In Heft 1-09 haben wir bereits berichtet, dass die Zahl der Beiträge, die bei der ZfE „frei eingereicht“ werden, kontinuierlich wächst und die Wartezeiten bis zur Publikation länger werden. Um wichtige Beiträge weiterhin möglichst aktuell veröffentlichen zu können, soll deswegen bei Bedarf ein Heft pro Jahr ausschließlich der Publikation „frei eingereichter Beiträge“ vorbehalten bleiben. Das vorliegende erste Heft in diesem Zusammenhang ist dennoch wie gewohnt in „Schwerpunktteil“ und „Allgemeiner Teil“ untergliedert, da sich mehrere Beiträge aus unserer Warteliste angenommener Beiträge thematisch zusammenfassen lassen.

Sechs der Aufsätze in diesem Heft führen jeweils aus unterschiedlicher Perspektive in die aktuelle Debatte um die „Chancengerechtigkeit im Bildungssystem“, wie sie um die Stichworte „sozioökonomische Bedingungen schulischer Leistung“, „freie Schulwahl“ und „privilegierte Entwicklungsmilieus“ geführt wird.

In diesem Zusammenhang geht es aktuell vor allem um die Ausdifferenzierung und Prüfung von Defizithypothesen, etwa bezüglich der Leistung des Kindergartens und der Grundschule im Dienst der Herstellung von Chancengerechtigkeit, den Undurchlässigkeiten des dreigegliederten Schulsystems, der Unterrichtsqualität in verschiedenen Schulformen, der Bevorteilung von Kindern besonders ambitionierter Eltern und schließlich bezüglich besonderer Wahlmöglichkeiten im Schulsystem. Dabei gibt es einen Mangel an Langzeitstudien. Deutungsstreitigkeiten über empirische Ergebnisse etwa der PISA-Studie lassen sich auch auf Differenzen in grundlagentheoretischen Herangehensweisen zurückführen. Dies zeigt Johannes Giesinger in seinem Beitrag am Beispiel der aktuellen Diskussion um die freie Schulwahl, die sich im Kern um das Problem der Chancen- und Bildungsgerechtigkeit bewegt. „Kann durch die Einführung von Wahl-Modellen die soziale Ungleichheit im Bildungssystem abgemildert werden oder wird sie dadurch eher noch verschärft?“

Die folgenden drei Beiträge, in denen jeweils Befunde aus aktuellen Forschungsprojekten diskutiert werden, gehen von Aufgaben aus, die sich mit der Operationalisierung und Evaluation der oben skizzierten Defizithypothesen stellen. Jürgen Baumert, Michael Becker, Marko Neumann und Roumiana Nikolova verfolgen in ihrem Text die Frage, ob Schülerinnen und Schüler, die die sechsjährige Grundschule in Berlin bereits nach der vierten Klasse verlassen und auf ein grundständiges Gymnasium wechseln, höhere Lernzuwächse im Leseverständnis und in Mathematik erreichen bzw. ob dieser Wechsel mit einem Übergang in ein „privilegiertes Bildungsmilieu“ gleichzusetzen ist. Dabei arbeiten die Autor(inn)en mit Daten der ELEMENT-Studie, die ihnen Rainer H. Lehmann von der Humboldt-Universität Berlin und die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung zur Reanalyse zur Verfügung gestellt haben. Methodisch demonstriert der Beitrag, welche Möglichkeiten das „Propensity Score Matching“ im Vergleich mit dem Standardverfahren der „Regressionsanalyse“ für die erziehungswissenschaftliche Forschung eröffnen kann.

Für die Schweiz, der ebenfalls eine hohe Abhängigkeit zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg attestiert wurde, diskutieren Markus P. Neuenschwander und Tina Malti die Daten einer repräsentativen Längsschnittstudie, die im Rahmen des Forschungsprojekts Familie-Schule-Beruf (FASE B) im Kanton Bern durchgeführt wurde. In ihrem Beitrag konzentrieren sie sich auf die Frage, „wie individuelle Leistungsunterschiede von Schülerinnen und Schülern in Wechselwirkung mit sozialen Faktoren schulische Übertrittsentscheidungen in die Sekundarstufe I und II beeinflussen“. Der Studie kommt deswegen besondere Bedeutung zu, weil in ihr erstmals Bildungsverläufe in der Schweiz über zwei Schulübergänge vorhergesagt wurden.

Die Diskussionen um die PISA-Ergebnisse haben auch den Kindergarten in seiner Funktion, die Bildungschancen zu verbessern, weiterhin in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. In diesem Zusammenhang wird er im Beitrag von Susanne Seyda als erste Stufe des Bildungssystems betrachtet und im Hinblick auf seinen Einfluss auf spätere schulische Bildungsverläufe untersucht. Im Kern geht es um die Frage, ob eine längere Kindergartenbesuchsdauer (in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland) mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für den Besuch einer höher qualifizierenden weiterführenden Schule verbunden ist. Dazu arbeitet sie im theoretischen Rahmen der sogenannten „education production function“ und schätzt auf der Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) eine Bildungsproduktionsfunktion, die neben einer Vielzahl an familiären Einflussfaktoren auch Unterschiede zwischen den Bundesländern berücksichtigt.

Zwei weitere Beiträge lenken abschließend den Blick auf methodische Fragen der empirischen Sozialforschung, die sich in diesem Zusammenhang stellen. Wo der Einfluss der sozialen Herkunft ausgemacht werden soll, stellt sich die Frage, mit welchen Instrumenten dieser im Einzelnen erfasst wird und wie belastbar die entsprechenden Ergebnisse sind. Die meisten Studien arbeiten dazu auf der Basis des Codierschemas ISCO (International Standard Classification of Occupation), das die Angaben zum Beruf in Kategorien überführt, mit deren Hilfe der sozioökonomische Status eingeschätzt werden kann. Über die Reliabilität des komplexen Codierprozesses ist bislang jedoch wenig bekannt. Von diesem Defizit gehen Kai Maaz, Ulrich Trautwein, Cornelia Gresch, Oliver Lüdtke und Rainer Watermann in ihrem Beitrag aus. Ihr Interesse gilt dabei der sogenannten Intercoder-Reliabilität von Berufscodierungen nach ISCO. Dazu untersuchen sie, ob unterschiedliche Codierer, die an ein und demselben Datensatz arbeiten, zu gleichen Codierungen und der darauf aufbauenden Einschätzung des sozioökonomischen Status kommen.

Von hoher Brisanz in der empirischen Sozialforschung ist aktuell auch die Frage, wie sich der Bedarf an Langzeituntersuchungen, die erst fundierte Diagnosen zu Bildungsverläufen ermöglichen, mit dem Bedarf an aktuellen Reformen organisieren lässt. Dies wiederum führt in die Suche nach innovativen Strategien, die es erlauben, den Langzeit-Datenmangel zu kompensieren. Henning Lohmann, C. Katharina Spieß, Olaf Groh-Samberg und Jürgen Schupp untersuchen in dieser Hinsicht die Analysepotenziale des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für die lebensverlaufstheoretische empirische Bildungsforschung. Der große Vorteil dieser in Deutschland seit einem Vierteljahrhundert laufenden Haushalts- und Personenbefragung liegt in der Breite (12.000 Privathaushalte und mehr als 22.000 Individuen) und in der Kontinuität, in der detaillierte Informationen zu Bildungsverläufen und sozioökonomischem Hintergrund erhoben werden. Neben der Erläuterung dieser Informationen und den methodischen Innovationen des bildungsbezogenen Erhebungsprogramms werden vor allem die komparativen Stärken des SOEP aufgezeigt, die insbesondere in Bildungsanalysen „von der Wiege bis zur Bahre“ und im intergenerationalen und familialen Kontext liegen.