1. Einleitung

Ob Sitzenbleiben eine wertvolle pädagogische Hilfe oder eine sinnlose Strafmaßnahme bedeutet, ist – in Deutschland und international – umstritten. Hauptargument für die Klassenwiederholung ist traditionell die Feststellung schulischer Leistungsdefizite (Niklason 1984). Ergebnisse aus PISA im internationalen Vergleich haben gezeigt, dass andere Staaten ganz ohne Klassenwiederholungen auskommen und dabei zum Teil ein deutlich besseres Kompetenzniveau erreichtwird als in Deutschland (vgl. z..B. Drechsel/Senkbeil 2004, S. 285). Aus der institutionellen Perspektive betrachtet sorgen Klassenwiederholungen einerseits für verlängerte Schulkarrieren und damit für höhere ökonomische Kosten und größere Klassen, die zusätzliche Lehrkapazitäten benötigen. Andererseits verspricht das Nichtversetzen von leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern leistungshomogenere Klassen.

In Deutschland werden Schülerinnen und Schüler im Allgemeinen nicht versetzt, wenn sie in mindestens zwei Fächern das im Lehrplan festgelegte und von der Lehrkraft angestrebte Klassenziel am Ende eines Schuljahres nicht erreichen. Klassenwiederholung ist als eine Maßnahme gedacht, die die Leistungsheterogenität innerhalb einer Schulklasse reduzieren soll (Glumpler 1994). Schulsysteme, in denen Lerninhalte und ziele pro Jahrgangsstufe definiert werden, nutzen verschiedene Möglichkeiten, um das Leistungsniveau innerhalb der Klassen und Jahrgangsstufen möglichst homogen zu halten. Schülerinnen und Schüler, die ein an mehr oder weniger transparenten Kriterien definiertes Klassenziel nicht erreichen, können unterschiedlich behandelt werden. Sie können aus der ursprünglichen Klasse herausgenommen und in die nächst niedrigere Schulart versetzt werden (Querversetzung). Auch können sie durch eine Binnendifferenzierungsmaßnahme innerhalb der Schule einen anderen Bildungsgang besuchen. Eine dritte Variante besteht in der Wiederholung einer Jahrgangsstufe innerhalb des gleichen Bildungsgangs. Diese dritte Form soll in diesem Aufsatz betrachtet werden und wird von uns im Folgenden als „Sitzenbleiben“ oder „Klassenwiederholung“ bezeichnet.

Als wesentliche pädagogische Maßnahme des Sitzenbleibens wird angesehen, dass den Schülerinnen und Schülern durch das Wiederholen des Schuljahres zusätzliche Lernzeit gewährt wird. Weitere begleitende Maßnahmen wie zusätzliche Unterstützungen oder ein spezielles Unterrichtsprogramm finden in Deutschland in der Regel nicht statt. Auch bleiben die Lernziele und die Art des Unterrichts unverändert bestehen. Von manchen Autoren wird angenommen, dass die betroffenen Schülerinnen und Schüler mit der Wiederholung einer Klasse einen Leistungsvorsprung haben. Sie werden dadurch von der Belastung befreit, der leistungsmäßig schwächsten Gruppe anzugehören, was dem betroffen Kind Erfolgserlebnisse ermöglichen sollte (vgl. Bless/Schüpbach/Bonvin 2004, S. 9). Dies scheint vorwiegend für Kinder im Grundschulalter zu gelten. In vielen Studien wird hingegen auf die negativen Folgen des Sitzenbleibens hingewiesen, wie z..B. den der vertrauten Lerngruppe, die Schwächung des Selbstwertgefühls, Motivationsverlust, Stigmatisierung etc. (vgl. z..B. Kemmler 1976; Jeske 1981).

Die für die vorliegenden Analysen entscheidende Frage bezieht sich auf den Leistungszuwachs im Wiederholungsjahr: Wie viel lernen Klassenwiederholer im Vergleich zu regulär versetzten Schülerinnen und Schülern dazu? Wird die zusätzliche Lernzeit tatsächlich genutzt, um fachliche Defizite zu überwinden? Zeigen sich schulartspezifische Unterschiede im Lernzuwachs der Klassenwiederholer? Können speziell Jugendliche mit mangelhaften Mathematiknoten von einer Klassenwiederholung profitieren?

Diese Fragen bleiben in der vorliegenden Forschungsliteratur für Deutschland weitgehend unbeantwortet. Empirische Befunde hierzu sind jedoch bedeutsam, um die Effektivität von Klassenwiederholungen abschätzen zu können. Diesen Fragen nachzugehen ermöglicht die an PISA 2003 angekoppelte Studie PISA-I-Plus (Prenzel et al. 2006a). PISA-I-Plus beschreibt die Entwicklung mathematischer Kompetenz am Ende der Sekundarstufe.I in Deutschland. Dazu wurde eine repräsentative Stichprobe zweimal im Verlauf eines Schuljahres getestet: am Ende der neunten Jahrgangsstufe und am Ende der zehnten Jahrgangsstufe. Neben den Schülerinnen und Schülern, die nach der neunten Klassenstufe regulär versetzt wurden und danach die zehnte Klassenstufe besucht haben, umfasst die Stichprobe 360 Schülerinnen und Schüler, die die neunte Klassenstufe wiederholt haben. Diese Teilstichprobe der an PISA-I-Plus beteiligten Schülerinnen und Schüler steht im Blickpunkt der nachfolgenden Analysen. Sie bietet die Gelegenheit, Klassenwiederholer und die weiterversetzten Schülerinnen und Schüler anhand eines objektiven Kriteriums, dem PISA-Test, zu vergleichen.

Nach einer kurzen Darstellung des Forschungsstandes zu Klassenwiederholungen und einer Kurzbeschreibung der PISA-I-Plus-Studie wird zunächst die Verteilung der Klassenwiederholer auf die Schularten beschrieben und bezüglich relevanter Leistungs- und Herkunftsmerkmale charakterisiert. Vor diesem Hintergrund wird die Frage gestellt, wie viel Klassenwiederholer in unterschiedlichen Schularten im Verlaufe eines Schuljahres in Mathematik dazulernen. Schließlich wird der Kompetenzzuwachs in Mathematik von Klassenwiederholern untersucht und differenziert nach Schularten und Schulnoten betrachtet. In der abschließenden Diskussion werden ein Fazit gezogen und Implikationen für den Umgang mit Klassenwiederholungen diskutiert.

2. Forschungsergebnisse zu Klassenwiederholungen

2.1 Klassenwiederholungen in Deutschland und im internationalen Vergleich

In Deutschland wiederholten im Jahr 2004/05 nach Angaben des Bildungsberichts 2006 (vgl. Avenarius et al. 2006, S. 54) durchschnittlich 2.8 Prozent der gesamten Schülerinnen und Schüler vom Primar- bis zum Sekundarbereich.II eine Klassenstufe. Dabei ist die Quote der Klassenwiederholungen in der Mehrzahl der Bundes Länder in für den Primarbereich am geringsten (0.9 bis 2.4 Prozent). Im Sekundarbereich.I steigt diese bis 6.Prozent an und sinkt im Sekundarbereich.II wieder auf unter 4.Prozent (Ausnahmen bilden das Saarland, Berlin und Bremen, wo die Quoten höher bleiben). Hohe Quoten finden sich vor allem in den Jahrgangsstufen 7 bis 9. Die Befunde aus PISA 2000 (Baumert/Schümer 2001; OECD 2001) und PISA 2003 (Drechsel/Senkbeil 2004; Prenzel et al. 2005) verweisen auf das Problem, dass ein erheblicher Anteil der Schülerinnen und Schüler aufgrund von Späteinschulung und/oder Klassenwiederholung die Schullaufbahn mit deutlicher Verzögerung beendet. Der weitaus größte Teil des Zeitverlustes ist dabei auf Klassenwiederholungen zurückzuführen.

Der internationale Vergleich zeigt, dass nicht alle Bildungssysteme Klassenwiederholung als pädagogisches Mittel zulassen. Eine Reihe von Staaten kommt ohne diese Maßnahme aus. Andere Staaten kennen zwar das Wiederholen einer Jahrgangsstufe, es wird aber nur selten und unter ganz bestimmten Voraussetzungen davon Gebrauch gemacht. In Finnland beispielsweise werden Klassenwiederholungen bis zur 9. Klassenstufe in der Regel vermieden. Eine Klassenwiederholung wird nur in Betracht gezogen, wenn die Kenntnisse in einem Fach oder mehreren Fächern unzureichend sind oder wenn eine Wiederholung angesichts geringer Lernfortschritte bei den betroffenen Schülerinnen und Schülern angemessen erscheint (Eurydice 2005). Zuvor müssen die betroffenen Jugendlichen jedoch Gelegenheit gehabt haben, den geforderten Leistungsstand – z..B. im Rahmen von schulischen Unterstützungsmaßnahmen – nachzuarbeiten. Die Versetzungspraxis unterscheidet sich nicht nur in Abhängigkeit von Staat oder dem Land; innerhalb Deutschlands spielen auch die Schulstufe (Primar- vs. Sekundarstufe), die Schulart und die Schule selbst eine Rolle.

2.2 Bedingungsfaktoren von Klassenwiederholungen

Bless, Schüpbach und Bonvin (2004) beschreiben relevante Bedingungsfaktoren, die bei Entscheidungsprozessen für oder gegen Klassenwiederholungen eine Rolle spielen. Jungen und Mädchen sind unterschiedlich häufig von Klassenwiederholungen betroffen. Die Wahrscheinlichkeit, einmal oder mehrfach eine Klassenstufe zu wiederholen, ist bei Jungen in allen Jahrgangsstufen durchwegs höher. Besonders auffällig sind die Unterschiede in den Wiederholeranteilen zwischen den Geschlechtern in den Klassenstufen 7, 9 und 11 (vgl. Avenarius et al. 2006, S. 55). Überdurchschnittliche Wiederholungsquoten finden sich auch bei Kindern mit Migrationshintergrund. In der internationalen Forschungsliteratur werden als Risikofaktoren für Klassenwiederholungen vor allem niedrige Schulleistungen (vgl. z. B. Cadigan et al. 1988; Alexander/Entwisle/Dauber 1994) und geringe Intelligenz (Safer 1986) identifiziert. Weitere prädiktive Merkmale sind ein niedriger sozioökonomischer Status und die soziokulturelle Herkunft (Alexander/Entwisle/Dauber 1994; Walters/Borgers 1995; Hauser 1999; Ferguson/Jimerson/Dalton 2001; Hauser/Pager/Simmons 2001; Krohne/Meier/Tillmann 2004). Studien mit Lehrkräften zeigen außerdem, dass diese häufig von der Wirksamkeit von Klassenwiederholungen überzeugt sind (z. B. Tomchin/Impara 1992; Paul 1996). Bless, Schüpbach und Bonvin (2004, S. 126) konnten außerdem belegen, dass „die Entscheidung für eine Klassenwiederholung nicht vordergründig mit den tatsächlich gezeigten Schulleistungen zu tun hat, sondern vor allem durch die Einstellungen und Einschätzungen der Lehrpersonen determiniert wird„. Dies ist insofern bedeutsam, da diese Faktoren nicht von den Schülerinnen und Schülern selbst beeinflusst werden können.

2.3 Effekte der Klassenwiederholung auf die Lernentwicklung

In Längschnittsstudien zu Effekten von Klassenwiederholungen auf die schulischen Leistungen werden zwei methodische Vorgehensweisen bei der Wahl von Vergleichsgruppen unterschieden. Vergleichsgruppen zu den Klassenwiederholern können entweder in der gleichen Klassenstufe (same-grade) oder in der gleichen Altersstufe (same-age) gebildet werden. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Vergleichsarten ist für die Analyse und Interpretation der Effekte von Klassenwiederholungen wichtig, da beide Methoden unterschiedliche Verzerrungen aufweisen. Bei einem same-grade-Vergleich werden Schülerinnen und Schüler der gleichen Klassenstufe miteinander vergelichen, die aber in der Regel nicht gleich alt sind. Dieser Vergleich hat den Nachteil, dass eine Verzerrung in Richtung der Klassenwiederholer entsteht, weil diese den Schulstoff bereits zweimal gelernt haben und ein Jahr älter sind als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler in der Klasse (Jimerson et al. 2001). Bei einem same-age-Vergleich werden Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Klassenstufen, aber gleichen Alters einander gegenübergestellt (Karweit 1999). Auch dieser Vergleich weist Nachteile auf, weil diejenigen Kinder bevorzugt werden, die in die höhere Klassenstufe versetzt wurden und im Vergleich zu den Klassenwiederholern neuen Unterrichtsstoff dazugelernt haben.

In einer Meta-Analyse berechnete Holmes (1990) durchschnittliche Effektgrößen aus 47 Studien, die die schulischen Leistungen von Klassenwiederholern und Nichtwiederholern sowohl im same-age- als auch im same-grade-Vergleich untersuchten. Beim same-age-Vergleich zeigten sich für die Schülerinnen und Schüler bessere Schulleistungen, die keine Klassenstufe wiederholt haben. Die nach Studienzahl gewichteten Effektstärken (ES) lagen für die Klassenwiederholer im ersten Jahr bei ES.=.-0.45, nach zwei Jahren bei ES.=.-0.51, nach drei Jahren bei ES.=.-0.67 und nach mehr als drei Jahren bei ES.=.-0.83. Bei same-grade-Vergleichen hingegen zeigten die Klassenwiederholer bessere schulische Leistungen als die Referenzgruppe. Die gewichteten Effektstärken lagen hier für die Klassenwiederholer im ersten Jahr bei ES.=.+0.25, nach zwei Jahren bei ES.=.+0.19, nach drei Jahren bei ES.=.+0.09 und nach mehr als drei Jahren bei ES.=.0.00. Ein Leistungsvorteil der Klassenwiederholer ist demnach spätestens nach drei Schuljahren nicht mehr festzustellen.

Die Befunde aus neueren Forschungsarbeiten bestätigen diese Ergebnisse (z..B. Mantzicopoulus 1997; Hauser 1999; McCoy/Reynolds 1999; Jimerson 2001; Bless/Schüpbach/Bonvin 2004; Silberglitt et al. 2006). Positive Effekte durch Klassenwiederholen zeigen sich speziell bei same-grade-Vergleichen (Pierson/Connell 1992; Alexander/Entwisle/Dauber 1994; Karweit 1999; Bless/Schüpbach/Bonvin 2004). Die Klassenwiederholer profitieren dabei insbesondere im ersten Jahr. Ihre Leistungen fallen aber im Verlaufe der Zeit wieder ab und in den meisten Studien sind nach drei Jahren die Effekte der Klassenwiederholung nicht mehr nachweisbar. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Längsschnittstudie von Hong und Raudenbush (2005), die sich auf eine für die USA repräsentative Stichprobe bezieht, in die etwa 1.500 Grundschulen einbezogen wurden. Kinder, die eine Klassenstufe wiederholt haben, werden mit Kindern auf dem gleichen Leistungsniveau aus anderen Schulen verglichen, die dort versetzt wurden. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass der Lernzuwachs in Lesen und Mathematik bei den versetzten „Schwachen“ deutlich höher ist als bei den sitzengebliebenen Kindern (Hong/Raudenbush 2005, S..218 f.).

3. Forschungsfragen

In dieser Studie soll anhand der Daten aus der Studie PISA-I-Plus fünf Forschungsfragen nachgegangen werden:

(1) Wie hoch sind die Anteile von Klassenwiederholern in der neunten Klassenstufe in den unterschiedlichen Schularten in Deutschland?

Die unterschiedlichen pädagogischen Traditionen in den Schularten in Deutschland legen nahe zu vermuten, dass mit Klassenwiederholungen in den Schulformen unterschiedlich umgegangen wird. Daher kann angenommen werden, dass sich insbesondere in den Schularten, die eine höhere schulinterne Differenzierung gewährleisten, niedrigere Anteile von Klassenwiederholern zeigen.

(2) Wie unterscheiden sich Klassenwiederholer von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in Leistungs- und Herkunftsmerkmalen?

Die zweite Analyse betrachtet Merkmale, die in der Forschungsliteratur als prädiktiv für Klassenwiederholungen angesehen werden. Für die Stichprobe der Klassenwiederholer und für die Stichprobe der regulär versetzten Jugendlichen wird festgestellt, wie die in der Literatur beschriebenen Merkmale verteilt sind und ob sich hinsichtlich dieser Faktoren noch am Ende der Sekundarstufe.I bedeutsame Unterschiede zeigen: Sind Klassenwiederholer eher männlich oder weiblich, wie sind ihre Schulnoten in den Fächern Deutsch und Mathematik, wie hoch sind ihre kognitiven Grundfähigkeiten und ihre mathematische Kompetenz in PISA und gibt es Unterschiede im sozialen und kulturellen Hintergrund?

(3) Wie viel lernen Klassenwiederholer im Verlaufe eines Schuljahres in Mathematik dazu?

Die dritte Forschungsfrage analysiert die Bedeutung der Klassenwiederholung für den Zuwachs in der mathematischen Kompetenz, gemessen mit dem PISA-Test. Neben dem Unterschied im mathematischen Kompetenzniveau in der neunten Klassenstufe, der zwischen Sitzenbleibern und Nichtsitzenbleibern zu erwarten ist, soll untersucht werden, wie viel Klassenwiederholer im Verlaufe eines Schuljahres in Mathematik tatsächlich dazulernen und wie groß dieser Lerneffekt im Vergleich zu den regulär versetzten Schülerinnen und Schülern ist.

(4) Wie viel lernen Klassenwiederholer aus unterschiedlichen Schularten im Verlaufe eines Schuljahres in Mathematik dazu?

Geprüft wird, ob sich zwischen den Schularten differentielle Effekte hinsichtlich des Kompetenzzuwachses bei den Klassenwiederholern zeigen. Bislang liegen für Deutschland in dieser Klassenstufe noch keine empirischen Befunde vor. Da allerdings in keiner der Schularten die Wiederholung einer Klassenstufe mit einer systematischen Förderung der Schülerinnen und Schüler einhergeht, werden diesbezüglich nur geringe Effekte erwartet.

(5) Inwieweit profitieren Sitzenbleiber mit mangelhaften Schulnoten in Mathematik von einer Klassenwiederholung?

Mit der pädagogischen Maßnahme „Klassenwiederholung“ ist die Annahme verbunden, dass eine verlängerte Lernzeit die Defizite der Schülerinnen und Schüler in den Schulfächern ausgleichen kann, in denen mangelhafte Schulleistungen festgestellt wurden. Um diese Annahme zu prüfen, soll analysiert werden, wie sich die Mathematikkompetenzen von Schülerinnen und Schülern, die mangelhafte Leistungen in Mathematik aufweisen, im Vergleich zu denen entwickeln, die wegen anderer Fächer wiederholen.

4. Methode

Stichprobe.Die Studie PISA-I-Plus umfasst eine repräsentative Längschnittsstichprobe von Neunt- und Zehntklässlern in Deutschland (Prenzel et al. 2006b). zum ersten Messzeitpunkt wurden N = 8.559 Neuntklässler getestet. zum zweiten Messzeitpunkt nahmen N = 7.023 Schülerinnen und Schüler teil, davon 360 Klassenwiederholer, die die neunte Klassenstufe ein zweites Mal durchlaufen haben. Jugendliche, die am Ende der 9. Klassenstufe in andere Schularten querversetzt wurden, sind in dieser Stichprobe nicht enthalten. Die Längschnittsstichprobe in PISA-I-Plus fällt systembedingt zum zweiten Messzeitpunkt geringer aus, da an vielen Hauptschulen keine zehnte Klassenstufe vorgesehen ist und die Jugendlichen somit nicht erneut getestet werden konnten. Entsprechend sind auch die Klassenwiederholer an Hauptschulen ohne 10. Klassenstufe nicht in der Stichprobe enthalten.

Variablen.Um die mathematische Kompetenzentwicklung der Klassenwiederholer zu beschreiben, wurde der Grundbildungstest in Mathematik aus PISA-I-Plus verwendet (Carstensen 2006). Der Test bestand beim ersten Messzeitpunkt aus 77, beim zweiten Messzeitpunkt aus 98 Aufgaben. Inhaltlich beziehen sich die Aufgaben auf die Erfassung von mathematischer Grundbildung mit einem Schwerpunkt auf rechnerischen und begrifflichen Modellierungsaufgaben (Ehmke et al. 2006). Die Kompetenzwerte in Mathematik wurden in PISA-I-Plus analog zum internationalen Vorgehen mit Methoden der Item-Response-Theorie skaliert (OECD 2005). Die Kompetenzwerte liegen in der Metrik der internationalen PISA-Mathematikskala vor, die einen Mittelwert von 500 Punkten und eine Standardabweichung von 100 Punkten im OECD-Durchschnitt aufweist.

Angaben zu Geschlecht, Migrationshintergrund und sozialer Herkunft wurden in PISA-I-Plus anhand von Schüler- und Elternfragebögen erhoben. Diese sind ausführlich in der Dokumentation der Erhebungsinstrumente von PISA 2003 (Ramm et al. 2006) beschrieben. Alle Angaben zu den Schulnoten der Schülerinnen und Schüler stammen aus den schulinternen Unterlagen.

Umgang mit fehlenden Werten.In empirischen Studien und Vergleichsuntersuchungen wie PISA stellen fehlende Werte ein systematisches Problem dar. So fehlen häufiger Angaben zur sozialen Herkunft bei Jugendlichen mit geringen Leistungen als bei Schülerinnen und Schülern mit höheren Kompetenzen. Dies kann zu einer eingeschränkten Validität der Befunde führen. Um diese Problematik zu vermeiden, wurden für die Indikatoren der sozialen Herkunft nachträglich fehlende Werte mit der Software Norm 2.03 (Schafer 2000; Schafer/Graham 2002) nach dem Multiple-Imputation-Ansatz geschätzt. Bei diesem Verfahren werden die fehlenden Werte durch ein Maximum-Likelihood-Verfahren geschätzt, das die korrelativen Beziehungen zwischen (Hilfs-)Variablen (unter anderem Indikatoren der sozialen Herkunft) in ein Hintergrundmodell einbezieht. Dadurch werden die „Imputationen“ genauer, als wenn man die fehlenden Werte durch den Mittelwert der beobachten Daten ersetzen würde (vgl. auch Carstensen et al. 2007; Lüdtke et al. 2007).

5. Ergebnisse

(1) Wie hoch sind die Anteile von Klassenwiederholern in den unterschiedlichen Schularten?

Mit der ersten Forschungsfrage sollte untersucht werden, wie hoch die Quote von Klassenwiederholern in der neunten Klassenstufe in Deutschland ist und ob sich Unterschiede zwischen den Schularten zeigen. Die Tabelle 1 zeigt die absoluten Anzahlen und prozentualen Anteile von Klassenwiederholern insgesamt und in den verschiedenen Schularten in Deutschland.

1 : Anzahl und Anteile von Klassenwiederholern nach Schularten

In der repräsentativen Stichprobe von PISA-I-Plus haben insgesamt 360 Jugendliche die neunte Klassenstufe wiederholt. Dies entspricht einer Quote von 5.1 Prozent und liegt in gleicher Höhe mit der Klassenwiederholerquote, die im nationalen Bildungsbericht veröffentlicht wurde (vgl. Avenarius et al. 2006, S. 242: Klassenwiederholerquote 9..Jahrgangsstufe 2004/05 beträgt 5.1.Prozent). Die Differenzierung nach Schularten zeigt, dass sich die Quoten zwischen den Schularten unterscheiden. Höchste Klassenwiederholeranteile finden sich in den Hauptschulen (9.1 Prozent) und in den Realschulen (6.3 Prozent). Die geringsten Anteile von Klassenwiederholern gibt es in den Integrierten Gesamtschulen (3.7 Prozent) und in den Gymnasien (3.9 Prozent).

(2) Wie unterscheiden sich Klassenwiederholer von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in Leistungs- und Herkunftsmerkmalen?

Wie eingangs dargelegt konnten in einigen Forschungsarbeiten verschiedene Risikofaktoren für Klassenwiederholungen identifiziert werden. Demnach sind vor allem niedrige Schulleistungen, geringe Intelligenz, ein niedriger sozioökonomischer Status, die ethnische Herkunft sowie das Geschlecht prädiktiv. Viele dieser Forschungsarbeiten beziehen sich dabei aber auf Stichproben aus den unteren Klassenstufen (vgl. etwa Bless/Schüpbach/Bonvin 2004). Inwieweit diese Risikofaktoren auch am Ende der Sekundarstufe.I in der neunten Klassenstufe für die Klassenwiederholer charakteristisch sind, soll in der folgenden Analyse untersucht werden. Die Tabelle 2 vergleicht die Kennwerte von Leistungs- und Herkunftsmerkmalen der Klassenwiederholer mit denen der regulär versetzten Jugendlichen.

2 : Kennwerte von Leistungs- und Herkunftsmerkmalen bei den Klassenwiederholern und den regulär versetzten Jugendlichen

Am stärksten grenzen sich die Klassenwiederholer durch schlechtere Schulnoten von den regulär versetzten Schülerinnen und Schülern ab. Die Effektstärken liegen hier für Deutsch bei d.=.-1.02 und für Mathematik bei d.=.-1.14. Nach den Schulnoten ist die fachliche Kompetenz in Mathematik der nächststärkste Prädiktor. Hier fallen die Gruppenunterschiede allerdings mit einer Effektstärke von d.=.0.51 nur noch halb so hoch aus wie für die Schulnoten. Ausgeprägte Defizite in der mathematischen Kompetenz am Ende der Sekundarstufe.I allein sind noch kein ausschlaggebendes Kriterium für eine Klassenwiederholung. Besonderes Augenmerk erhalten in PISA die Schülerinnen und Schüler, die ein mathematisches Kompetenzniveau unterhalb von 420 Punkten auf der PISA-Mathematikskala aufweisen, deren Kompetenz also auf oder unter der Kompetenzstufe I liegt. Im Hinblick auf ihre weitere schulische und berufliche Laufbahn werden diesen Jugendlichen erhebliche Probleme prognostiziert. Mit 19.Prozent fällt der Anteil dieser Jugendlichen unter den Klassenwiederholern höher aus als bei den versetzten Schülerinnen und Schülern (11.Prozent). Hinsichtlich der kognitiven Grundfähigkeiten beträgt der Gruppenunterschied ein Drittel einer Standardabweichung (d.=.0.32). Die Bedeutung der beiden Indikatoren fällt damit geringer aus, als der Forschungsstand es erwarten ließe.

Deutlich kleiner fallen die Effektstärken der Gruppenunterschiede bei den Merkmalen der sozialen Herkunft aus (Effektstärken: 0.12 ≤ d ≤ 0.20). Auch die prozentualen Anteile von Jungen (52.gegenüber.46.Prozent) und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (16.gegenüber.13.Prozent) sind unter den Klassenwiederholern nur leicht höher als bei den regulär versetzten Jugendlichen.

Inwieweit bleiben diese Befunde auch innerhalb der Schularten bestehen? Vergleichbare Gruppenunterschiede zwischen Klassenwiederholern und versetzten Jugendlichen innerhalb der Schularten zeigen sich hinsichtlich der Schulnoten, der kognitiven Fähigkeiten und der sozialen Lage (ohne Tabelle). Innerhalb der Schularten kommt dem Geschlecht und dem Migrationshintergrund der Schülerinnen und Schüler aber eine höhere Bedeutung zu. Sowohl Jungen als auch Jugendliche, die einen Migrationshintergrund aufweisen, zählen prozentual häufiger zu den Klassenwiederholern als Mädchen bzw. Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Auch die Anteile der Jugendlichen auf oder unter Kompetenzstufe I in Mathematik verteilen sich je nach Schularten unterschiedlich. Der Anteil von Schülerinnen und Schülern, die zu dieser Gruppe zählen und die neunte Klassenstufe wiederholt haben, beträgt in den Schulen mit mehreren Bildungsgängen 31 Prozent (vs. 11.Prozent bei den regulär versetzten Jugendlichen), in den Realschulen 11 Prozent (vs. 5 Prozent), in den Integrierten Gesamtschulen 74.Prozent (vs. 27 Prozent) und im Gymnasium 11.Prozent (vs. 0 Prozent). Lediglich in den Hauptschulen ist das Verhältnis ausgewogener, liegt dafür aber auf einem sehr hohen Niveau: 59.Prozent befinden sich auf und unter Kompetenzstufe I in Mathematik bei den Klassenwiederholern gegenüber 52.Prozent bei den regulär versetzten Schülerinnen und Schülern.

(3) Wie viel lernen Klassenwiederholer im Verlaufe eines Schuljahres in Mathematik dazu?

Mit der dritten Forschungsfrage soll analysiert werden, inwieweit sich Klassenwiederholer in ihrer mathematischen Kompetenz durch die Wiederholung der neunten Klassenstufe verbessern können.

Für die Mehrheit der Klassenwiederholer kann ein Kompetenzzuwachs in Mathematik festgestellt werden. Im Durchschnitt beträgt dieser bei den Klassenwiederholern 23.Kompetenzpunkte. Dies entspricht einer Effektstärke von d.=.0.27. Vergleicht man diesen Wert mit dem mittleren Kompetenzzuwachs der Schülerinnen und Schüler, die regulär von der neunten in die zehnte Klassenstufe gewechselt sind und keine Hauptschule besuchen, so ergeben sich keine statistisch bedeutsamen Unterschiede. Bei den regulär versetzten Schülerinnen und Schülern liegt der mittlere Kompetenzzuwachs mit 25 Punkten (d.=.0.33) nur geringfügig höher (Ehmke et al. 2006, S. 73). Im Durchschnitt können sich die Klassenwiederholer also in gleicher Höhe wie die normal versetzten Schülerinnen und Schüler in ihrer mathematischen Kompetenz verbessern.Footnote 1

Wie hoch sind aber die Anteile von Schülerinnen und Schülern, die sich nicht nennenswert in ihrer mathematischen Kompetenz verbessern konnten? Wie hoch ist der Prozentsatz von Jugendlichen, die besonders deutlich profitieren konnten? Um diese Fragen zu beantworten, wurden die Punktwerte der Klassenwiederholer nach der Höhe ihres Kompetenzzuwachses Intervallen zugeordnet. Die Breite der Intervalle beträgt 25.Kompetenzpunkte. Dies entspricht dem mittleren Zuwachs im Verlaufe eines Schuljahres am Ende der Sekundarstufe.I. Die Abbildung.1 zeigt die prozentualen Anteile der Klassenwiederholer in den Intervallen.

Abbildung 1
figure 1

Verteilung der Klassenwiederholer nach der Höhe des Kompetenzzuwachses in Mathematik

Die Verteilung der Klassenwiederholer nach der Höhe des Kompetenzzuwachses zeigt, dass sich 30.Prozent der Klassenwiederholer um 12.5 bis 37.5 Punkte verbessern können. Sie lernen also im Verlaufe eines Schuljahres soviel an mathematischer Kompetenz dazu wie ein durchschnittlicher Jugendlicher, der regulär in die zehnte Klassenstufe versetzt worden ist. Bei 32.Prozent der Klassenwiederholer fällt der Kompetenzzuwachs höher aus (>.37.5.Punkte). Hingegen lässt sich bei den verbleibenden 38.Prozent der Schülerinnen und Schüler nach der Klassenwiederholung keine bedeutsame Verbesserung in der mathematischen Kompetenz feststellen. Bei etwa 14.Prozent konnte sogar eine Abnahme in der mathematischen Kompetenz festgestellt werden.

(4) Wie viel lernen Klassenwiederholer aus unterschiedlichen Schularten im Verlaufe eines Schuljahres in Mathematik dazu?

Mit der vierten Forschungsfrage sollte geprüft werden, ob und inwieweit sich die Kompetenzzuwächse in der Stichprobe der Klassenwiederholer auch innerhalb der Schularten widerspiegeln oder ob es differentielle Unterschiede zwischen den Schularten gibt. Vor dem Hintergrund, dass in keiner der Schularten das Wiederholen einer Klassenstufe mit einer speziellen Förderung verbunden ist, sind keine spezifischen Unterschiede zu erwarten. Das mathematische Kompetenzniveau vor und nach der Wiederholung der neunten Klassenstufe sowie der daraus resultierende Kompetenzzuwachs sind in Tabelle.3 differenziert nach Schularten dargestellt.

Tabelle 3 : Mathematische Kompetenz der Klassenwiederholer vor und nach der Wiederholung, differenziert nach Schularten

Entgegen der obigen Vermutung zeigen sich deutliche Unterschiede in den schulartspezifischen Zuwächsen der mathematischen Kompetenz. In den Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien liegt der durchschnittliche Kompetenzzuwachs zwischen 25 und 29 Punkten (Effektstärken: 0.41.≤.d.≤.0.48). Hingegen konnten sich die Klassenwiederholer aus den Integrierten Gesamtschulen und den Schulen mit mehreren Bildungsgängen in ihrer mathematischen Kompetenz im Durchschnitt nicht verbessern. Ein entsprechendes Ergebnismuster für die unterschiedlichen Schularten zeigt sich auch, wenn man die Verteilung der Klassenwiederholer nach der Höhe des Kompetenzzuwachses in Mathematik analysiert (Tabelle.4).

Tabelle 4 : Prozentuale Verteilung der Klassenwiederholer nach der Höhe des Kompetenzzuwachses in Mathematik innerhalb der Schularten

Die Ergebnisse belegen, dass es vor allem in den Schulen mit mehreren Bildungsgängen und in den Integrierten Gesamtschulen hohe Anteile von Klassenwiederholern gibt, die ihre mathematische Kompetenz nicht nennenswert verbessern konnten bzw. zum zweiten Messzeitpunkt geringere Leistungen erzielten (Schulen mit mehreren Bildungsgängen: 69.Prozent, Integrierte Gesamtschulen: 59.Prozent). In den anderen Schularten fallen diese Anteile geringer aus (Hauptschulen: 30.Prozent, Realschulen: 33.Prozent, Gymnasien: 36.Prozent).

(5) Inwieweit profitieren Klassenwiederholer mit mangelhaften Schulnoten in Mathematik von der Wiederholung?

Mit einer Klassenwiederholung ist die Annahme verbunden, dass die betroffenen Schülerinnen und Schüler von der zusätzlichen Lernzeit in ihrer schulischen Entwicklung profitieren. So solten Kinder und Jugendliche nach der Klassenwiederholung die zuvor verfehlten Klassenziele erreichen. Insbesondere sollten Leistungsdefizite in denjenigen Fächern abgebaut worden sein, in denen die Schülerinnen und Schüler mangelhafte Schulnoten gehabt haben. Empirisch ist bislang weitgehend ungeklärt, inwieweit sich Schülerinnen und Schüler vor allem in den „betroffenen“ Schulfächern verbessern können. Um die Effektivität der pädagogischen Maßnahme Klassenwiederholung einschätzen zu können, sind hierfür empirische Kennwerte erforderlich. Mit der fünften Forschungsfrage sollte daher geprüft werden, inwieweit sich Klassenwiederholer mit mangelhaften Schulnoten in Mathematik in ihrer mathematischen Kompetenz verbessern können.

In der Tabelle.5 ist die Stichprobe der Klassenwiederholer nach der Schulnote in Mathematik in zwei Gruppen unterteilt (Mathematiknote bis 4,Mathematiknote 5 oder 6). Die Ergebnisse sprechen gegen die zuvor formulierte Wirkrichtung: Schülerinnen und Schüler, die wegen nicht mehr ausreichenden Schulnoten in Mathematik die neunte Klassenstufe wiederholt haben, lernen nicht mehr in Mathematik dazu als Jugendliche, deren Mathematiknote noch als ausreichend bewertet wurde. Während der mittlere Kompetenzzuwachs in Mathematik bei Jugendlichen mit einer besseren Mathematiknote 25.Punkte (d.=.0.30) beträgt, können sich die Schülerinnen und Schüler mit ungenügenden Mathematiknoten nur um 19.Punkte (d.=0.23) steigern. Der Unterschied der Kompetenzzuwächse zwischen diesen beiden Gruppen ist jedoch nicht gegen den Zufall abzusichern.

5 : Mathematische Kompetenz der Klassenwiederholer vor und nach der Wiederholung differenziert nach Schulnoten

Auch die Analyse der prozentualen Verteilung der Klassenwiederholer hintersichtlich der Höhe des Kompetenzzuwachses in Mathematik spricht gegen die Annahme, dass vor allem die Schülerinnen und Schüler mit mangelhaften Mathematiknoten von der Klassenwiederholung profitieren. Wie die Abbildung.2 zeigt, weisen die Klassenwiederholer mit einer ungenügenden Mathematiknote häufiger eine Kompetenzabnahme auf oder können sich in ihrer mathematischen Kompetenz nicht wesentlich verbessern. Hingegen sind die Schülerinnen und Schüler mit den besseren Mathematiknoten in den zuwachsstarken Intervallen häufiger vertreten. Kumuliert man die Prozentanteile der unteren drei Intervalle, so sind es 43.Prozent der Schülerinnen und Schüler, die wegen Mathematik die Klassenstufe wiederholen und die keinen nennenswerten Leistungszuwachs in Mathematik aufweisen. Bei den Jugendlichen, die wegen eines anderen Faches als Mathematik die Klassenstufe erneut durchlaufen haben, sind es hingegen 35.Prozent.

Abbildung 2
figure 2

: Verteilung der Klassenwiederholer nach der Höhe des Kompetenzzuwachses in Mathematik, differenziert nach Mathematiknoten

Eine zusätzliche Differenzierung dieser Analyse nach Schularten zeigt, dass sich diese Ergebnismuster auch innerhalb der Schularten wiederfinden lässt. Da die Gruppengrößen hier allerdings sehr klein sind, sind die Befunde nur noch der Tendenz nach zu interpretieren. Auf eine tabellarische Darstellung wird daher verzichtet. In allen Schularten zeigt sich, dass die Jugendlichen mit den besseren Mathematiknoten auch einen höheren Kompetenzzuwachs in Mathematik aufweisen. Lediglich für die Hauptschule können keine Unterschiede zwischen Klassenwiederholern mit noch ausreichenden und ungenügenden Mathematiknoten festgestellt werden.

6. Zusammenfassung und Diskussion

Die Studie PISA-I-Plus bietet für Deutschland erstmals die Gelegenheit, an einer repräsentativen Stichprobe von Neuntklässlern zu untersuchen, inwieweit sich Klassenwiederholer in ihrer mathematischen Kompetenz verbessern können, welche Unterschiede es dabei in den Schularten gibt und ob speziell Jugendliche mit mangelhaften Mathematiknoten von einer Klassenwiederholung profitieren. Empirische Befunde zu diesen Fragen liegen bislang für Deutschland noch nicht vor. Diese Ergebnisse sind jedoch wichtig, um die Effektivität von Klassenwiederholungen abschätzen zu können.

Die vorliegenden Befunde zeigen erneut, dass es in allen Schularten in der neunten Klassenstufe Sitzenbleiber gibt. Schulartspezifisch zeigen sich allerdings unterschiedliche Quoten von Klassenwiederholern, was auch den offiziellen statistischen Angaben für Deutschland entspricht (vgl. Avenarius et al. 2006, S. 242). In den Integrierten Gesamtschulnen (3.7 Prozent) und den Schulen mit mehreren Bildungsgängen (4.6.Prozent) finden sich anteilig weniger Sitzenbleiber als in den Hauptschulen (9.1 Prozent) und Realschulen (6.3 Prozent). Dies legt die Vermutung nahe, dass aufgrund einer flexibleren Differenzierung innerhalb von Schulen und angesichts der Möglichkeit, bei schulischen Leistungsproblemen schulintern zwischen verschiedenen Bildungsgängen zu wechseln, insgesamt seltener zur Maßnahme Klassenwiederholung gegriffen wird.

An den Hauptschulen fällt die Sitzenbleiberquote am höchsten aus. Die Strategie, Schülerinnen oder Schülern mit mangelhaften Leistungen in einem Wiederholungsjahr die Chance zu geben, ihre Noten im Abschlusszeugnis zu verbessern, ist aus individueller Perspektive nachvollziehbar. Eine vorsichtige Interpretation der Wiederholerquoten an den Hauptschulen ist jedoch angebracht, denn beim zweiten Messzeitpunkt konnten viele Hauptschulen nicht erneut getestet werden, da es nur an wenigen Hauptschulen eine 10. Klassenstufe gibt. Das Land Nordrhein-Westfalen stellt hier eine Ausnahme dar. Hier ist die zehnte Jahrgangsstufe fester Bestandteil der Hauptschule. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass die Sitzenbleiberquote an Hauptschulen ohne zehnte Klassenstufe geringer ausfällt, da bei diesen Schulen die neunte Klassenstufe den Abschlussjahrgang bildet.

In welchen Leistungs- und Herkunftsmerkmalen unterscheiden sich Klassenwiederholer von den regulär versetzten Jugendlichen? Schulische Leistungen, festgemacht an der Schulnote in Deutsch und Mathematik, der mathematischen Kompetenz, gemessen durch den PISA-Test, und kognitiven Grundfähigkeiten haben die höchste Vorhersagekraft für Klassenwiederholungen. Den Schulnoten kommt dabei der größte Stellenwert zu. Dies ist angesichts der Tatsache, dass Schulnoten das formale Kriterium für eine Klassenwiederholung sind, nicht verwunderlich. Der Gruppe der Schülerinnen und Schüler anzugehören, die in PISA auf oder unter der Kompetenzstufe I der Mathematikskala liegen oder die nur geringe kognitive Grundfähigkeiten aufweisen, zeigt sich als weiterer Risikofaktor. Deren Bedeutung ist aber deutlich geringer als die der Schulnoten. Weniger bedeutsam für die Klassenwiederholung als in der Forschungsliteratur berichtet zeigten sich jene Gesamtstichprobe Merkmale der sozialen Herkunft. Ebenso ist der Anteil von Jungen unter den Sitzenbleibern nur unwesentlich größer als bei den weiterversetzten Jugendlichen.

Die Zugehörigkeit zu der Gruppe der Schülerinnen und Schüler, deren Mathematikkompetenz auf oder unter der Kompetenzstufe I liegt, ist dann von größerer Bedeutung, wenn man die Klassenwiederholer schulartspezifisch betrachtet: Die Integrierten Gesamtschulen und die Schulen mit mehreren Bildungsgängen vereinen in der Gruppe der Klassenwiederholer sehr hohe Anteile der Jugendlichen auf niedrigstem Kompetenzniveau. In den Hauptschulen hingegen sind die Anteile beinahe ausgewogen.

Die Analyse des Zuwachses in der mathematischen Kompetenz vor und nach der Klassenwiederholung zeigt: Im Durchschnitt lernten die Klassenwiederholer in vergleichbarem Maße dazu wie ihre versetzten Mitschülerinnen und Mitschüler. Eine differenzierte Betrachtung ergab aber, dass sich ein bedenklich großer Anteil der Sitzenbleiber von fast 40 Prozent nicht in seiner mathematischen Kompetenz verbessert hat oder sogar nach der Klassenwiederholung geringere Kompetenzwerte erzielte.Footnote 2Nach Schularten differenziert sieht man, dass sich die Lernerfolge im Wiederholungsjahr unterschiedlich verteilten: Während Schülerinnen und Schüler an Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen durch eine Klassenwiederholung in nennenswertem Ausmaß profitierten (zwischen 25 und 29 Punkten im Durchschnitt), gelang es an den Integrierten Gesamtschulen und in Schulen mit mehreren Bildungsgängen nicht, die mathematische Kompetenz der Klassenwiederholer im Durchschnitt zu verbessern.

Eine mögliche Erklärung für den geringeren Kompetenzzuwachs der Klassenwiederholer in diesen beiden Schularten könnte etwa in den pädagogischen Traditionen dieser Schulformen liegen. Eine Regelversetzung der Schülerinnen und Schüler bis zur achten Klassenstufe in vielen Gesamtschulen kann dazu führen, dass hohe Anteile von Jugendlichen mit sehr geringer mathematischer Kompetenz bis in die neunte Klassenstufe versetzt werden. Erst in dieser Klassenstufe findet dann eine Wiederholung statt, um den Schulabschluss zu verbessern oder überhaupt zu erhalten. Offenbar können aber gerade die Jugendlichen mit sehr geringen Kompetenzen von einer Klassenwiederholung nicht bedeutsam profitieren.

Wenngleich die Anteile von Klassenwiederholern, die ihre mathematische Kompetenz nicht verbessern können, an Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen kleiner ausfallen, sollte dies kein Anlass zur Beruhigung sein. Schließlich heißt dies nicht, dass diese Jugendlichen den Abstand in der mathematischen Kompetenz gegenüber den Versetzten aufholen können, wie es implizite Erwartungen über das Wiederholen einer Klasse ja voraussehen würden.

Insgesamt ist der Anteil von Schülerinnen und Schülern, die von der pädagogischen Maßnahme „Klassenwiederholung“ nicht profitieren können, in allen Schularten als alarmierend hoch zu bewerten. Dieser Anteil fällt dabei an den Integrierten Gesamtschulen (59.Prozent) und den Schulen mit mehreren Bildungsgängen (69.Prozent) besonders deutlich aus. Eine Erklärung lässt sich möglicherweise darin finden, dass es sich bei den Klassenwiederholern an diesen Schularten um eine sehr selektierte Gruppe handelt, die nicht (mehr) von einer höheren Binnendifferenzierung profitieren konnte. Für diese Interpretation sprechen auch die niedrigeren Klassenwiederholungsquoten an diesen Schularten.

Die vorliegenden Daten gestatten außerdem eine nach Schulnoten differenzierte Analyse des Kompetenzzuwachses in Mathematik vorzunehmen. Fokussiert man bei der Betrachtung der Sitzenbleiber diejenigen Jugendlichen, die die Klassenstufe wegen mangelhafter Schulnoten in Mathematik wiederholen, zeigen sich weitere ernüchternde Befunde, die auch aus dieser Perspektive die Effektivität von Klassenwiederholungen am Ende der Sekundarstufe I in Frage stellen: Schülerinnen und Schüler, die die neunte Klassenstufe wegen schlechter Mathematiknoten wiederholt haben, lernen nicht mehr in Mathematik dazu als Jugendliche, deren Mathematikleistungen noch mit „ausreichend“ oder besser bewertet wurden. Der Tendenz nach weisen sie sogar geringere Zuwächse auf. Auch können mehr als 40.Prozent dieser Gruppe sich nicht nennenswert in ihrer mathematischen Kompetenz verbessern. Die Annahme, dass durch Klassenwiederholungen besondere Leistungsdefizite in denjenigen Fächern abgebaut werden, in denen die Schülerinnen und Schüler mangelhafte oder ungenügende Schulnoten gehabt haben, kann nicht bestätigt werden.

Welches Fazit ergibt sich nun aus den vorliegenden Befunden? Die Ergebnisse lassen die Effektivität von Klassenwiederholungen am Ende der neunten Klassenstufe als fraglich erscheinen. Aus individueller Perspektive ist die Verlängerung der Schulzeit um ein Schuljahr ohne nennenswerten Lerngewinn als eine Form der Vergeudung von Lebenszeit zu bewerten. Aus bildungspolitischer Perspektive erscheinen die mit Klassenwiederholungen verbundenen Kosten als unrentabel. Besonders bemerkenswert ist, dass gerade die leistungsschwächsten Jugendlichen am wenigsten vom Sitzenbleiben profitieren. Dass Klassenwiederholer von einer höheren Wahrscheinlichkeit des vorzeitigen Verlassens des Schulsystems (Drop-out) betroffen sind, haben bereits andere Studien gezeigt (Roderick 1994; Rumberger 1995) und ist ein weiterer negativer Effekt der Klassenwiederholung.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich aus unserer Sicht zwei Konsequenzen: (1) die Häufigkeit von Klassenwiederholungen ist zu reduzieren und (2) Klassenwiederholungen sind durch zusätzliche Unterstützungen und individuelle Förderung zu begleiten.

Um diese Ziele zu erreichen, sollte ein Mentalitätswechsel in den Schulen und bei den Lehrkräften stattfinden. Eine Ansatzpunkt stellen die Einstellungen von Lehrkräften zu Klassenwiederholungen dar. Wie Bless/Schüpbach/Bonvin (2004) zeigen konnten, hängt die Entscheidung für eine Klassenwiederholung zu einem wesentlichen Teil von den Einschätzungen und Einstellungen der Lehrkraft ab (vgl. auch Cadigan et al. 1988). Die Bemühungen, eine solche vermeintlich pädagogisch wirksame Maßnahme zu einer Ausnahme werden zu lassen, sollte sich also auch an Lehrkräfte richten. Zusätzliche Förderung und Unterstützung von schwachen Schülerinnen und Schülern können aber nur dann erfolgen, wenn an den Schulen und bei den Lehrkräften genügend Kapazitäten bestehen. Dies erfordert auch auf der Ebene des Bildungssystems Anstrengungen, um den Schulen entsprechende Spielräume zu eröffnen. Erste bildungspolitischen Maßnahmen in diese Richtung wurden beispielsweise in Schleswig-Holstein unternommen. Durch zusätzliche Lehrerstunden und andere finanzielle Anreize werden hier die Anstrengungen der Schulen honoriert, die Sitzenbleiberquote insgesamt zu reduzieren.