1 Einleitung

Die Bundestagswahl vom 27. September 2009 kann mit einigen Rekorden aufwarten. Es gab die niedrigste Wahlbeteiligung seit Beginn der Republik. Alle drei kleinen Parteien, die FDP, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE, erzielten jeweils das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Umgekehrt bedeutete dies natürlich ein historisch schlechtes Gesamtergebnis für die beiden sogenannten Volksparteien, CDU/CSU und SPD. Die SPD kam mit etwas über 23 % auf das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Der Union gelang es zwar, insgesamt 10 Prozentpunkte an Zweitstimmen mehr für sich zu verbuchen, aber auch für sie war dies das schlechteste Ergebnis seit der Wiedervereinigung und das zweitschlechtestes Ergebnis seit der Gründung der Bundesrepublik. Nur 1949 erhielt sie noch weniger Stimmen, wobei das Ergebnis von 2009 nur 2 Prozentpunkte oberhalb dieses Allzeittiefs liegt.

Auch wenn es 2009 noch einmal für eine Zweiparteienkoalition aus einer großen und einer kleinen Partei gereicht hat, so sprechen doch alle Anzeichen dafür, dass dieses Muster in der mittleren Zukunft eher selten zu verwirklichen sein wird, da wir es mit einer fundamental neuen Parteienstruktur zu tun haben. Wie in Abb. 1 zu sehen ist, hat die effektive Anzahl der ParteienFootnote 1 fast wieder denselben Wert erreicht wie am Anfang der Republik 1949. Während sich von 1990 bis 1998 kaum eine Veränderung gegenüber dem Stand von 1987 ergeben hat, ist seit den letzten zwei Wahlen ein systematischer Bruch zu erkennen – mit einem steil nach oben weisenden Trend. Der Effekt der Wiedervereinigung auf die Struktur des gesamtdeutschen Parteiensystems hat sich also mit einer Latenz von ca. 15 Jahren ausgewirkt.Footnote 2 Allerdings dürfte sich dieser Trend kaum weiter fortsetzen, denn der Spielraum für eine stärkere Fragmentierung des Parteiensystems dürfte bei der Wahl 2009 weitgehend ausgeschöpft sein. Eher ist ein leichter Rückgang der Parteienzahl bei den folgenden Wahlen zu erwarten, aber es wird auch danach immer noch mit einem stärker fragmentierten Parlament zu rechnen sein als vor 2005.

Abb. 1
figure 1

Effektive Anzahl der Parteien im Parlament (nach Laakso u. Taagepera 1979).

(Quelle: eigene Berechnungen anhand der Zahlen des Statistischen Bundesamts)

Diese grundlegende Veränderung der Struktur unseres Parteiensystems ist mitverantwortlich für einen weiteren Rekord: Mit insgesamt 24 Überhangmandaten – 21 davon für die CDU, 3 für die CSU – entstanden bei der Bundestagswahl 2009 mehr Überhangmandate als je zuvor. Es ist ein sprunghafter Anstieg der Überhangmandate seit der Wiedervereinigung 1990 zu verzeichnen, wie sich in Abb. 2 zeigt.

Abb. 2
figure 2

Anzahl der Überhangmandate

Die Ergebnisse von 1990 und 2002 mit 6 bzw. 5 Überhangmandaten, die dem maximalen Wert von 1961 in der prävereinigten Phase entsprechen, müssen in der postvereinigten Phase gewissermaßen schon als ‚Ausreißer nach unten‘ betrachtet werden. Von 1949 bis 1987 gab es insgesamt 17 Überhangmandate, d. h. allein nach 1990 gab es drei Bundestagswahlen, in denen jeweils in dieser einen Wahl ungefähr so viele oder sogar noch deutlich mehr Überhangmandate anfielen als in den ersten 40 Jahren der Republik zusammen genommen.

Wichtiger noch als die absolute Anzahl der Überhangmandate ist jedoch die Differenz an Überhangmandaten zwischen Union und SPD, da diese den relativen Vorteil ausdrückt, den eine Partei bzw. ein Lager durch die Überhangmandate gegenüber dem anderen Lager erzielt. Dieser Vorteil fiel 2009 für die Union fast doppelt so hoch aus wie beim bisherigen Rekordvorteil, der 1998 zu Gunsten der SPD entstanden war, als diese alle 13 Überhangmandate, die damals entstanden waren, für sich verbuchen konnte. Dieser Vorteil von 24 Mandaten entspricht immerhin über 4 % der regulären Anzahl von Mandaten im Bundestag. Anders ausgedrückt: Die Union erhält dank der Überhangmandate so viele zusätzliche Sitze, wie sie normalerweise für ca. 1,75 Mio. zusätzliche Zweitstimmen erhalten hätte. Das entspricht ziemlich genau der Zahl aller gültigen Zweitstimmen, die in Berlin abgegeben wurden. Der durch die Überhangmandate entstandene Vorteil für die Union gleicht damit dem einer virtuellen Großstadt von Wählern in der Größenordnung von Berlin.

Überhangmandate sind also mehr denn je präsent als Begleitphänomen deutscher Bundestagswahlen – mit potenziell folgenschweren Konsequenzen. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, warum Überhangmandate immer noch ein gravierendes Problem darstellen, das dringend einer Lösung bedarf. Anschließend werde ich erläutern, wie sie entstehen und was die prinzipiellen Ursachen ihrer Entstehung sind. Abschließend werden einige der Lösungsvorschläge diskutiert, die derzeit im Zusammenhang mit Überhangmandaten vorgebracht werden.

2 Warum Überhangmandate ein Problem sind

Überhangmandate stellen in mindestens dreifacher Hinsicht ein gravierendes Problem dar: in verfassungsrechtlicher Hinsicht, in Bezug auf grundsätzliche Fairness- und Gerechtigkeitserwägungen und last but not least unter demokratietheoretischen Aspekten.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland enthält keine Aussage über das Wahlsystem, sondern überlässt die Wahl desselben der einfachen Gesetzgebung. Lediglich die Wahlrechtsgrundsätze sind in Artikel 38 festgelegt. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten werden Überhangmandate in der Regel in Bezug auf den Wahlrechtsgrundsatz der Gleichheit problematisiert. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei allerdings von Anfang an eine bemerkenswerte Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes vorgenommen, indem es die genaue Bedeutung des Prinzips von der Wahl des Wahlsystems abhängig machte, die wiederum dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers überlassen war (BVerfGE 1, 208, S. 246). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundsatz der Wahlgleichheit wird daher auch als „systembezogen“, „systemgebunden“ oder „systemorientiert“ bezeichnet (vgl. u. a. Lenz 1997, S. 1534). Durch seine Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem bindet sich der Gesetzgeber nach dem Gebot der „Folgerichtigkeit“ (BVerfGE 1, 208, S. 246) an eine bestimmte inhaltliche Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes. Dabei durchzieht sämtliche Urteile des Bundesverfassungsgerichts von Anfang an die Auffassung, dass es sich beim deutschen Wahlsystem aufgrund des in § 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG beschriebenen Verhältnisausgleichs um ein Verhältniswahlsystem handelt (BVerfGE 1, 208, S. 246; Bücking 1998, S. 184). Dabei hebt „die Auslese der Wahlkreiskandidaten nach dem Prinzip der relativen Mehrheit im Wahlkreis (…) den grundsätzlichen Charakter der Bundestagswahl als einer Verhältniswahl nicht auf“ (BVerfGE 34, 130, S. 139).Footnote 3

Hätte sich der Gesetzgeber für eine Mehrheitswahl entschieden, was nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts durchaus zulässig gewesen wäre, so wäre der Grundsatz der Gleichheit lediglich im Sinne eines gleichen Zählwerts aller abgegebenen Stimmen zu interpretieren gewesen. Entscheidet sich der Gesetzgeber jedoch für ein Verhältniswahlsystem, so hat er neben der Zählwertgleichheit auch die Gleichheit des Erfolgswertes zu beachten (vgl. u. a. BVerfGE 1, 208, S. 244–245, 7, 63, S. 70, 16, 130, S. 139). Das Bundesverfassungsgericht spricht sogar davon, dass sich der Gesetzgeber dem „prinzipiellen Gebot des gleichen Erfolgswertes jeder Wählerstimme“ mit seiner Entscheidung für ein Verhältnissystem „unterwirft“ (BVerfGE 34, 81, S. 100). Der Erfolgswert wird dabei mit dem „gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis“ gleichgesetzt (BVerfGE 1, 208, S. 246).

Die absolute Gleichheit des Erfolgswertes lässt sich nur in einem reinen Verhältniswahlsystem verwirklichen. Doch nicht alle Parteien nehmen in unserem Wahlsystem an der Verteilung der Sitze nach Zweitstimmen teil. Parteien, die weniger als 5 % der Zweitstimmen erhalten haben, erhalten keine Sitze im Parlament, außer in dem Fall, dass sie mindestens drei Direktmandate gewonnen haben. Die Sperrklausel ist ein klarer Verstoß gegen das Gebot der Erfolgswertgleichheit und somit begründungsbedürftig. Tatsächlich sieht das Verfassungsgericht Abweichungen von der Erfolgswertgleichheit nur „in Grenzen“ (BVerfGE 1, 208, S. 249) oder gar „engen Grenzen“ (BVerfGE 79, 169, S. 172) und nur unter Vorliegen eines „zwingenden Grund(es)“ (BVerfGE 1, 208, S. 249) als akzeptabel an. Um einen solchen zwingenden Grund handelt es sich im Falle der Sperrklausel, da hierdurch eine Parteienzersplitterung im Parlament und eine daraus folgende politische Aktionsunfähigkeit der Regierung verhindert werden soll (BVerfGE 1, 208, S. 248). Bei der Bewertung, inwieweit die Verletzung der Erfolgswertgleichheit durch die Sperrklausel hingenommen werden sollte, nimmt das Gericht eine Güterabwägung vor, mit dem Ergebnis, dass der Erhalt der Regierungsfähigkeit hinreichend wichtig ist, um dafür Stimmwertdifferenzen hinzunehmen.

Das letzte große und umfangreichste Urteil zu Überhangmandaten von 1997 ging unentschieden aus, d. h. vier der Richter sahen in den Überhangmandaten einen Verstoß gegen die Verfassung, während die anderen vier Richter die Überhangmandate nicht als unvereinbar mit der Verfassung beurteilten. Da bei Stimmengleichheit der Status quo erhalten bleibt, kam es daher auch nicht zu einem verfassungsrechtlichen Verbot der Überhangmandate bzw. zu einem Gebot, deren Effekt auf die Sitzverteilung zu unterbinden oder zu neutralisieren.

Von großer Bedeutung für die aktuelle Diskussion ist aber vor allem das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2008 zum sogenannten „negativen Stimmgewicht“, das als verfassungswidrig erklärt wurde (vgl. Roth 2008). Hierbei handelt es sich um den Effekt, dass eine Partei mehr Sitze erhalten kann, wenn sie weniger Stimmen erhält. So hätte z. B. die CDU 2005 insgesamt ein Mandat weniger erhalten, wenn sie bei der Nachwahl in Dresden einige tausend Stimmen mehr erhalten hätte (vgl. Behnke 2008). Das negative Stimmgewicht tritt immer in Zusammenhang mit Überhangmandaten auf, aber umgekehrt sind Überhangmandate nicht zwangsläufig mit dem Effekt des negativen Stimmgewichts verknüpft. Doch aus dem Umstand, dass Überhangmandate nicht notwendigerweise mit einem negativen Stimmgewicht verbunden sind, zu folgern, dass sich dementsprechend die Verfassungswidrigkeit aus logischen Gründen nicht auf die Überhangmandate erstrecken könnte, muss als voreilig bezeichnet werden. Denn bei der Begründung, warum das negative Stimmgewicht gegen die Verfassung verstoße, führen die Richter vor allem erneut das Kriterium der Erfolgswertgleichheit an. Da ein widersinniger Effekt nicht allein dadurch schon verfassungswidrig ist, dass er widersinnig ist, musste das Gericht zwangsläufig zur Begründung der Verfassungswidrigkeit auf die Verletzung der Wahlrechtsgrundsätze zurückgreifen. Doch die Referenz auf die Erfolgswertgleichheit ist aus zweierlei Gründen problematisch: Zum einen führt der Effekt des negativen Stimmgewichts, wenn er tatsächlich negativer Natur ist – also wenn mehr Stimmen zu weniger Sitzen führen – zu einer Angleichung der Erfolgswertgleichheit der verschiedenen Parteien und nicht zu einer Vergrößerung der Unterschiede (vgl. Behnke 2010a). Zum anderen ist der Urteilsspruch in sich inkonsistent, weil er zwar einerseits wieder die Erfolgswertgleichheit zum Maßstab des Gleichheitsgrundsatzes macht und nicht das mysteriöse Konzept der Erfolgschancengleichheit wie beim Urteil von 1997 (kritisch hierzu Nohlen 2009a), andererseits aber offensichtlich ausgleichslose Überhangmandate weiterhin für verfassungskonform hält (Roth 2008, S. 1200). Es ist aber widersprüchlich, den deutlich geringeren Einfluss des negativen Stimmgewichts auf die Erfolgswertgleichheit für unzulässig zu erklären und den deutlich größeren Effekt dieser Art bei den Überhangmandaten zuzulassen. Auch hat das Bundesverfassungsgericht eine Wahlprüfungsbeschwerde zu den sogenannten „Berliner Zweitstimmen“ mit der Begründung abgewiesen, zu einer Entscheidung in dieser Sache bestehe wegen des Urteils zum negativen Stimmgewicht keine Notwendigkeit mehr. Aber bei den Berliner Zweitstimmen geht es um ein zu den Überhangmandaten strukturgleiches Problem, nämlich die Entstehung eines doppelten Stimmgewichts durch die Nichtverrechnung gewonnener Direktmandate mit Zweitstimmen. Insofern muss die aktuelle Position des Bundesverfassungsgerichts zu den Überhangmandaten als uneindeutig bezeichnet werden. Der Ausgang einer zukünftigen Klage gegen die Überhangmandate kann mit guten Gründen als offen angesehen werden. „Die Rechtsprechung des BVerfG zum Wahlrecht ist in Teilen nicht mehr vorhersehbar, das hat die in offenem Widerspruch zur bisherigen Judikatur stehende, dies freilich nicht näher erläuternde, Entscheidung vom 3. Juli 2008 mit aller Deutlichkeit gezeigt“ (Lang 2009).

Doch der Fokus auf die Verfassungskonformität der Überhangmandate birgt in sich das Risiko vergessen zu lassen, dass der Gesetzgeber in erster Linie daran interessiert sein sollte, sinnvolle Regeln zur Lösung einer bestimmten Aufgabe zu schaffen. Die Verfassungskonformität der Regel ist in diesem Sinne eher als eine gleichzeitig zu erfüllende Nebenbedingung zu betrachten. Sinnvolle Regeln zum Wahlrecht müssen aber vor allem grundlegenden Fairness- und GerechtigkeitsforderungenFootnote 4 genügen.

Die Fairnessforderung würde sich in diesem Fall vor allem auf die Bedingungen des Parteienwettbewerbs um das Erlangen von Mandaten beziehen. Um es mit einem Wort zu sagen: Es geht um die Gewährleistung von Chancengleichheit. Wichtigste Bedingung hierfür ist, dass Benachteiligungen, die aufgrund immer bestehender Unreinheiten der Prozedur notwendigerweise auftreten, hinsichtlich der betroffenen Parteien neutral sein müssen; die Prozedur muss also unparteiisch sein (vgl. hierzu Goodin 2004). Offensichtlich sollte auch genau dieser Forderung im Urteil von 1997 mit dem strapazierten Begriff der Erfolgschancengleichheit Genüge getan werden. Dieser wird von den Richtern allerdings nur äußerst vage als „die gleiche rechtliche Möglichkeit (…), auf das Wahlergebnis Einfluß zu nehmen“ (BVerfGE 95, 335, S. 362) definiert, wobei eine Ex-ante-Betrachtung (BVerfGE 95, 335, S. 353) vorgenommen werden muss. Gerade der Hinweis auf die Ex-ante-Perspektive kann nur so verstanden werden, dass es um die Erweckung des Anscheins von Chancengleichheit gehen soll. Aber die gleiche rechtliche Möglichkeit, sich wie ein Adler in die Lüfte zu erheben, nützt nur wenig, wenn es einem unglücklicherweise an Flügeln mangelt. Ex post kleine Parteien, die niemals in den Genuss von Überhangmandaten kommen, wie Bündnis 90/Die Grünen oder die FDP, sind dies eben auch schon ex ante gewesen. Kleine Parteien sind kleine Parteien aus strukturellen Gründen und nicht Parteien, die bei der nächsten Wahl genau so gut zu großen Parteien werden könnten. Die schon erwähnte neue Struktur des Parteiensystems lässt sogar nicht einmal mehr zwischen den großen Parteien CDU/CSU und SPD noch annähernde Chancengleichheit erwarten.

Doch selbst wenn dem Fairnesskriterium der Chancengleichheit Genüge getan würde, so wäre die Prozedur noch immer nicht zwangsläufig gerecht. Selbst wenn die auftretenden Benachteiligungen bzw. Bevorteilungen unparteiisch wären, so sind sie keinesfalls notwendig. Nehmen wir an, man müsste ein Erbe zwischen zwei Personen aufteilen, die denselben Anspruch auf dieses Erbe erheben können, und man ließe eine Münze entscheiden, wer das Erbe erhalten soll. Ein solches Vorgehen wäre fair und unparteiisch, aber es könnte bestenfalls nur dann als gerecht beurteilt werden, wenn es keine Möglichkeit gäbe, die Ungleichbehandlung im Ergebnis von vornherein auszuschließen (vgl. Goodin 2004, S. 99–101). Auch dieses Prinzip findet sich in einer Vielzahl der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in der Formulierung des „zwingenden Grund(es)“ (BVerfGE 1, 208, S. 249) für eine Abweichung von der Proporznorm der Verhältniswahl. Als zwingender Grund wird hierbei in der Regel das Element der Personenwahl angeführt. Doch es ist ein Leichtes zu zeigen, dass die Komponente der Personenwahl keineswegs unvereinbar mit der strikten Einhaltung des Proporzprinzips ist (Behnke 2003b, S. 1249–1251). Wenn also eine gerechte Aufteilung der Sitze grundsätzlich möglich ist, und das heißt an dieser Stelle, entsprechend dem Maße der Ansprüche, die in Form der erhaltenen Zweitstimmen auftreten – also proportional –, dann ist eine Abweichung von dieser gerechten Aufteilung über das notwendige Maß hinaus zwangsläufig als ungerecht zu bezeichnen.

An die Fairness- und Gerechtigkeitserwägungen lassen sich unmittelbar demokratietheoretische Argumente knüpfen, die für eine Beseitigung der Überhangmandate sprechen. Gewissermaßen handelt es sich beim Wahlsystem um den Kern der Demokratie schlechthin, zumindest gilt dies für eine repräsentative Demokratie. Die Wahl ist nicht nur das entscheidende Selektionsinstrument, mit dessen Hilfe diejenigen Bürger ausgewählt werden, die für alle Bürger verbindliche Gesetze verabschieden und ihrerseits die Regierung wählen. Darüber hinaus stellt die Wahlprozedur vor allem sicher, dass die gewählten Vertreter des Volkes von diesem auf angemessene Weise autorisiert, also legitimiert worden sind. Entscheidend für die legitimitätsbegründende Funktion des Wahlverfahrens ist damit aber die unbestrittene und allgemeine Anerkennung des Verfahrens selbst. Vor allem darf die Regel den oben erwähnten Fairness- und Gerechtigkeitsprinzipien nicht widersprechen, wenn sie unbestritten sein soll. Genau dies ist aber offensichtlich nicht gegeben. Daher ist auch die lebhafte Diskussion nachvollziehbar, die unmittelbar vor der Bundestagswahl in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Dabei ging es um die Frage, inwieweit die Legitimität einer Regierung angezweifelt werden könnte, die sich auf eine Mehrheit stützen würde, die nur mit Hilfe von Überhangmandaten zustande gekommen wäre. Überhangmandate sind in der Tat keine „Mandate zweiter Klasse“, wie die Bundeskanzlerin in einer Pressekonferenz kurz vor der Wahl vollkommen zu Recht feststellte. Sie können es schon aus logischen Gründen nicht sein, da die Überhangmandate nicht identifizierbar sind. Mehrheiten aber, die sich nur auf Überhangmandate stützen könnten, würden sehr wohl von vielen als Mehrheiten zweiter Klasse empfunden werden, wenn nicht gar als eine Umkehrung des Wählerwillens. Auch der Verweis auf ein Mehrheitswahlsystem wie in Großbritannien, in dem es zu wesentlich stärkeren Verzerrungen der Sitzverteilung im Verhältnis zur Stimmenverteilung kommen kann, ist nicht überzeugend. Wenn das Ziel des Autorisierungsprozesses die Herausbildung einer Ein-Parteien-Regierung ist, dann sind es gerade Gerechtigkeitsgründe, die dafür sprechen, diese Regierung durch diejenige Partei bilden zu lassen, die die größte Anzahl von Wählern hinter sich hat. Um die Regierungsfähigkeit einer solchen Regierung zu gewährleisten, ist es im Weiteren nur folgerichtig, dafür zu sorgen, dass sich diese Regierung auf eine Mehrheit im Parlament stützen kann, indem man das Wahlsystem bewusst so konstruiert, dass es zu diesen sogenannten „manufactured majorities“ (Rae 1967, S. 74) kommt. Wenn aber in jedem realistischen Fall das Ergebnis der Regierungsbildung auf eine Koalitionsregierung hinausläuft, dann lautet das entsprechende Gerechtigkeitsargument eindeutig, dass den größten Anspruch auf die Bildung der Regierung diejenige Koalition besitzt, die die meisten Wählerstimmen auf sich vereinen kann. Umgekehrt wäre es ein klarer Verstoß gegen diese Gerechtigkeitsforderung, wenn eine Koalitionsregierung zustande käme, die sich insgesamt auf weniger Wählerstimmen stützen würde als die sich dann herausbildende Opposition.

Ein eher positivistisches Rechts- und Regelverständnis würde allerdings bestreiten, dass die Legitimität einer Regierung, die nach dem geltenden Regelwerk – mag dieses auch mangelhaft sein – gewählt worden ist, in Frage gestellt werden kann. Die Frage, ob eine nur mit Hilfe von Überhangmandaten zustande gekommene Regierung legitim sei, ist daher in der Tat umstritten. Doch bei Fragen der Legitimität verhält es sich ähnlich wie bei Korruption: Das Problem kann schon dann als virulent betrachtet werden, wenn auch nur der Anschein mangelnder Legitimation entsteht. Dieser Anschein muss aber dann schon als gegeben angesehen werden, wenn die Legitimation von einer hinreichend großen Zahl an Bürgern in Zweifel gezogen würde. Dass eine auf Überhangmandaten beruhende Regierung aber diesen Mangel an Legitimation für viele tatsächlich besäße, hat die immense Mediendebatte im Vorfeld der Bundestagswahl klar belegt.Footnote 5

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich mit Hilfe von Überhangmandaten Parlamentsmehrheiten verschieben, neue Koalitionsmöglichkeiten ergeben und vorhandene zerstört werden, ist zudem in den letzten Jahren gestiegen. Bleibt die derzeitige Struktur der Parteienlandschaft halbwegs stabil, so bewegt sich diese Wahrscheinlichkeit mit annähernder Sicherheit in einer Größenordnung von mehr als 10 % und kann bei besonders ‚günstigen‘ Ausgangslagen bis zu 25 % betragen.Footnote 6 Die Abschaffung der Überhangmandate muss daher als eine Art von Versicherungspolice gesehen werden, die geeignet wäre, die Gefahr einer drohenden Legitimationskrise, die sich in einem solchen Fall ergeben würde, zu bannen.

3 Die Mechanik der Entstehung von Überhangmandaten

Überhangmandate entstehen im Zuge der proportionalen Verteilung der Sitze aufgrund der Zweitstimmenergebnisse der Parteien. Es gibt eine Vielzahl möglicher Systeme, die diese Funktion erfüllen können (vgl. übersichtsweise Farrell 2001; Behnke 2007a). In der Bundesrepublik Deutschland wurden bisher drei dieser Verrechnungssysteme angewandt: d’Hondt (1949–1983), Hare-Niemeyer (1987–2005) und Sainte-Laguë (ab 2009).Footnote 7

Tab. 1 Zweitstimmenergebnisse der Parteien bei der Bundestagswahl 2009

Die proportionale Zuteilung der Sitze erfolgt in zwei Schritten. Bei der Berechnung der sogenannten Oberverteilung werden den Parteien die Sitzzahlen zugewiesen, die sie bundesweit entsprechend ihres Zweitstimmenergebnisses (vgl. Tab. 1) erhalten. Demnach erhält z. B. die SPD insgesamt 146 Sitze, die CDU 173 etc. (vgl. Tab. 2).

Tab. 2 Sitzverteilungen nach Sainte-Laguë und Direktmandate der Parteien 2009

Anschließend wird in einem zweiten Schritt die sogenannte Unterverteilung berechnet. Hierbei werden die Sitze, die einer Partei bundesweit zustehen, nun proportional entsprechend den jeweiligen Zweitstimmenergebnissen auf die einzelnen Landeslisten verteilt. Von den 173 CDU-Sitzen z. B. entfallen danach 27 auf Baden-Württemberg, sechs auf Berlin usw. Überhangmandate entstehen nun, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate errungen hat, als ihr dort nach den Zweitstimmen zustehen würden. In Baden-Württemberg z. B. errang die CDU 37 Direktmandate. Damit entstanden allein in Baden-Württemberg 10 Überhangmandate. Auch dies war ein neuer Rekord der Bundestagswahl 2009. Nie zuvor waren in einem einzelnen Bundesland so viele Direktmandate angefallen. Auch auf die CSU entfielen erstmals in der Geschichte Überhangmandate. Mit dem Gewinn aller 45 Wahlkreismandate konnte die CSU 3 Überhangmandate erringen, da ihr aufgrund des – für ihre Verhältnisse ungewöhnlich schlechten – Zweitstimmenergebnisses nur 42 Mandate zugestanden hätten.

4 Die Ursachen der Entstehung von Überhangmandaten

Die kausale Verursachung der Überhangmandate ist ein komplexer Prozess, da die Entstehung von Überhangmandaten als Folge des gemeinsamen Wirkens vieler verschiedener Faktoren auftritt, die sich gegenseitig verstärken bzw. abschwächen. Ein multiplikatives Modell ist besonders gut geeignet, diese komplexen Wechselwirkungen abzubilden, und soll daher auch in der folgenden Analyse verwendet werden.Footnote 8

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei X in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem proportionalen Zuteilungsverfahren dort zustehen würden. Diese Bedingung kann man formal entweder als Differenz, die einen Wert größer Null hat, ausdrücken oder als Quotient, der einen Wert größer Eins besitzt. Entsprechend der Logik eines multiplikativen Modells wird hier die zweite Variante herangezogen. Dieses Verhältnis wird im Folgenden als Überschuss-Ratio ÜR bezeichnet, da es den relativen Überschuss der Direktmandate in Bezug auf die Verteilung nach dem Proporz-Verfahren wiedergibt. Die CDU erhält z. B. in Baden-Württemberg 37 Direktmandate bei einem Zweitstimmenanspruch auf nur 27 Mandate. Die Überschuss-Ratio beträgt demnach 37/27 oder 1,37.

Der besondere Reiz des multiplikativen Modells besteht darin, dass die Überschuss-Ratio als Produkt aus einer Reihe von Verzerrungsfaktoren dargestellt werden kann. Diese Verzerrungsfaktoren sind länderspezifische Werte und nehmen immer dann einen Wert größer als 1 an, wenn sich die spezifischen Bedingungen in einem Bundesland in Relation zum gesamten Bundesgebiet zu Gunsten der Entstehung von Überhangmandaten auswirken. Umgekehrt zeigt ein Wert kleiner als 1 an, dass dieser Faktor der Entstehung von Überhangmandaten entgegenwirkt.

Der bedeutendste dieser Verzerrungsfaktoren ist die sogenannte Basis-Ratio, die als eine Art Baseline-Modell zu verstehen ist, und zwar in dem Sinn, dass die Basis-Ratio den voreingestellten Wert der Überschuss-Ratio darstellt, wenn eine Wahl unter mehr oder weniger ‚normalen‘ Umständen stattfindet. ‚Normale‘ Umstände sind gegeben, wenn sich bestimmte Faktoren, wie z. B. der Wahlkreiszuschnitt oder die Wahlbeteiligung in einem Bundesland, nicht vom bundesweiten Durchschnitt unterscheiden. Außerdem wird für das Baseline-Modell vorausgesetzt, dass alle Wähler mit der Erststimme genauso abstimmen wie mit der Zweitstimme. Die Anzahl der gewonnenen Direktmandate entspricht also der, die ohne Stimmensplitting zustande käme, wobei angenommen wird, dass die Zweitstimme in der Regel die ‚eigentliche‘ Parteienpräferenz widerspiegelt. Das Konzept der Basis-Ratio lässt sich folgendermaßen herleiten: Da der bundesweite Anteil der Direktmandate an allen Proporz-Mandaten 0,5 beträgt und der Anteil an Proporz-Mandaten einer Partei ungefähr ihrem Anteil an den Zweitstimmen entspricht, kann man folgende Faustregel verwenden: Überhangmandate entstehen, wenn der Anteil der Direktmandate einer Partei an allen Direktmandaten mehr als doppelt so hoch ausfällt wie der Anteil an Zweitstimmen dieser Partei in diesem Land. Nach der Faustregel erhält demnach eine Partei mit 30 % der Zweitstimmen dann Überhangmandate, wenn sie mehr als 60 % der Direktmandate errungen hat. Der in der Faustregel skizzierte Fall der Entstehung von Überhangmandaten bezieht sich auf Überhangmandate, die einzig und allein auf das Stärkeverhältnis der Parteien, also auf die Parteienstruktur, zurückzuführen sind, während ansonsten mehr oder weniger ‚normale‘ Umstände herrschen. Dieses Verhältnis des Anteils der Direktmandate zum doppelten Anteil an den Proporzmandaten, das sich unter ‚normalen‘ Umständen ergibt, bildet den Wert der Basis-Ratio.

Weitere Verzerrungsfaktoren sind Stimmensplitting, „Rundungseffekte“ beim Proporzverfahren, nicht verrechnete gültige Zweitstimmen, Wahlbeteiligung sowie die Wahlkreiseinteilung. Sie umfassen also die üblichen aus der Literatur zu Überhangmandaten bekannten Störgrößen (vgl. u. a. Schwarz 1962; Meyer 1994; Grotz 2000; Behnke 2007a). Abgesehen vom Stimmensplitting besteht die Wirkung dieser Faktoren darin, dass im Verhältnis zu den Wahlkreisen zu wenig Proporzmandate in einem Bundesland anfallen. Anders ausgedrückt: Die sogenannten Verzerrungsfaktoren verändern den kritischen Schwellenwert, den die Basis-Ratio überschreiten muss, damit Überhangmandate zustande kommen. Während normalerweise der Faustregel zufolge der Anteil der gewonnenen Direktmandate doppelt so hoch sein muss wie der Anteil der Zweitstimmen, damit Überhangmandate entstehen, reduziert sich z. B. dieser Faktor auf 5/3 bzw. 1,66, wenn der Anteil der Direktmandate dT an allen Mandaten auf 60 % steigt. Eine Partei mit 40 % der Zweitstimmen muss dann nicht mehr mindestens 80 %, sondern nur noch 67 % der Direktmandate gewinnen, damit Überhangmandate entstehen. In Tab. 3 sind die einzelnen Verzerrungsfaktoren aufgeführt. In Tab. 4 sind außerdem die Konzepte aufgezeigt, die ‚hinter‘ den Verzerrungsfaktoren stehen.

Tab. 3 Die einzelnen Verzerrungsfaktoren
Tab. 4 Konzepte, die hinter den Verzerrungsfaktoren stehen

Die Ergebnisse lassen sich kurz zusammenfassen: Der mit Abstand wichtigste Grund für die Entstehung von Überhangmandaten bei der Bundestagswahl 2009 ist die neu entstandene Parteienstruktur mit einer relativ schwachen stärksten Partei, die dennoch einen deutlichen Vorsprung vor allen anderen Parteien besitzt. Dies zeigt sich in dem hohen Wert der Basis-Ratio in den meisten Ländern, in denen Überhangmandate anfallen. Die Unterschiede der Wahlbeteiligung wirken sich wie bisher zu Gunsten der Entstehung von Überhangmandaten im Osten aus. So profitieren Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern von einer unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung, während die überdurchschnittlichen Wahlbeteiligungen in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen an der Verhinderung von Überhangmandaten arbeiten. Die Wahlkreiseinteilung wirkt sich inzwischen im Unterschied zu den ersten Wahlen nach der Wiedervereinigung eher zu Ungunsten der neuen Bundesländer aus. Am stärksten ist dieser Effekt allerdings in Bremen, wo der ungünstige Wahlkreiszuschnitt zusammen mit einem ungünstigen Rundungseffekt beim Proporzverfahren die Entstehung eines Überhangmandats zu Gunsten der SPD verhindert. In Bezug auf das berüchtigte Stimmensplitting widersprechen die Ergebnisse gängigen Vorstellungen. Entgegen der häufig geäußerten Vermutung spielt Stimmensplitting nur eine sehr untergeordnete Rolle. Dies bestätigt auch bisherige Befunde (vgl. Behnke 2007b). Tatsächlich hätte die CDU in Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz sogar zwei Direktmandate mehr gewonnen, wenn alle Wähler mit ihrer Erststimme genauso entschieden hätten wie mit ihrer Zweitstimme. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wären zusätzliche Überhangmandate entstanden, während in Hessen damit überhaupt erst Überhangmandate zustande gekommen wären. Lediglich in Thüringen verhalf das Stimmensplitting der CDU zu zusätzlichen Direktmandaten. Als Nettoeffekt bleibt aber demnach ein Minus von vier weiteren Überhangmandaten, die für die CDU hätten entstehen können, wenn alle Wähler mit der Erststimme genauso wie mit der Zweitstimme gewählt hätten.Footnote 9 Die SPD konnte hingegen den Vorteil eines enormen Stimmensplittings zu ihren Gunsten in Brandenburg nicht in Überhangmandate umsetzen, da der so entstandene Vorteil durch die schlechte Basis-Ratio wieder zunichte gemacht wurde. Hervorzuheben ist noch Sachsen-Anhalt. Nicht nur, dass DIE LINKE hier von allen Parteien am meisten Direktmandate gewinnen konnte. Hätte es zudem eine Kongruenz von Erst- und Zweitstimme gegeben, dann wären zwei weitere Direktmandate an DIE LINKE gefallen, und es wäre erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik zu einem Überhangmandat für diese Partei gekommen.

5 Lösungsvorschläge zur Beseitigung der Überhangmandate

Infolge des Verfassungsgerichturteils zum negativen Stimmgewicht muss das Wahlsystem bis zum Sommer 2011 entsprechend reformiert werden. Die grundsätzliche Frage, die es als Erstes zu beantworten gilt, ist die, ob man am bisherigen Wahlsystem so weit wie möglich festhalten und lediglich notwendige Korrekturen vornehmen will, oder ob man einen grundsätzlichen Systemwechsel beabsichtigt. Da das bestehende Wahlsystem sich 60 Jahre lang jedoch eindeutig bewährt hat, sollte man meiner Ansicht nach von einem grundlegenden Systemwechsel absehen und das Wahlsystem lediglich soweit verbessern, dass damit einerseits die offensichtlich bestehenden Mängel beseitigt werden und gleichzeitig der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts entsprochen wird. Wie im zweiten Abschnitt gezeigt wurde, handelt es sich beim deutschen Wahlsystem grundsätzlich um ein Verhältniswahlsystem. Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob das Proporzprinzip einzuhalten ist, sondern inwieweit und in welcher Größenordnung Abweichungen hiervon hinzunehmen sind. In jedem Fall bedürfen solche Abweichungen aber, wie z. B. im Fall der 5 %-Hürde stichhaltiger Begründungen. Im Fall der Überhangmandate aber liegen diese stichhaltigen Begründungen nicht vor. Sie und nicht so sehr das negative Stimmgewicht stellen daher das eigentlich problematische Element des derzeitigen Wahlsystems dar. Wenn nun auch der Urteilsspruch zum negativen Stimmgewicht der Auslöser für eine Reform des Wahlsystems ist, so sollte dies dennoch als Chance genutzt werden, das eigentliche Problem der Überhangmandate zu beseitigen, wobei die Lösung des Problems des negativen Stimmgewichts als begrüßenswerter Nebeneffekt auftreten würde.Footnote 10 Ich diskutiere daher im Folgenden fast ausschließlich Lösungen, die diesen Prämissen entsprechen.Footnote 11 Hierzu wurde in den letzten Jahrzehnten eine Palette einzelner Möglichkeiten genannt.Footnote 12

Einer der in dieser Diskussion am häufigsten gemachten Vorschläge sieht die Verrechnung von Überhangmandaten mit Landeslistenmandaten vor (vgl. u. a. Nicolaus 1995; Naundorf 1996). Während diese Vorgehensweise bei einem sogenannten Quota-Verfahren wie dem bisher verwendeten Hare-Niemeyer-Verfahren eine relativ komplexe Angelegenheit ist,Footnote 13 lässt sich ein Höchstzahl- oder Divisorverfahren wie d’Hondt oder das seit der letzten Wahl angewandte Sainte-Laguë-Verfahren äußerst einfach auf eine Weise modifizieren, nach der Überhangmandate mit Listenmandaten in den Ländern, in denen keine Überhangmandate anfallen, verrechnet werden (vgl. Behnke 2003b, 2005; Pukelsheim 2008). Dies entspricht auch dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drucksache 16/11885), der im Juli 2009 im Parlament diskutiert wurde. Auch wenn sich die verschiedenen Vorschläge in ihrer Formulierung unterscheiden, je nachdem ob sie als klassisches Höchstzahlverfahren oder als eine Art von Quotaverfahren mit Standardrundung ausgedrückt werden (Lübbert 2009), oder ob die Verrechnung der Überhangmandate am Anfang oder am Ende des Zuteilungsverfahrens vorgenommen wird, so führen alle Verfahren doch zum selben Endergebnis. In Tab. 5 ist die Rangfolge angegeben, in der bei der Unterverteilung die 173 Sitze der CDU auf die verschiedenen Landeslisten verteilt werden. Alle vorgeschlagenen Verrechnungsverfahren funktionieren nun so, als ob man von den Landeslisten, in denen mehr Mandate nach dem Proporzverfahren anfallen als Direktmandate, die letztzugeteilten Listenmandate abzieht, bis die Anzahl der ‚abgezogenen‘ Sitze der der Überhangmandate entspricht.Footnote 14

Tab. 5 Reihenfolge der Vergabe der Sitze für die CDU nach dem Sainte-Laguë-Verfahren

Man kann das Verfahren in diesem besonderen Fall auch abkürzen. Da insgesamt 173 Direktmandate von der CDU gewonnen werden und die CDU aufgrund des Proporzverfahrens in der Oberverteilung auf eben diese Sitzzahl einen Anspruch besitzt, heißt dies nichts anderes, als dass die Anzahl der Überhangmandate den verbleibenden echten Listenmandaten entsprechen muss. Nach der Abrechnung erhielte die CDU genau die 173 Mandate, die auch die Direktmandate sind, und alle echten Listenmandate werden zur Verrechnung mit den Überhangmandaten aufgebraucht. In Tab. 5 sind diejenigen Proporzmandate, die tatsächlich über die Liste vergeben werden, grau unterlegt; also diejenigen, die zur Kompensation der Überhangmandate verwendet würden. Die 21 Überhangmandate der CDU würden also einen Verlust von acht Mandaten für die nordrhein-westfälische Landesliste und fünf für Niedersachsen bedeuten. In Brandenburg müssten der Landesliste vier von fünf Mandaten abgezogen werden, in Bremen verlöre die CDU das einzige Mandat, das sie dort überhaupt erhielt. Ebenfalls ein Listenmandat ginge in Berlin, Hamburg und Sachsen-Anhalt verloren. Ein Problem dieses Lösungsvorschlags könnte daher in dessen politischer Umsetzbarkeit bestehen, da mit dem Widerstand bestimmter Landesverbände der Parteien zu rechnen ist.

Außerdem bleiben bei einer Verrechnung mit Landeslisten einige problematische Aspekte bestehen: Zum einen würde es weiterhin zu Überhangmandaten der CSU kommen, die nicht verrechnet werden könnten. Die permanente Privilegierung einer einzigen Partei durch die Überhangmandate kann aber schon aus Fairness- und Gerechtigkeitsgründen nicht akzeptabel sein. Dies wiegt noch schwerer, da nicht auszuschließen ist, dass die CSU in Zukunft womöglich noch mehr Überhangmandate als in der letzten Wahl erhalten könnte. Fiele sie z. B. auf 40 % oder sogar darunter, so würden nach der derzeitigen Regelung vermutlich mehr als sechs Überhangmandate anfallen. Der Anteil der Überhangmandate an ihren Mandaten würde dann ungefähr ein Sechstel oder sogar mehr betragen. Zum anderen aber könnten bestimmte Landesverbände erklären, aus der Listenverbindung auszusteigen, um so einer Verrechnung zu entgehen. Außerdem würde möglicherweise sogar ein Anreiz geboten, ähnlich zur CSU, Regionalableger einer Partei zu gründen, die nur in einem Bundesland antreten. Beim Kompensationsmodell müsste man daher noch eine zusätzliche Regelung für Parteien anführen, die nur mit einer Landesliste antreten. Meyer (2009) z. B. stellt den Vorschlag zur Diskussion, ob in diesem Fall die Entstehung von Überhangmandaten verhindert werden sollte, indem man nicht alle gewonnenen Direktmandate vergibt. Dieser Vorschlag aber könnte einerseits verfassungsrechtlich bedenklich sein, würde andererseits aber sicherlich die Transparenz des Wahlsystems gründlich unterminieren, da es dann in einigen Wahlkreisen so etwas wie ‚Sieger auf Vorbehalt‘ geben würde. Die ungleiche Repräsentation der Wahlkreise durch an den Wahlkreis gebundene Abgeordnete wäre außerdem auch aus Gerechtigkeitsgründen problematisch.

Ein weiterer Weg zur Beseitigung von Überhangmandaten wären Ausgleichsmandate. Diese sollten natürlich keineswegs im Sinne eines doppelten Ausgleichs erst innerhalb der Länder, dann auf Bundesebene anfallen, sondern nur auf der Ebene des Bundes berechnet werden und dann den Ländern zufallen, die als nächste nach dem normalen Proporzverfahren an der Reihe gewesen wären. Aber auch die sparsame Lösung des einfachen bundesweiten Ausgleichs kann immer noch zu einer erheblichen Anzahl von zusätzlichen Mandaten führen. Um z. B. die 21 Überhangmandate der CDU auszugleichen, bedürfte es ungefähr 45 weiterer Mandate und selbst die CSU würde mindestens ein Ausgleichsmandat erhalten. Der Bundestag würde sich demnach insgesamt um ca. 70 Sitze erweitern. Ausgleichsmandate sollten daher nur als Element eingesetzt werden, das in Kombination mit anderen Überhangmandate neutralisiert, um verbleibende Ungleichheiten auszugleichen. In einem eng verstandenen Sinn bliebe bei Ausgleichsmandaten aber der Effekt des negativen Stimmgewichts erhalten: Eine Partei könnte weiterhin mehr Sitze erhalten, indem sie weniger Stimmen bekommt. Allerdings hätte sie keinen Vorteil mehr dadurch, da dieser durch die Ausgleichsmandate kompensiert würde. Die Erfolgswertgleichheit wäre durch Ausgleichsmandate garantiert. Insofern wäre die verfassungsrechtlich problematische Konsequenz aus dem negativen Stimmgewicht neutralisiert, auch wenn der Effekt selbst bestehen bliebe.

Am sinnvollsten wäre es daher offensichtlich, schon die Entstehung der Überhangmandate möglichst schwierig zu machen, so dass von vornherein möglichst wenige oder gar keine Überhangmandate anfallen. Weiterhin anfallende Überhangmandate könnten dann mit Landeslisten verrechnet oder durch Ausgleichsmandate kompensiert werden.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen; von der Einführung einer reinen Listenwahl, dem Heruntersetzen des Anteils der Direktmandate an allen Mandaten, z. B. auf 30 %, (vgl. für eine Übersicht Behnke 2007a, S. 196–206) bis hin zur Schaffung von Mehrmannwahlkreisen für die Erststimme (Behnke 2010b) oder die Abschaffung der Wahlkreismandate bei gleichzeitiger Einführung von lose gebundenen Listen, die dann das Personenwahlelement aufnehmen würden (vgl. Fürnberg u. Knothe 2009). Die Einführung einer Listenwahl allerdings wäre als weitreichender Systemwechsel zu betrachten. Im Wesentlichen bleiben also nur die Möglichkeiten der Verminderung des Anteils der Direktmandate und die Schaffung von Zweimann- oder Mehrmannwahlkreisen für die Zuteilung der Direktmandate. Geht man vom derzeitigen Parteiensystem aus, dann müsste man den Anteil der Direktmandate auf unter 40 % senken, um die Entstehung von Überhangmandaten relativ sicher ausschließen zu können. 35 % wären daher derzeit wohl eine realistische Größe. Soll die Gesamtzahl der Mandate konstant bleiben, müsste die Anzahl der Direktmandate also von derzeit 299 auf ca. 200 herabgesetzt werden. Die Wahlkreise müssten im Durchschnitt ungefähr eineinhalb mal so groß werden.

Im Fall von Zweimannwahlkreisen, in denen dann die beiden Kandidaten, die die höchste und zweithöchste Anzahl von Erststimmen erhalten, gewählt wären, müsste man die Wahlkreise nur noch unwesentlich vergrößern, um im Schnitt zwei der bisherigen Wahlkreise zu einem neuen Zweimannwahlkreis zusammenzulegen. Der Vorteil der Zweimannwahlkreise bestünde vor allem darin, dass der Anteil der direkt gewählten Abgeordneten von 50 % beibehalten werden könnte. Da die stärkste Partei in der Regel gegen nur einen nominierten Kandidaten der zweitstärksten Partei antreten würde, könnte die stärkste Partei nur dann beide Mandate des Wahlkreises erringen, wenn sie mehr als doppelt so viele Stimmen erhielte wie die zweitstärkste. Da eine optimale Koordination ihrer Stimmen, d. h. jeweils die Hälfte entfiele auf jeden ihrer beiden Kandidaten, jedoch sehr unwahrscheinlich ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie beide Mandate erringen kann, sogar noch deutlich geringer. In der überwiegenden Zahl der Fälle ginge in Zweimannwahlkreisen daher ein Sitz an die stärkste und ein Sitz an die zweitstärkste Partei, selbst wenn der Vorsprung der stärksten vor der zweitstärksten Partei sehr beachtlich wäre.

Will man also am derzeitigen Wahlsystem in seinen Grundzügen festhalten und strebt einen lediglich minimal invasiven Eingriff an, dann bleiben vermutlich die Kompensation durch Landeslisten, die Herabsetzung des Anteils der Direktmandate und die Schaffung von Zweimannwahlkreisen als Lösungen in der engeren Wahl, wobei die Zweimannwahlkreise dabei meiner Meinung nach am wenigsten neue Probleme bzw. die am wenigsten schwerwiegenden schaffen würden.

6 Fazit

Das Problem der Überhangmandate ist mit der Bundestagswahl 2009 in einer neuen Dimension aufgetreten, die es dringend anraten lässt, sich endlich intensiv damit zu beschäftigen, um dieses Problem ein für allemal in den Griff zu bekommen. Bleibt die überfällige Reform aus, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis Überhangmandate das politische Ergebnis einer Wahl verändern werden, weil sie neue Koalitionsmöglichkeiten schaffen und andere, die ohne die Überhangmandate bestehen würden, zunichte machen. Hiermit würden sich ohne Zweifel enorme Legitimationsprobleme für eine Regierung ergeben, die sich auf eine Mehrheit von Sitzen stützen würde, die auf weniger Wähler(zweit)stimmen beruhen würden als die Sitze der Opposition. Es wäre daher fatal, sich bei der kommenden Wahlrechtsreform darauf zu beschränken, das Wahlsystem lediglich verfassungskonform in Hinsicht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu gestalten, und sich mit einer Reform zu begnügen, die zwar das Problem des negativen Stimmgewichts beseitigen würde, das der Überhangmandate aber weiter bestehen ließe. Dies käme einer kosmetischen Operation an der Oberfläche der Verfassungskonformität gleich, ohne das eigentliche Symptom zu kurieren. Das eigentliche Krankheitssymptom des Wahlsystems aber sind die Überhangmandate oder, anders ausgedrückt, die Gefahr, dass das Wahlsystem seinen ureigensten Zweck nicht mehr erfüllen könnte, nämlich den der Bereitstellung eines Verfahrens zur unbestrittenen Legitimation einer vom Parlament gewählten Regierung.

Man sollte bei dieser anstehenden Reform nun allerdings auch nicht versucht sein, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es gibt keinerlei Grund, das Problem des negativen Stimmgewichts dadurch zu lösen, dass man das Verhältniswahlsystem abschafft oder zumindest das Verhältniswahlelement reduziert, wie z. B. bei der Einführung eines Grabensystems. Das deutsche Wahlsystem hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem regelrechten Exportschlager entwickelt, dessen Grundzüge von vielen Ländern bei ihren Wahlrechtsreformen übernommen wurden (vgl. Shugart u. Wattenberg 2001). Zudem wäre eine Änderung des Wahlsystems, die so eindeutig zu Lasten bestimmter Parteien ginge und von der auf absehbare Zeit vor allem eine Partei, nämlich die Union, profitieren würde, politisch keineswegs durchsetzbar. Diese hätte außerdem noch den unangenehmen Beigeschmack, dass die sich an der Macht befindenden Parteien das Wahlgesetz zum eigenen Vorteil instrumentalisieren würden. Ein Systemwechsel vom Verhältniswahlsystem zur Mehrheitswahl oder zu einem Grabensystem ist weder realistisch noch unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten wünschenswert. Es wird also davon auszugehen sein, dass wir mit dem bestehenden Wahlsystem in seinen Grundzügen weiterleben werden, und dies wird nicht zum Schaden der Demokratie oder der Bundesrepublik Deutschland sein, – vorausgesetzt, wir nehmen die lange überfälligen Korrekturen am Gesetz vor, von denen die wichtigste die Neutralisierung der Überhangmandate darstellt.