1 Einleitung

In der Nachkriegszeit hat sich in der alten Bundesrepublik ein Dreiparteiensystem aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen etabliert. In den 1980er-Jahren gelang den Grünen der Einzug in den Bundestag. Ihnen folgte nach der Wiedervereinigung die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) als Nachfolgerin der in der DDR herrschenden Staatspartei SED, der durch Vereinigung mit der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) die Etablierung als gesamtdeutsche Partei gelang. Im Jahr 2017 erweiterte sich das Parteiensystem im Bundestag erneut, dieses Mal um die Alternative für Deutschland (AfD). Grüne und AfD sind in dem Sinn neue Parteien, als ihre Hauptthemen, Umweltschutz und der Kampf gegen Atomkraftwerke bei den Grünen und Kritik am Euro und Ablehnung des Zuzugs von Kriegsflüchtlingen und Asylbewerbern bei der AfD, mit dieser starken Akzentuierung von keiner etablierten Partei vertreten wurden.Footnote 1 Allgemein formuliert behandeln wir in diesem Beitrag neue Parteien, die ein Thema durch Propagierung eines extremen Standpunkts gegenüber dem Status quo so politisieren, wie es bisher nicht Gegenstand des Parteienwettbewerbs war. Was sind die Bedingungen für die zumindest mittelfristigen Erfolge solcher Parteien? Warum ereilte Grüne und AfD nicht das gleiche Schicksal wie die Piraten, welche nach Anfangserfolgen bei Landtagswahlen mittlerweile keine landes- und bundespolitische Rolle mehr spielen?

Wir beantworten die Frage nach den Erfolgsfaktoren solcher Parteien mit dem Argument, dass der Erfolg wesentlich von der Nachfrage der Wählerinnen und Wähler nach Politikalternativen zu neuen politischen Themen abhängt. Wir argumentieren – und zeigen am Beispiel von Grünen und AfD empirisch – dass die Mobilisierungschancen neuer Parteien nicht nur vom Angebot bzw. Nichtangebot von Politikalternativen von neuen bzw. bereits etablierten Parteien zu neuen Themen abhängen, sondern wesentlich auch von der Nachfrage in einem Teil der Wählerschaft, für den das neue Thema starke Bedeutung hat, ohne dass Anhänger der etablierten Parteien das Thema als genauso wichtig einstuften.

Für neue Parteien im hier verstandenen Sinn hat Meguid (2005, 2007) den etwas enger gefassten Begriff Nischenpartei vorgeschlagen. Nischenparteien unterscheiden sich von den traditionellen Hauptparteien und ihren Ablegern dadurch, dass sie nicht klassische wirtschafts- und sozialpolitische Themen priorisieren, sondern Themen, die vorher „außerhalb der Dimensionen des Parteienwettbewerbs“ (Meguid 2005, S. 347) geblieben sind. Diese Themen seien nicht nur neu, sondern auch unabhängig von den traditionellen Konfliktlinien und erhielten durch Hervorhebung gegenüber der Normalagenda des traditionellen Parteienwettbewerbs Schwerpunktcharakter für die Reputation der Nischenpartei. Diese könne sich als Partei mit der größten Glaubwürdigkeit bei dem Thema profilieren.Footnote 2 Meguid sucht die Bedingungen für den Erfolg von Nischenparteien in ihrer Funktion für den Parteienwettbewerb und nicht inhaltlich in ihren politischen Zielen und von deren Resonanz bei der Wählerin. So kann sie mit derselben Theorie die Erfolge grüner und rechtspopulistischer Parteien erklären. Gleichzeitig ist unter dem Aspekt des Parteienwettbewerbs die Reaktion der etablierten Parteien auf den Herausforderer zentral.

Auch wir sind am Stimmenwettbewerb interessiert und fragen speziell nach den Bedingungen, die auf der Nachfrageseite den Eintritt von Neuparteien nach obiger Definition in etablierte Parteiensysteme begünstigen. Wenn Parteien die Präferenzfunktionen der Wähler kennen, d. h. die Politikpräferenzen der Wählerinnen und Wähler in Bezug auf das wahrgenommene Politikangebot der Parteien und die Folgen für die Bildung der Parteipräferenzen, dann können sie ihr Politikangebot optimal im Sinne der Stimmengewinnung an die Nachfrage anpassen. Wir konzentrieren uns auf die Präferenzfunktionen, d. h. die Erklärung der Parteipräferenzen mit der Politiknähe zu den Parteien bei dem neuen Thema im Vergleich zu einem Standardmodell für die etablierten Parteien. Als abhängige Variable dient uns die Parteipräferenz statt der Wahlentscheidung. Sie geht letzterer kausal unmittelbar voraus, erfasst aber nicht nur die Partei der höchsten Präferenz, sondern alle Parteien in der Präferenzrangordnung. Außerdem kann die CSU neben der CDU als eigenes bundesweites Bewertungsobjekt berücksichtigt werden. Dabei kommt es für die Präferenzfunktion entscheidend auf die Politiknähe aus Sicht der Wähler zu den Parteien an. Darüber geben nicht die objektiven Parteipositionen Auskunft, wie man sie z. B. durch Inhaltsanalyse von Wahlprogrammen erhebt, sondern die Wahrnehmungen der Parteipositionen durch die Wähler. Wir stützen unsere empirische Analyse deshalb auf Umfragedaten von Wählerinnen und Wählern, deren Parteiwahrnehmungen wir in einem ersten Schritt analysieren.

Wir gehen wie folgt vor. Wir stellen in Abschn. 2 Modelle zum Eintritt neuer Parteien in bestehende Parteiensysteme vor, die dafür auf Politikdistanzen zurückgreifen. In Abschn. 3 formulieren wir unser eigenes Modell samt den notwendigen Bedingungen für die Modellanwendung. Die Messung der Wählerpräferenzen, Parteipositionen und der Interessenintensität der Wählerinnen und Wähler wird zusammen mit den Kontrollvariablen in Abschn. 4 erläutert. In Abschn. 5 stellen wir die Ergebnisse unserer Modelltests vor und gehen in Abschn. 6 auf Schlussfolgerungen ein, die aus unserer Analyse der Präferenzfunktion für die Angebotsseite folgen.

2 Neue Parteien in räumlichen Modellen des Parteienwettbewerbs

Die klassischen räumlichen Modelle des Parteienwettbewerbs suchen die Erklärung für Parteieintritte vor allem in den Strategien der Politikanbieter (vgl. den Überblick bei Shepsle 1991). Sie haben sich zuerst mit dem Eintritt von Drittparteien befasst und zwar ohne, dass es dabei zu einer neuen Konfliktachse käme. Wenn man von der Annahme exogen vorgegebener Parteien abgeht, stellt sich die Frage, welche Positionen zwei etablierte Parteien auf der einen Dimension einnehmen müssen, um Drittparteien vom Eintritt abzuhalten. Unter der Annahme Stimmen maximierender Parteien und einer Gleichverteilung der Wählerinnen und Wähler auf einem policy Intervall zeigt Palfrey (1984; vgl. auch Shepsle 1991, S. 53–56), dass zur Verhinderung von Drittparteien nicht länger die Medianposition entscheidend ist, sondern dass die Positionen am ersten und am dritten Quartil des policy Intervalls für die sich zuerst positionierenden Hauptparteien und alle Positionen dazwischen für die Drittpartei Gleichgewichtspositionen darstellen. Dieses Ergebnis entspricht der Wettbewerbsdynamik des deutschen Dreiparteiensystems vor 1983, in dem sich die FDP Positionen zwischen SPD und CDU/CSU suchte und entsprechende Koalitionsregierungen anstrebte.

Formale Modelle, die für unsere Fragestellung aussagekräftig sind, müssen eine Hauptkonfliktachse für die etablierten Parteien annehmen und ein neues Thema, bei dem sich die neue Partei profiliert bzw. die etablierten Parteien so Stellung beziehen, dass die Chancen neuer Parteien minimiert werden. Das neue Thema kann in verschiedenen Formen auftreten: als neu von organisierten Interessenten formulierte Forderung an die etablierten Parteien, dieses Thema in Zukunft zu berücksichtigen, als Mobilisierungsschwerpunkt einer neuen Partei oder als neue Konfliktachse, auf der die neue und die etablierten Parteien Politikangebote machen. Die etablierten Parteien haben auf der Hauptachse des Parteienkonflikts unterschiedliche Positionen und schätzen ab, inwieweit sich eine Berücksichtigung des neuen Themas für ihre Stimmenmaximierung lohnt. Die neue Partei konzentriert sich auf das neue Thema.

Ohne einen vollständigen zweidimensionalen Politikraum kommt das Signalspiel von Hug (1995) aus, der unvollständige Information über die Stärke der neuen Anspruchsteller von Seiten der etablierten Parteien und Organisationskosten für die neue Partei annimmt. Neben der Abhängigkeit der Parteibildung von den Kosten folgt aus dem Modell, dass Forderungen der potenziell neuen Partei von einer etablierten Partei umso weniger berücksichtigt werden, je radikaler sie sind.

Cantillon (2001) nimmt einen zweidimensionalen quadratischen Politikraum an, in dem die Wähler gleich verteilt sind. Die etablierten zwei Parteien nehmen auf der Hauptachse eine linke, eine rechte oder keine Position ein und auf der zweiten, neuen Dimension ebenso eine von zwei oder keine Position. Die Parteien entscheiden, ob sie auf den beiden Dimensionen Angebote machen und wenn ja, welche, sowie wie stark sie die beiden Dimensionen in ihrem Angebot berücksichtigen. Diese signalisierte Berücksichtigung (e) erlaubt den Wählern eine Einschätzung der Glaubwürdigkeit (δ) darüber, wie stark sich eine Partei um entsprechenden policy output bemühen wird. Auf Wählerseite tritt zu dem δ ein Salienzparameter (s), der anzeigt, wie wichtig den Wählern das erste im Vergleich zum zweiten Thema ist. Für die aus dem Modell abgeleiteten Propositionen ist das Größenverhältnis von s und δ zentral. Je wichtiger die Wählerinnen und Wähler die neue Dimension im Vergleich zur alten einschätzen, desto höher muss die Glaubwürdigkeit der Altparteien bei dem neuen Thema werden, wenn der Eintritt einer neuen Partei verhindert werden soll. Cantillon zeigt, dass neben der Salienz der Themen auf Seiten der Wähler (s) die Themenpriorisierungen (e) durch die Parteien, die die Glaubwürdigkeit beim Wähler (δ) beeinflussen, entscheidend sind.

In der stärker empirisch ausgerichteten neueren Literatur zum Eintritt neuer Parteien in etablierte Parteiensysteme finden wir die Priorisierung und Salienz des neuen Themas wieder. Allerdings wird hier nicht immer klar zwischen der Analyseebene der Parteien (der Faktor e bei Cantillon) und der Wählerinnen bzw. Wähler (die Faktoren δ und s) unterschieden, sodass von den Schwerpunkten in den Wahlprogrammen direkt auf Wählersalienzen geschlossen wird. So geht auch Meguid (2005) davon aus, dass die etablierten Parteien durch Nichtbeachtung des neuen Themas die Salienz, die die Wähler dem neuen Thema beimessen, reduzieren können. Mit der Annahme der Manipulierbarkeit der Salienzen wird in der komparativen Forschung die Datenlücke bezüglich des Zusammenhangs von Themenglaubwürdigkeit (δ) und Salienzen (s) überbrückt. Dies gilt auch für die Untersuchung von Tavits (2008), die für osteuropäische Länder nachweist, dass neue Parteien vor allem von ihnen ideologisch nahestehenden Parteien Stimmen gewinnen, wenn die neue Partei eine hohe Wichtigkeit des Themas für ihre Politik signalisiert. Das Maß der Wichtigkeit eines Themas ist der Expertenbefragung von Benoit und Laver (2006) entnommen. Inwieweit die Themenpriorisierung der Parteien, sei es gemessen an ihren Wahlprogrammen oder mit Hilfe von Experten, tatsächlich die Themenglaubwürdigkeit oder Salienz beim Wähler beeinflusst, ist ein missing link der komparativen Forschung. Mit nationalen Umfragedaten für Kanada konnten Bélanger und Meguid (2008) immerhin feststellen, dass Wähler, die einer Partei eine besondere Kompetenz bei einem Thema zusprechen, nur dann mit erhöhter Wahlbereitschaft reagieren, wenn sie selbst das Thema für wichtig halten. Allerdings werden bei diesem klassischen Konzept der issue ownership (Budge und Farlie 1983; Petrocik 1996) die unterschiedlichen Parteipositionen auf der Issuedimension gerade ausgeblendet.

Wendet man dagegen das räumliche Modell des Parteienwettbewerbs auf den Eintritt neuer Parteien in etablierte Parteiensysteme an, sind zunächst die Parteipositionen und die Positionen der Wähler auf der neuen Issuedimension zu beachten. So erklärt Pardos-Prado (2015) die Wahlchancen von rechtspopulistischen Parteien im Vergleich zu den Wahlchancen von Mitte-Rechts-Parteien mit der Nähe einer Wählerin zu diesen Parteien in der Einwanderungspolitik. Der entscheidende Faktor für den Erfolg der alten Parteien sei der Zusammenhang (issue constraint) zwischen den Parteipositionen auf den bisherigen Hauptdimensionen des Parteienwettbewerbs und den Parteipositionen bei dem neuen Thema. Ist die Korrelation zwischen den Parteipositionen hoch, kann sich die gemäßigte Mitte-Rechts-Partei besser gegenüber dem neuen Herausforderer behaupten als bei niedriger Korrelation. Pardos-Prado macht aus Meguids Annahme der Unabhängigkeit der neuen Dimension des Parteienwettbewerbs von den traditionellen Konfliktlinien eine Variable, die in einzelnen Ländern verschiedene Ausprägungen haben kann. Er kann seine Hypothese mit den Umfragedaten des European Social Survey und, für Parteipositionen und issue constraint, mit der Expertenbefragung von Benoit und Laver (2006) bestätigen. Die Salienz der Themen bleibt hingegen unberücksichtigt.

Da wir uns im Folgenden explizit mit der Nachfrage nach der von der neuen Partei angebotenen Politik in Konkurrenz zum Angebot der etablierten Parteien beschäftigen, legen wir Wert auf die Sicht der Nachfrager, d. h. auf die Sicht der Wähler auf die Wettbewerbssituation. Eine neue Partei muss von den Wählern erst einmal als Wahloption wahrgenommen und im Verhältnis zu den bisherigen Optionen beurteilt werden. Für diese Beurteilung ist wie bei Pardos-Prado die Nähe zu den Parteien auf der neuen Issuedimension ein zentrales Kriterium. Der Einfluss dieser Nähe wird aber nicht wie bei Pardos-Prado durch ein auf der Parteiebene gemessenes issue constraint moderiert, sondern nach unserem theoretischen Ansatz durch die Salienz, die die Wählerinnen und Wähler dem neuen Thema beimessen. Diesen Ansatz stellen wir im nächsten Abschnitt vor.

3 Modell zur Erklärung der Präferenzen für neue Parteien im Stimmenwettbewerb

Ziel unserer Untersuchung ist die Erklärung des Erfolgs neuer Parteien. Darunter verstehen wir die Etablierung einer neuen Partei als ernstzunehmender Teilnehmer am Wettbewerb um Wählerstimmen und machen dies am voraussichtlichen Einzug in das nationale Parlament fest. Wann und unter welchen Bedingungen Parteien entstehen, ist nicht Gegenstand unserer Überlegungen. Wir gehen vielmehr von einer Entscheidungssituation aus, in der neue Parteien von Wählern und etablierten Parteien bereits als aussichtsreiche Bewerber bzw. Wettbewerber um Parlamentsmandate wahrgenommen werden.

Wir werden den Erfolg neuer Parteien gegen etablierte Parlamentsparteien mit einer Erweiterung der auf der räumlichen Theorie beruhenden Wahlfunktion erklären. Diese Erweiterung betrifft die subjektive Bedeutung (Salienz), die Wählerinnen und Wähler dem neuen Thema beimessen, das die etablierten Parteien bisher vernachlässigt haben. Der erste Schritt in diesem Prozess ist die Politisierung des Themas, indem ihm mehr Aufmerksamkeit in der öffentlichen Agenda gewidmet wird. Diese Politisierung kann von Parteien ausgehen, die das Thema priorisieren, aber auch von Interessengruppen, internationalen Regierungs- und Nichtregierungs-Organisationen oder von Ereignissen, die Problemdruck schaffen. Ist ein Thema einmal politisiert, können Wähler leichter als ohne Politisierung eine Verbindung zwischen ihren eigenen Meinungen und dem Handeln und den Verlautbarungen der Parteien herstellen als bei einem Thema, das in der öffentlichen Agenda neben den Standardthemen der Politik wenig beachtet wird.

Ein neues Thema kann zunächst als Valenzissue auf die öffentliche Agenda gelangen. Man thematisiert es als Problem, das gelöst werden muss, und die Parteien unterscheiden sich nur im Grad der Priorisierung. Andere Themen werden von Anfang an kontrovers diskutiert. Spätestens wenn es um die Formulierung von Politiken (policies) geht, die das Problem lösen sollen, werden aus Valenzissues Positionsissues: Die von den Parteien vorgeschlagenen Lösungen stellen Alternativen dar und die Wähler sind nicht einer Meinung, welche der angebotenen Lösungen die beste ist. Die geordnete Menge der vorgeschlagenen oder auch nur denkbaren Politiken spannt eine Politikdimension auf. Da unser Untersuchungsziel nicht die Analyse der Politisierung, sondern die Erklärung der Präferenz für neue Parteien ist, gehen wir davon aus, dass das neue Thema bereits politisiert ist.

Instrumente neuer Parteien zur Wählermobilisierung sind einmal eine starke Priorisierung des Themas im Gegensatz zu den etablierten Parteien, was ihnen Themenglaubwürdigkeit verschafft, und zum anderen der Vorschlag extremer Politiken, die Abstand zum Status quo schaffen. Dabei müssen sie die Aufmerksamkeitsschwelle der Wählerschaft überwinden.

Unser Ausgangspunkt ist die Parteipräferenzfunktion, d. h. die Rückführung der Parteipräferenzen auf die Distanzen zu den einzelnen Parteien bei den relevanten Politikdimensionen sowie die Einschätzung der Kompetenz, Regierungsfähigkeit, Leistung, kurz: der Valenz der Parteien. Wir betonen, dass wir nicht Wahlabsichten modellieren, sondern individuelle Präferenzordnungen über alle Parteien. Die vollständige Parteipräferenzordnung erfasst nicht nur für jeden Befragten die Partei der obersten Präferenz, sondern den Rang für jede Partei in der Parteipräferenzordnung. Wir sehen in der Präferenzordnung für alle Parteien eines Parteiensystems ein für Mehrparteiensysteme geeignetes subjektives Maß der Parteineigungen, selbst wenn wir diesem Maß nicht dieselbe Dauerhaftigkeit zuschreiben wie der Parteiidentifikation amerikanischen Typs (Pappi und Eckstein 1998). Neue Parteien müssen sich in diesen individuellen Präferenzordnungen der Wählerinnen und Wähler erst einen festen Platz zwischen den etablierten Parteien verschaffen. Das gelingt ihnen erst, wenn sie einer großen Mehrheit als Wahloptionen präsent sind, also in der Regel erst nach gewissen Anfangserfolgen in Teilen der Wählerschaft.

Krisensymptome des etablierten Parteiensystems wie z. B. ein Rückgang der Wahlbeteiligung oder Erfolge von Außenseitern bei Nebenwahlen schaffen günstige Voraussetzungen für neue Parteien. Ein Parteiensystem ist etabliert, wenn über mehrere Wahlen hinweg dieselben Parteien mit Aussicht auf Erfolg um Stimmen konkurrieren. Etabliert bedeutet nicht Stillstand, sondern umfasst auch Regierungswechsel aufgrund wechselnder Wahlerfolge. Unzufriedenheit mit der Regierung kommt dann „Her Majesty’s Most Loyal Opposition“ zugute. Das dadurch mögliche System alternierender Regierungen stärkt das etablierte Parteiensystem. Wenn dieser Mechanismus der adversarial politics gestört ist, nützt das neuen Parteien. Diese erhalten dann eine Chance, wenn die etablierten Parteien ein neues Thema, das Wählerinnen und Wähler für wichtig halten, nicht aufgreifen und keine Politiken zur Problemlösung entwickeln. Das bedeutet Mobilisierungschancen für Herausforderer.

Herausforderer können gegebene Chancen der Mobilisierung nutzen, sie können sie nicht alleine herbeiführen. Zur Politisierung eines Themas in der Wählerschaft allgemein bedarf es mehr als der Priorisierung durch eine Partei, die noch weitgehend unbekannt ist. Hat ein Thema aber die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gefunden und ist damit politisiert, kann eine neue Partei Politiken signalisieren, die abseits vom Status quo das Problem lösen sollen. Eine neue Partei, die das neue Thema gegen die Nichtbeachtung durch die etablierten Parteien priorisiert, kann bei den Wählern, für die das Thema salient ist, einen Mobilisierungsvorteil gewinnen, dem die etablierten Parteien nichts entgegenzusetzen haben, wenn deren Sympathisanten das Thema nicht für wichtig halten. Parteien, deren Aussagen zum neuen Thema glaubwürdig sind, erhalten einen Bonus von den Wählern, die das Thema für wichtig halten. Nicht glaubwürdige Parteien müssen bei denselben Wählerinnen und Wählern mit einem Malus rechnen.

Das Äquivalent der signalisierten Parteipositionen auf Wählerseite sind entsprechende Politikpräferenzen. Entsprechende Einstellungen können auch ohne die Politisierung in der Wählerschaft schon länger vorhanden gewesen sein. Erst die Politisierung und die Signalisierung von neuen Politiken, die den Status quo infrage stellen, zeitigt Folgen für die Parteipräferenzen. Darauf reagieren die etablierten Parteien mit ihren gemäßigteren Politikvorschlägen, sodass für den Stimmenwettbewerb eine Politikdimension entsteht, auf der die neue Partei eine Extremposition einnimmt. Eine neue Partei wird mit ihrer extremen Position Wähler ansprechen, die das neue Thema ebenfalls für wichtig halten und die extreme Position teilen. Bei den bisherigen Hauptthemen der etablierten Parteien, mit denen diese ihre Wahlkämpfe bestritten, werden auch nicht alle Wählerinnen und Wähler die Wichtigkeit der einzelnen Themen gleich eingestuft haben. Aber normalerweise profitieren die Parteien nicht so einseitig von der Salienz eines bestimmten Themas, dass man von der Annahme einer durchschnittlichen Wichtigkeit eines Themas für alle Wähler abgehen müsste. Wenn die Issuesalienz aber stark mit der Einnahme der einen von beiden Extrempositionen auf der neuen Konfliktdimension zusammenhängt (vgl. Tavits 2008), statt dass die Anhänger der einen Extremposition das Thema genauso wichtig finden wie die Anhänger der entgegengesetzten Extremposition, sind die beiden Extrempositionen im Hinblick auf die Salienz nicht ausbalanciert. Es entsteht ein starker Pull-Effekt für eine Partei, die in der Mitte der Wählerschaft mangels allgemein niedriger Valenzwerte keine Stimmgewinne von den alten Hauptparteien zu erwarten hat (vgl. Kurella 2017, S. 54–59).Footnote 3 Wir erwarten diesen Pull-Effekt, weil die politische Auseinandersetzung nicht nur um das für und wider bestimmter Problemlösungen geht, sondern auch um die Politisierung des Themas. Daran haben die Gegner des Status quo ein größeres Interesse als die mit dem Status quo Zufriedenen.

Wir fassen unsere Erklärung der Etablierung neuer Parlamentsparteien wie folgt zusammen:

Wenn ein neues Thema politisiert ist (externe Randbedingung) und wenn eine neue Partei als glaubwürdige Vertreterin einer gegen den Status quo gerichteten Politik in der Wählerschaft Akzeptanz findet (interne Bedingung), dann sind die Voraussetzungen dafür gegeben, dass zur Etablierung als Parlamentspartei hinreichend viele Wähler Parteipräferenzen für die neue Partei ausbilden.

Wir betrachten die externen und internen Bedingungen als strukturelle und notwendige Voraussetzungen, da die Frage nach der Anzahl der Wählerinnen und Wähler, die Parteipräferenzen für die neue Partei ausbilden, letztlich nur empirisch beantwortet werden kann. Umgekehrt ist aber bei Nichtvorliegen der Bedingungen keine Etablierung der neuen Partei zu erwarten, da die Wählernachfrage entweder zu gering ist oder von anderen Parteien befriedigt wird. Die Politisierung eines neuen Themas in der Öffentlichkeit setzt die Wähler in die Lage, eine Verbindung zwischen ihren Einstellungen und den Positionen und der Themenglaubwürdigkeit der Parteien herzustellen. Unser empirischer Untersuchungsplan sieht die Auswahl von zwei Situationen vor, in denen diese Politisierung gegeben war. Wir formulieren die Themenpolitisierung deshalb als externe Randbedingung und überprüfen lediglich, ob bei Vorliegen der internen Bedingungen unser Erklärungsmechanismus greift. Im Einzelnen beinhaltet die interne Bedingung zwei Voraussetzungen, die einerseits in der Wählerschaft und andererseits bei den Parteien gegeben sein müssen:

  1. 1.

    Ein großer Teil der Wählerschaft nimmt eine extreme Position auf der neuen Politikdimension ein und erachtet gleichzeitig diese Dimension für überdurchschnittlich wichtig.

  2. 2.

    Die neue Partei wird als Vertreterin der extremen Position mit hoher Glaubwürdigkeit wahrgenommen, während keine der etablierten Parteien diese Position teilt.

Wenn das Thema, auch mit Unterstützung der etablierten Parteien, nicht politisiert wird, obwohl eine Wählernachfrage vorhanden ist, bleibt das etablierte Parteiensystem zwar erhalten, aber wahrscheinlich mit Krisensymptomen wie einem Rückgang der Wahlbeteiligung. Die Partei, die das Wählerpotenzial der neuen Partei am ehesten gewinnen kann, ist, wie bei Pardos-Prado (2015), diejenige, deren Position auf der neuen Politikdimension als der neuen Partei oder bei deren Fehlen dem entsprechenden Extrempunkt am nächsten wahrgenommen wird.

Es bleibt noch die Frage zu klären, welche Rolle die Beziehung zwischen den Parteipositionen auf der neuen Politikdimension mit den Positionen auf der Hauptkonfliktachse des etablierten Parteiensystems hat. Beurteilt man diese Frage aus der Nachfrageperspektive der Wählerschaft, beschreiben die Parteipositionen nur einen Teil des Szenarios. Es kommt auch auf die Positionen der Wählerinnen und Wähler auf den beiden Dimensionen an. Solange die Wählereinstellungen zwischen den Dimensionen wenig korrelieren, kann die Politikdistanz auf der neuen Dimension einen unabhängigen Effekt auf die Parteipräferenz haben.

Unser Argument für die Etablierung neuer Parteien impliziert nicht, dass neue Themen die bisherigen Einflüsse auf die Parteipräferenzen der Wählerschaft außer Kraft setzen. Die in den Parteipräferenzen enthaltene „Mentalhistorie“ des bisherigen Parteiensystems wird weiterhin relevant sein. Sie lässt sich aus Wählerperspektive mit der Parteianhängerschaft und den Distanzen zu den Parteien auf der Hauptdimension des StimmenwettbewerbsFootnote 4 zwischen den etablierten Parteien erfassen. Dazu kommt situationsbezogen als Valenzmaß die Zufriedenheit mit den Leistungen der gegenwärtigen Regierung, aufgegliedert in ihrer Wirkung auf die einzelnen Parteien. Je unzufriedener eine Befragte mit den Regierungsleistungen ist, desto niedriger sollte eine Regierungspartei in ihrer Präferenzordnung stehen und desto höher eine etablierte Oppositionspartei oder eine neue Partei. Wir werden ein für die etablierten Parteien bewährtes Standardmodell im Vergleich zu den zusätzlichen Mechanismen für die Erklärung des Erfolgs neuer Parteien testen.

Bei unserem Standardmodell zur Erklärung der Parteipräferenzen steht yij für die Ränge der Parteien j (j = 1, 2, …, J) in der Rangfolge der Präferenz von Wählerin i (i = 1, 2, …, n), wobei bei J Parteien J den höchsten Rang indiziert. Die Parteianhängerschaft im Sinne einer dauerhafteren Anhängerschaft an eine und nur eine Partei sei mit pij bezeichnet und die Position einer Partei auf der Hauptdimension der etablierten Konfliktachse mit hj und die entsprechende Wählerposition mit hi. Dazu kommt die Zufriedenheit mit den Leistungen der jeweiligen Bundesregierung zij. Wir sollten erwarten, dass der entsprechende Schätzparameter λj ein positives oder negatives Vorzeichen annimmt, je nachdem, ob j Regierungspartei ist oder nicht. Für die latente Variable \(y_{ij}^{*}\) der Parteipräferenz gilt dann:

$$y_{ij}^{*}=\alpha _{j}+\lambda _{j}z_{ij}+\theta p_{ij}+\beta \left| h_{i}- h_{j}\right| +e_{ij},$$
(1)

wobei αj parteispezifische Konstanten und eij nichtbeobachtete Nutzenterme sind, für die wir im rank-ordered logit Modell eine Extremwertverteilung vom Typ I annehmen. Erst wenn diese Ausgangsmotivation berücksichtigt ist, kann sich zeigen, inwieweit eine Partei mit einem neuen Thema Mobilisierungschancen hat.

Wir erweitern deshalb die Präferenzfunktion 1 für neue Themen zu einer gewichteten Funktion, wobei si für die Salienz von i für das neue Thema steht und xj für die Parteiposition und xi für die Wählereinstellung zum neuen Thema:

$$y_{ij}^{*}=\alpha _{j}+\lambda _{j}z_{ij}+\theta p_{ij}+\beta \left| h_{i}-h_{j}\right| +\gamma \left| x_{i}-x_{j}\right| +\delta _{j}s_{i}+\zeta _{j}s_{i}\left| x_{i}-x_{j}\right| +e_{ij}$$
(2)

Wir erwarten zum einen, dass die neue Partei eine höhere Glaubwürdigkeit beim neuen Thema hat, was die stärkere Präferenz für die neue Partei bei Wählerinnen und Wählern mit hoher Salienz zur Folge hat (δj > 0). Zum anderen sollte sich die theoretisch erwartete größere Glaubwürdigkeit darin zeigen, dass bei geringer Politikdistanz zur neuen Partei die Bevorzugung dieser Partei noch einmal größer ist als allein von der Distanz her zu erwarten. Entsprechend erwarten wir, dass die Wähler, die das neue Thema wichtig finden, stärker auf die Politikdistanz bei dem neuen Thema reagieren als die Wähler, die das Thema nicht wichtig finden (ζ < 0). Für Wählerinnen und Wähler, die dem Thema keinerlei Wichtigkeit zumessen, sollte die Entfernung zu den Positionen der Parteien zum neuen Thema eine geringe oder keine Rolle spielen (γ ≤ 0).

Eine derartige höhere Sensitivität zur Erklärung der Präferenzen für alte Parteien anhand alter Themen wird nicht zutreffen, wenn die Salienzen über die Politikdimension ausbalanciert sind. Die bisherigen Hauptthemen des Parteienwettbewerbs können unter diesen Umständen daher mit demselben Salienzgewicht β für den Durchschnittswähler gewichtet werden. Es kann sich allerdings zeigen, dass jetzige etablierte Parteien, die ursprünglich als „Nischenpartei“ in das Parteiensystem eingetreten sind, ihre Schwerpunktsetzung glaubhaft in der Wählerschaft halten konnten, wenn auch vielleicht in abgeschwächter Form. Dann würde ein durchschnittliches Salienzgewicht nicht ausreichen, sodass man die Präferenzfunktion nach Gl. 2 wie bei neuen Themen erweitern wird.

4 Externe und interne Bedingungen der Erklärung

Die Erklärung der Wahlerfolge neuer Parteien wird von einigen Forscherinnen und Forschern in den Wettbewerbsstrategien der Parteien gesucht (vgl. Abschn. 2 oben), während sich andere für längerfristige Verschiebungen der Wählernachfrage aufgrund gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels interessieren. So wurde die ökologische Bewegung mit einem Wandel in Richtung postmaterieller Wertorientierungen (Inglehart 1989) und der Rechtspopulismus mit Globalisierungsfolgen (Kriesi et al. 2008) in Zusammenhang gebracht. Wir stellen die konkrete Auseinandersetzung um neue Themen mit dem Schwerpunkt der Nachfrage nach Politik in den Mittelpunkt. Dieses Thema muss nicht völlig neu sein, hat aber bisher die öffentliche Debatte höchstens am Rande beschäftigt. Neu ist die Politisierung und sie bedeutet, dass das Thema große öffentliche Aufmerksamkeit bekommt. Wir behandeln diese Politisierung an unseren Untersuchungsbeispielen in Abschn. 4.1. In Abschn. 4.2 werden die Folgen auf der Wählerebene dargestellt, wenn Wählerinnen und Wähler die Parteien nach dem neuen Kriterium beurteilen und sich dabei auf ihre Einstellung zu dem konkreten Thema stützen. In Abschn. 4.3 folgt die Darstellung der Kontrollvariablen.

4.1 Politisierung eines Themas als externe Randbedingung

Die Politisierung eines neuen Themas ist Teil des Agenda-Settings, dem die Problemwahrnehmung vorausgeht und auf die im normalen Politikzyklus eine Phase der Politikformulierung und eine kollektive Entscheidung als erhoffte Problemlösung folgt (Kingdon 1984). Ein neues Thema, das einer neuen Partei Profilierungschancen bietet, ist typischerweise vorher von den etablierten Parteien vernachlässigt worden. Diese haben den Status quo nicht infrage gestellt und das Thema nicht in die normale Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition einbezogen. Der Problemdruck kann aber durch äußere Ereignisse wie Naturkatastrophen oder große Unfälle offensichtlich werden, sodass sich die öffentliche Aufmerksamkeit stark auf dieses Thema konzentriert (vgl. den Begriff focusing events bei Birkland 1998) und, wie wir hinzufügen, normale gate keeper zur öffentlichen Agenda wie die etablierten Parteien an Einfluss verlieren. Wir rechnen die Flüchtlingskrise vom Herbst 2015 und den Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 zu derartigen Ereignissen, die der AfD im ersten und den Grünen im zweiten Fall Profilierungschancen boten.

Mader und Schoen (2019) behandeln den starken Zustrom von Flüchtlingen ab Herbst 2015 als focusing event und zeigen mit Umfragedaten im Zeitverlauf, wie stark Migration als Antwort auf die Frage nach dem wichtigsten Problem ab Herbst 2015 zugenommen hat. Gleichzeitig haben die Befragten der AfD eine immer restriktivere Haltung zugeschrieben, sodass sich die Polarisierung gegenüber den etablierten Parteien steigerte (2019, S. 76). Unser Vergleichsfall zur Zuwanderungspolitik 2017 ist die Kernenergiepolitik nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986. Dieser Unfall führte nicht nur in Deutschland (Thurner 2017, S. 174), sondern in vielen Ländern Europas zu einer Verstärkung des Widerstands gegen die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung (Thurner et al. 2017, S. 70). In beiden Fällen konnte die Partei, die mit ihrer extremen Position gegen die etablierten Parteien Stellung bezog, ihren Stimmenanteil in der darauffolgenden Bundestagswahl steigern.

Die AfD hatte, als eurokritische Partei 2013 gegründet, bei der Bundestagswahl im selben Jahr praktisch aus dem Stand 4,7 Prozent der Zweitstimmen erreicht. Die Zuwanderungsproblematik spielte damals sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Wahlprogramm der AfD eine untergeordnete Rolle (Schmitt-Beck 2017). Die AfD verfehlte mit ihrem damaligen Hauptthema der Euro-Krise die Fünfprozenthürde knapp, während im Vergleich dazu den Grünen 1983 mit ihrem breiteren Politikangebot von der Gegnerschaft zur Nachrüstung bis zur Kernenergiepolitik (Pappi 1990) mit 5,6 Prozent der Einzug in den Bundestag knapp gelang. Jeweils vier Jahre später, nach Tschernobyl als focusing event, erreichten die Grünen 8,3 Prozent und die AfD sogar 12,6 Prozent der Zweitstimmen. Die AfD hatte da nach der Diagnose von Schmitt-Beck et al. (2017) ihre „rechtspopulistische Wende“ schon vollzogen. Die Wahlkämpfe vor der Bundestagswahl 1987 und vor 2017 boten im Sinne unserer externen Randbedingung günstige Chancen, sich als neue Partei mit dem jeweils neuen Thema als Parlamentspartei zu etablieren. Da die öffentliche Aufmerksamkeit beschränkt ist, bedeutet mehr Aufmerksamkeit für ein neues Thema notwendigerweise weniger Aufmerksamkeit für andere Themen wie z. B. diejenigen, die die etablierten Parteien beschäftigen.

4.2 Wahrgenommene Politikpositionen und Politikpräferenzen als interne Bedingungen

Zur Prüfung unseres Modells der Etablierung neuer Parlamentsparteien benötigen wir Angaben über die Wählerpräferenzen bezüglich des neuen Themas, über dessen Salienz aus Sicht der einzelnen Wählerin sowie über die Wahrnehmung der Parteipositionen zu dem Thema. Daten dazu finden sich im GLES-Vorwahlquerschnitt vom Spätsommer 2017 (ZA-Nr. 6800, Roßteutscher et al. 2018) und in einer Vorwahlumfrage vom November 1986 (ZA-Nr. 1537, Berger et al. 2012). Wir verwenden in beiden Fällen Vorwahlumfragen, weil sich damit die Phase der Meinungsbildung besser erfassen lässt als zum Zweitpunkt der bereits erfolgten Etablierung einer neuen Partei nach einem Wahlerfolg.

Der Vorwahlquerschnitt der GLES 2017 enthält eine allgemeine Frage zu den Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer. Auf einer von 1 („Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer sollten erleichtert werden“) bis 11 („Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer sollten eingeschränkt werden“) laufenden Skala gaben die Befragten zuerst an, wo nach ihrer Meinung die Parteien CDU, CSU, SPD, Die Linke, Grüne, FDP und AfD stehen, um nach analogen Abfragen zur Steuer- und Klimaschutzpolitik anschließend ihren eigenen Standpunkt auf denselben Skalen anzugeben. Für die Erklärung der Parteipräferenz geht es um einen Vergleich der eigenen Präferenz der Befragten mit den Standpunkten der Parteien. Wir verlassen uns hier nicht auf die Programme und Aussagen der Parteien bzw. der Experteneinschätzungen davon, sondern berücksichtigen die Wahrnehmungen der Parteipositionen durch die Wähler. Dies setzt Vergleichbarkeit der Wahrnehmungen und Politikpräferenzen zwischen den einzelnen Befragten voraus. Um diese intersubjektive Vergleichbarkeit der Issuefragen herzustellen und das Problem des differential item funtioning (vgl. z. B. King et al. 2004, S. 192) zu lösen, verwenden wir durchgängig eine Reskalierung der Angaben zu den Parteien und der eigenen Meinung nach einer bayesianischen Version des Aldrich-McKelvey-Verfahrens (Aldrich und McKelvey 1977; Hare et al. 2015; Pappi et al. 2019).Footnote 5 Mit dieser Reskalierung sind wir in der Lage, die von der Wählerschaft mit einem Höchstmaß an Konsens wahrgenommenen Parteipositionen und die eigenen Einstellungen der Befragten auf derselben, intersubjektiv vergleichbaren Skala darzustellen.

Abb. 1 zeigt die sich so ergebende Wählerverteilung im Vergleich zu den für alle Befragten gleichen Erwartungspositionen der Parteien. Keine etablierte Partei ist dort platziert, wo sich Wählerinnen und Wähler mit extremen Standpunkten befinden. Zwischen den etablierten Parteien nehmen die Befragten aber durchaus große Positionsunterschiede wahr. So wird der CSU noch die restriktivste Position in der Zuwanderungsfrage zugeschrieben. Die Wähler nehmen einen deutlichen Unterschied zwischen CDU und CSU in dieser Frage wahr. Die CDU befindet sich mit der FDP in der Mitte der Skala. Linke und Grüne werden am linken Rand als Zuwanderer freundlich wahrgenommen und die SPD befindet sich in etwa der Mitte zwischen FDP und Grünen. Die AfD ist im Hinblick auf die Wähler mit der extremen zuwanderungsrestriktiven Position am günstigsten platziert. Damit können wir die Erfüllung der ersten Teilbedingung der internen Bedingung 1 für 2017 konstatieren.

Abb. 1
figure 1

Reskalierte Wählerpräferenzen in der Zuwanderungsfrage (Kerndichteschätzung) im Vergleich zu den Parteipositionen vor der Bundestagswahl 2017 (Bayesianische Aldrich-McKelvey-Skalierung)

Abb. 1 enthält alle notwendigen Informationen für die Anwendung des normalen räumlichen Modells zur Erklärung der Parteipräferenzen. Wir wollen aber nachweisen, dass für die Erklärung des Erfolgs neuer Parteien eine asymmetrische Verteilung der Befragtensalienzen über die neue Politikdimension ein weiterer Erfolgsfaktor ist, sodass ein Übergang von einer einfachen (Gl. 1) zu einer gewichteten Präferenzfunktion (Gl. 2) angezeigt ist. Dazu benötigen wir Angaben über die Wichtigkeit des Themas Zuwanderung für die Befragten.

Zum Schluss der Fragebatterie zu den drei erwähnten Issues wurde für jedes der drei Themen gefragt, wie wichtig dieses sei (5er-Skala von „sehr wichtig“ [5] bis „überhaupt nicht wichtig“ [1]). Wir erfassen die Salienz der Zuwanderungsfrage relativ zur Wichtigkeit der beiden anderen abgefragten Themen (Umweltschutz und trade off zwischen Steuern/Abgaben und Sozialleistungen). Wir teilen die individuelle Wichtigkeit der Zuwanderungsfrage durch die Summe der Wichtigkeit für alle drei Themen. Man erhält so für jede Befragte relative Salienzwerte, die wir zur einfacheren Interpretation noch mit 3 multiplizieren. Dies ist unser si; es ist bei den Befragten größer eins, die das Thema Zuwanderung übergewichten, und kleiner eins bei Befragten, die dem Thema eine unterdurchschnittliche Bedeutung zumessen.

Zur Prüfung der nicht ausbalancierten Salienzverteilung in der Zuwanderungsfrage dienen die Durchschnittswerte für die fünf Quintile, die sich aus den reskalierten eigenen Einstellungen der Befragten zur Migrationspolitik bilden lassen. Wie aus Abb. 2 hervorgeht, messen die Befragten, die zu den 20 Prozent mit der restriktivsten Einstellung zur Zuwanderung gehören, dieser Frage eine überdurchschnittliche Bedeutung zu. Die Salienzen sind, wie von der ersten internen Bedingung gefordert, asymmetrisch über die fünf Quintile verteilt, nur steigt die Salienz nicht kontinuierlich von links nach rechts an, sondern weist für die Befürworter einer Erleichterung der Zuwanderung im ersten Quintil die dritthöchste durchschnittliche Salienz aus. Dies interpretieren wir als Zeichen einer beginnenden ausgewogeneren Verteilung der Salienzen und damit die Aufnahme des Themas in das Repertoire des normalen Stimmenwettbewerbs der Parteien.

Abb. 2
figure 2

Salienz der Zuwanderungspolitik 2017 für die Wähler, nach Quintilen der Wählerpositionen auf der Zuwanderungsdimension

Dass die AfD von den Wählern dort wahrgenommen wird, wo die neue extreme Nachfrage entstanden ist, wäre nicht ohne deren Priorisierung des Zuwandererthemas möglich gewesen. Diese Priorisierung bestimmte die Parteiprogrammatik nicht von Anfang an (Schmitt-Beck 2017), sondern wurde erst in den Landtagswahlen nach 2015 bestimmend (Schmitt-Beck et al. 2017).

Unser zweiter Fall ist die Umweltpolitik nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986. In der Wahlstudie 1987 (Berger et al. 2012), deren erste Befragungswelle im September 1986 im Feld war, wurde den Befragten eine von 1–7 laufende Skala vorgelegt mit den Endpunkten „sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke“ und „weiterer Ausbau der Kernenergie“. 22 Prozent der Befragten sprachen sich mit der Antwort nach Kategorie 1 für eine sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke aus und nahmen damit eine extreme Position auf dieser neu politisierten Issuedimension ein. Die ebenfalls abgefragten Wahrnehmungen der Parteipositionen reskalieren wir wieder zusammen mit der eigenen Einstellung der Befragten (Abb. 3). Erwartungsgemäß werden die Grünen an der einen und CDU/CSU an der anderen Extremposition platziert, wobei es der damaligen Polarisierung zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien entspricht, dass sich die SPD nahe an den Grünen und die FDP nahe an ihrem damaligen Koalitionspartner CDU/CSU befinden. Zwar wurde offenbar bereits die SPD als Gegnerin der Kernenergie wahrgenommen, aber deren gemäßigte Positionierung reicht offensichtlich nicht aus, wenn bereits eine neue Partei vorhanden ist, die die extremen Gegner der Kernenergie besser repräsentiert. Bei dieser Konstellation gewinnt die Salienz erhöhte Bedeutung.

Abb. 3
figure 3

Reskalierte Wählerpräferenzen in der Kernenergiepolitik (Kerndichteschätzung) im Vergleich zu den Parteipositionen vor der Bundestagswahl 1987

In der Wahlstudie 1987 wurde keine mit 2017 vergleichbare Salienzfrage gestellt. Wir leiten ein äquivalentes Salienzmaß aus Fragen nach der Wichtigkeit von Aufgaben und Zielen der Politik ab, die den Befragten in Form einer geschlossenen Liste vorgelegt wurden.Footnote 6 Das für die Kernenergie einschlägige allgemeine Ziel ist „ein wirksamer Umweltschutz“. Die Wichtigkeit dieses Ziels wird relativ zur Summe der Wichtigkeiten aller sechs Ziele berechnet und mit 6 multipliziert, um ein zu 2017 analoges Salienzmaß zu erhalten.

Wir teilen die Befragten wiederum nach ihrer eigenen Einstellung zur Kernenergie in Quintile ein und prüfen die asymmetrische Verteilung der Salienzen über die Quintile (Abb. 4). Die Befragten mit der der bisherigen Politik am meisten widersprechenden Position befinden sich hier im ersten Quintil. Abb. 4 bestätigt die nicht balancierte Verteilung der Salienzen. Diese nehmen monoton von links nach rechts ab.

Abb. 4
figure 4

Salienz der Kernenergiepolitik 1987 für die Wähler, nach Quintilen der Wählerpositionen auf der Kernenergiedimension

4.3 Kontrollvariablen des Standardmodells

Die Variablen des Standardmodells (Gl. 1) sind Zufriedenheit mit den Leistungen der jeweiligen Bundesregierung, Parteianhängerschaft und Distanz zu den Parteien auf der Hauptdimension des Parteiensystems. Ihren Einfluss auf die Parteipräferenz kontrollieren wir bei der Erklärung der Parteipräferenz mit der neuen Politikdimension.

Die neue Parteien begünstigende Bedingung einer Unzufriedenheit mit der Regierung erfassen wir 1986 und 2017 mit einer Frage (q10 in 1986, q67 in 2017), bei der die Befragten auf einem Skalometer die Zufriedenheit mit den Leistungen der aus CDU/CSU und FDP bzw. CDU/CSU und SPD bestehenden Bundesregierung beurteilten. Der Effekt dieser Variable sollte bei Zufriedenheit mit der Leistung der Bundesregierung den Parteirang für eine Regierungspartei steigern, bei Unzufriedenheit hingegen den Rang der Oppositionsparteien. Ob dies zutrifft, wird im nächsten Abschnitt überprüft.

Die Parteianhängerschaft wird mit der deutschen Standardfrage erfasst (q99 im Fragebogen 2017, P in 1987). Dabei wird der Effekt der dauerhaften Neigung zu einer Partei nur auf den jeweiligen Präferenzrang dieser Partei geprüft. Zusätzlich kontrollieren wir die Distanzen der Befragten zu allen Parteien auf einer allgemeinen Links-Rechts-Achse, die wir als Hauptachse des deutschen Parteiensystems interpretieren. Von Hauptachse sprechen wir, weil hier die Parteipositionen zu den wichtigsten Dauerthemen der Politik gebündelt werden, sodass eine Heuristik entsteht, die den Wählern die politische Orientierung erleichtert. Parteipositionen und eigene Einstellung werden nach demselben Verfahren reskaliert wie bei der Zuwanderungsfrage.

Die als wahre Parteipositionen interpretierten Erwartungswerte der Parteien auf der Links-Rechts-Achse (Abb. 5) zeigen große Übereinstimmung mit den Positionen in der Migrationspolitik. Die Reihenfolge von links nach rechts ist in beiden Fällen gleich, allerdings sind die Abstände verschieden. So wird für die Linke eine deutlich linkere Position in deutlichem Abstand zu den Grünen wahrgenommen als in der Zuwanderungspolitik. Der deutlichste Unterschied betrifft die Wählerverteilung. Ihre Dichte ist im mittleren Bereich der Links-Rechts-Skala bei der CDU größer als in der Migrationspolitik. Gleichzeitig sind die Wählerinnen und Wähler in der Zuwanderungsfrage breiter gestreut als bei Links-Rechts, während hier der Abstand zwischen der Partei am linken und rechten Rand größer ist. In den Worten von Alvarez und Nagler (2004) ist der von den Parteien aufgespannte Politikraum in der Migrationspolitik kompakt im Vergleich zur migrationspolitischen Nachfrage und bietet damit der Nachfrage ein geringeres Angebot an Politikalternativen. Die empirischen Ergebnisse von Alvarez und Nagler zeigen, „dass je breiter die Parteien über den Politikraum verstreut sind, desto mehr Gewicht legen die Wähler bei ihrer Entscheidung Wert auf das entsprechende Issue“ (Alvarez und Nagler 2004, S. 48). Die Verwendung von Links-Rechts als Kontrollvariable ist demnach ein harter Test für die Erklärungskraft der Zuwanderungspolitik für die Parteipräferenzen. Andererseits deutet die große Übereinstimmung der Parteiplatzierungen auf beiden Skalen nicht von sich aus auf hohe Multikollinearität hin, weil die entsprechenden eigenen Einstellungen der Befragten nur mit r = 0,21 korrelieren.

Abb. 5
figure 5

Reskalierte Wählerpräferenzen in der Links-Rechts-Skala (Kerndichteschätzer) im Vergleich zu den Parteipositionen vor der Bundestagswahl 2017

Bevor wir das Modell der salienzgewichteten Distanz für das Thema der Zuwanderung 2017 und das Thema Atomkraftwerke 1986 schätzen, betrachten wir abschließend die abhängigen Variablen. Dies sind die aus den Skalometerfragen abgeleiteten Parteipräferenzen (siehe Tab. 1 und 2 im Online-Anhang). Bei sieben Parteien kennzeichnet Rang 7 die Erstpräferenz, Rang 1 die letztpräferierte Partei. Da bei Verwendung von Skalometer-Messinstrumenten die Befragten nicht gezwungen werden, strikte Ordnungen vorzunehmen, entstehen viele Rangplatzbindungen. Wie ein Blick auf Tab. 1 (im Online-Anhang) zeigt, kommt eine derartige Rangplatzbindung der am meisten bevorzugten Parteien am häufigsten bei CDU und CSU vor. Das gilt sowohl für 2017 als auch für 1986. Wie erwartet, rangieren die neuen Parteien am weitaus häufigsten auf dem niedrigsten Rang 1. 2017 verwiesen 58 Prozent der Befragten die AfD auf den letzten Rangplatz, 1987 waren dies 47 Prozent bei den Grünen bzw. sogar 59 Prozent, wenn man auf die direkte Frage nach der Rangordnung 1987 zurückgreift. Vergleicht man diese Zahl mit den 3,81 Prozent, die 2017 die Grünen auf dem niedrigsten Rangplatz einstuften, wird der lange Weg deutlich, den diese Partei von der Außenseiterposition in den Wählerpräferenzen zurückgelegt hat.

5 Standardkriterien der Parteibewertung im Vergleich zum Einfluss neuer Issues

Zu den Standardkriterien der Parteibewertung zählen wir Parteianhängerschaft, Distanz zu Parteien auf der Links-Rechts-Dimension und – im Wahlkampf – Zufriedenheit mit den Leistungen der amtierenden Regierung. Im Ausgangsmodell werden lediglich Konstanten für die Parteien – hier und im weiteren mit der Referenzkategorie FDP – eingeführt und im Standardmodell kommen zusätzlich die genannten Bewertungskriterien hinzu.Footnote 7 Das Ausgangsmodell für 2017 sagt 18,3 Prozent der „Varianz“ der Parteiränge voraus, die Einführung der Standardbewertungen erhöht den Prozentsatz auf 36 (Tab. 3 im Online-Anhang). 1986 wurden nur die vier Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne im Hinblick auf die Weiterverwendung der Kernenergie beurteilt, sodass sich die Parteipräferenz statt auf sieben nur auf vier Parteien beschränkt. Zusätzlich zu den Skalometern wurden diese vier Parteien von den Befragten auch direkt in eine Rangreihe der Präferenz gebracht, sodass die resultierende Parteiordnung keine Rangplatzbindungen aufweist. Für die Modellschätzung verwenden wir deshalb diese Art der Messung der Parteipräferenz.Footnote 8 Hier erklärt das Ausgangsmodell 12,5 Prozent der „Varianz“ und die Standardbewertungen erhöhen diesen Wert auf 45,3 Prozent (Tab. 4 im Online-Anhang).

Das Standardmodell, das zusätzlich zu den Parteikonstanten nur die Kontrollvariablen enthält, erlaubt eine Prüfung der Unzufriedenheit mit der bisherigen Regierungspolitik als wesentlichem Faktor für die Präferenz zugunsten der neuen Partei. Das kann für die AfD 2017 eindeutig bejaht werden. Diese Unzufriedenheit wirkt sich am stärksten zugunsten der AfD aus (Koeffizient −0,335 in Tab. 3 im Online-Anhang) und etwas weniger stark zugunsten der Linken (−0,109 in Tab. 3 im Online-Anhang). Im Vergleich zur Referenzpartei FDP profitiert die CDU-Präferenz am stärksten von der Regierungszufriedenheit, deutlich schwächer sind die Effekte für CSU und SPD. Interessant ist der positive Effekt für die Grünen, die, obwohl in der parlamentarischen Opposition, im Vergleich zur außerparlamentarischen FDP mit zunehmender Regierungszufriedenheit signifikant mehr bevorzugt werden. Hier liegt die Vermutung nahe, dass dies mit der Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel zusammenhängen könnte.

Für das Jahr 1986, nach knapp vierjähriger Koalitionsregierung aus Union und FDP, lässt sich aus den Effekten für die Zufriedenheit mit der Regierung klar die Polarisierung zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien herauslesen. SPD und Grüne haben in etwa gleich große signifikante negative Effekte. Was 1987 von 2017 unterscheidet, ist die starke Polarisierung zwischen den Parteien mit Kanzlerkandidaten, also zwischen den etablierten Hauptparteien. Wenn sich unzufriedene Wähler nicht für eine etablierte große Partei entscheiden können, die glaubhaft für einen Regierungswechsel steht, steigen die Chancen für neue Herausforderer der etablierten Parteien. Die Unzufriedenen konzentrieren sich stärker bei der neuen Partei. Diese Situation war offensichtlich 2017 in höherem Maß gegeben als 1986.

Wir prüfen jetzt das vollständige Modell mit der gewichteten Distanzfunktion für das neue Thema. Die nicht ausbalancierte Salienzverteilung wurde bereits mit den Abb. 2 und 4 nachgewiesen. 2017 konnte, wie nach Erfüllung der Vorbedingungen zu erwarten, die AfD voll von dem Pull-Effekt profitieren, der von ihrer extremen Position und der hohen Salienz des Themas bei Wählern ausging, die diese Position teilten. Genau die gleiche Konstellation begünstige 1986 die Grünen beim Thema Kernenergie. Befragte, die eine Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke befürworteten, maßen diesem Thema eine überdurchschnittliche Wichtigkeit bei und erzeugten so einen Pull-Effekt, der, wie wir vermuten, die Zweitstimmen der Grünen von 5,6 Prozent 1983 auf 8,3 Prozent anhob. Die AfD erreichte 2017 12,6 Prozent nach 4,7 Prozent in 2013. Das bedeutet in beiden Fällen die Etablierung einer neuen Parlamentspartei.

Der Spielraum für den Einfluss neuer Issues nach der Logik einer Salienz gewichteten Distanz auf alle Parteien ist aber offensichtlich klein. 2017 führt die Berücksichtigung der Zuwanderungsfrage nur zu einem Pseudo-R2 von 0,372 im Vergleich zu 0,360 im Standardmodell (1986 von 0,475 im Vergleich zu 0,453). Diese kleine zusätzliche Erklärungskraft hängt mit der Zielrichtung des Einflusses zusammen. Diese betrifft positiv und signifikant die neue Partei und weniger die etablierten Parteien. Unsere Hauptthese wird sowohl für die Grünen 1986 als auch für die AfD 2017 bestätigt: Befragte, die die Position der neuen Partei bei dem neuen Issue teilen, präferieren die neue Partei signifikant mehr, wenn sie das Issue für überdurchschnittlich wichtig halten, und die hohe Salienz des Themas lässt die Rangpräferenz der Befragten mit zunehmender Issuedistanz stärker abnehmen als bei niedriger Salienz. Das gilt sowohl für die Zuwanderungspolitik und die AfD 2017 als auch für die Kernenergiepolitik und die Grünen 1986 (vgl. Abb. 6). Von den etablierten Parteien wird 2017 nur die CSU bei großer Nähe zu ihrer Position (vgl. mit Abb. 1) signifikant stärker bei hoher statt bei niedriger Salienz bevorzugt (Abb. 7a). Bei der SPD (Abb. 7b) zeigt sich zwischen den entsprechenden Gruppen kein Unterschied. Dies gilt auch für die CDU (nicht abgebildet).Footnote 9

Abb. 6
figure 6

Einfluss der Distanz zur AfD 2017 in der Zuwanderungspolitik (Grüne 1986 in der Kernenergiepolitik) auf die Wahrscheinlichkeit, die AfD (Grüne) am meisten zu präferieren, für Befragte mit hoher und niedriger Salienz des Themas. a AfD 2017 in der Zuwanderungspolitik. b Grüne 1986 in der Kernenergiepolitik

Abb. 7
figure 7

Einfluss der Distanz zur CSU (SPD) 2017 in der Zuwanderungspolitik auf die Wahrscheinlichkeit, die CSU (SPD) am meisten zu präferieren, für Befragte mit hoher und niedriger Salienz des Themas. a CSU 2017 in der Zuwanderungspolitik. b SPD 2017 in der Zuwanderungspolitik

Unser Erklärungsansatz bezieht sich auf die Erfolge neuer Parteien, die mit ihrem vom Status quo abweichenden Politikangebot bei einem neu politisierten Thema eine spezifische Nachfrage befriedigen. Man kann nun fragen, inwieweit solche Parteien, die man oft verkürzend als one-issue parties bezeichnet, ihre Themenglaubwürdigkeit weiterhin behalten, sodass man zur Erklärung der Präferenz für sie eine Salienz gewichtete Distanzfunktion anwenden sollte. Konkret gefragt: Beeinflusst das Thema Umweltschutz die Parteipräferenz nach wie vor ähnlich wie bei einem neuen Issue, sodass die Grünen hier auch 2017 die Rolle einnehmen, die bei der Migrationspolitik die AfD einnimmt?

Berechnet man für 2017 zur Beantwortung dieser Frage völlig analog zu unserem Migrationsmodell ein Umweltschutzmodell, nur dass die Klimapolitik den Platz der Migrationspolitik einnimmt, ergibt sich auch ein analoges Ergebnis (Tabelle nicht gezeigt). Die Grünen sind auch 2017 nach wie vor in dem Sinn eine ökologische Partei, als sie in der Klimapolitik eine Extremposition vertreten. Und eine Salienz gewichtete Distanzfunktion erfasst die Besonderheit, dass bei geringer Distanz in dieser Frage die Befragten, die die Klimapolitik als überdurchschnittlich wichtig bewerten, die Grünen sehr viel mehr bevorzugen als ansonsten gleiche Befragte, aber mit niedriger Salienz.

Auch bei Themen, die den Stimmenwettbewerb der schon länger etablierten Parteien immer wieder bestimmen, kann eine Situation nicht ausbalancierter Salienzverteilungen auftreten (vgl. für die Abtreibungsfrage in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren Kurella 2017). Trennt das Für und Wider von Politikvorschlägen die Hauptparteien eines Parteiensystems und entsprechend ihre Anhänger in der Wählerschaft und messen beide Seiten dem Konflikt gleiche Bedeutung zu, wird die Salienzverteilung ausbalanciert sein. Dann ist das räumliche Standardmodell mit einem Durchschnittsgewicht des Themas ohne Berücksichtigung von individuellen Salienzen angemessen. Dieses erwartete Ergebnis stellt sich bei einer Analyse der Sozialstaatsfrage 2017 ein, bei der es sich um ein „altes“ Thema der Auseinandersetzung der etablierten Parteien handelt (Tabelle nicht gezeigt). Bei diesem Thema stellen wir fest, dass die Salienz ausgewogen über das Spektrum der Befürworter und Gegner höherer sozialstaatlicher Leistungen verteilt ist und dass keiner der Effekte signifikant ist, mit denen wir die Gewichtung der Distanzfunktion für die Sozialstaatsfrage erfassen. Das räumliche Standardmodell ohne Berücksichtigung von individuellen Salienzen ist hier also angemessen.

6 Schlussfolgerungen

Wir haben den Schwerpunkt unserer Erklärung der Erfolge neuer Parteien auf die Nachfragesituation gelegt. Dabei haben wir angenommen, dass es sich um echte Nachfrage handelt und die Wählerinnen und Wähler nicht einfach von den Parteien, denen sie nahestehen, vorgefertigte Standpunkte übernehmen. Dem Einwand gegen letztere Annahme kann nur mit entsprechenden Panelanalysen begegnet werden. Mader und Schoen (2019) haben eine solche Panelanalyse der Wahrnehmung von Parteipositionen und der Einstellungen der Wähler zur Migrationspolitik unter dem Einfluss der Flüchtlingskrise vorgenommen und kommen zu dem Schluss, dass die Wählerinnen und Wähler zwar ihre Wahrnehmungen der Parteipositionen aktualisiert haben, dass sich aber ihre Einstellungen durch die Flüchtlingskrise kaum änderten. Damit sei die Bedingung gegeben gewesen „for a policy-based re-evaluation of the parties that was not driven by change in policy attitudes but by a change in perceived party positions“ (S. 77). Einstellungen zur Einwanderung seien bei vielen mit Fragen der Gruppenidentität verbunden und änderten sich deshalb nicht so leicht.

Was kann unter dieser Bedingung der „Konsumentensouveränität“ aus einer Analyse der Nachfragesituation folgen? Sie kann den etablierten Parteien die Entscheidung erleichtern, ob sie das neue Thema in ihr Politikangebot aufnehmen sollen und welche Angebote ihre Attraktivität beim Wähler erhöhen können. So kann man mit Meguid (2007, S. 34) fragen, ob etablierte Parteien die neuen Themen ignorieren (dismissive strategy), strikte Gegenpositionen einnehmen (adversarial strategy) oder sich an die Positionen anpassen (accommodative strategy) sollen. Die Beantwortung dieser Fragen setzt eine Kenntnis der Bedingungen für erfolgreiche Wählermobilisierung bei neuen Themen voraus. Diese Kenntnis für den Eintritt der Grünen und der AfD ins deutsche Parteiensystem haben wir in diesem Aufsatz erarbeitet.

Wir sind davon ausgegangen, dass Ereignisse wie der Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 oder der starke Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland im Herbst 2015 die öffentliche Aufmerksamkeit und Einschätzung der Wichtigkeit dieser Themen für die Politik direkt beeinflusst haben. Die Parteien können auf derartige Herausforderungen in Wahlkampfzeiten mit unterschiedlichen Wettbewerbsstrategien reagieren. So werden neue Parteien, die bei solchen Themen für extreme Problemlösungen stehen, die Salienz des jeweiligen Themas bei Wählern, die ihre Ansicht teilen, zu einem Pull in ihre Richtung ausnutzen und durch Priorisierung in ihren Verlautbarungen und Stellungnahmen möglichst ihre Glaubwürdigkeit zu steigern suchen. Den etablierten Parteien stehen die Strategieoptionen zur Verfügung, die Meguid (2005) herausgearbeitet hat. Bei der Strategiewahl müssen die etablierten Parteien ihrerseits auf ihre Glaubwürdigkeit achten und werden dabei die Ansichten ihrer Kernwählerschaften in Rechnung stellen.

Die Kernwählerschaften lassen sich mit der Parteianhängerfrage erfassen. Ein wichtiger Hinweis für die Parteistrategen im Hinblick auf neue Issues ist zunächst, wie wichtig ihre Kernwählerschaften das neue Thema einschätzen. Nach Ereignissen wie dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 und der Flüchtlingskrise 2015 kann die Priorisierung oder das Herunterspielen der Wichtigkeit durch eine Partei die Salienz, die die Parteianhänger dem Thema zumessen, nicht allein bestimmen. Trotzdem werden die Parteianhänger beobachten, wie ihre Partei auf die Priorisierung des Themas durch einen neuen Herausforderer reagiert, sodass es zu Wechselwirkungen kommt. Nehmen wir die Migrationspolitik 2017 als Beispiel, maßen nur die AfD Anhänger dem Thema eine überdurchschnittliche Bedeutung zu (Salienz von 1,06) mit den Grünen am anderen Ende mit einer Salienz von 0,91. Von den etablierten Parteien folgten die Anhänger der CSU den Anhängern der AfD mit einem Salienzwert von 0,99 und damit genau demselben Wert, der im Durchschnitt auch die Befragten beschreibt, die Anhänger keiner Partei sind.

Die eigentliche Strategieentscheidung einer Partei fällt im Hinblick auf die Position, die man auf der neuen Konfliktdimension einnehmen soll. Diese Position muss dann von den Wählern auch wahrgenommen werden. Wie aus den wahrgenommenen Positionen der Parteien in der Migrationspolitik hervorgeht (siehe Abb. 1), folgen diese Positionen im Wesentlichen denjenigen, die die Wählerinnen und Wähler auch für die Links-Rechts-Dimension wahrnehmen (siehe Abb. 5). Wenn für eine etablierte Partei 2017 eine Anpassungsstrategie Sinn gehabt hätte, dann am ehesten für die CSU. Allerdings müsste man spätestens hier von der Präferenzfunktion auf die Wahlfunktion überwechseln und fragen, ob für die Union eine Strategie erfolgreich sein kann, bei der die beiden Schwesterparteien in verschiedene Richtungen zielen. Für die Parteien links von der CDU stellt sich die Strategieentscheidung einfacher dar. Sie können die Wichtigkeit des Themas herunterspielen oder auf überzeugenden Konfrontationskurs zur AfD gehen. Die Theorie von Meguid sagt aus der Kombination der Strategien der alten Hauptpartei A und der alten Hauptpartei B die Wahlerfolge der Nischenparteien voraus (Meguid 2005, S. 350). Danach bereite die Einnahme strikter Gegenpositionen durch beide alten Hauptparteien der Nischenpartei den Weg zu größeren Wahlerfolgen.

Wird sich die AfD im deutschen Parteiensystem etablieren können, wie dies den Grünen seit den 1980er-Jahren gelungen ist? Mit dem Umweltschutz hatten und haben die Grünen ein Thema, das von niemandem ernstlich infrage gestellt wird. Der Rechtspopulismus muss mit seinen Hauptthemen wie einer stärkeren nationalen Abschottung gegen Migranten mit erheblich mehr Widerstand rechnen. Gleichzeitig haben sich in vielen europäischen Ländern rechtspopulistische Parteien etablieren können (vgl. z. B. Bornschier 2010). Zusammen mit Themen wie Ausnutzung des Wohlfahrtsstaats, Wohlfahrts-Chauvinismus und kritischer Einstellung zur europäischen Integration (vgl. Häusermann und Kriesi 2015, S. 212–213) ist ein Einstellungssyndrom entstanden, das sich nicht auf das eine Thema der Zuwanderung reduzieren lässt. Hier für rechtspopulistische Wählerinnen und Wähler Politiken zu finden, die befrieden können, ist nicht einfach. Ganz können sich bisher als etabliert angesehene Parteien dieser Wählernachfrage aber nicht verschließen und nur auf Ausgrenzung setzen.