1. Diskursmuster zum Underachievement der Jungen

Das Schulversagen der Jungen ist zu einer internationalen Thematik geworden, welche die Regierungen vieler westlicher Staaten zunehmend beschäftigt. In besonderem Ausmaß trifft dies für Großbritannien, Australien und Kanada zu, wo das Phänomen unter dem Begriff ‚Underachievement‘ diskutiert und als eines der größten gegenwärtigen Bildungsprobleme bezeichnet wird (vgl. Lingard et al. 2002; Frank et al. 2003). Als Underachiever werden in diesen Ländern in erster Linie Schülerinnen und Schüler bezeichnet, die von der Schule nicht ihren Möglichkeiten entsprechend gefördert oder als Angehörige einer Risikogruppe an der Entwicklung ihres Potenzials gehindert werden. Bemerkenswert ist dabei, dass Underachievement nicht lediglich als ein in der Verantwortung des Individuums liegendes, sondern auch als ein von der Schule mitverantwortetes Problem verstanden wird. Diese Entwicklung wird sowohl in den Medien als auch in der scientific community stark diskutiert, wo in den letzten Jahren vielfältige Forschungsaktivitäten lanciert worden sind (vgl. Epstein et al. 1998; Frank et al. 2003; Connolly 2005). Auch hierzulande ist spätestens seit den PISA-Untersuchungen, die für unsere Länder einen Anteil von 20 Prozent vorwiegend männlicher Jugendlicher mit schlechten Fachleistungen nachgewiesen haben, eine medienwirksame Debatte über die männlichen Schulversager und deren Benachteiligung gegenüber den Mädchen in Gang gekommen. Zwar sind die Diskursmuster in den einzelnen Ländern unterschiedlich, doch lässt sich ein gemeinsamer Nenner herauskristallisieren, der dem folgenden Argumentationsgang entspricht:

„In den letzten zwanzig Jahren hat sich in fast allen westlichen Ländern herausgestellt, dass die Mädchen in der Schule benachteiligt wurden. Aus diesem Grunde wurden viele Strategien und Programme entwickelt, um die Bildungschancen der Mädchen zu verbessern, die Schulen und ihre Curricula mädchenfreundlicher zu gestalten und sicherzustellen, dass Mädchen und Jungen im Klassenzimmer gleich viel Aufmerksamkeit bekommen. Aktuell lassen sich erfreuliche Auswirkungen feststellen: Mädchen wählen anspruchsvollere Ausbildungswege und sind erfolgreicher in der Schule als Jungen. Diese zeigen in den letzten Jahren jedoch kontinuierliche Leistungsverschlechterungen, sodass die Frage aufgeworfen werden muss, wer an dieser Entwicklung Schuld trägt. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, den Jungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.“

Dieses Argumentationsmuster verdient aus zwei Gründen einen Kommentar. Erstens läuft die Debatte Gefahr, dass unter alleiniger Berücksichtigung von Abschlussquoten und Fachleistungen eine Genderproblematik heraufbeschworen wird, die von problematischeren Aspekten ablenkt und die Erkenntnisse der geschlechtsorientierten Schulforschung (vgl. Hannover 2004; Popp 2002; Crotti 2006) ausblendet, die für das Jungenthema wichtige Erkenntnisse bringt. Zweitens erweisen sich solche Argumentationsmuster als heikel, weil sie die auf das Underachievement von Jungen fokussierte Aufmerksamkeit mit der Rückweisung feministischer Konzepte implizieren (vgl. Jones/Myhill 2004). Meine erste These lautet deshalb, dass die öffentliche Debatte fälschlicherweise auf einer Dichotomisierung beruht, die mit ‚früher die Mädchen – jetzt die Jungen‘ umschrieben werden kann. Damit wird eine Gruppenhomogenität innerhalb der Geschlechter postuliert, welche substanziellere Differenzen wie Ethnie oder soziale Herkunft verdeckt. Dieser Gedankengang führt zu meiner zweiten These: Die Diskussion um das Schulversagen der Jungen nimmt milieuspezifische und jugendkulturelle Hintergründe nicht genügend zur Kenntnis, weil sie sich nahezu ausschließlich auf die Schule konzentriert. Ziel dieses Aufsatzes ist es deshalb aufzuzeigen, dass es sich bei Underachievement von Jungen um ein komplexeres als bisher in den Medien dargestelltes Phänomen handelt. Es bedarf der forcierten Berücksichtigung der vielfältigen Forschungsbefunde zur Geschlechterthematik, die eine Gesamtdebatte zu Gender, Ethnie und sozialer Herkunft ermöglicht und das Underachievement der Jungen auf dieser Basis relativiert.

2. Hintergründe und Rhetorik des jungenspezifischen Underachievements

In den angloamerikanischen Ländern wurde die Schule bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren, im deutschsprachigen Raum – mit einiger Verzögerung – in den 1970er- und 1980er-Jahren (vgl. Endres-Dragässer/Fuchs 1989; vgl. auch Grossenbacher 2006) als bedeutsame Quelle der Ungleichheit für das weibliche Geschlecht entdeckt; gleichzeitig jedoch auch als Schlüsselinstitution erkannt, die solche Ungleichheiten abbauen kann. Allerdings wurden bereits damals vereinzelt Stimmen laut, die dasselbe auch für die Jungen postulierten, und zwar speziell in Bezug auf sprachliche Fächer (vgl. Powell 1985; Horstkemper 1987). Solche Hinweise, aber auch die Diskurse innerhalb der Geschlechterforschung, fanden jedoch kaum Resonanz. Den Höhepunkt der öffentlichen Diskussion markierten medienwirksame Bücher wie ‚How schools shortchange girls‘ der American Association of University Women (vgl. 1992) oder ‚Reviving Ophelia‘ von Pipher (vgl. 1994). Im deutschsprachigen Raum beeinflussten Publikationen wie ‚Die Schule ist männlich‘ von Birmily et al. (vgl. 1991) oder ‚Schule im Patriarchat – Schulung fürs Patriarchat?‘ von Brehmer und Biermann (vgl. 1991) die Debatte. In diesen Büchern herrscht das Argumentationsmuster vor, dass Schulumgebungen und Unterrichtsstrukturen die spezifischen Bedürfnisse der Mädchen nicht berücksichtigen, sie deshalb an der Entwicklung ihres Potenzials behindern und ihnen psychischen Schaden zufügen würden. Diese be- oder verhinderte Potenzialentfaltung wurde Ende der 1980er-Jahre besonders aktuell, als die Benachteiligung von Mädchen auf den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich zugespitzt wurde, der als Erklärungsschablone für das niedrige Selbstvertrauen von Mädchen und deren Ausschluss von männlichen Domänen diente (vgl. Beerman/Heller/Menacher 1991; Hannover 2004).

Spätestens seit Ende der 1990er-Jahre gibt es sowohl in den angloamerikanischen Ländern als auch in Australien und Kanada einen Perspektivenwechsel, eine ‚Jungenwende‘. Auslöser dafür war die Tatsache, dass die Jungen seit Mitte der 1990er-Jahre von den Mädchen in den unteren Testrängen in einigen (Australien, Neuseeland, USA) oder in nahezu allen Leistungsbereichen (England) regelmäßig übertroffen werden. In den einzelnen Ländern basiert der Perspektivenwechsel jedoch auf politisch unterschiedlichen Kontexten. Während in Australien die Diskussion um soziale Gerechtigkeit den Fokus auf das Underachievement der Jungen lenkte, wurde das Phänomen in Großbritannien im Zuge der neuen Positionierung der Schule in der freien Marktwirtschaft fraglich: Schlechte Schulleistungen der Jungen hatten für einzelne Schulen den Rückgang der finanziellen Mittel und Ressourcenzuteilung durch den Staat zur Folge. In den USA war der Auslöser der Debatte die Bildungsstandardreform und die damit verbundene Befürchtung, dass das Underachievement der Jungen weiter gefördert werden könnte (vgl. Popham 2004). Neuerdings zeigt sich eine Trendwende: Die Underachievement-Debatte hält zwar unvermindert an und schlägt sich in breiten Forschungsinitiativen nieder (vgl. Bouchard/Boily/Proulx 2003; Frank et al. 2003; Mahoney 2003; Smith 2003; Weaver-Hightower 2003; Titus 2004; Connolly 2005; Francis/Skelton 2005); sie hat sich aber insbesondere in England auf die Jungen als Risikogruppe verschoben (vgl. Trzesniewski et al. 2006). Die wachsende Bedeutung dieses Diskurses kann auch an den Headlines zahlreicher Artikel abgelesen werden, so etwa in der Times Educational Supplement (‚Teachers mark down bad boys‘ [TES 2004a] oder ‚Keep bad boys busy‘ [TES 2004b]).

Auch in unserem Sprachraum zeigen sich die Medien von der Thematik angetan (vgl. Focus 2002; Althaus 2006). Im wissenschaftlichen Diskurs sind die Jungen bislang jedoch weitgehend ausgeblendet geblieben, obwohl es einen breiten Forschungskorpus gibt, der für die Jungenthematik wichtige Ergebnisse liefert (vgl. Kampshoff 2001, 2006; Hannover 2004; Cornelißen 2004; Preuss-Lausitz 2005; King 2005; Rose/Schmauch 2005; Allemann-Ghionda 2006; Budde 2006). Zwar gelten auch hierzulande zunehmend die Jungen als Verlierer und die Mädchen als „Gewinnerinnen der Bildungsexpansion“ (vgl. Klemm/Rolff 2002, S. 22) und es wird gefragt, ob sich die Gesellschaft zu lange nur um die Förderung des weiblichen Nachwuchses gekümmert habe (vgl. Kleff 2002). Doch explizite Bezüge zum Schulversagen der Jungen als Ausdruck von Underachievement sind bislang nur selten – beispielsweise in der ersten PISA-Studie (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001) – hergestellt worden (vgl. Diefenbach/Klein 2002; Cornelißen 2004; Cornelißen/Gille 2005). Möglicherweise wird deshalb der Begriff ‚Underachievement‘ im deutschsprachigen Raum fast ausschließlich im Zusammenhang mit hoch begabten Underachievern gebraucht (vgl. Hanses/Rost 1998; Stamm 2007a).

3. Hinweise auf das Underachievement von Jungen in der Statistik

In Großbritannien, Australien und Kanada werden seit Jahren nationale Leistungstests durchgeführt, die eine Abbildung der Leistungsentwicklung im Längsschnitt erlauben. Ihre Kommentierung erfolgt jedoch fast ausschließlich unter der Perspektive des Gendergaps, weshalb der seit den 1990er-Jahren zu beobachtende Leistungsabfall der Jungen zum Katalysator für eine bildungspolitische Jungenwende geworden ist. Für England beispielsweise weisen die Testbefunde nach, dass bis 1985 auf 100 Mädchen 95 Jungen kamen, die in den staatlichen Leistungsexamen (General Certificate of Secondary Education [GCSE]; Prüfungen zum Erwerb der Hochschulreife) fünf und mehr GCSE A erreichten, während es nach 1985 nur noch 80 Jungen auf 100 Mädchen waren (vgl. Connolly 2005). Seit einigen Jahren ist das Geschlechterverhältnis in den Leistungen jedoch stabil und die Jungen haben sich sogar um einige Punkte verbessert (vgl. Francis/Skelton 2005).

Für Deutschland und die Schweiz lassen sich auf der Basis der PISA-Ergebnisse von 2001 und 2003 keine eindeutigen Schlüsse ziehen, und auch ein vertiefter Blick in die Bildungsstatistiken gibt keine Antwort auf das Ausmaß des Underachievements von Jungen. Während in der Lesekompetenz Differenzen zugunsten der Mädchen und geringere Vorsprünge der Jungen in der mathematischen Grundbildung festgestellt werden konnten, ergaben sich keine Unterschiede in der naturwissenschaftlichen Bildung (vgl. Stanat/Kunter 2003; Bundesamt für Statistik [BFS] und Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren [EDK] 2002). In Mathematik basierte der Leistungsvorsprung der Jungen vor allem auf der Spitzenleistung einer relativ kleinen Gruppe, während die Geschlechterverteilung im mittleren Leistungssegment ausgeglichen und im unteren Segment signifikant stärker zuungunsten der Jungen ausfiel. Insgesamt streuten ihre Leistungen somit weit stärker als diejenigen der Mädchen. Ein Blick in die statistischen Daten der Bildungsforschung fördert ein ebenso gemischtes Bild zutage (vgl. Bundesamt für Statistik 2006; Statistisches Bundesamt 2006). So sind Mädchen in der Volksschule und der Sekundarstufe II erfolgreicher als Jungen, und zwar in dem Sinne, als sie anspruchsvollere Schulformen besuchen und höherwertige Abschlüsse erzielen. Für alle deutschsprachigen Länder gilt, dass Jungen an Gymnasien unterrepräsentiert und an Haupt- und Sonderschulen hingegen überrepräsentiert sind. Laut Statistischem Bundesamt (vgl. 2006) besuchten in Deutschland im Jahr 2003 durchschnittlich 36 Prozent der Mädchen das Gymnasium in der neunten Klasse, aber nur 29 Prozent der Jungen. Etwas mehr Jungen besuchten zum gleichen Zeitpunkt die Hauptschule, nämlich 30,2 Prozent, während der Anteil der Mädchen dort bei 23,4 Prozent lag. Auch bei denjenigen, welche die Hauptschule ohne Abschluss verließen, führten die Jungen die Statistik an: Zwischen 1994 und 2000 zählten 11,3 Prozent der Jungen zu dieser Gruppe, aber nur 6,5 Prozent der Mädchen.

Trotzdem nehmen Frauen nur in sehr eingeschränktem Maße berufliche Spitzenpositionen ein (vgl. Cornelißen 2004). Auch die Bezahlungen von Frauen und Männern weisen im deutschsprachigen Europa immer noch große Unterschiede auf. In der Schweiz beispielsweise verdienten Frauen im Jahr 2003 ca. 80 Prozent des Jahreseinkommens eines Mannes, in Deutschland waren es 75 Prozent, wobei allerdings die Einkommensnachteile zu einem großen Teil auf die (häufigeren) Berufsunterbrechungen bei Frauen (z.B. aufgrund von Schwangerschaften) zurückzuführen sind (vgl. Stutz 2006). Mit Blick auf den Berufsabschluss sind Frauen ebenfalls benachteiligt, obwohl sie in höheren Bildungsgängen übervertreten sind. Von den unter 20-jährigen Frauen verfügen in den deutschsprachigen Ländern zwischen 12 und 18 Prozent über keinen allgemeinbildenden Abschluss, während es bei den jungen Männern lediglich zwischen 5 und 9 Prozent sind. Junge Frauen sind auch stärker von Jugendarbeitslosigkeit betroffen. Von den 15- bis 24-jährigen sind in Deutschland durchschnittlich 15 Prozent, in der Schweiz 4,6 Prozent und in Österreich 9,8 Prozent arbeitslos (vgl. EUROSTAT 2004). In allen drei Ländern liegt die Arbeitslosenquote der Frauen um ein gutes Drittel höher (vgl. Bundesinstitut für Berufsbildung 2006).

Das männliche Geschlecht ist jedoch auch spezifisch benachteiligt. Dies zeigt sich bereits früh in der Schullaufbahn, wo Jungen in Sonder- und Sprachheilschulen resp. -klassen deutlich stärker vertreten sind als Mädchen und auch bei der Einschulung häufiger zurückgestellt werden (vgl. Helsper/Hummrich 2005). Mit Blick auf die gesamte Schulzeit weisen sie höhere Klassenwiederholungsraten auf (vgl. Bless/Bonvin/Schüpbach 2004; Stürzer 2005), sind in den Schulniveaus mit niedrigen Ansprüchen übervertreten und erhalten beim Übergang in die Sekundarstufe I bei gleicher Leistung wie die Mädchen negativere Leistungseinschätzungen ihrer Lehrpersonen (vgl. Lehmann/Peek/Gänsfuß 1997). 35 Prozent der Jungen weisen eine verzögerte Schullaufbahn auf, aber nur 24 Prozent der Mädchen (vgl. Stanat/Kunter 2003). Jungen erzielen zudem häufiger drittklassige oder unklassifizierte Schulabschlüsse (vgl. Imdorf 2005) und gehören deutlich öfter als Mädchen zu den Schulschwänzern (vgl. Stamm 2007b). Allerdings zeigt sich im internationalen Vergleich nicht nur die Überrepräsentanz der Jungen in den negativen, sondern auch in den positiven Extremgruppen (vgl. Benbow/Stanley 1980, 1983). Sie verfügen in diesem Segment gegenüber den Mädchen über bedeutsame Vorteile. So werden Jungen öfter als hoch begabt identifiziert, gehören häufiger zu den Klassenüberspringern und profitieren ausgeprägter von spezifischen Begabungsfördermaßnahmen (vgl. Heinbokel 2001; Stapf 2003; Stamm 2005).

Obwohl solche Analysen darauf verweisen, dass es verschiedene Gruppen sehr erfolgreicher Jungen gibt, beherrscht weitgehend das Bild des leistungsschwachen, benachteiligten Schulversagers die mediale Diskussion. Da dieses Bild von wissenschaftlicher Seite her bislang nur ansatzweise ergänzt und korrigiert worden ist, obwohl einige aussagekräftige Erkenntnisse dafür vorliegen, besteht die Gefahr, dass die Debatte zur Geschlechtergerechtigkeit unseres Bildungssystems auf Abschlussquoten und bildungsstatistische Daten beschränkt bleibt und andere, möglicherweise verdeckte und den geschlechterdichotomen Diskurs relativierende Effekte aus dem Blick geraten. Dazu gehören Leistungsdifferenzen innerhalb der Mädchen- und der Jungengruppe. Die vorangehenden statistischen Analysen haben verdeutlicht, dass nicht alle Jungen benachteiligt sind. Es sind vor allem Jungen betroffen, die aus bildungsfernen Milieus oder aus Migrantenfamilien stammen. Das Risiko, im Verlauf der Schulzeit nicht versetzt zu werden, ist für sie deutlich höher und so wiederholen sie denn auch laut PISA-Studie (vgl. PISA-Konsortium Deutschland 2005) oder der IGLU-Untersuchung (vgl. Bos et al. 2003) im Vergleich zu einheimischen Jungen zwei- bis viermal so häufig eine Klasse. Jungen aus bildungsnahen Familien hingegen sind davon kaum betroffen, was sie allerdings noch nicht vor Underachievement schützt. Ähnliches gilt für die Mädchen. Während Mädchen aus bildungsnahen Familien zu über 80 Prozent einen anspruchsvollen Schulabschluss erwerben (vgl. Cornelißen 2004), trifft dies für Migrantinnen nur zu 33 Prozent zu und 13 Prozent bleiben sogar ohne allgemeinbildenden Abschluss. Mit solchen prekären Bildungsvoraussetzungen starten nur drei Prozent der deutschen, aber 10 Prozent der ausländischen jungen Männer ins Berufsleben (vgl. Weißhuhn/Rövekamp 2002).

Die referierten Leistungsdaten decken zwar nicht die gesamte Bandbreite von Ungleichheiten ab, aber sie können dazu genutzt werden, die Fragen des Underachievements der Jungen und des Bildungserfolgs der Mädchen differenzierter zu beleuchten als dies bisher vorwiegend durch die medialen Berichterstattungen geschehen ist. Darüber hinaus existieren zahlreiche, mehr oder weniger wissenschaftsbasierte Erklärungsmuster, die aufzuzeigen versuchen, weshalb und auf welchen Wegen sich dieser Gendergap einstellen konnte. Das nächste Kapitel ist deshalb der Exploration und Evaluation der Gründe gewidmet, die diese, Jungen benachteiligende, Situation verursacht haben könnten.

4. Erklärungsmuster für den Gendergap

Mit Blick auf die Fachliteratur erweist sich eine Reihe von Argumenten als zentral. Sie reichen von Mustern, welche den Misserfolg auf einer rein biologischen Argumentationsbasis diskutieren und die ‚poor boys‘ bemitleiden (vgl. Biddulph 1997; Boaler 1998; Mahoney 2003), die ‚failing schools‘ und ihre schlechte Unterrichtsqualität (vgl. Stoll/Myers 1997; Hannan 1999; Ediger 2004) oder die Feminisierung der Schule beklagen (vgl. Arnot/David/Weiner 1998; Diefenbach/Klein 2002), bis hin zu Argumenten, welche das Anti-Lerner-Verhalten der Jungen hervorheben (vgl. Martino 1999; Francis 2000; Renold 2001; Frosh/Phoenix/Pattman 2002) oder die feministischen Errungenschaften für die aktuelle Situation der Jungen generell verantwortlich halten (vgl. Hoff Sommers 2000).

Biologische Differenzen: Evolutionspsychologische und sozio-biologische Perspektiven versuchen, menschliche Handlungsweisen im Hinblick auf die evolutionäre Entwicklung zu verstehen und die biologischen Grundlagen jeglicher Formen des Sozialverhaltens zu erforschen. Entsprechend erachten sie verhaltensbezogene Geschlechtsrollendifferenzen als angeborene und in vorhistorischer Zeit konfigurierte Unterschiede zwischen Mann und Frau. Beispiele für an solchen Perspektiven orientierte Argumentationsstrukturen sind auflagenstarke und medienpräsente Publikationen wie ‚Söhne erziehen‘ (Elium/Elium 1994), ‚Raising Boys‘ (Biddulph 1997) oder ‚Real Boys‘ (Pollack 2001) – Publikationen, die lange auf den Bestsellerlisten in Australien und Großbritannien standen und seit 1998 auch im deutschsprachigen Raum beispielsweise unter dem Titel ‚Jungen! Wie sie glücklich heranwachsen‘ erhältlich sind. Diese Publikationen haben gerade durch ihre pauschalisierenden Argumentationsmuster die öffentliche Aufmerksamkeit und Diskussion stark beeinflusst. Biddulph (vgl. 1997) beispielsweise postuliert zunächst die Unterschiede zwischen den Geschlechtern als unvermeidliches und natürliches Ergebnis ihrer Hormone und die Leistungsunterschiede als Ergebnis unterschiedlicher Hirnstrukturen. Darauf aufbauend schließt er, dass Jungen anders als Mädchen erzogen werden müssten und deshalb ein neues Verständnis für Jungen nötig sei, damit sie zu glücklichen und selbstbewussten Männern heranwachsen können. Solche Aussagen sind zwar postwendend kritisiert und mit dem Vorwurf belegt worden, dass die diesbezüglichen Erkenntnisse mehr als ungesichert seien (vgl. Martino 1999; Hutchison 2004). Trotzdem haben sie eine große Wirkung auf den Diskurs zur Jungenwende gezeigt.

Auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht bleiben im Rahmen der biologistischen Argumentation viele Fragen offen: Wenn beispielsweise die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen so klar biologisch gesteuert wären, wie ließen sich dann die unterschiedlichen Leistungen verschiedener Subgruppen innerhalb der Jungen- resp. Mädchenpopulation erklären? Warum übertreffen beispielsweise die Mittelschicht-Jungen die Mädchen aus der Arbeiterklasse in Deutsch in signifikanter Weise (vgl. PISA-Konsortium Deutschland 2005)? Wie ist es möglich, dass Ergebnisse aus der Begabungsforschung in den deutschen Bundeswettbewerben eine nach Bestleistungen aufgeschlüsselte Überrepräsentation der Jungen im Fremdsprachenbereich belegen können (vgl. Stütz/Enders 1999)?

Selbstverständlich ist nicht zu verneinen, dass unser Alltagsverhalten und unsere intellektuelle Kapazität zumindest teilweise von biologischen Faktoren beeinflusst werden. Aber das Alltagsverhalten ist nicht von Natur aus gegeben. Eher repräsentiert es ein kumulatives Abbild unserer vorangehend geformten und ausgebildeten Erfahrungen. Gerade weil biologische und kulturelle Faktoren so stark miteinander verflochten sein dürften, macht es wenig Sinn, genetische und soziale Vererbungsmuster gegeneinander auszuspielen. Zudem sind solche Argumente gefährlich, weil sie auf der Vorstellung der vorgegebenen Unterschiedlichkeit von Mädchen und Jungen basieren und die Akzeptanz dieser unterschiedlichen Verhaltensweisen als einzig verfügbare Option postulieren. Mit Bezug zur schulischen Ausbildung würde dies bedeuten, dass nur Schule und Unterricht verändert werden können, nicht jedoch die Verhaltensweisen der Jungen selbst.

Erfolglose Schulen: Viele Interpretationen zum Schulversagen der Jungen fokussieren weniger auf ihre schlechten Schulleistungen, sondern auf den schlechten Unterricht und auf die ‚failing schools‘ (vgl. Ediger 2004; Popham 2004; Stoll/Myers 1997). Dies zeigt sich insbesondere in den Berichten der englischen Schulaufsichtsbehörde Office for Standards in Education (vgl. Ofsted 2003a; 2003b) oder der australischen Regierung (vgl. House of Representatives Standing Committee on Education and Training 2002). Diese Berichte verorten den Grund für das Schulversagen der Jungen ausschließlich in der schlechten Unterrichtsqualität der Schulen. Mit Blick auf die aktuellen Befunde der Unterrichtsforschung hat eine solche Interpretation allerdings ihre Tücken. Gemäß Good und Brophy (vgl. 1999), Weinert (vgl. 2001) oder Ediger (vgl. 2004) liegen bislang kaum empirisch glaubwürdige Untersuchungen vor, welche mittelmäßige oder schlechte Unterrichtsqualität als einzige Ursache für schlechte Schulleistungen ausweisen.

Einleuchtender sind Studien, die auf schulorganisatorische Merkmale aufmerksam machen. Gemäß Cornelißen (vgl. 2004) sind vor allem solche Aspekte relevant, die unter dem Stichwort ‚Gendering in der Schule‘ zusammengefasst werden können. Dazu gehören zwei Merkmale: Erstens zeigt sich eine Überrepräsentanz der weiblichen Lehrkräfte auf der Grundschulstufe (85 Prozent) und auf der gymnasialen Stufe (etwas mehr als 50 Prozent), bei gleichzeitig lediglich ca. 20 Prozent weiblich besetzten Schulleitungsstellen. Die traditionellen Geschlechterhierarchien erweisen sich somit auch im Schulbereich als nach wie vor intakt. Das zweite Merkmal bezieht sich auf die Sichtbarkeit der beiden Geschlechter in Schulbüchern. So belegen zwar neuere Analysen, dass die Präsenz der Mädchen in den Schulbüchern in quantitativer Hinsicht fast gleich hoch ist wie die der Jungen und die Darstellung von Frauen nicht nur auf ihre häusliche Arbeit beschränkt bleibt, sondern auch auf die berufliche Tätigkeit ausgerichtet ist. Gemäß Hunze (vgl. 2003) repräsentieren solche Darstellungen jedoch keinesfalls den gesellschaftlichen Wandel, weshalb sie traditionelle Geschlechtsrollenvorstellungen verstärken. Einen besonderen Einfluss auf die Ausbildung der Geschlechterrollen dürften darüber hinaus Schulethos und Schultradition haben, im Sinne von bewusst und in der Praxis gemeinsam getragenen und gelebten Werten. Wie der weiter oben referierte Befund zum prozentualen Anteil weiblicher Leitungskräfte in der Schule belegt, scheinen diese Werte häufig auf einer geschlechtshierarchischen Ordnung aufzubauen. Für die Überwindung der Benachteiligung des einen Geschlechts gegenüber dem anderen ist allerdings gemäß Mac an Ghaill (vgl. 2000), Warrington und Younger (vgl. 2001), Connolly (vgl. 2005) oder Kampshoff (vgl. 2006) die Beachtung der Geschlechterperspektiven in den Curricula vorzusehen und in den Leitbildern durch spezifische Maßnahmen zum Abbau geschlechtsspezifischer Ungerechtigkeiten oder Einseitigkeiten zu konkretisieren.

Feminisierung der Schulen: Die bereits erwähnte Tatsache der Überrepräsentanz weiblicher Lehrkräfte in vielen Schultypen und Schulstufen bildet die Grundlage eines weiteren Strangs an Erklärungsmustern. Stellvertretend für viele andere Untersuchungen stehen Diefenbach und Klein (vgl. 2002) für den deutschsprachigen und Hannan (vgl. 1999) oder Arnot/David/Weiner (vgl. 1998) für den angelsächsischen Raum. Gemeinsam ist ihnen, dass sie einen Zusammenhang zwischen der Überrepräsentation von Frauen im Lehrberuf und dem männlichen Schulversagen herstellen. Die Feminisierung, so die Argumentation, bringe den Jungen insbesondere bei der Bewertung ihrer Leistungen Nachteile. Weil Lehrerinnen das Verhalten von Jungen und Mädchen unterschiedlich bewerten und den Jungen weniger Verständnis und geringere Erwartungen entgegenbringen als Lehrer, würden sie Jungen auch seltener für Schulen mit höherem Anspruchsniveau empfehlen. „Lehrerinnen prägen die Schulkultur; möglicherweise erwarten und prämieren sie solche Verhaltensweisen, die Mädchen im Rahmen ihrer Sozialisation einüben, Jungen aber nicht (in demselben Maße). Umgekehrt sind Verhaltensweisen, die den schulischen Alltag stören und vermutlich auch die schulischen Leistungen beeinträchtigen, bei Jungen häufiger als bei Mädchen anzutreffen, und möglicherweise werden Lehrerinnen durch solches Verhalten stärker irritiert als Lehrer, wenn sie als Maßstab die eigene geschlechtsspezifische Sozialisation heranziehen.“ (Diefenbach/Klein 2002, S. 944) Für Boaler (vgl. 1998), Hannan (vgl. 1999) oder Brozo (vgl. 2002) ist die Schule für die Jungen gar zu einer fremden Umgebung geworden, weil die veränderten Unterrichtsstile – weg von der traditionellen Dichotomie ‚Lehren – Lernen‘ oder ‚Vermittlung – Rezeption‘ hin zu selbstverantwortetem und projektorientiertem Lernen – stärker auf die Lernstile und die Lernbereitschaft der Mädchen als der Jungen ausgerichtet seien. Deshalb gelte es, die Curricula an die Interessen der Jungen anzupassen. Entsprechend schlagen Bleach (vgl. 1998) oder Hannan (vgl. 1999) praxisorientierte Unterrichtsstrategien vor, die aufzeigen, wie Lehrpersonen die Leistungsfähigkeit von Jungen stärken können. Dazu gehören Vorschläge wie die Rückkehr zu traditionellen Unterrichtsmethoden, strukturierterem Unterricht, kürzeren Unterrichtslektionen, handwerklich ausgerichtetem Unterricht oder einer ausgeprägteren Wettbewerbsorientierung.

Das Verhalten der Jungen (‚laddish behaviour‘): Neben den bislang erwähnten Erklärungsmustern gibt es auch die Feststellung, dass das Schulversagen vieler Jungen lediglich eine Spiegelung gesellschaftlicher Veränderungen darstelle und seine Ursache im neuen, medienvermittelten Männlichkeitskult habe. Unter ‚Lads‘ werden junge Männer verstanden, die in eine auf körperliche Stärke, Mut und Kameradschaft ausgerichtete Peergroup eingebettet sind, maskulin basierte oder bewertete Interessen verfolgen (Fußball, Autorennen), trotz abwertendem Weiblichkeitsbild eine ausgeprägte Orientierung an sexuellen Aktivitäten zeigen und gegenüber Autoritäten eher rebellisch und unangepasst sind (vgl. Martino 1999; Francis 2000; Renold 2001). Francis (vgl. 1999) und Frosh/Phoenix/Pattman (vgl. 2002) konnten darüber hinaus aufzeigen, dass derartiges Verhalten mit einer expliziten Anti-Lerner-Kultur einhergeht und einer angemessenen Arbeitsmotivation und Bildungsdisziplin abträglich ist. Solche Befunde erhalten auch aus dem deutschsprachigen Raum Unterstützung, wo sich seit den PISA-Untersuchungen eingebürgert hat, die schlechteren Schulleistungen der männlichen Jugendlichen ursächlich unter anderem mit ihrer stärkeren Tendenz zur „aggressiven Cliquenbildung“ (Tillmann/Meier 2001, S. 500) zu verknüpfen und sie mit der spezifischen Inszenierung von Maskulinität zu erklären. Des Weiteren verweisen viele Untersuchungen zu den Erwartungshaltungen von Lehrpersonen (vgl. Lehmann/Peek/Gänsfuß 1997; Krohne/Meier/Tillmann 2004) und Eltern (vgl. Faulstich-Wieland 1995) nach, dass Jungen aufgrund der in unserer Gesellschaft nach wie vor vorherrschenden ‚Koalition unter Männern‘ – Connell nennt sie die „patriarchale Dividende“ (2002, S. 100) – gegenüber Frauen einen Expertenstatus zugeschrieben bekommen, der sie selbstbewusst macht und sie ihre Erfolge internal, ihre Misserfolge jedoch external attribuieren lässt. Hierin könnte einer der Gründe für die vielfach konstatierte Beobachtung liegen, dass Jungen im Vergleich zu Mädchen Prüfungen minimaler vorbereiten und eher schlechte Schulleistungen in Kauf nehmen (vgl. Kirschmann/Röhm 1991; Dresel/Stöger/Ziegler 2005).

Auch die Erkenntnisse von Francis (vgl. 1999) und Frosh/Phoenix/Pattman (vgl. 2002) verweisen auf einen Zusammenhang von Bildungsmisserfolgen und forciertem ‚doing masculinity‘, der gemäß King (vgl. 2005) vor allem bei jungen Männern mit Migrationshintergrund zum Tragen kommt. Diese Bemerkung scheint vor dem Hintergrund der allgemein festzustellenden Tendenz, dass in der Underachievement-Diskussion bislang kaum zwischen einzelnen Jungengruppen unterschieden worden ist, besonders wichtig. Wenn gemäß der Denkansätze von Connell zur ‚hegemonialen Männlichkeit‘ (vgl. 1995) und von Bourdieu (vgl. 1982, 1997) zum ‚männlichen Habitus‘ davon auszugehen ist, dass Männlichkeit und Weiblichkeit keine biologisch begründeten Entitäten darstellen, sondern als soziale Konstrukte aufgefasst werden müssen und dass es kultur- und milieubedingt unterschiedliche Ausprägungsformen oder Muster von Männlichkeit gibt, dann ist auch davon auszugehen, dass das ‚laddish behaviour‘ nicht per se als Erklärungsmuster für das Underachievement der Jungen herangezogen werden kann, sondern lediglich für eine oder mehrere Subgruppen. Für andere allerdings, vor allem für Mittelschichtsjungen, welche in der Regel in einem Milieu aufwachsen, in dem akademischer Erfolg die Norm darstellt, gilt ein anderer Verhaltenskodex, der weit stärker von individueller Leistungskonkurrenz geprägt ist (vgl. Budde/Faulstich-Wieland 2005).

Feminismus und Mädchenförderung: Dieses Erklärungsmuster konzentriert sich auf die rund 20-jährige Bilanz der feministischen Pädagogik. Diefenbach und Klein (vgl. 2002), Gill (vgl. 2005) oder Preuss-Lausitz (vgl. 2005) konstatieren ihren einzigartigen Erfolg im Bemühen, die Benachteilungen für Mädchen im Ausbildungssystem aufzuheben. Lange Zeit hatte es jedoch als politisch inkorrekt gegolten, Benachteiligungen von Jungen gegenüber Mädchen überhaupt zu thematisieren, während es als common sense galt, dass Mädchen gegenüber Jungen Nachteile haben (vgl. Halbright 1998; Arnot/David/Weiner 1998). Für den deutschsprachigen Raum verweisen Diefenbach und Klein darauf, dass aufgrund dieser Prämisse (…) Nachteile von Mädchen bzw. von Frauen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ausgemacht (wurden), Nachteile von Jungen bz. Männern in denselben oder anderen gesellschaftlichen Bereichen aber gänzlich übersehen“ wurde.(Diefenbach/Klein 2002, S. 945f.)

Mit Blick auf die Leistungsunterschiede zugunsten der Mädchen weist Connolly (vgl. 2005) jedoch darauf hin, dass diese Differenzen in erster Linie mit den feministischen Bemühungen um die spezifische Förderung von Mädchen zu erklären sind. Tatsache sei, dass die Mädchen von Barrieren befreit wurden, die ihnen lange Zeit in den Weg gelegt worden waren und sie deshalb aktuell ihr Potenzial voll entfalten könnten. Mit einer Reanalyse der Testleistungen von 15-jährigen Schülern seit 1985 belegt er (vgl. Connolly 2005, S. 23 ff.), dass die Schulleistungen der Jungen im Zeitverlauf immer auf einem ähnlichen Niveau gelegen haben und erst die Potenzialentfaltung der Mädchen eine Diskrepanz herbeigeführt habe.

5. Diskussion

Zwar erscheinen die soeben dargestellten Erklärungsmuster zum Underachievement der Jungen auf den ersten Blick sowohl hinsichtlich ihrer Referenzsysteme als auch ihrer Argumentationsmuster unterschiedlicher Provenienz zu sein, doch zeigen sich bei differenzierter Betrachtung einige Gemeinsamkeiten. So perpetuieren erstens alle fünf Diskurse konventionelle Konzeptionen von Männlichkeit und Bildung. Sie erachten das Underachievement – den Mangel an Bildungserfolg und Bildungsfortschritt der Jungen – als Konsequenz einer extrinsisch verursachten Behinderung ihres Lernens. Dazu gehören beispielsweise Lehrpersonen, die schlecht unterrichten resp. den Unterricht nicht auf die Bedürfnisse der Jungen ausrichten, ein inadäquates und feminisiertes Curriculum sowie wenig stimulierende und ausschließlich auf soziale Kompetenz ausgerichtete Unterrichtsmethoden. Zweitens unterlassen es alle fünf Diskurse, die sozialen, kulturellen, psychologischen und ökonomischen Kontexte von Schulerfolg und Underachievement zu berücksichtigen. Anzunehmen ist zumindest, dass gerade solche und nicht nur schulische Belange oder Bildungsreformen das Phänomen des Underachievements mitprovoziert haben. Von besonderer Bedeutung dürften dabei Veränderungen in Ökonomie und Arbeitswelt sein. Zu denken ist etwa an die Feminisierung der Arbeit durch die Vergrößerung des Dienstleistungssektors, die mit einer verstärkten Betonung der Kommunikation, der Teamarbeit und der Partizipation einhergeht und daher traditionell weibliche Werte besonders stark gewichtet.

Die Problematik der hier diskutierten Argumentationsmuster scheint eine dreifache zu sein: Zum Ersten erwecken sie den Eindruck, auf stereotypen, d.h. unveränderbaren Vorstellungen von Geschlechterdifferenz zu beruhen und damit tendenziell der Logik der biologischen Perspektive zu folgen, womit die soziale und psychologische Perspektive im Sinne einer gesellschaftlich gespiegelten, geschlechtstypisierenden Selbstkonstruktion der Identität (vgl. Hannover 2005) ausgeblendet wird. Zum Zweiten liefern sie ein Nullsummenspiel, weil ihnen die Vorstellung zugrunde liegt, dass es zwischen den Leistungen der Jungen und der Mädchen einen unvermeidlichen Zusammenhang insofern gäbe, als der Erfolg der einen Gruppe immer den Misserfolg der anderen Gruppe bedingen würde. Auf solche Zusammenhänge hat die Forschung jedoch bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren hingewiesen (vgl. Connell 1995; Lemmermöhle 1996). Damit geht drittens einher, dass sie mehr oder weniger ausgeprägt die Jungen als entmachtete Opfer der Feminisierungsprozesse und als die großen Verlierer und Benachteiligten unseres Bildungssystems zeichnen. Implizit tadeln sie damit weibliche Lehrkräfte, für den Misserfolg der Jungen verantwortlich zu sein. Derartige Interpretationen scheinen jedoch sehr gewagt, gibt es meines Wissens doch kaum Belege, wonach die Überrepräsentanz an weiblichen Lehrkräften direkt mit dem Underachievement der Jungen und der abnehmenden Bildungsbeteiligung in Beziehung gesetzt werden könnte. Viele bildungspolitische Initiativen wollen das Problem jedoch über eine erhöhte Anzahl männlicher Lehrkräfte oder jungenorientierte Unterrichtsstrategien lösen. Damit ignorieren sie jedoch zum einen den Fakt, dass männliche Lehrkräfte in der Primarschule bekanntlich schon sehr lange unterrepräsentiert sind; zum anderen unterlassen sie es auch, die bestehenden Maskulinitätsmuster und -konzepte zu hinterfragen. Dieses könnte beispielsweise anhand der Frage geschehen, welchen Typ Männlichkeit und welche Art von Rollenmodellen in der Schule für Jungen (und auch Mädchen) gewünscht werden soll. Anzunehmen wäre, dass dieses Merkmale wie Individualität, Sensitivität und Responsivität, Flexibilität oder Fleiß wären. Nicht zufällig sind diese sowohl Merkmale des guten und leistungsfähigen Schülers als auch solche, die generell als feminin beschrieben oder von Wirtschaft und Industrie als soft skills von Schulabgängern gefordert werden. Damit wird klar, dass die Beantwortung der Frage nach der ‚neuen‘ Maskulinität nur im Kontext vielfältiger sozialer Prozesse und gesellschaftlicher Anforderungen untersucht und diskutiert werden kann und nicht lediglich auf der quantitativen Basis der Männerrate im Lehrerberuf.

Abschließend sollen nun die beiden eingangs formulierten Hypothesen bilanzierend diskutiert werden. Der Ertrag dient dann als Basis für eine analytische Differenzierung, die zugleich als Perspektive im Sinne einer forschungsleitenden Heuristik verstanden werden kann. Die erste These besagte, dass die gegenwärtige medial geführte Debatte fälschlicherweise von einer Dichotomie ‚früher die Mädchen – jetzt die Jungen‘ und damit von einer Gruppenhomogenität innerhalb der Geschlechter ausgeht, welche substanziellere Differenzen wie Ethnie oder soziale Herkunft verdecken. Die Literaturübersicht hat aufgezeigt, dass die geschlechtsspezifisch orientierte Schulforschung sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht Belege zur Stützung dieser These liefern kann, sie bislang jedoch nicht angetreten ist, die medialen Pauschalisierungen zur besagten Dichotomie kritisch zu diskutieren und damit die Öffentlichkeit für differenziertere Sichtweisen des Underachievements der Jungen zu sensibilisieren. Festzuhalten ist somit, dass es zwischen der medialen Rhetorik, der statistischen Realität und den Forschungsbefunden der schulbasierten Geschlechterforschung bemerkenswerte Differenzen gibt, weshalb es sich als falsch erweist, Mädchen und Jungen generell miteinander zu vergleichen. Underachievement ist nicht nur ein Problem der Jungen. In allen sozialen Schichten gibt es Jungen, die weniger leisten als Mädchen, aber auch Gruppen von Jungen mit überdurchschnittlichen Leistungen, genauso wie es Mädchengruppen gibt, die Unterdurchschnittliches leisten. Letztlich sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht besonders groß und nicht konstant. Bemerkenswerter sind hingegen die Effekte der sozialen Herkunft und der Ethnizität. Die größten Underachiever sind Jungen aus sozio-ökonomisch benachteiligten Milieus und randständigen ethnischen Gruppen, die durchweg schlechter abschneiden als die Mädchen in ihrer Gruppe. Solche Befunde verweisen darauf, dass das Underachievement auf bestimmte Jungengruppen beschränkt ist und eine Stigmatisierung der Jungen insgesamt unstatthaft ist. Werden Jungen lediglich als einheitliche Gruppe dargestellt, dann wird unterschlagen, dass es privilegierende Elemente von Männlichkeit gibt, welche einige Jungengruppen gegenüber anderen und auch gegenüber Mädchengruppen bevorzugen. Eine unkritische Beschwörung der Jungen als Schulversager und der daraus abgeleiteten Konsequenz einer Jungenwende greift somit zu kurz. Dadurch wird eine Ausbalancierung der Schieflagen erschwert, wie sie in Forschung und Diskurs über die Benachteiligung der Mädchen bereits angeklungen ist.

Mit Bezug zur zweiten These – die Diskussion um das Underachievement der Jungen blendet milieuspezifische und jugendkulturelle Hintergründe aus, weil sie sich nahezu ausschließlich auf die Schule konzentriert – konnte aufgezeigt werden, dass die aktuelle Bildungsforschung kaum eine Differenzierung ungünstiger und günstiger Bildungsverläufe von Jungen und Mädchen innerhalb der einzelnen sozialen und kulturellen Milieus vornimmt und deshalb dazu beiträgt, dass sich die öffentliche und teilweise auch fachliche Diskussion zu stark auf ‚die‘ Jungen als Bildungsverlierer konzentriert. Der Blick auf die wachsende Anzahl bildungserfolgreicher Jungen und Mädchen aus Migrantenfamilien (vgl. Hummrich 2002; King 2005) oder auf die heute erwachsenen Kinder der italienischen und spanischen Gastarbeiter der 1970er-Jahre – die sogenannten Secondos (vgl. Bolzmann/Fibbi/Vial 2003) – bleibt dabei verdeckt. Insgesamt ist zu konstatieren, dass die gegenwärtige öffentliche Debatte um das Underachievement der Jungen stark verkürzt bleibt, weil sie die Genderdifferenzen übertreibt und gleichzeitig die substanzielleren Schulleistungsdifferenzen in Bezug auf Sozialklasse, ethnische Zugehörigkeit und jugendkulturelle Verankerung nicht berücksichtigt.

6. Ausblick

Die in diesem Aufsatz präsentierte Literaturübersicht hat gezeigt, dass die Debatten in den Medien auf Rhetorik beschränkt bleiben und sich der Fachdiskurs zu wenig Gehör verschafft, weshalb die Komplexität und Diversität der Thematik vernebelt wird. Die wissenschaftliche Betrachtung von Underachievement scheint deshalb besonders notwendig. Aus dem deutschsprachigen Raum liegen dazu wichtige Beiträge vor, wie sie beispielsweise im Themenheft „Gender und Bildung“ in der Zeitschrift für Pädagogik (vgl. 2006) oder bei Diefenbach/Klein (vgl. 2002), Cornelißen (vgl. 2004) oder Preuss-Lausitz (vgl. 2005) aufscheinen. Zusammen mit den Fachbeiträgen aus dem angloamerikanischen Raum (vgl. Mac an Ghaill 2000; Epstein et al. 1998; Frank et al. 2003; Connolly 2005; Francis/Skelton 2005) befassen sie sich theoretisch fundiert und in kritischer Annäherung/Absicht mit der Jungenwende. Die Vorzüge dieses Forschungskorpus liegen in erster Linie darin, dass sie die teilweise simplen, biologisch-medizinischen und alltagspsychologischen Analysen über Jungen unterbrechen und die dominante Konstruktion von Geschlecht, Ethnie und soziale Schicht kritisch hinterfragen.

Auf dieser Basis soll abschließend entlang zweier analytischer Differenzierungen eine Bilanz gezogen werden, die zugleich als Perspektive im Sinne einer forschungsleitenden Heuristik verstanden werden kann:

  1. 1.

    Zunächst gilt es, auf der Grundlage des hier debattierten Grundsatzproblems von einer Mädchen- und Jungentypik abzurücken und den Diskurs auszudehnen in Richtung auf die differenzierten Befunde innerhalb der Geschlechter. Ein solcher Perspektivenwechsel hält zwar das Kontinuum an Differenzen aufrecht, nimmt jedoch insgesamt eine andere Forschungsperspektive ein, weil er auf die Koexistenz von Vor- und Nachteilen sowohl für die Jungen als auch für die Mädchen fokussiert. Was genau das Underachievement bei einem Teil der Jungenpopulation ausmacht, bedarf einer gründlichen Forschung. Gleiches gilt für die Subgruppen der Mädchen, die wenig erfolgreich auf dem Weg in die berufliche Ausbildung sind oder vielversprechende berufliche Ausbildungswege abbrechen.

  2. 2.

    Wenn Underachievement offensichtlich neben dem schulischen auch einen milieuspezifischen und jugendkulturellen Hintergrund hat und damit ebenso außerschulische Faktoren eine Rolle spielen, dann wird die Forschung wohl kaum umhin kommen, diesen Faktoren eine weit größere Bedeutung beizumessen als bisher. Insgesamt ist es erstaunlich, wie umfangreich die Literatur zur Frage des Underachievements der Jungen ist, die entweder die milieuspezifischen und jugendkulturellen Faktoren überhaupt nicht diskutiert oder impliziert, dass derartige Einflüsse für alle die gleichen wären. Wenn man jedoch weiterhin daran festhält, solche Faktoren als auch deren unterschiedliche Wirkung auf Jungen und Mädchen unberücksichtigt zu lassen, dann schafft die Fachdiskussion einen bildungspolitisch fragwürdigen Zugang, der nicht in der Lage ist, Antworten auf die Frage nach den Gründen von Underachievement zu geben. Indem alle Jungen und alle Mädchen so behandelt werden als seien sie die gleichen, erscheinen soziale, psychologische, ökonomische und kulturelle Ungleichheiten als unwichtig und das Geschlecht als alleinige Erklärungsvariable.

Insgesamt hat der Trend zum Underachievement der Jungen jedoch eine positive Wirkung auf unser Verständnis von Geschlecht, Schule und Gesellschaft, wenngleich damit für die feministische Forschung möglicherweise ein alarmierender Trend verbunden ist: dass der spezifische Fokus auf die Mädchen langsam verblasst. Dadurch wird es vielleicht möglich, unsere Erkenntnis zu stärken, dass Geschlechterungleichheit weniger ein Defizit der Mädchen ist. In erster Linie ist sie ein Defizit der Wahrnehmung, dass innerhalb der Geschlechter keine Gruppenhomogenität besteht und dass deshalb substanziellere Differenzen wie Ethnie oder soziale Herkunft zur Erklärung von Underachievement herangezogen werden sollten. Es liegt somit in der Verantwortung der Forschenden, den wahren Impact der Benachteiligungen zu ergründen und Wege zu finden, diese zu überwinden.