Studierendenstichproben.

Da die vorliegenden Daten eine Mehrebenenstruktur aufweisen, wurden zunächst die Intraklassenkorrelationen (ICC [1]) für die Sicherheit der Berufswahl in den beiden Stichproben berechnet. Da diese insgesamt gering ausfielen (Bachelor: r = 0.036; Master/Staatsexamen: r = 0.018) wurden die weiteren Auswertungen ohne Berücksichtigung der Mehrebenenstruktur vorgenommen. Die Auswertungen zur subjektiven Berufswahlsicherheit erfolgten über deskriptive Statistiken sowie t-Tests für unabhängige Stichproben. Dabei dienten die Masterstudierenden als Referenzgruppe für die Einschätzung der Berufswahlsicherheit der Bachelorstudierenden. Zudem wurden Mittelwertvergleiche für Studierende polyvalenter versus lehramtsspezifischer Bachelorstudiengänge und verschiedener Lehrämter berechnet. Das a-Niveau wurde auf p < 0.01 festgelegt, um die fünf angestellten Paarvergleiche ohne a-Inflation durchführen zu können.

5 Ergebnisse

5.1 Ergebnisse zu polyvalenten Studienstrukturen

Im Folgenden stellen wir die Ergebnisse zu den Polyvalenzindikatoren dar, die in Tab. 2 aufgeführt sind. Zur besseren Übersicht ist in der ersten Zeile der Tabelle die Denomination der Studiengänge als polyvalent vs. lehramtsspezifisch aufgeführt.

Tab. 2 Polyvalenzindikatoren von Bachelorstudiengängen mit Ziel bzw. Option Gymnasiallehramt zum Wintersemester 2009/2010 nach Hochschulstandort

Umfänge verpflichtender professionsspezifischer Studienanteile.

Die Umfänge fachdidaktischer Studienanteile liegen bei den polyvalenten Studiengängen zwischen 0 und 20 Credit Points (CP), wobei die höchsten Umfänge an den Universitäten C und F zu finden sind. Dabei variieren die fachdidaktischen Anteile am Standort F je nach studiertem Unterrichtsfach (z. B. Germanistik: 12 CP; Biologie: 20 CP). An den Standorten A, E und G gibt es im Bachelor keine verpflichtenden fachdidaktische Anteile, wobei an der Universität G 18 CP im Optionalbereich belegt werden können.

Bildungswissenschaftliche Studienanteile sind – mit Ausnahme der Standorte F und G – in allen untersuchten polyvalenten Studiengängen enthalten, allerdings in geringen Umfängen. Die höchsten Werte (Universitäten A: 12 CP und B: 10 CP) liegen deutlich unter denen der lehramtsspezifischen Studiengänge (20 bzw. 30 CP).

Bei den Umfängen für Schulpraktika werden in Tab. 2 Orientierungs- und Hauptpraktika gesondert aufgeführt, sofern dies anhand der Unterlagen trennbar war. Dabei sind in den polyvalenten Studiengängen an den Standorten C, D, E und F sowie in dem lehramtsspezifischen Studiengang an der Universität H Orientierungspraktika vorgesehen (3–7 CP). An allen Standorten, mit Ausnahme der Universität C, folgen danach weitere verpflichtende Schulpraktika im Umfang von 5–15 CP. Dabei fallen die Umfänge für schulpraktische Studien bei den polyvalenten Studiengängen ähnlich oder höher aus als bei den lehramtsspezifischen.

Betrachtet man die Summe aller bislang aufgeführten CP, so zeigen sich an den Standorten E und G insgesamt geringe Umfänge professionsbezogener Anteile. Alle anderen polyvalenten Studiengänge erfordern Studienleistungen zur beruflichen Orientierung und lehramtsspezifischen Professionalisierung im Umfang von durchschnittlich 26 CP.Footnote 4 Die Umfänge in den lehramtsspezifischen Studiengängen liegen allerdings mit 40 bzw. 74 CP deutlich darüber.

Zeitpunkte des Beginns obligatorischer professionsspezifischer Studienanteile sowie der Entscheidung für den Lehrerberuf und für eine Schulform.

Aus Tab. 2 geht hervor, dass insbesondere die bildungswissenschaftlichen Studienanteile meist schon im ersten Studienjahr zu erbringen sind. Studiengänge, bei denen diese Studienleistungen (abgesehen von Orientierungspraktika) erst zum 5. bis 6. Fachsemester fällig werden, finden sich an den Universitäten F und G. Entsprechend fällt der geschätzte Zeitpunkt, zu dem sich die Studierenden mit der Entscheidung für den Lehrerberuf auseinander setzen, an allen Standorten außer G in das erste bis zweite Studienjahr. Dabei ist diese Entscheidung für die Standorte B und F früher angesetzt als es der Beginn der professionsspezifischen Studienanteile nahe legt. Grund dafür ist, dass an Universität B das Profil Lehramt bereits bei der Einschreibung gewählt werden muss; an Universität F, beginnt in der Regel zum 3. Semester das Profilstudium, in dem sich die Studierenden für (oder gegen) ein lehramtsbezogenes Profil entscheiden.

Die Entscheidung für das Lehramt einer spezifischen Schulart muss an den Standorten, die für mehrere Lehramtstypen ausbilden, meist ebenfalls im ersten Studienjahr erfolgen. Studiengänge, die erst später eine Differenzierung des Studienprogramms nach Lehrämtern einführen, finden sich an der Universität F sowie – in dem eigentlich lehramtsspezifischen Studiengang – an Universität H. Am Standort C muss lediglich die Entscheidung für ein Grundschullehramt bereits zum Studienbeginn getroffen werden, eine Entscheidung zwischen den anderen Lehrämtern kann bis zum 5. Semester aufgeschoben werden.

Major-Minor vs. Equal-Modelle.

Aus Tab. 2 ist ersichtlich, dass die Gewichtung der beiden studierten Fachwissenschaften relativ unabhängig von einer polyvalenten vs. lehramtsspezifischen Ausrichtung des Studiengangs ist. Drei der analysierten polyvalenten Studiengänge folgen einem Major-Minor-, vier einem Equal-Modell. Bei den beiden lehramtsspezifischen Studiengängen findet sich je ein Major-Minor- und ein Equal-Modell.

5.2 Ergebnisse zur subjektiven Sicherheit der Berufswahl

Die deskriptiven Statistiken zur subjektiven Sicherheit der Berufswahl der Studierenden können Tab. 3 entnommen werden. Differenziert man nicht nach Lehrämtern, so gruppieren sich die Mittelwerte aller Universitäten eng um den Bereich der Skalenstufe 3, die mit „eher sicher“ betitelt ist. Vergleicht man dabei polyvalente und lehramtsspezifische Studiengangmodelle, so zeigen sich die erwarteten Unterschiede in der subjektiven Berufswahlsicherheit der Studierenden, allerdings nur mit einer geringen bis mittleren Effektgröße (polyvalent: M = 3.05, SD = 0.69; lehramtsspezifisch: M = 3.26, SD = 0.58; t [775746.486]Footnote 5 = − 7.103, p < 0.001; Cohen’s d = 0.32). Zwischen den Bachelor- und den Masterstudierenden ergaben sich dagegen nur triviale Unterschiede zugunsten der Bachelorstudierenden, die aufgrund ihrer Größe praktisch bedeutungslos sein dürften (t [204498] = 2.306, p = 0.021; d = 0.09).

Tab. 3 Deskriptive Statistiken zur Sicherheit der Berufswahl „Lehrer/-in“ von Erstsemesterstudierenden in Bachelorstudiengängen und Erstsemesterstudierenden in Masterstudiengängen/fortgeschrittenen Staatsexamensstudierenden zum Wintersemester 2009/2010

In Abb. 2 ist zur Veranschaulichung die subjektive Berufswahlsicherheit nochmals differenziert für Studierende des Gymnasial- und Grundschullehramts abgetragen (HS/RS/Sek I wurde aufgrund der teilweise kleinen Zellen nicht aufgenommen). Vergleicht man dabei innerhalb der Gymnasiallehramtsstudierenden polyvalent versus lehramtsspezifisch denominierte Studiengänge, so findet sich ein statistisch signifikanter Mittelwertunterschied kleiner Effektstärke (polyvalent: M = 2.99, SD = 0.70; lehramtsspezifisch: M = 3.18, SD = 0.63; t [6881374] = − 3.717, p < 0.001; d = 0.29). Bei Studierenden mit dem Ziel Grundschullehramt gibt es hingegen keine bedeutsamen Differenzen (polyvalent: M = 3.35, SD = 0.59; lehramtsspezifisch: M = 3.31, SD = 0.56; t [118739] = 0.977, p = 0.328; d = 0.08). Bezüglich des Unterschieds zwischen den Lehrämtern zeigt sich schließlich ein Effekt mittlerer Größe, demzufolge Studierende des Grundschullehramts, wie erwartet, eine signifikant höhere Berufswahlsicherheit aufweisen als solche des Gymnasiallehramts (t [583511.307] = 11.457, p < 0.001; d = 0.50).

Abb. 2
figure 2

Mittelwerte und Konfidenzintervalle der subjektiven Berufswahlsicherheit „Lehrer/-in“ von Bachelor-Erstsemesterstudierenden zum WS 2009/2010 nach angestrebtem Lehramtstyp: Grundschule (GS) vs. Gymnasium/Sekundarstufe II (Gym) (n GS = 660; n Gym/Sek II = 1676; vierstufige Likert-Skala, höhere Werte entsprechen einer höheren Sicherheit)

6 Diskussion

6.1 Umsetzung polyvalenter Studienstrukturen

In diesem Beitrag untersuchten wir zunächst Aspekte der Umsetzung aktueller Bachelorstudiengänge in der gymnasialen Lehramtsausbildung. Ziel war die Klärung der Frage, wie und in welchem Ausmaß Polyvalenz in aktuellen Bachelorstudiengängen im Vergleich zur lehramtsspezifischen Bachelorvariante umgesetzt wird. Eine weitere Frage richtete sich auf die Heterogenität innerhalb und zwischen diesen Studiengangmodellen und die Aussagekraft der Denomination von Studiengängen als polyvalent oder lehramtsspezifisch. Unsere Studie ergänzt mit den vorgelegten Analysen existierende Arbeiten zum Stand der Reform der Lehrerbildung (Baumert et al. 2007; Bellenberg 2009; Reuter 2010a; Terhart et al. 2010), indem sie Aspekte der Polyvalenz von Studiengängen systematisiert und anhand von Indikatoren herausarbeitet.

Das zentrale Ergebnis dieser Studie ist, im Einklang mit den bisherigen Einschätzungen, dass die meisten Studiengänge tendenziell eine frühe Festlegung auf den Lehrerberuf erfordern (Baumert et al. 2007; Reuter 2010a; Terhart et al. 2010). Nur wenige der untersuchten Studiengänge erlauben es, die Entscheidung für den Lehrerberuf und für einen Lehramtstyp bis nach das 4. Semester oder gar bis zum Ende des Bachelor aufzuschieben. Dabei sind die professionsspezifischen Studienanteile innerhalb der einzelnen Bereiche zwar oftmals gering, in der Summe entsprechen sie aber bei der Mehrzahl der Studiengänge knapp dem Workload eines Semesters. Obwohl dies deutlich weniger ist als bei den untersuchten lehramtsspezifischen Studiengängen, dürfte damit die Flexibilität der Studierenden dennoch eingeschränkt sein.

Insgesamt machen die Ergebnisse das eingangs angesprochene Spannungsfeld zwischen den politischen Forderungen nach einem professionsorientierten Studium und gleichzeitiger Polyvalenz sichtbar. Sie zeigen, dass auch innerhalb des polyvalenten Studiengangmodells deutlich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen zwischen Polyvalenz und lehramtsspezifischer Professionsorientierung existieren. Diese große Heterogenität führt dazu, dass unseres Erachtens die Denomination eines gegebenen Studiengangs als „polyvalent“ wenig aussagekräftig ist. Zur Bewertung der Polyvalenz eines Studiengangs muss vielmehr entschieden werden, auf welche Facette von Polyvalenz fokussiert wird; zudem ist es notwendig, die spezifische Konfiguration fachlicher, fachdachdidaktischer, bildungswissenschaftlicher und schulpraktischer Anteile sowie deren vorgesehenen Zeitpunkt im Studium detailliert zu betrachten.

6.2 Subjektive Berufswahlsicherheit der Studierenden

Zweites Ziel der vorliegenden Studie war die Klärung der Frage, ob sich Erstsemester-Studierende in polyvalenten Studiengängen in der subjektiven Sicherheit ihrer Berufswahl von solchen in lehramtsspezifischen Studiengängen unterscheiden und ob es hierin differenzielle Unterschiede zwischen den Lehrämtern gibt. Als Vergleichsgruppe wurden Masterstudierende analysiert, die in ihrer Professionalisierung schon weiter fortgeschritten sind. Die Ergebnisse bestätigen zunächst frühere Ergebnisse, die eine hohe Berufswahlsicherheit bei Lehramtsstudierenden – auch über den Studienverlauf hinweg – konstatieren (Rothland 2010; Ulich 2004). Die untersuchten Bachelor-Erstsemesterstudierenden waren sich dabei insgesamt ihrer Berufswahl ebenso sicher wie die Masterstudierenden. Insofern scheinen die Studierenden zumindest zu Studienbeginn insgesamt wenig Bedarf an Polyvalenzoptionen zu haben (vgl. Reissert und Grützmacher 2007; Tillmann 2007).

Unsere Befunde ergänzen die genannten Studien dahingehend, dass sich die Studierenden in polyvalenten Bachelorstudiengängen ihrer Berufswahl etwas weniger sicher sind als solche in lehramtsspezifischen. Weiterhin konnten wir in Einklang mit Ulich (2004) Hinweise darauf finden, dass sich Studierende mit Option Gymnasiallehramt ihrer Entscheidung zum Lehrerberuf deutlich weniger sicher sind, als Studierende des Grundschullehramts. Da Gymnasiallehramtsstudierende durch den hohen Fachanteil ihres Studiums im lehramtsspezifischen Vergleich vermutlich das polyvalenteste Studium haben, könnte dies als Hinweis interpretiert werden, dass sie Möglichkeiten zum Wechsel in Fachmasterstudiengänge stärker zu schätzen wissen. Allerdings kann mit den vorliegenden Daten die Frage nicht beantwortet werden, ob Studierende mit geringerer subjektiver Berufswahlsicherheit aktiv polyvalente Studiengänge wählen. Die Kausalitätsrichtung ist hier schwer zu bestimmen, denn ebenso plausibel wäre die Annahme, dass die Art der Studienstruktur einen Einfluss darauf hat, wie stark sich Studierende auf ihr Berufsziel festlegen. Dieser Zusammenhang sollte in zukünftigen Studien detaillierter analysiert werden.

Einschränkend ist zur Aussagekraft unserer Studie neben den angesprochenen offenen Fragen festzuhalten, dass die gesammelten Portfolios zwar umfassende Beschreibungen der untersuchten Studiengänge liefern, jedoch nur das intendierte, nicht aber das implementierte Curriculum abbilden. Wie die untersuchten Studienstrukturen in der Praxis umgesetzt und studiert werden, kann mit den vorliegenden Daten nicht geklärt werden. Des Weiteren haben einige der untersuchten Universitäten seit dem Erhebungszeitpunkt bereits wieder Änderungen an ihren Studienstrukturen vorgenommen, die hier nicht berücksichtigt werden konnten. In den Analysen erfolgte die Schätzung des Zeitpunkts der Entscheidung für den Lehrerberuf – sofern keine weiteren Informationen zur Verfügung standen – anhand des ersten Zeitpunkts verpflichtender professionsspezifischer Veranstaltungen. Dies stellt für die Einschätzung von Polyvalenz sicherlich ein konservatives Vorgehen dar, das kritisch bewertet werden mag. Die Messung der subjektiven Berufswahlsicherheit über zwei Items (anstatt nur einem), eröffnete im Vergleich zu früheren Studien die Möglichkeit, die Reliabilität zu schätzen. Wenig vorteilhaft war dagegen die unterschiedliche Formulierung eines Items zwischen der Bachelor- und der Mastergruppe. Entsprechend kann die Aussagekraft des durchgeführten Vergleichs zwischen diesen Gruppen eingeschränkt sein. Wir gehen aber davon aus, dass die beiden Items bezüglich der subjektiven Sicherheit der Berufswahl äquivalente Inhalte messen und die Studierendenangaben – cum grano salis – hinreichend vergleichbar sind (s. auch Anmerkung 3).

Insgesamt sind wir trotz der diskutierten Einschränkungen der Ansicht, dass die vorgelegten Befunde einen Beitrag zur Objektivierung der Debatte um Polyvalenz in der Reform der Lehrerbildung leisten. Eine besondere Stärke unserer Studie ist, dass durch die gemeinsame Untersuchung von Fragestellungen auf Ebene des Studienprogramms und der Studierenden aufeinander bezogenes Wissen zur Umsetzung von Polyvalenzangeboten durch die Universitäten und zur potenziellen Nachfrage nach Polyvalenzoptionen auf Studierendenseite generiert werden konnte. Die Ergebnisse sind dabei auch für die Lehrerbildungspraxis relevant, denn sie zeigen eine Vielfalt an Möglichkeiten zur Gestaltung polyvalenter Studiengänge auf. Inwiefern Polyvalenz für die Professionalisierung der Studierenden auch sinnvoll ist, ist damit allerdings nicht geklärt. Zur Beantwortung dieser Frage können die im Rahmen von PaLea geplanten längsschnittlichen Analysen einen Beitrag leisten.