1 Einleitung

Pläne zur Vertiefung der europäischen Integration werden häufig in Krisensituationen vorgebracht (vgl. Kaelble 2013). Sie vermitteln Zukunftsvisionen der politischen Gestaltung Europas und dienen dazu, in der Bevölkerung die Identifikation mit der Union zu befördern. Auch in der Ukraine-Krise und der seit 2010 andauernden Euro-Krise appellieren Politiker an ein europäisches Identitätsgefühl, indem sie anspruchsvolle Ziele formulieren. Sie beziehen sich auf Projekte wie eine europäische Wirtschaftsregierung, eine gemeinsame Sozial- und Außenpolitik (vgl. Hollande 2013; Lindner und Özdemir 2015) und wagen sogar Vorstöße, die Verfassung für Europa wiederzubeleben (vgl. Westerwelle 2012). Die tatsächlich unternommenen Anstrengungen im vergangenen Jahrzehnt stehen jedoch weit hinter der politischen Rhetorik zurück. Anstatt die vorgeschlagenen Projekte aktiv aufzugreifen, ist die Integrationspolitik vorrangig auf eine Verwaltung des Status quo ausgerichtet (vgl. de Wilde und Zürn 2012; Duff 2014).

Dass die Regierenden konkrete Anläufe zur weiteren Vertiefung der EU als politisches Risiko werten, ist auf ihre Erfahrungen mit der zunehmenden Politisierung europäischer Projekte zurückzuführen (vgl. Hooghe und Marks 2009). „Politisierung“ bezeichnet einen Prozess, in dem sich die Aufmerksamkeit für EU-Themen in öffentlichen Auseinandersetzungen intensiviert und sich die Meinungen dazu polarisieren (vgl. de Wilde 2011). Sie gilt als konstitutiv für die Demokratisierung der Union, da auf diese Weise europäische Politik in öffentlichen Diskursen begründet und kritisiert und so auch die „Leerstelle“ europäische Identität verhandelt wird (vgl. Eder und Trenz 2004). Viele Autoren sehen gerade in Volksentscheiden zu EU-Themen einen Motor der Politisierung (vgl. Risse 2010; Statham und Trenz 2013). Auch das für 2016 angekündigte Referendum in Großbritannien zum Verbleib in der EU stellt eine Chance zu öffentlichen Auseinandersetzungen mit der Bedeutung der EU dar (vgl. Oliver 2015).

Die Politisierung von EU-Themen hängt aber keineswegs zwingend mit einer Europäisierung von Öffentlichkeit und Identität zusammen, in deren Verlauf die Nationen in einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft Themen als europäische Probleme behandeln und im gemeinsamen Austausch nach Lösungen suchen (vgl. Risse 2010). Stattdessen konkurrieren in den Debatten europäische Perspektiven, die Ideale und Ziele der Vergemeinschaftung in den Vordergrund stellen, mit nationalen Sichtweisen, die Europa vor allem wegen der Risiken und Kosten für die eigene Nation kritisieren (vgl. Risse 2015). Auch wenn die Bürger Pläne etwa für eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik grundsätzlich befürworten (vgl. Europäische Kommission 2014), haben sie in Phasen einer starken Politisierung europäischer Themen bereits mehrfach Stellung gegen Vertiefungsprojekte bezogen. Zentrale Momente sind die überraschenden Ablehnungen des Verfassungsvertrags in den Referenden am 29. Mai 2005 in Frankreich und am 1. Juni 2005 in den Niederlanden sowie des Lissabon-Vertrags am 12. Juni 2008 in Irland.

In beiden Momenten ist europäische Identität nicht nur über vage politische Ziele angesprochen, sondern es werden verbindliche Bekenntnisse zur Weiterentwicklung der EU eingefordert. Sie bieten die seltene Gelegenheit zu erforschen, inwieweit Referenden zur Vertiefung der Integration mit einer besonderen Hervorhebung nationaler Chancen und Risiken in den Identitätskonstruktionen zur EU einhergehen. Mit diesem Ziel behandelt der Beitrag in international vergleichender Perspektive zwei übergeordnete Fragen: Wie wird europäische Identität vor dem Hintergrund einer Vertiefung der Union konstruiert? Wie spiegelt sich die Entscheidung eines Landes, die Bevölkerung über den Verfassungsvertrag abstimmen zu lassen, im Identitätsdiskurs wider?

Im folgenden Abschnitt erklären wir zunächst den stark strapazierten Begriff „europäische Identität“. Er wird als veränderbare Größe gefasst, die in öffentlichen Diskursen unterschiedlich konstruiert wird und politischen Diskussionen einen Rahmen gibt. Danach arbeiten wir mit Blick auf Untersuchungen zur Politisierung von EU-Themen in der Verfassungsdebatte vier Konfliktthemen heraus, die sich auf 1) die Souveränität der Nation in der EU, 2) sozialpolitische Fragen, 3) das Demokratiedefizit der EU und 4) die kulturellen Wurzeln der Gemeinschaft beziehen. Sie geben Hinweise auf die zentralen „Rahmungen“ der Debatte. Die sich daraus ergebenden Forschungsfragen untersuchen wir mit einer quantitativen Inhaltsanalyse von Leitmedien in EU-Ländern, in denen zum Verfassungsvertrag ein Referendum stattfand (Frankreich), lediglich geplant war (Großbritannien, Polen) oder vermieden wurde (Deutschland, Italien). Gegenstand der Analyse sind die inhaltlichen Deutungen der EU und die damit verbundenen Identifikationen in den Diskursen zum Verfassungsvertrag 2005 und zum Lissabon-Vertrag 2008. Eine Diskussion der Befunde schließt den Beitrag ab.

2 Kollektive Identität für die Europäische Union

Europäische Identität wird heute von den meisten Autoren als eine soziale Konstruktion verstanden (vgl. Delanty und Rumford 2005; Risse 2010). Als kollektive Identität der EUFootnote 1 ist sie zunächst ein abstrakter Allgemeinbegriff, der in seiner inhaltlichen Offenheit als Bezugspunkt für eine Reihe verschiedener Akteure dient (vgl. Bruell und Mokre 2009). Die Konstruktion von Identität bezieht sich auf zwei Dimensionen: die Stärke der Identifikationen mit der EU und die inhaltlichen Deutungen der EU (vgl. Kaina 2013; Lichtenstein 2014). Die Deutungen beinhalten Vorstellungen über gemeinsame Ziele, Werte und eine historische und kulturelle Zusammengehörigkeit. Das Ausmaß, in dem bestimmte Deutungen der EU (z. B. als ein Markt oder als Friedensprojekt) in einer Gesellschaft mit Identifikation oder auch mit Ablehnung der Gemeinschaft in Verbindung stehen, beschreibt die zweite Dimension von Identität, die Stärke der Identifikation. Sie zeigt an, wie weit sich diejenigen, die sich zur EU äußern, mit einer bestimmten Deutung der Gemeinschaft identifizieren oder sie ablehnen.

Die Stärke der Identifikation kann eine affektive oder eine instrumentelle Grundlage haben. Während die affektive Komponente die Gruppenmitgliedschaft mit Gefühlen von Ehre oder Schande verbindet, beruht die instrumentelle Komponente auf Kosten-Nutzen-Erwägungen (vgl. Inglehart und Reif 1991). Wie Analysen der Eurobarometer-Daten nahelegen (vgl. Gabel und Palmer 1995; Mahler et al. 2000), spiegeln instrumentelle Identifikationen Chancen- und Risikowahrnehmungen für die jeweils eigene Nation wider. Daher liegt es nahe, dass die instrumentellen Identifikationen im Zeitverlauf größeren Schwankungen unterliegen als die affektiven Identifikationen (vgl. Hewstone 1986). Affektive Identifikationen sind damit als Ressource für die Stabilität der EU besonders wichtig; sie fallen in den EU-Gründerländern höher aus als in anderen EU-Staaten (vgl. Anderson und Kaltenthaler 1996; Nissen 2006) und stützen die Gemeinschaft auch dann, wenn im Zuge einer starken Politisierung Risiken für das eigene Land thematisiert werden.

Auf beiden Identitätsdimensionen variieren die Identifikationen mit den jeweiligen Deutungen der EU. Als positive Bezugspunkte der EU werden in Umfragen regelmäßig die Werte Demokratie und Friedenssicherung genannt sowie als pragmatische Aspekte der Euro und die Freiheit, in jedes EU-Land zu reisen, dort zu studieren und zu arbeiten (vgl. Europäische Kommission 2012; Pichler 2008). Negative Assoziationen beziehen sich auf den Vorwurf der Geldverschwendung und Bürokratie in den EU-Institutionen und auf zu geringe Grenzkontrollen im Schengen-Raum (vgl. Europäische Kommission 2012).

Die Konstruktionen europäischer Identität können zwischen einzelnen Individuen stark unterschiedlich ausfallen (vgl. Bruter 2005), sie verdichten sich aber in öffentlichen Aushandlungsprozessen. Nach dem Forumsmodell von Neidhardt lässt sich Öffentlichkeit als ein Raum beschreiben, der offen ist „für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen“ (Neidhardt 1994, S. 7). In öffentlichen Diskursen vor allem der Massenmedien treffen verschiedene Sprecher aufeinander. Indem sie europäische Themen diskutieren, Forderungen an die EU stellen, Kritik an ihr üben oder an europäische Werte appellieren, geben sie dem Abstraktum europäische Identität eine öffentlich wahrnehmbare inhaltliche Bedeutung (vgl. Delanty und Rumford 2005). In der andauernden Auseinandersetzung mit EU-Themen kristallisiert sich aus den individuellen Identitätsbezügen – ähnlich wie im Prozess öffentlicher Meinungsbildung (vgl. Habermas 2008) – eine öffentliche Identität heraus, die kollektiv diskutiert wurde und über das Aggregat der Einzelidentitäten hinausgeht (vgl. Eilders und Lichtenstein 2010). Sie hat einen Verarbeitungsprozess durchlaufen und im Deutungswettkampf standgehalten.

Die Strategien, die Sprecher in den Deutungswettkämpfen um europäische Identität anwenden, lassen sich mit Rückgriff auf den Framing-Ansatz als Identitätsframes begreifen (vgl. Eilders und Lichtenstein 2010). Frames sind Sinnhorizonte der Sprecher, die einige Informationen zu einem Gegenstand selektiv hervorheben und andere ausblenden (vgl. Entman 1993; Matthes 2012). Sie determinieren zwar keine Meinungen, legen aber bestimmte Bewertungen und Entscheidungen nahe (vgl. Dahinden 2006) und können so als Strategien verstanden werden, die eigenen Sichtweisen zu vermitteln und Legitimität für die eigenen Aktionen herzustellen. Die Forschung zu sozialen Bewegungen (vgl. Gamson 1995; Haunss 2004; Snow und Benford 1995) zeigt, dass Identitätsframes eingesetzt werden, um normative Projekte mit einem kollektiven Wir zu verbinden und zur Teilhabe an der Gruppe zu motivieren. Um in Diskursen erfolgreich zu sein, müssen die Frames an die kulturellen Ressourcen einer Gesellschaft anschließen (vgl. van Gorp 2007).

Die Vielfalt nationaler Kulturen innerhalb der EU und die Struktur europäischer Öffentlichkeit erschweren eine Herausbildung transnational geteilter Identitätskonstruktionen zur Union. Der Diskurs findet nicht in den Foren eines einheitlichen europäischen Mediensystems statt, sondern spielt sich in kaum miteinander verbundenen Teilöffentlichkeiten ab, die sich alle an ein nationales Publikum richten und unterschiedlich stark für EU-Themen öffnen (vgl. Hepp et al. 2012; Wessler et al. 2008). Bei der Debatte zum Verfassungsvertrag (vgl. Adam 2007; Butter 2009; Dietzsch 2009; Statham und Trenz 2013) und zum Lissabon-Vertrag (vgl. Tatur 2009) zeigt sich in den Ländern eine zeitlich synchrone Medienaufmerksamkeit. Der Diskurs wird jedoch auch auf seinen Höhepunkten kaum als gesamteuropäische Auseinandersetzung mit einem transnationalen Sprecheraustausch geführt, sondern ist von Interaktionen innerhalb der jeweils eigenen Nation charakterisiert (vgl. Adam 2007).

Durch die nationale Verhaftung der Diskurse erhalten nicht nur EU-Themen eine nationale Färbung, auch die Konstruktion europäischer Identität knüpft an jeweils eigene nationale Narrative an. Medieninhaltsanalysen zeigen, dass die EU in Deutschland und Spanien nach der eigenen faschistischen Vergangenheit als politische Rehabilitierungschance betrachtet wird (vgl. Díez Medrano 2003; Seidendorf 2007). In Großbritannien zielen die Medien eher auf die wirtschaftliche Integration ab, wobei das frühere Commonwealth als Vorbild für das Ideal einer europäischen Freihandelszone dient (vgl. Mautner 2000). Dagegen wird die EU in Polen und anderen osteuropäischen Ländern mit wirtschaftlichen und politischen Aufstiegschancen in Verbindung gebracht (vgl. Lichtenstein 2014) oder – etwa in Bulgarien – als Kompensation für Schwächen im eigenen politischen System gesehen (vgl. Baeva 2014).

Solche Deutungen rahmen Debatten zur EU-Politik. Sie bieten Erklärungen für Konflikte, die innerhalb und zwischen den Ländern zum Thema EU ausgetragen werden und in Widerstand gegen bestimmte Formen der Vertiefung münden können. Umgekehrt liefern Einzelthemen, die in den Ländern Konflikte hervorrufen, Hinweise auf zentrale Deutungen der EU. Das kann insbesondere für die Debatten um die Verfassungsreferenden gelten, die sich von anderen Stationen des Integrationsprozesses durch eine besonders starke Politisierung absetzen.

3 Europäische Identität und die Verfassungsdebatte

Die Idee einer europäischen Verfassung wurde seit dem Beginn der europäischen Integration immer wieder angeregt. Konkret wurde sie im Zuge der Osterweiterung 2004, um der größeren EU durch eine Neuordnung der Verträge wieder handlungsfähige Strukturen zu verleihen. Dies sollte im Rahmen einer Verfassung geschehen, um gleichzeitig einen Beitrag „zu einem emotional und normativ gehaltvollen Bewusstsein von Zusammengehörigkeit in Europa“ (Heit 2006, S. 69) zu leisten. Das Verfassungsprojekt hatte also von Beginn an nicht nur eine formal-rechtliche, sondern auch eine starke „identitäre“ Dimension. Im Gegensatz dazu ist der Lissabon-Vertrag, der drei Jahre nach dem Scheitern der Verfassung als abgespeckte Version des Originaltextes zur Abstimmung gestellt wurde, unter Verzicht auf jede identitäre Verfassungssymbolik nur noch als Reformvertrag angelegt. Auch dieses Dokument sieht aber etwa mit dem Amt des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Weichenstellungen vor, die Identitätsaspekte berühren.

Sowohl der Ausarbeitungsprozess des Verfassungsvertrags als auch die Referenden der Jahre 2005 und 2008 boten in den nationalen Medienöffentlichkeiten die Gelegenheit für eine intensive öffentliche Debatte über die EU und europäische Identität. Tréfás (2010) stellt im Abgleich mit anderen Ereignissen fest, dass die EU im Kontext der medialen Verfassungsdebatte 2005 zu einer relevanten Bezugsgröße für Identifikationen avancierte. Der Forschungsstand gibt aber kaum Auskunft auf die Frage, auf welche Art von Gemeinschaft sich die Identifikationen stützen. Die Debatten wurden bislang auf Konfliktthemen in der sachlichen Auseinandersetzung zur Verfassung und nicht auf die dahinter stehenden Konstruktionen europäischer Identität untersucht (vgl. Bruell et al. 2009; Butter 2009; Dietzsch 2009). Da sich die Konfliktthemen aber auf ein Vertragswerk beziehen, das die Grundlagen der EU festschreibt, lassen sie Rückschlüsse darauf zu, welche Art der Gemeinschaft auf Identifikation bzw. Ablehnung stößt. Sie weisen also auf Identitätsframes hin, mit denen die EU in den Ländern themenübergreifend gedeutet werden kann. Dabei können mehrere Themen die gleichen Frames und jedes einzelne Thema mehrere Frames berühren.

Aus den Studien ergeben sich vier dominante Konfliktthemen. Das erste Konfliktthema ist die Souveränität der Nation in der Union (vgl. Gaisbauer und Pausch 2009). Während Kritiker den Verfassungsvertrag als Mittel sehen, die EU in ihrer Entscheidungsgewalt über die Nationen zu stärken, heben Befürworter auf die notwendige Handlungsfähigkeit der EU ab. Der Widerstand gegen ein politisch starkes Europa fällt in Deutschland und Frankreich gering aus, da sich beide Länder selbst als Führungskräfte in der EU sehen (vgl. Butter 2009). In Polen und Großbritannien wird aber vor einer Unterordnung der Nation unter eine weitgehend von Deutschland und Frankreich geprägte Gemeinschaft gewarnt (vgl. Gröner 2009; Kurpas 2008). Dieser Konflikt wird von unterschiedlichen Sichtweisen der politischen Verbindlichkeit der EU gerahmt. In Konkurrenz stehen dabei die Identitätsframes zur Deutung der EU als ein politisch stark integrierter Bundesstaat, dem sich die Nationen unterordnen, und als ein schwach integrierter Staatenbund, in dem die Nationen die zentralen Akteure bleiben und miteinander kooperieren. Ähnlich wie beim Frame der EU als Bundesstaat impliziert auch die direkt mit dem Verfassungsprojekt verknüpfte Deutung der EU als Verfassungsgemeinschaft eine hohe Verbindlichkeit der EU. Als Verfassungsgemeinschaft garantiert sie den Bürgern und Ländern gleiche Rechte und gleiche Pflichten.

Das zweite Konfliktthema verweist auf die soziale Seite der EU, deren Stärkung vor allem in Frankreich Politiker linker Parteien und Gewerkschaftsvertreter im Rahmen einer europäischen Sozialpolitik einfordern. Für diese Akteure birgt die Verfassung die Gefahr, die bislang gegenüber der Marktliberalisierung unterentwickelte europäische Sozialpolitik in dieser schwachen Form zu zementieren (vgl. Dietzsch 2009; Gaisbauer und Pausch 2009; Statham und Trenz 2013). In dem Konflikt stehen sich also Frames der EU als gemeinsamer Markt und als Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik gegenüber, die etwa über sozialpolitische Aktivitäten auch marktregulierend tätig wird.

Das dritte Konfliktthema betrifft das Demokratiedefizit der EU. Gemeint sind die Mitbestimmungschancen der Bürger, die im Vertragstext mit den Rechten des Europäischen Parlaments festgeschrieben sind und während des Ratifikationsprozesses in einigen Ländern durch das Abhalten von Referenden gestärkt werden (vgl. Butter 2009). Während die Parlamentsrechte in allen Ländern überwiegend als nicht weitreichend genug eingeschätzt werden, steht gerade in Deutschland der Verzicht auf ein Referendum in der Kritik (vgl. Statham und Trenz 2013). Dieses Thema spricht einen Frame an, der die EU als eine politische Wertegemeinschaft deutet, in der demokratische Prinzipien zentral sind.

Schließlich geht es beim vierten Konfliktthema um die Präambel des Verfassungstextes, die gemeinsame kulturelle und historische Wurzeln der Mitgliedsländer herausstellen sollte. Streitpunkte waren neben Bezügen auf die Aufklärung und die griechisch-römische Antike vor allem die Frage eines Gottesbezugs im Verfassungstext (vgl. Heit 2006). Nach langer Debatte verzichtete man weitgehend auf eine historische Konkretisierung des europäischen Kulturraums. Dennoch spricht der Streit um die kulturellen Wurzeln der EU einen Frame zur Deutung der EU als Kulturgemeinschaft an.

Inwieweit die jeweilige Ausprägung der einzelnen Konfliktthemen in den Ländern mit unterschiedlichen Identitätsdeutungen zur EU zu tun hat, wird in den Studien nicht herausgearbeitet. Damit bleibt unklar, in welchem Maße die EU in der Verfassungsdebatte als eine bestimmte Art von Gemeinschaft befürwortet oder abgelehnt wird. Außerdem zeigen die Studien (vgl. Gaisbauer und Pausch 2009; Statham und Trenz 2013) zwar, dass die jeweils eigene Nation in den öffentlichen Debatten zur Verfassung der zentrale Referenzpunkt bleibt. Sie geben aber keine Hinweise darauf, inwieweit die diskutierten Zielvorstellungen der EU als Chance oder Risiko für das eigene Land gedeutet werden.

4 Fragestellung und Hypothesen

Der Beitrag untersucht die Konstruktion europäischer Identität in einer segmentierten europäischen Öffentlichkeit und bezieht sich auf die Debatten zu den Referenden zum Verfassungs- und zum Lissabon-Vertrag. Die Forschungsfragen richten sich auf Länderunterschiede in den Frames zur inhaltlichen Deutung der Gemeinschaft und in den Identifikationen mit der EU. Übergreifend wird danach gefragt, inwieweit die Einbindung der Bürger über Referenden in den jeweiligen Ländern mit einer Hervorhebung von Chancen- und Risikowahrnehmungen einhergeht. Leitend sind vier Forschungsfragen:

FF1:

Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen sich zwischen den Ländern in den Identitätsframes zur EU?

FF2:

In welchem Ausmaß identifizieren sich die Länder in ihren Diskursen mit der EU auf der affektiven und der instrumentellen Ebene?

FF3:

Wie unterscheiden sich Länder, die ein Referendum zum Verfassungsvertrag durchgeführt oder nur geplant haben, von Ländern ohne Referendumspläne?

FF4:

Wie unterscheiden sich die Identitätskonstruktionen in Ländern mit Referendum bzw. Referendumsplänen zum Verfassungsvertrag im Vergleich mit den Debatten zum Verfassungs- und Lissabon-Vertrag?

Aus Untersuchungen zu den Themen im Verfassungsdiskurs ist abzuleiten, dass der Identitätsdiskurs in allen Ländern von vier zentralen Themen beherrscht wird, an die Identitätsdeutungen anschließen können: 1) das Thema Souveränität des Nationalstaates in der EU spricht Identitätsframes zur Verbindlichkeit der EU als Bundesstaat oder Staatenbund an, 2) das Thema Sozialstaatlichkeit der EU aktiviert Identitätsframes zur Deutung der EU als gemeinsamer Markt und als Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik, die marktregulierend tätig wird, 3) das Thema Demokratiedefizit betrifft einen Frame zur Deutung der EU als politische Wertegemeinschaft, 4) das Thema kulturelle Wurzeln der EU spricht Identitätsframes zur kulturellen Begründung europäischer Zusammengehörigkeit an.

Für die Verteilung dieser Identitätsframes in den nationalen Diskursen kann es eine Rolle spielen, ob die Bevölkerung in dem jeweiligen Land über ein Referendum in den Entscheidungsprozess eingebunden ist. Länder mit Referendum geben ihrer Bevölkerung die Möglichkeit, ein Votum zur institutionellen Verfasstheit der EU abzugeben; daher dürften in diesen Ländern Frames im Vordergrund stehen, die an das Konfliktthema Souveränität der Nation in der EU anknüpfen. Dabei kann die EU als ein Bundesstaat, Staatenbund oder als eine Verfassungsgemeinschaft angesprochen werden. In Ländern ohne Referendum dürfte hingegen das Demokratiedefizit ein wichtiges Konfliktthema sein. Damit liegen in diesen Ländern Deutungen der EU als politische Wertegemeinschaft nahe. Da nur zum Verfassungsvertrag in mehreren EU-Ländern Referenden angesetzt waren, Referenden zum Lissabon-Vertrag aber bis auf Irland in allen Ländern vermieden wurden, dürften die Länderunterschiede vor allem im Zeitraum 2005 deutlich werden. Diese zeitliche Spezifikation gilt für alle in den folgenden Hypothesen angesprochenen Vergleiche zwischen Ländern mit und ohne Referendumsentscheidung.

H1:

In Ländern mit Referendum oder Referendumsplänen sind Frames, die an das Konfliktthema der Souveränität der Nation in der EU anknüpfen, zentraler als in Ländern ohne Referendum.

H2:

In Ländern ohne Referendum oder Referendumspläne sind Frames zu den politischen Werten der EU zentraler als in Ländern mit Referendum.

In Hinblick auf die affektiven und instrumentellen Identifikationen mit der EU ist anzunehmen, dass die Symbolisierung von Gemeinschaft durch das Verfassungsprojekt vor allem die emotionale Verbundenheit berührt. Während die damit angesprochene affektive Identifikation mit der EU aber relativ unverbindlich bleiben kann, ist die instrumentelle Identifikation voraussetzungsvoller. Sie erfolgt zweckrational aus Abwägungen der wahrgenommenen Chancen und Risiken eines bestimmten Typs der Gemeinschaft für das jeweils eigene Land. Da die Reflexion der konkreten Folgen von EU-Entscheidungen für das eigene Land häufig zu einer größeren Skepsis führt, dürften die affektiven Identifikationen während der Referendumsdebatten stärker ausfallen als die instrumentellen Identifikationen. In Kontexten, in denen EU-Themen stark politisiert sind und Risiken der Integration diskutiert werden, ist außerdem zu erwarten, dass die instrumentelle Identitätskomponente häufiger reflektiert wird als die affektive Komponente. Ein solcher Kontext dürfte die Durchführung oder Planung eines Referendums zum Verfassungsvertrag 2005 im eigenen Land sein. Angesichts abweichender nationaler Interessen sollte die Stärke der instrumentellen Identifikation zwischen den Ländern größere Differenzen aufweisen als die Stärke der affektiven Identifikation. Daraus ergeben sich drei weitere Hypothesen:

H3:

In Ländern mit einem Referendum oder Referendumsplänen wird die instrumentelle Identitätskomponente häufiger angesprochen als in Ländern ohne Referendum.

H4:

Die affektiven Identifikationen fallen in den Ländern stärker aus als die instrumentellen Identifikationen.

H5:

Die Stärke der Identifikation unterscheidet sich auf der instrumentellen Komponente zwischen den Ländern erheblich. Die Unterschiede zwischen den Ländern dürften dagegen auf der affektiven Komponente geringer sein.

Im Zusammenspiel zwischen den Deutungen der EU und der Stärke der Identifikationen ist schließlich kaum von Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern auszugehen. Die Länder sind nicht nur auf je eigene Weise historisch und kulturell mit der Idee der europäischen Integration verwachsen, sie profitieren auch von verschiedenen Aspekten der EU. Die Konfliktthemen zur Verfassung legen nahe, dass die Länder zu einer Reihe von Deutungen der EU gegensätzliche Positionen einnehmen. So dürften etwa in Großbritannien anstelle von Deutungen der EU als Bundesstaat oder als Verfassungsgemeinschaft, die beide eine hohe Verbindlichkeit der politischen Integration implizieren, die EU als Staatenbund und als gemeinsamer Markt besonders positiv bewertet werden. Im Gegensatz dazu dürften Identifikationen in Frankreich aufgrund der Debatte zur europäischen Sozialpolitik weniger mit dem gemeinsamen Markt zusammenhängen als mit gemeinsamer Innenpolitik. Damit ist insgesamt zu erwarten, dass zu den einzelnen Identitätsframes zwischen den Ländern keine geteilten Identifikationen vorliegen. Es ergibt sich folgende Hypothese:

H6:

Die Stärke der Identifikationen für die einzelnen Frames variiert stark zwischen den Ländern. Keiner der Frames wird übereinstimmend in allen Ländern überwiegend mit Identifikationen verbunden.

5 Untersuchungsdesign und Methode

Die Hypothesen lassen sich anhand von Daten prüfen, die im DFG-Projekt Nationale Konstruktionen europäischer Identität mit einer quantitativen Medieninhaltsanalyse erhoben worden sind. Hier ging es um die Identitätskonstruktionen zu Erweiterungs- und Vertiefungsmomenten der EU in acht Ländern. In diesem Beitrag nutzten wir die Daten für fünf große EU-Länder, die sich in Hinblick auf die Entscheidung, ihre Bevölkerung zur Verfassung zu befragen, voneinander unterscheiden. In Frankreich lehnte die Bevölkerung die Verfassung im Referendum 2005 ab. Das hat die Referendumspläne in Polen und Großbritannien obsolet gemacht. In Deutschland und Italien war nie ein Referendum vorgesehen. Durch diese Länderauswahl lässt sich untersuchen, inwieweit die Referendumspläne eines Landes mit mehr oder weniger starken Chancen- und Risikowahrnehmungen für das eigene Land einhergehen.

In jedem Land wurden zwei Titel der politischen Wochenpresse untersucht, die als Leitmedien gelten, einen hohen Anteil politischer Artikel veröffentlichen und einen Schwerpunkt auf reflexive Beiträge legen, die für Identitätskonstruktionen wesentlich sind. Als Leitmedien zeichnen sich die ausgewählten Titel durch einen starken Einfluss nicht nur auf andere Massenmedien, sondern auch auf die öffentliche Meinungsbildung aus (vgl. Jarren und Vogel 2009). Sie werden in der Verfassungsdebatte als Foren für nationale Selbstverständigungsdiskurse zur EU analysiert. Da frühere Untersuchungen darauf hingewiesen haben, dass die Einstellungen zur EU im publizistischen Links-Rechts-Spektrum nur sehr begrenzt die politischen Lager spalten (vgl. Eilders und Voltmer 2003; Wessler et al. 2008), spielt die politische Orientierung der Medien in der Auswahl eine untergeordnete Rolle. Ausgewählt wurden für Frankreich Le Nouvel Observateur und Le Point, für Großbritannien The Economist und The Observer, für Polen Wprost und Polityka, für Deutschland Der Spiegel und Die Zeit und für Italien Panorama und L‘Espresso. Der Untersuchungszeitraum umfasst jeweils sieben Wochen um die Referenden in Frankreich 2005 und in Irland 2008, sodass zweimal sieben Ausgaben pro Zeitschrift einbezogen werden. Da es sich bei den Referenden um angekündigte Ereignisse handelt, werden neben der Woche, in der die jeweilige Abstimmung stattgefunden hat, für jeden Zeitraum auch drei Wochen Vorberichterstattung berücksichtigt. Weil auch nach den Ereigniswochen noch mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Referenden zu rechnen ist, bezogen wir zudem drei Wochen Nachberichterstattung ein. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich damit vom 8. Mai bis zum 25. Juni 2005 und vom 18. Mai bis zum 5. Juli 2008. Die relevanten Beiträge wurden über EU-Bezüge in Überschriften und Leads identifiziert. Es handelt sich um eine Vollerhebung.

Codiereinheiten waren die einzelnen in den Artikeln artikulierten Identitätsframes, aus denen die Deutungen der EU von Öffentlichkeitssprechern hervorgingen. Ein Identitätsframe liegt vor, wenn in der Berichterstattung eine Perspektive auf die EU zum Ausdruck kommt, die die Union als eine bestimmte Art von Gemeinschaft (z. B. als politische, kulturell verbundene oder als Wirtschaftsgemeinschaft) erscheinen lässt (vgl. Eilders und Lichtenstein 2010). Ein Identitätsframe geht damit über den Bezug auf ein EU-Thema (wie etwa eine EU-Richtlinie) hinaus und beinhaltet eine themenübergreifende Logik, die allgemeine Zielvorstellungen, Normen und historische Aspekte impliziert. Beispielsweise enthält der Frame zur Deutung der EU als Gemeinschaft mit gemeinsamer Außenpolitik die Vorstellung von Einfluss in der Weltpolitik und die Norm Geschlossenheit. Sie grenzt sich historisch vom Zeitalter des Nationalismus ab, als die Nationen gegeneinander Großmachtpolitik betrieben haben. Frames etablieren so einen Rahmen für die politische Debatte und Bewertungen politischer Entscheidungen. Die Codierung der Frames erfolgte nicht über einzelne Frame-Elemente, sondern ganzheitlich.Footnote 2 Sie bezieht sich auf einen ausdifferenzierten Katalog von 28 Subframes (vgl. Tab. 4), die aus der einschlägigen Literatur hergeleitet und im Vorfeld der Untersuchung am Datenmaterial getestet worden sind. Die Subframes lassen sich auf zehn Hauptframes aggregieren, die auf 1) politische, 2) ökonomische, 3) kulturelle und 4) geografische Aspekte der Union abzielen. 1) Die politische Gemeinschaft EU wird als stark integrierter Bundesstaat oder als schwach integrierter Staatenbund souverän bleibender Nationalstaaten gedeutet. Der Frame Verfassungsgemeinschaft zielt auf eine gemeinsame Grundlage an staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten ab. Weitere politische Frames beziehen sich auf die EU als Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik und dem Ziel marktbeschränkender Regulierungen in der Sozial-, Umwelt- und Energiepolitik oder als Gemeinschaft mit gemeinsamer Außenpolitik. 2) Ökonomische Frames deuten die EU als gemeinsamen Markt, der durch freien Handel und das gemeinsame Streben nach Wohlstand charakterisiert ist, sowie als Währungsgemeinschaft, in der die Staaten durch den Euro integriert sind. 3) Kulturelle Frames beschreiben die EU erstens als politische Wertegemeinschaft, die für Demokratie einsteht. Zweitens ist die EU als Kulturgemeinschaft angesprochen, die über gemeinsame kulturelle Wurzeln den Begegnungen zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern einen stabilen Rahmen gibt. Der Frame 4) geografische Gemeinschaft setzt die EU mit dem europäischen Kontinent gleich.

Die Valenzen der Frames wurden separat erhoben, wobei für jeden codierten Frame zwischen einer Identifikation (+ 1) und einer Ablehnung (− 1) unterschieden wird. So lässt sich auf Ebene der Untersuchungsländer über die Saldi zwischen positiven und negativen Bewertungen für die EU insgesamt und für jeden einzelnen Frame die Stärke der Identifikation berechnen, die dann zwischen + 1 und − 1 variiert. Da neutrale Bewertungen (0) nur in Ausnahmefällen codiert worden sind, zeigt eine Identitätsstärke zwischen 0,10 und − 0,10 an, dass die Identifikation mit der EU bzw. einem Frame umkämpft ist. Unterschieden wurde weiterhin zwischen der affektiven und der instrumentellen Komponente der Identifikation. Als affektive Identifikationen galten die unmittelbaren Bewertungen der EU, in denen kein Bezug zum eigenen Land hergestellt wurde. Davon unterscheiden sich instrumentelle Identifikationen, in denen die EU zweckrational als Chance oder Risiko für das jeweils eigene Land bewertet wird.

Für die zweiwöchige Codiererschulung und den Pretest verwendeten wir zufällig ausgewählte deutschsprachige Artikel aus dem Datenmaterial für Deutschland sowie zufällig ausgewählte übersetzte Artikel für die anderen Länder. Auf diese Weise ließ sich die Validität des InstrumentsFootnote 3 auch für die fremdsprachigen Texte prüfen. Insgesamt sind 50 Artikel in die Tests eingegangen. Die Codierung nahmen sieben Codiererinnen vor. Der Reliabilitätskoeffizient nach Holsti liegt für die inhaltlichen Variablen insgesamt bei 0,84.Footnote 4 Dabei liegen die Werte für die in der Untersuchung zentralen Variablen der Frames (0,92) und Identifikationen (0,83) auf einem guten Niveau. Der Koeffizient für die Reliabilität der Identifikation von Identitätsframes liegt bei 0,72.

6 Befunde

Von den insgesamt 3257 codierten Identitätsframes finden sich die meisten im Zeitraum des Verfassungsreferendums 2005 (vgl. Tab. 1). Dabei fällt die Debatte in Frankreich, wo ein Referendum stattgefunden hat, mit Abstand am intensivsten aus. Das legt eine besonders starke Politisierung europäischer Identität im Zuge der Referendumsentscheidung nahe.

Tab. 1 Verteilung der Identitätsframes über Länder und Zeiträume in Prozent

6.1 Verteilung der Identitätsframes in den Ländern

In Hinblick auf die Verteilung der Identitätsframes zur EU in den nationalen Öffentlichkeiten wurde angenommen, dass sich die aus der Forschung bekannten Konfliktthemen zum europäischen Verfassungsvertrag auch in den Identitätsdiskursen der Länder niederschlagen. Erwartungsgemäß spielen die Frames, die an die vier Konfliktthemen anschließen, in den untersuchten Diskursen eine besonders große Rolle. Weitere Frames, in denen die EU als Gemeinschaft mit gemeinsamer Außenpolitik, als Währungsgemeinschaft oder als geografische Gemeinschaft gedeutet wird, kommen nur in wenigen Fällen vor (vgl. Tab. 5). Die geringste Rolle spielt der Frame zur Deutung der EU als Kulturgemeinschaft (vgl. Abb. 1). Im Zeitraum 2005 liegen die Werte zwischen 8,0 % in Polen und 2,2 % in Frankreich; 2008 hat der Frame einen Anteil zwischen 14,0 % in Polen und 2,0 % in Italien. Darin zeigt sich, dass über die Diskussion zur Präambel zum Verfassungsvertrag zwar berichtet wurde, der Streit um die kulturellen Wurzeln der EU aber eher ein Expertendiskurs blieb und in den Medien nicht für umfassende identitäre Reflexionen genutzt wurde.

Deutlicher drückt sich das Konfliktthema Sozialpolitik im Identitätsdiskurs aus. Es steht mit Deutungen der EU als gemeinsamer Markt und als Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik in Verbindung. Diese beiden Frames bestimmten die einzelnen nationalen Diskurse im Zeitraum 2005 mit Anteilen zwischen 21,7 % in Frankreich bis 36,1 % in Deutschland. Im Zeitvergleich kommt dabei dem Frame gemeinsamer Markt in den westeuropäischen Ländern Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien 2005 etwas mehr Bedeutung zu als 2008. Ein Jahr nach der Osterweiterung spiegelt sich darin die Kontroverse über wirtschaftliche Vorteile des Binnenmarkts einerseits und die billige Konkurrenz und das drohende Sozialdumping andererseits wider.

Abb. 1
figure 1

Verteilung der Identitätsframes im Länder- und im Zeitvergleich. Zur besseren Übersicht werden in dieser Darstellung nur die Frames mit Bezug zu den Konfliktthemen kulturelle Wurzeln (Kulturgemeinschaft) und Sozialstaatlichkeit (Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik, gemeinsamer Markt) abgebildet

Für die Ausprägung der Identitätsframes, die mit den Konfliktthemen zur Souveränität der Nation in der EU und zum Demokratiedefizit der Union in Verbindung stehen, vermuteten wir in den Hypothesen 1 und 2 einen Zusammenhang mit der Entscheidung eines Landes, ein Referendum zum Verfassungsvertrag abzuhalten bzw. zumindest zu planen. Nach Hypothese 1 sollten in Ländern, die sich für ein Referendum entschieden haben, drei Deutungen der EU besonders im Vordergrund stehen. Das sind die Frames zur Verbindlichkeit der politischen Integration, die an das Thema Souveränität der Nation anknüpfen: die EU als Verfassungsgemeinschaft, als Bundesstaat und als Staatenbund. Diese Frames werden in den Ländern auf je eigene Weise gewichtet (vgl. Abb. 2). Das gilt für den Zeitraum 2005 vor allem für den Frame Verfassungsgemeinschaft, der die Union als eine Gemeinschaft von Bürgern mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten deutet und besonders eng mit dem Ereigniskontext verbunden ist. Die Präsenz des Frames hängt von der Entscheidung für ein Referendum im jeweiligen Land ab. Entsprechend häufig ist die EU als Verfassungsgemeinschaft in Frankreich angesprochen (45,8 %), entsprechend selten in Italien (6,5 %) und Deutschland (4,7 %). Demgegenüber findet sich die Grundsatzdiskussion zwischen den beiden konträren Modellen der EU als Bundesstaat und als Staatenbund vor allem in Großbritannien (44,4 %) und deutet dort auf eine besonders ambivalente Einstellung zur Vertiefung der EU hin. Insgesamt bestätigen die Befunde Hypothese 1. Die Frames zur Verbindlichkeit der EU strukturieren den medialen Diskurs 2005 in Frankreich zu fast zwei Dritteln und in Polen sowie Großbritannien, wo ein Referendum zur Verfassung geplant war, fast zur Hälfte. In Italien (33,5 %) und Deutschland (27,7 %) sind die Frames zur Verbindlichkeit der EU zwar ebenfalls wichtige Elemente im Diskurs, aber weniger dominant.

Verglichen mit der Debatte zum Lissabon-Vertrag 2008 werden Zusammenhänge zwischen den Identitätsdeutungen zur Verbindlichkeit der EU und den Referenden im eigenen Land noch einmal besonders deutlich. Da zum Lissabon-Vertrag 2008 in keinem der Untersuchungsländer ein Referendum angesetzt war, fallen die Deutungen zur Verbindlichkeit der Integration zwischen den Ländern erwartungsgemäß einheitlicher aus als 2005. Die Anteile der einschlägigen Frames liegen 2008 zwischen 27,4 % in Italien und 42,3 % in Frankreich. In den Ländern mit einem zumindest geplanten Referendum zum Verfassungsvertrag 2005 fallen sie 2008 deutlich niedriger aus als im früheren Zeitraum.

Das Konfliktthema Demokratiedefizit der EU spricht der Frame zur Deutung der EU als politische Wertegemeinschaft an. Gemäß Hypothese 2, nach der politische Werte der EU vor allem in Ländern ohne Referendum zentrale Bezugspunkte sind, heben 2005 besonders Deutschland (18,3 %) und Italien (16,2 %) auf eine Demokratisierung der EU ab. Die Werte liegen höher als in Frankreich (7,6 %) und Großbritannien (5,4 %), wo ein Referendum zum Verfassungsvertrag stattgefunden hat bzw. geplant war. Entgegen der Hypothese sind politische Werte aber auch in Polen, wo ebenfalls ein Referendum stattfinden sollte, ein relevanter Bezugspunkt im Diskurs (15,5 %). Das kann damit erklärt werden, dass die Ansetzung des polnischen Referendums noch nicht endgültig beschlossen war und daher noch Forderungen nach einer Demokratisierung der EU laut wurden.

In der Debatte um den Lissabon-Vertrag 2008 liegt der im ersten Zeitraum festgestellte Länderunterschied erwartungsgemäß nicht mehr vor. Der Frame politische Wertegemeinschaft ist nach wie vor in Deutschland am stärksten ausgeprägt (18,9 %). Da in diesem Zeitraum aber auch in Frankreich und Großbritannien kein Referendum stattgefunden hat, erhöht sich 2008 der Stellenwert des Frames „politische Wertegemeinschaft“ sowohl im französischen (11,5 %) als auch im britischen (13,2 %) Diskurs. Folglich findet Hypothese 2, nach der Länder ohne Referendum zum Verfassungsvertrag Frames zu den politischen Werten der EU im Zeitraum 2005 zentraler behandeln als Länder mit Referendum, eingeschränkte Bestätigung.

Abb. 2
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Verteilung der Identitätsframes im Länder- und im Zeitvergleich. Zur besseren Übersicht werden in dieser Darstellung nur die Frames mit Bezug zu den Konfliktthemen Souveränität der Nation (Verfassungsgemeinschaft, Bundesstaat, Staatenbund) und Demokratiedefizit der EU (Gemeinschaft mit politischen Werten) abgebildet

6.2 Bezüge auf die affektive und die instrumentelle Identitätskomponente

Bei allen Deutungen der EU wird die Identifikation mit der Gemeinschaft sowohl auf der affektiven als auch auf der instrumentellen Komponente diskutiert. In Hypothese 3 nahmen wir an, dass die instrumentelle Identitätskomponente in Ländern mit einem Referendum oder Referendumsplänen häufiger angesprochen wird als in Ländern ohne Referendum.

Insgesamt thematisieren die Journalisten die affektive Komponente in den Debatten zur Verfassung und zum Lissabon-Vertrag häufiger als die instrumentelle Komponente (vgl. Abb. 3). Besonders stark ist das Übergewicht der affektiven Identitätskomponente 2005 in Deutschland und Italien, etwas schwächer in Polen und Großbritannien. Nur in Frankreich überwiegen deutlich die Bezüge auf die instrumentelle Identitätskomponente. Hypothese 3 kann also bestätigt werden. Demnach spielt die Wahrnehmung von Chancen und Risiken der Integration für das eigene Land eine größere Rolle, wenn im Land ein Referendum zum Verfassungsvertrag stattfand oder zumindest geplant war. Damit ist gleichzeitig festzuhalten, dass die Politisierung von Identität im Zuge der Referenden weniger mit einer stärkeren gesamteuropäischen Perspektive zusammenhängt als mit häufigeren Bezügen zu den Konsequenzen der Integration für das eigene Land.

Der Befund wird auch durch den Zeitvergleich gestützt. 2008 reduziert sich in Frankreich, wo in diesem Zeitraum kein Referendum stattfand, im Vergleich zu 2005 der Stellenwert der instrumentellen Identitätskomponente, und es überwiegt deutlich der Anteil der affektiven Komponente. Ähnlich fällt die Entwicklung in Großbritannien aus. Nur in Polen zeigt sich zwischen den Zeiträumen kein Unterschied.

Abb. 3
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Verteilung der affektiven und instrumentellen Identifikationen in den Ländern und Zeiträumen in Prozent

6.3 Stärke der Identifikationen auf den Identitätskomponenten

Zu allen Deutungen der EU finden sich sowohl Identifikationen als auch Ablehnungen. Für die Gesamtheit der Frames und für die einzelnen Deutungen lassen sich dabei Identifikationen und Ablehnungen miteinander ins Verhältnis setzen. Während ein Wert nahe 1 auf eine starke Identifikation und ein Wert nahe − 1 auf eine starke Ablehnung der EU verweist, zeigt ein Wert nahe Null die Umstrittenheit eines Frames an. Um die besonders konfliktreichen Frames zu identifizieren, wurde eine Identifikationsstärke zwischen 0,10 und − 0,10 als kritische Größe zugrunde gelegt. Überwiegend mit Identifikationen ist ein Frame verbunden, der eine Identitätsstärke von mindestens 0,11 aufweist; Werte von − 0,11 und niedriger weisen auf eine Ablehnung des Frames hin.

In den Hypothesen 4 und 5 vermuteten wir zunächst ohne Unterscheidung zwischen den Frames, dass die affektiven Identifikationen in den Ländern stärker ausfallen und gleichzeitig in ihrer Stärke zwischen den Ländern weniger Unterschiede aufweisen als die instrumentellen Identifikationen. Für die Gesamtheit der Frames überwiegen Identifikationen mit einem Frame gegenüber Ablehnungen des jeweiligen Frames; dabei fällt die Kontroverse in den Bewertungen im Kontext des irischen Referendums zum Lissabon-Vertrag schwächer aus als in den Debatten zum Verfassungsvertrag. In diesem späteren Zeitraum lässt sich daran eine weitaus schwächere Politisierung europäischer Identität in den Länder ablesen als im ersten Zeitraum.

Die in Hypothese 4 vermutete, im Vergleich zur affektiven Komponente schwächer ausfallende Identifikation auf der instrumentellen Dimension bestätigt sich für Frankreich (vgl. Tab. 2). Nur dort ist die Reflexion konkreter Folgen der EU-Mitgliedschaft für das eigene Land 2005 auf der instrumentellen Komponente auch mit Skepsis verbunden (0,00), während auf der affektiven Komponente gleichzeitig Sympathie für die EU besteht (0,61). Dieser stark ausgeprägte Zwiespalt zum Zeitpunkt des eigenen Referendums zeigt, dass in der Politisierung europäischer Identität Ideen zur Ausgestaltung der Gemeinschaft zwar affektive Identifikationen mobilisieren können, sie aber gleichzeitig in Hinblick auf Chancen und Risiken für das eigene Land kritisch behandelt werden. Da in den Vertiefungszeiträumen aber nicht in allen Ländern die instrumentellen Identifikationen schwächer ausfallen als die affektiven, kann Hypothese 4 insgesamt nicht bestätigt werden.

Die für Frankreich festgestellte kritische Sicht auf die Konsequenzen der EU für das eigene Land wird im Verfassungszeitraum auch von den meisten anderen Ländern geteilt. Entgegen Hypothese 5 unterscheiden sich die Länder auf der instrumentellen Komponente in der Stärke ihrer Identifikation kaum voneinander. In fast allen Ländern liegen die instrumentellen Identifikationen bei Werten zwischen 0,10 und − 0,10 und sind damit stark umkämpft. Nur in Italien fällt die Identitätsstärke 2005 positiv aus (0,46). Im Unterschied dazu zeigen sich auf der affektiven Komponente unerwartet starke Schwankungen zwischen den Ländern. Frankreich und Deutschland weichen deutlich von den anderen Ländern ab, indem sie eine starke Identifikation mit der EU artikulieren. Die Unterschiede auf der affektiven Komponente verweisen auf national divergierende Vorstellungen von Werten und Kultur, Politik und Wirtschaft, die in der Wahrnehmung der EU zu voneinander abweichenden Bewertungen führen.

Tab. 2 Stärke der affektiven und instrumentellen Identifikationen im Ländervergleich (als Mittelwert der Identifikationsstärke; N in Klammern)

6.4 Stärke der Identifikationen mit den einzelnen Frames der EU

Die Stärke der Identifikation lässt sich nicht nur für die EU allgemein, sondern auch für die einzelnen Identitätsframes berechnen. In Hypothese 6 nahmen wir an, dass die Stärke der Identifikationen für die einzelnen Frames stark variiert, sodass keiner der Identitätsframes in allen Untersuchungsländern überwiegend mit Identifikationen verbunden ist. Da die Fallzahlen für die Frames Gemeinschaft mit gemeinsamer Außenpolitik, Währungsgemeinschaft und geografische Gemeinschaft sehr niedrig liegen, lässt sich die Hypothese nur für die übrigen Frames prüfen. Diese stehen mit den vier identifizierten Konfliktthemen in Verbindung und haben daher einen höheren Stellenwert im Diskurs.

Wie erwartet variiert die Stärke der auf die einzelnen Frames bezogenen Identifikationen zwischen den Ländern deutlich (vgl. Tab. 3). Länderunterschiede treten bei den Frames zur Verbindlichkeit der Integration zutage, die mit dem Konfliktthema der Souveränität der Nation in der EU zusammenhängen. Die EU als Verfassungsgemeinschaft erfährt 2005 in Polen (− 0,42) und Großbritannien (− 0,51) gegenüber den anderen Ländern eine starke Ablehnung. Das gilt vor allem für die instrumentelle Komponente, wo die Werte in Polen bei − 0,61 und in Großbritannien bei − 0,78 liegen (vgl. Tab. 6; für 2008 vgl. Tab. 7). Ähnlich überwiegt auch in Frankreich, das die EU als Verfassungsgemeinschaft affektiv unterstützt (0,59), mit Blick auf die Folgen für die eigene Nation die Ablehnung der EU (− 0,11). Risiken der EU als eine Verfassungsgemeinschaft wie etwa Auswirkungen EU-weit geltender Rechte auf die nationale Gesetzgebung werden also häufiger angesprochen als die Chancen.

Während der Frame Bundesstaat in den meisten nationalen Diskursen und vor allem in Deutschland und Frankreich mit Identifikationen verknüpft wird, finden sich für den Gegen-Frame Staatenbund in den meisten Ländern kaum Identifikationen. Eine Ausnahme stellt Großbritannien dar, wo beide Deutungen 2005 stark umkämpft sind. 2008 lässt sich aber in fast allen anderen Ländern eine beginnende Umorientierung in Richtung einer stärkeren Identifikation mit der EU als Staatenbund feststellen, die in Italien (0,67) und Großbritannien (0,52) besonders deutlich wird. Nur in Deutschland stößt der Frame konstant auf Ablehnung. Das heißt, dass die Unterordnung der Nation unter eine politisch stark integrierte Union hier weiterhin bejaht wird. Damit zeigen sich für den Frame Bundesstaat in allen Ländern bis auf Großbritannien Identifikationen. Zusammengenommen mit dem Frame Staatenbund kann aber keine länderübergreifend gültige Identifikation mit einer politisch starken Integration in die EU festgestellt werden. Vielmehr konkurrieren die beiden gegensätzlichen Deutungen auch innerhalb der Länder stark miteinander.

Tab. 3 Stärke der affektiven und der instrumentellen Identifikationen für alle Länder und Ereigniskontexte für die häufigsten Frames

Weniger kontrovers fallen Identifikationen für die Frames aus, die mit dem Konfliktthema Sozialpolitik in Verbindung stehen. Dabei werden die beiden Deutungen der EU als gemeinsamer Markt und als Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik, die auch marktregulierend tätig wird, nicht als Widersprüche gesehen, sondern fast alle Länder identifizieren sich konstant mit beiden Frames. Diese reflektierte Sichtweise, in der marktwirtschaftliche Prinzipien innerhalb eines gemeinsamen regulierenden Rahmenwerks befürwortet werden, gilt 2005 in einigen Ländern aber nur begrenzt für die affektive Identitätskomponente. Auf der instrumentellen Komponente hingegen ist der Frame EU als Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik in Deutschland umkämpft (− 0,05), während für die EU als gemeinsamer Markt sowohl in Deutschland (− 0,31) als auch in Frankreich (− 0,50) die Risikowahrnehmungen für das eigene Land überwiegen. Ängste vor Konkurrenz aus Osteuropa und vor einem Sozialdumping im Systemwettbewerb können hierbei eine wichtige Rolle spielen. Da in Frankreich auf diese Weise 2005 der Frame EU als gemeinsamer Markt umkämpft ist (− 0,03) und der Frame EU als Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik stark befürwortet wird (0,76), findet sich in den Daten die in früheren Studien (vgl. Dietzsch 2009; Statham und Trenz 2013) festgestellte Kritik an dem fehlenden sozialstaatlichen Ausgleich zum Binnenmarkt wieder.

Ähnlich überwiegen 2008 in Italien Ablehnungen der EU als gemeinsamer Markt (− 0,13) – hierfür dürften ökonomische Probleme im Land ausschlaggebend sein, die im Diskurs auf die Union zurückgeführt werden. Starke Abweichungen von den übrigen Ländern zeigen sich außerdem erneut für Großbritannien. Im britischen Diskurs ist die EU als ein gemeinsamer Markt zwar eine der wenigen positiv besetzten Deutungen (2005: 0,50; 2008: 0,44), die Union als Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik ist in den Bewertungen aber stark umkämpft. Damit bestätigt sich die erwartete und aus anderen Untersuchungen bekannte britische Befürwortung der ökonomischen Zusammenarbeit in einem möglichst liberal verfassten Binnenmarkt. Großbritannien erweist sich so in beiden Zeiträumen als einziges der untersuchten Länder, das die Identifikationen mit der EU als innenpolitisch regulierende Gemeinschaft nicht teilt.

Besonders gering fallen die Länderunterschiede beim Frame zur Deutung der EU als politische Wertegemeinschaft aus, der an das Konfliktthema um das Demokratiedefizit der EU gebunden ist. Über alle Länder und beide Zeiträume hinweg ist die EU als politische Wertegemeinschaft mit Identifikationen verbunden. Über diesen Frame wird in Ländern, in denen kein Referendum stattgefunden hat, eine Demokratisierung der Union eingefordert; in Ländern mit Referendumsplänen findet die Einräumung von Partizipationsmöglichkeiten Bestätigung. Die Identifikationen fallen 2008 insgesamt stärker aus, da zu diesem Zeitpunkt in keinem der untersuchten Länder ein Referendum stattgefunden hat und das Demokratiedefizit der EU daher besonders sichtbar geworden ist.

Während die EU als Wertegemeinschaft also ein Konsens-Frame ist, der länderübergreifend Identifikationen stimuliert, besteht zur Deutung der EU als Kulturgemeinschaft, die mit dem Konfliktthema der kulturellen Wurzeln der Gemeinschaft verknüpft ist, weniger Einigkeit. 2005 ist die Deutung der EU als Kulturgemeinschaft in Deutschland (− 0,04) und Großbritannien (0,14) im Gegensatz zu den anderen Ländern umkämpft bzw. schwach ausgeprägt. Hier zeigen sich analog zum Streit um die Präambel im Verfassungstext Schwierigkeiten, europäische Zusammengehörigkeit durch Geschichte, Tradition und Religion kulturell zu fundieren und konsensfähige kulturelle Inhalte europäischer Identität zu benennen. Dieses Bild ändert sich 2008 nicht, allerdings bekommt der Frame Kulturgemeinschaft nun eine deutlich geringere Relevanz.

Insgesamt wird Hypothese 6, nach der die Stärke der Identifikationen für die einzelnen Frames zwischen den Ländern deutlich variieren dürfte, sodass kein Frame in allen Ländern überwiegend Identifikationen auf sich bezieht, durch die Befunde nicht bestätigt. Im Gegenteil findet sich zwischen den Ländern ein gemeinsamer Kernbestand von Frames, die überwiegend mit Identifikationen verbunden sind. Dieser bezieht sich auf die EU als politische Wertegemeinschaft sowie – unter Ausschluss Großbritanniens – als Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik, die auch marktregulierend tätig werden soll. Diese punktuelle Einigkeit darf aber nicht über die Vielzahl an Deutungsunterschieden hinwegtäuschen, die auf ein gehöriges Konfliktpotential zwischen den Ländern verweist.

7 Diskussion

Zusammengefasst fördern die Befunde zwei zentrale Ergebnisse zutage, die sich 1) auf die Konstruktion europäischer Identität in einer national segmentierten europäischen Öffentlichkeit und 2) auf Zusammenhänge zwischen den Identitätsdiskursen und den Entscheidungen der Länder beziehen, zu Vertiefungsfragen ein Referendum abzuhalten.

In Hinblick auf die Konstruktion europäischer Identität zeigt die Studie, dass die EU in allen Untersuchungsländern überwiegend auf Identifikationen und weniger auf Ablehnungen trifft. Allerdings weichen die inhaltlichen Deutungen der EU im Vergleich der Länder und Zeiträume stark voneinander ab und sind auch unterschiedlich stark mit Identifikationen verbunden. Das bestätigt den Stand der Forschung, wonach europäische Identität in einer national segmentierten Öffentlichkeit national unterschiedlich konstruiert wird. Zudem erweist sich Identität als dynamisch und kann in unterschiedlichen Ereigniskontexten variieren.

Über die Länder und Zeiträume hinweg wird jedoch auch ein geteilter Kern von Identität sichtbar, und zwar in Form bestimmter Frames, die zwischen den Ländern übereinstimmend mit starken Identifikationen verbunden sind. Dazu gehören die Deutungen der EU als politische Wertegemeinschaft und als Gemeinschaft mit gemeinsamer Innenpolitik, die auch marktregulierend tätig wird. Diese zweite Deutung wird allerdings in Großbritannien, das starke Identifikationen mit der EU als gemeinsamer Markt verbindet, kritischer gesehen. Dennoch deuten beide Frames auf länderübergreifend geteilte Identitätsressourcen hin, auf denen auch die EU-Politik aufbauen kann.

Die Ergebnisse spiegeln einige Besonderheiten der untersuchten Ereigniskontexte wider. In den nationalen Debatten zur Vertiefung der EU ist das Framing der Union wesentlich von dem Konflikt um die Souveränität der Nation in der EU geprägt. Dieses Konfliktthema provoziert Auseinandersetzungen über Identitätsframes zur Verbindlichkeit der EU, die mit den Deutungen Bundesstaat und Staatenbund gegensätzliche politische Ausrichtungen der EU implizieren. Vor allem aber zeigen die Befunde, dass sich die Entscheidung, ein Referendum zum Verfassungsvertrag abzuhalten, in den jeweiligen nationalen Identitätskonstruktionen zur EU widerspiegelt. In Ländern ohne Referendum wird stärker für die Demokratisierung der Gemeinschaft mobilisiert, während Länder mit Referendum besonders auf die Formen der politischen Verfasstheit der EU abheben. Damit reflektieren die Identitätsdiskurse in den Ländern mit Referendum die Auseinandersetzung im nationalen Diskurs über den Kern der Referendumsentscheidung.

Auch in den Identifikationen spiegelt sich die Referendumsentscheidung. In Ländern, in denen sich die Bevölkerung über ein Referendum direkt zum Integrationsprozess verhalten kann, sind die Identifikationen mit der EU stärker umkämpft als in den übrigen Ländern. Das deutet auf eine Politisierung europäischer Identität in den Debatten hin. Im Zuge der Politisierung rücken Fragen nach den Chancen und Risiken für die eigene Nation stärker ins Zentrum der Auseinandersetzung. Das trifft vor allem auf Frankreich zu, wo als einziges Land im Sample ein Referendum zum Verfassungsvertrag tatsächlich stattgefunden hat. Hier gelingt es vor allem den Skeptikern der EU, die Risiken hervorzuheben und so gegen eine nationale Unterordnung in der EU zu mobilisieren, während Befürworter auf der affektiven Identitätskomponente erfolgreich für die EU werben. Damit überlassen die Befürworter den Kritikern aber die Deutungshoheit auf der instrumentellen Identitätskomponente, die in Referenden zur EU ausschlaggebend für das Abstimmungsergebnis sein kann.

Vor dem Hintergrund der derzeitigen Krisen der EU enthalten die Befunde einige richtungsweisende Implikationen. Die positiven Leitbilder – politische Werte und innenpolitische Regulierungen – bieten sowohl in der Euro- als auch in der Ukraine-Krise ein stabiles affektives Fundament für politische Entscheidungen wie etwa eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik bei gleichzeitiger Ausweitung der demokratischen Komponente der EU und eine Einhegung der Finanzmärkte. Allerdings stellt das derzeitige Krisenmanagement gerade in der Eurokrise die Deutung der EU als politische Wertegemeinschaft eher in Frage. Der Stellenwert demokratischer Ideale in der Union relativiert sich angesichts des von der EU-Politik ausgeübten Drucks auf die nationalen Haushalte in den Krisenländern und Verschiebung des Machtgleichgewichts zugunsten Deutschlands. Das gilt auch für die jüngsten Auseinandersetzungen zur Einmischung der Brüsseler Bürokratie in den Krisenländern und die geringe Akzeptanz der neu gewählten Regierung Griechenlands mit ihrer Sicht auf die sozialen Probleme der Krise in der Staatengemeinschaft.

Gerade mit Blick auf die Eurokrise, die nach wie vor den EU-Diskurs dominiert, lässt sich aus den Verfassungsdebatten aber auch die Lehre ziehen, einer Politisierung von EU-Themen mit der Hervorhebung von Chancen aus der europäischen Integration für die Nation zu begegnen. Im Rahmen des Referendums am 5. Juli 2015 in Griechenland, das von der griechischen Regierung im Zuge der Verhandlungen über Sparauflagen kurzfristig angesetzt worden war, standen vor allem die Nachteile einer weiteren Sparpolitik und die Nachteile einer Aufkündigung der griechischen EU- und Euro-Mitgliedschaft im Vordergrund. Demgegenüber fanden die Vorteile der EU für das Land in der hitzigen Debatte wenig Beachtung. Auch in den wirtschaftlich stabilen Ländern wie Großbritannien und den Niederlanden wird die Krise wesentlich als ein nationales Risiko verstanden. Dabei haben Kritiker der Integration die Deutungshoheit. Auf deren Druck hin wurde in Großbritannien bereits ein Referendum zum Verbleib des Landes in der EU angekündigt – in Griechenland ist ein weiteres Volksvotum über die Zukunft des Landes im Euro denkbar. Auch bei diesen anstehenden oder möglichen Referenden dürften trotz grundsätzlicher Sympathien der Bürger für die EU letztlich instrumentelle Aspekte der Integration für die Bekenntnisse für oder gegen die EU ausschlaggebend sein. Vor diesem Hintergrund kann eine Betonung der Vorteile der EU für das eigene Land im öffentlichen Diskurs einen entscheidenden Einfluss haben.