1 Einleitung

Wie lassen sich Konzepte des Regierens entwickeln, die den Herausforderungen der Gegenwartsgesellschaft gerecht zu werden vermögen? Eine in den letzten Jahren prominente Auffassung dazu lautet: Wir sollten die Governance-Perspektive einnehmen. Das Hohelied der Governance-Perspektive wird von zwei Melodien bestimmt: Erstens wird sie für ihr mutmaßlich geschärftes Verständnis praktischer Problemstellungen gelobt. Praktiken der Koordinierung komplexer Akteurskonstellationen und Versuche, deren ‚Interdependenzprobleme‘ zu bewältigen, werden dabei besonders hervorgehoben (vgl. Benz 2004; Benz et al. 2007). Das Bezugnehmen auf Governance, so ein zweites Lob, eigne sich auch in besonderer Weise zur ‚Überbrückung‘ destruktiver Gräben zwischen den Disziplinen, theoretischen Ansätzen und Forschungsprogrammen (Schuppert 2005, S. 373, 2007, S. 506; Blatter 2006, S. 52). Die wissenschaftliche Diskussion, so scheint es, kann sich an Themen und praktischen Problemen weiterhangeln und Wahrheitsfragen gewissermaßen pragmatisch ‚perspektivieren‘. In Abgrenzung zu anderen Forschungsperspektiven soll für die Governance-Forschung ein genuiner praxisrelevanter „Gestaltungsimpetus“ (Schimank 2007a, S. 29) charakteristisch sein.

Indes sind sowohl die Berufung auf Praxis- und Problemlösungsbezug als auch der Anspruch auf Gestaltungsfähigkeit selbst höchst problematisch, da voraussetzungsvoll. Bereits die Frage, welche Praxis gemeint ist und in welcher Weise Gestaltungsansprüche reflektiert werden, erschließt sich erst im Kontext bestimmter konzeptionell-theoretischer Perspektiven von Governance. Auch der interdisziplinäre Brückenbau hängt davon ab, in welchem konzeptionellen Rahmen die Zusammenführung unterschiedlicher Traditionen und Ansätze erfolgen soll. Mit Blick auf den postulierten Praxisbezug drängt sich der Verdacht auf, dass bestimmte Problemdefinitionen und Lösungsmöglichkeiten als gegebene Ausgangspunkte vorausgesetzt werden, obwohl beides doch erst durch kollektive Prozesse hervorgebracht wird. Mit Blick auf die Interdisziplinaritätsansprüche hingegen lässt sich bezweifeln, dass die Governance-Perspektive als eine Art neutraler Begegnungsgrund verstanden werden kann, auf dem konzeptionelle Unvereinbarkeiten durch Praxisbezug aufgelöst werden.

Wenn es zutrifft, dass nichts so praktisch ist wie eine stimmige Theorie, dann können die angesprochenen Punkte nicht allein durch eine Überprüfung geklärt werden, ob Forschungen im Rahmen der Governance-Perspektive denn ‚tatsächlich‘ praxisorientierte und interdisziplinäre Ansprüche einlösen. Es muss auch danach gefragt werden, wie Praxis bzw. Interdisziplinarität überhaupt verstanden werden. Die folgenden Ausführungen gehen dem genannten doppelten Unbehagen deshalb auf einer konzeptionell-theoretischen Ebene nach, indem sie nach den leitenden Annahmen und Implikationen zentraler Konzeptualisierungsansätze von Governance fragen. In einem ersten Schritt sollen zunächst die angesprochenen Probleme unter Bezug auf verbreitete Bestimmungen der Governance-Perspektive einer näheren Betrachtung unterzogen werden (Abschn. 2). Im Anschluss wird argumentiert, dass die Annahme einer alles umfassenden, letztlich eklektischen Governance-Perspektive durch einen kontrollierten Theorienpluralismus von Governance-Konzepten ersetzt werden sollte, in denen jeweils besondere Verständnisse der Praxis des enthierarchisierten Regierens zum Tragen kommen. Als Ausgangspunkt dient eine Unterscheidung von vier Grundperspektiven auf die Praxis des Regierens in der Gegenwart.

In den folgenden beiden Abschnitten soll der Frage nachgegangen werden, wie die Praxis des Regierens in diesen Perspektiven problematisiert wird. Dabei wird der Schwerpunkt auf steuerungstheoretisch geprägte Konzeptualisierungen von Governance gelegt, die bislang für die Politikwissenschaft eine dominante Rolle spielen (Abschn. 3). Der Fokus der Steuerungstheorie, so soll verdeutlicht werden, hat sich von Fragen der stringenten Implementation politischer Programme über den Versuch der Identifikation passender Instrumente hin zur Thematisierung des komplexen Designs von Regelungsstrukturen verschoben. Steuerungstheoretiker betrachten die kontrollierte Enthierarchisierung des Regierens als Ausdruck von Modernität, d. h. als angemessene Reaktion auf soziale Differenzierungsprozesse und als Ausdruck der Gemeinwohlrealisierung in der Kooperation von Staat und gesellschaftlichen Akteuren. Wie dieser Gemeinwohlbezug durch institutionelle Designs von Governance herzustellen ist, wird jedoch unterschiedlich beantwortet. Die relevanten Akteurskonstellationen werden zudem immer stärker differenziert. Am Ende von Kritik und Selbstkritik der Steuerungstheoretiker stand die Frage, ob Governance überhaupt noch als Steuerung zu verstehen sei. Zumindest eine deutliche Akzentverschiebung, so Renate Mayntz (2005), sei feststellbar: Governance werde nämlich nicht mehr in handlungstheoretischen Begriffen, sondern in institutionalistischen vorgestellt.

Gerade die Verbindung von Steuerungsintention und Institutionenperspektive erweist sich jedoch als ungemeine Bürde der Governance-Perspektive, weil sie den Steuerungsanspruch zugleich mäßigt und steigert. Nun geht es nicht mehr darum, Instrumente in ihrer Wirkung auf gesellschaftliche Problemlagen einzuschätzen, sondern die Wirkung von institutionellen Designs auf die Interaktionen relevanter Akteure und deren Wirkung auf die Erhöhung von Problemlösungskapazitäten einzuschätzen. Damit wird zugleich vorausgesetzt, dass sich die entsprechenden institutionellen Designs nicht nur kausal transparent machen lassen, sondern auch intentional etabliert werden können. Die Einlösung derartiger Anforderungen ist unwahrscheinlich, und Einschätzungen werden stark kontextabhängig ausfallen müssen. Zudem führt das zugrunde gelegte Gemeinwohlverständnis zu einer Überbewertung von Konsensorientierung. Ausgehend von den Grenzen eines steuerungstheoretischen Verständnisses von Governance soll skizziert werden, welche konzeptionellen Alternativen zu einer Vervollständigung unseres Verständnisses von (neuen) Formen des Regierens führen könnten (Abschn. 4). Abschließend werden die Implikationen eines dadurch erschlossenen reicheren, multiperspektivischen Verständnisses von Governance diskutiert.

2 Ausgangspunkte: Praxisbezug und Gestaltungsimpetus in Kontexten enthierarchisierten Regierens

Die Entwicklung der Governance-Perspektive in der Politikwissenschaft nahm ihren Ausgang bei der Einsicht in die Bedeutung selbstorganisierter Netzwerke als Muster der interorganisatorischen und intersystemischen Abstimmung. Diese Einsicht war verknüpft mit Diagnosen der Grenzen des hierarchischen Steuerns durch den Staat und seiner autonomen Entscheidungsmöglichkeiten. So geht es nach der vielzitierten Formel von Rhodes bei Governance im Kern um „self-organizing, interorganizational networks characterized by interdependence, resource exchange, rules of the game and significant autonomy from the state“ (Rhodes 1997, S. 15). Mit dieser Formel war nicht gemeint, dass staatliche Akteure nicht selbst in Netzwerken mitwirkten oder keine Einflussmöglichkeiten auf diese hätten. Doch innerhalb der Netzwerke könnten sie nicht in direkter Weise von der zwingenden Macht staatlicher Entscheidungen Gebrauch machen, um die Entscheidungen anderer Akteure zu steuern; und außerhalb ihrer gelinge es immer weniger, zu tragfähigen Problemlösungen zu gelangen. Die Verfechter einer ‚analytisch‘ verstandenen Governance-Perspektive haben sich zwar immer wieder gegenüber dem Vorwurf verwahrt, sie seien voreingenommen, was die tatsächliche Bedeutung wie auch die normative Vorzugswürdigkeit von Netzwerken gegenüber Hierarchien betrifft. Governance, so die Replik auf diese Kritik, sei in analytischem Verständnis als ein je problembezogenes Mischungsverhältnis von hierarchischen, horizontalen und marktförmigen Koordinationsformen zu sehen, dessen Problemlösungstauglichkeit Sache detaillierter empirischer Analysen sei (Benz 2004, S. 27; Benz et al. 2007, S. 14–16; Schuppert 2007, S. 473–482). Dennoch bleibt die Diagnose des regelmäßigen Scheiterns hierarchischer Staatsinterventionen unverzichtbares Moment der Plausibilisierung auch eines analytischen Verständnisses der Governance-Perspektive, denn ohne diese Diagnose würde die Auseinandersetzung mit nicht-hierarchischen Formen kaum als lohnend erscheinen.Footnote 1

Es gibt weitere Angriffsflächen der Governance-Perspektive. Zum einen kann darauf verwiesen werden, dass die zu bewältigende Interdependenz von Akteuren immer in einen strukturierenden Kontext eingebettet ist, der asymmetrische Handlungsoptionen und Betroffenheiten mit sich bringt. Mit Interdependenz können Akteure unterschiedlich gut leben, ihre ‚Probleme‘ werden anders gelagert sein, und es gibt keine Gewähr dafür, dass sie sich alle auf eine einheitliche Problemperspektive zusammenführen lassen. Zum anderen scheinen in der Berufung auf „genuinen Praxisbezug“ in Governance-Diskursen (Benz et al. 2007, S. 18) Vorannahmen und Leitvorstellungen ausgeblendet und so gegen Kritik immunisiert zu werden. „Praxis“ und „praktische Relevanz“ sind ja selbst anspruchsvolle, interpretationsbedürftige Begriffe, für deren Erhellung „Theorie“ und normative Perspektivität benötigt werden. Welcher Bezug auf wessen Praxis ist überhaupt gemeint? Und worin kann der Beitrag einer politikwissenschaftlichen Analyse zur Lösung der in ihr auftretenden Probleme liegen?

Dass der Anspruch auf Praxisrelevanz selbst problematisch ist, wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Gestaltungsambitionen wirft, welche von Vertretern der Governance-Perspektive formuliert werden. Die Governance-Perspektive wird weithin als im Kern „institutionalistische“ Sichtweise verstanden (Mayntz 2005, S. 16; Schuppert 2007, S. 483–491). Dabei ist meist die Annahme leitend, dass es darauf ankommt, die Wirkungsweise institutioneller Koordinationsformen als „Mechanismen“ zu durchschauen, um festzustellen, wie aus problematischer Interdependenz gemeinwohlverträgliche Interdependenz werden kann (Schimank 2007a). Inwiefern die institutionelle Bewältigung von Interdependenz gemeinwohlförderlich ist, kann aber erstens ohne Bezug auf Gemeinwohlkonzepte nicht beurteilt werden. Das Problem des Problembezugs liegt auf der Hand: Die Bedeutung des Gemeinwohls ist in pluralistischen Gesellschaften notorisch umstritten. Governance-Konzepte müssen sich diesem Streit um das Gemeinwohl stellen, sonst steht ihr Praxisbezug unter dem Verdacht der schlechten Alternative von idealistischer Naivität (das Gemeinwohl soll irgendwie über einen „Dialog“ bestimmt werden) oder der opportunistischen Anbiederung gegenüber der jeweils vorherrschenden Sicht der Dinge.

Zweitens stößt der institutionelle „Gestaltungsimpetus“, welcher „der Governance-Perspektive erst eine klare Kontur – gerade auch gegenüber allgemeinen Theorien sozialer Ordnung – gibt“ (Schimank 2007a, S. 29), auf das Problem, dass auch das, was er zu gestalten beansprucht, um Interdependenz zu bewältigen, nämlich Institutionen, einen hochgradig umstrittenen Gegenstand darstellt (Scott 2001; Haus 2008). Es sei an dieser Stelle nur auf den Gegensatz zwischen rationalistischen (Institutionen als Anreizstrukturen für strategisch handelnde Akteure) und kulturalistischen (Institutionen als interpretativer Rahmen für Identitäten und praktische Orientierungen) Perspektiven verwiesen. Auch mit diesen Kontroversen möchte man indes pragmatisch (also mit Verweis auf vermeintliche praktisch-kausale Evidenz) umgehen (Schimank 2007b). An der Überwindung des Gegensatzes zwischen ökonomistisch und soziologisch geprägten Institutionenverständnissen wird nicht zuletzt der interdisziplinäre Anspruch, der mit der Governance-Perspektive verbunden wird, festgemacht (Blatter 2006). Interdisziplinarität wird in diesem Zusammenhang oft so verstanden, dass man danach fragt, welches Institutionenverständnis gerade ‚passt‘, sei es in der kausalen Erklärung von Teilaspekten einer mehr oder weniger effektiven Interdependenzbewältigungspraxis, sei es zur Konzeptualisierung der institutionellen Voraussetzungen einer zu erreichenden Problemlösung. Dieses Verständnis blendet allerdings aus, dass sich die Geltungsansprüche unterschiedlicher Institutionalismen nicht einfach schiedlich-friedlich voneinander abgrenzen lassen. Ein und dasselbe Phänomen kann als Ganzes zugleich in rationalistischen und kulturalistischen Kategorien analysiert werden. Die Kritik an ‚übersozialisierten‘ soziologischen und ‚untersozialisierten‘ ökonomischen Perspektiven mag als solche zwar berechtigt sein; das ändert aber nichts daran, dass bei der Betrachtung eines konkreten institutionellen Zusammenhangs von vornherein mehrere Perspektiven des Zusammenhangs von Institutionen und Handlungsorientierungen bestehen.

Mit Blick auf den praktischen Anspruch des Gestaltungsimpetus der Governance-Perspektive bedeutet dies, dass die intentionale Gestaltung von institutionellem Wandel nicht auf die Anwendung des vermeintlich objektiven Wissens um die kausale Wirkungsweise von Institutionen reduziert werden darf: „Rather than being a technical exercise“, so machen Lowndes und Wilson deutlich, „institutional change is inevitably a value-laden, contested and context-dependent process, which typically throws up unanticipated outcomes“ (Lowndes u. Wilson 2003, S. 281). In diesem Prozess geht es entscheidend darum, Institutionen soziale Geltung zu verschaffen und Widerstände zu brechen – es geht m. a. W. um Werte und Ideen, aber auch um Macht und Risiken. Um so gewichtiger ist der selbstkritische Einwand von Renate Mayntz, dass ein „Problemlösungsbias“ die Dominanz der Machtlogik in der Politik zuzudecken drohe (Mayntz 2004, S. 74–75).

Wie lässt sich mit diesen kritischen Anfragen an die Governance-Perspektive umgehen? Im Folgenden wird dazu die Auffassung vertreten, dass die theoretisch-konzeptionellen Annahmen von Governance-Konzepten selbst schärfer gefasst werden müssen, um zu zeigen, inwiefern diesen Konzepten normative Annahmen und Machtverständnisse eingeschrieben sind, die ihr Verständnis praktischer Probleme mitbestimmen. Statt des vorherrschenden Theoriensynkretismus soll hier ein kontrollierter Theorienpluralismus entwickelt werden. Dabei wird es darauf ankommen, die sprachliche Konstruktion des Praxisbezugs durch Governance-Perspektiven zu rekonstruieren und kritisch zu reflektieren. Diese Konstruktionsversuche werden sich, wie das Dargelegte deutlich gemacht haben sollte, nur angemessen verstehen lassen, wenn die Ebenen des Institutionendesigns und des Gemeinwohldiskurses einbezogen werden.Footnote 2

Die konzeptionelle Verortung von Governance-Perspektiven soll im Folgenden im Anschluss an Eva Sørensen u. Jacob Torfing (2005) entwickelt werden. So lassen sich vier Grundperspektiven von Governance unterscheiden, die entlang zweier Dimensionen verortet werden (siehe Tab. 1; vgl. Sørensen u. Torfing 2005, S. 208). Sørensen und Torfing unterscheiden zwischen vier Grundtypen von Governance-Theorien, je nachdem ob ein kooperatives oder konfliktives Verständnis des Regierens sowie ein kalkulatorisches oder kulturalistisches Handlungs- und Institutionenkonzept zugrunde gelegt werden. Diese Grundunterscheidungen werden hier übernommen, wenn auch in der Zuordnung einzelner Beiträge und Positionen deutlich von den beiden Autoren abgewichen wird.Footnote 3 Dabei ist zu beachten, dass diese Einordnung zunächst idealtypischen Charakter hat.

Tab. 1 Varianten von Governance-Theorien und ihr Problemfokus. (Quelle: Eigene Darstellung im Anschluss an Sørensen u. Torfing (2005))

Steuerungstheoretische Konzeptualisierungen von Governance (I) erwarten sich von der institutionellen Gestaltung enthierarchisierter Formen des Regierens eine optimierte Entscheidungsfindung und Handlungskoordinierung auf der Basis der Wahrnehmung von konsensfähigen Entscheidungsresultaten. Demgegenüber werden bei den drei weiteren Governance-Perspektiven die Bedeutung zum einen unauflöslicher, tiefer Konflikte, zum anderen der interpretativen Erneuerung kultureller Leitorientierungen und Mentalitäten in den Mittelpunkt gerückt. Während Konzepte der normativen Integration (II) das konsensualistische Verständnis von Governance beibehalten, betonen gouvernementalitätstheoretische Konzepte (IV) die Unmöglichkeit, kulturelle Diskurse zu einem authentischen Konsens zu bringen. Während erstere das zentrale Problem von Governance in der Erneuerung normativer Standards des Regierens sehen, liegt es für letztere in der Vermeidung einer Schließung von Diskursen des Regierens durch vermeintlich alternativlose Steuerungsparadigmen. Schließlich orientiert sich die regulationstheoretische Sicht (III) zwar an Fragen der strategischen Koordination kollektiven Handelns, löst diese aber von der Fixierung auf die Erzeugung gesellschaftlichen Konsenses in einzelnen Politikfeldern ab, indem Governance auf einen übergreifenden Kontext einer durch fundamentale Widersprüche und Krisenanfälligkeit gekennzeichneten kapitalistischen Ökonomie rückbezogen wird.

3 Zum steuerungstheoretischen Erbe der Governance-Perspektive: Verhandeln und Argumentieren im kooperativen Staat

Governance wird in der steuerungstheoretischen Perspektive unter dem Gesichtspunkt der Beförderung staatlicher Steuerungsfähigkeit und gesellschaftlicher Steuerbarkeit thematisiert. Zentrale Leitvorstellung ist die Verbesserung der Funktionsleistung gesellschaftlicher Sektoren bei gleichzeitiger Sensibilisierung für ihre gesellschaftlichen Effekte. Ansätze zur Erreichung dieses Ziels umfassen zum einen Schritte der Überwindung interner Lähmungssymptome und Rationalitätsdefizite staatlichen Handelns (etwa aufgrund von ‚Politikverflechtungsfallen‘), zum anderen die Mobilisierung sozietaler Steuerungsressourcen und die Generierung gesellschaftlicher Zustimmung zu bestimmten Policies. Die Welt der Politik wird in erster Linie als eine Welt korporativer Akteure (also Organisationen) verstanden, und das Institutionendesign ist entsprechend darauf auszurichten (Mayntz u. Scharpf 1995). In analytischer Hinsicht kommt es darauf an, Kausalwissen um Funktions- und Regulierungszusammenhänge mit Handlungskorridoren für steuerungswillige Akteure zu verknüpfen. Institutionen sind eben jene Mechanismen der Handlungskoordination, deren kausale Wirkungsweise empirisch zu klären ist. Die steuerungstheoretische Debatte hat die zentrale Rolle von Politiknetzwerken oder Verhandlungssystemen bei der Politikformulierung und -implementation herausgestellt und modernisierungstheoretisch, nämlich als Reaktion auf gesellschaftliche Differenzierungsprozesse, gedeutet. Sie hat die Rekonzeptualisierung von politischer Steuerung als Gestaltung solcher Verhandlungssysteme befördert und Beiträge zur Erweiterung des klassischen Staatsverständnisses in Richtung des kooperativen Staates geliefert, der wiederum mit spezifischen Konnotationen des Gemeinwohls verbunden ist (Mayntz 1993, 1996, 2002, 2004; Scharpf 1992, 1993). Modernes Regieren besteht aus dieser Sicht in der Steigerung von effektiver Problemlösungsorientierung in enthierarchisierten Kontexten. Diese Sicht ist jedoch nicht frei von Spannungen, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

3.1 Von Steuerung zu Governance: Die Bedeutung der Regelungsstrukturen

Die Auseinandersetzung mit der systemtheoretisch begründeten Steuerungsskepsis und den ernüchternden Ergebnissen der Implementationsforschung führte Mayntz bereits in ihrem klassischen Steuerungsaufsatz zu einem Argument der Möglichkeit politischer Steuerung, welches die Erweiterung der Handlungs- zu einer Institutionenperspektive andeutet (Mayntz 1987, S. 89–90). Den Kern dieser Argumentation bildet die These der Organisations- bzw. Strukturbedingtheit von Steuerungsmöglichkeiten. Nicht Steuerungsinstrumente an sich seien entscheidend, sondern die „Organisationsform der Politikentwicklung“, denn diese „stellt (sicher), daß nicht nur Informationen über Bedürfnisse und Bedenken der Akteure ins Regelungsfeld, sondern vor allem auch Hinweise auf zu berücksichtigende Nebenwirkungen, Interdependenzen, emergente Probleme usw. in die Entscheidungsfindung eingehen“ (Mayntz 1987, S. 106–107). Auch der Governance-Begriff wurde in der Folge als Verbindung zwischen Akteurs- und Strukturperspektive konzeptualisiert (Mayntz u. Scharpf 1995, S. 16). Mit der Unterscheidung von sektoraler Regelungsstruktur (Akteurskonstellation der Regulierung eines Leistungssektors, etwa des Gesundheitsbereichs) und sektoraler Leistungsstruktur (Akteurskonstellation der Erzeugung von sektorspezifischen Outputs) (Mayntz u. Scharpf 1995, S. 13) wird eine wichtige begriffliche Differenzierung vorgenommen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Frage der Gestaltung der institutionellen Regelungsmuster von der Überlegung ausgehen soll, dass die „Verfügung über das notwendige Systemwissen (…) eher ein Organisations- als ein Theorieproblem“ sei (Mayntz 1987, S. 107).

Die Ausrichtung des institution building auf die interaktive Hervorbringung steuerungsrelevanten Systemwissens spiegelt eine eigentümliche Ambivalenz der steuerungstheoretischen Perspektive wider, die dann auch auf die Governance-Perspektive allgemein ausstrahlt. Zum einen sollen sektorale Leistungsniveaus und Leistungsprobleme als archimedischer Punkt der Beobachtung unterschiedlicher Teilbereiche der Gesellschaft dienen. Zum anderen erweist sich dieser archimedische Punkte insofern als nicht belastbar, als der Zusammenhang zwischen Regelung und Leistung kaum in Richtung einer allgemein aussagekräftigen Steuerungstheorie verallgemeinert werden kann. Ähnliche Leistungsstrukturen stellen sich je nach Kontext als unterschiedlich leistungsfähig heraus und umgekehrt. Im empirischen Rückblick zeigt sich eine „immense Variationsbreite der institutionellen Lösungen“ (Mayntz u. Scharpf 1995, S. 15). Die etwas resignative Bilanzierung entsprechender empirischer Sektoranalysen lautete, man müsse sich wohl auf den Nachweis „partielle(r) Kausalzusammenhänge in Einzelfallanalysen“ beschränken (Mayntz u. Scharpf 1995, S. 18). Unter diesen Umständen erscheint es von vornherein illusorisch, die empirisch beobachteten institutionellen Wirk-„Mechanismen“ jemals zu allgemeinen Steuerungseinsichten erheben zu können, zumal die Bewertung dieser Kausalzusammenhänge ganz unterschiedlichen Leitkriterien folgen kann (Mayntz u. Scharpf 1995, S. 18).

Nicht auf der Seite der Problemlösungen, sondern auf der Seite der interaktiven Generierung von Problemlösungsversuchen kann also der Steuerungsanspruch sinnvollerweise ansetzen. Aber auf welcher Wissensgrundlage? Die „Design-Perspektive“ der steuerungstheoretischen Governance-Perspektive bestimmt Staatsfunktionen „in ihrer komplementären Zuordnung zu den komplexen Netzwerken von Verhandlungssystemen, die sie mitgestalten und in die sie eingebettet sind“ (Scharpf 1992, S. 104). Blockademacht soll in problemlösungsförderliche Kooperation umgewandelt werden. So soll das Zusammenspiel von Politiknetzwerken und Staat zwei Funktionsanforderungen erfüllen: In einer zugleich dichten und flexiblen Netzwerkstruktur ‚relevanter Akteure‘ kann der Staat durch Problemartikulation und Hierarchiedrohung (‚Schatten der Hierarchie‘) zugleich steuerungsrelevantes Interventionswissen über Sektoren organisieren und Akzeptanz für bestimmte Problemlösungsansätze zu den Politikadressaten hin erzeugen. Dies setzt voraus, dass es kollektive Akteure gibt, die das Feld der Interessen vorstrukturieren und bereit sind, ihr Wissen einzuspeisen. Institutionelle Anreize sollen dafür sorgen, dass sich die beteiligten gesellschaftlichen Akteure über den strategischen Einsatz von Verhandlungsmacht hinaus auf problemlösungsorientiertes Argumentieren einlassen.

Die steuerungstheoretische Governance-Perspektive hat zu Recht festgehalten, dass Analysen, die auf diese Vermittlung abzielen, die Frage nach dem Gemeinwohl stellen müssen, und zwar gerade deshalb, weil in modernen Gesellschaften ein Konsens über Inhalt und Wege der Realisierung des Gemeinwohls nicht vorausgesetzt werden kann (Scharpf 1992; Mayntz 2002; Braun 2000). Es ist bemerkenswert, dass Scharpf gerade den Praxisbezug der Politikwissenschaft als Grund dafür nennt, die Möglichkeit der Gemeinwohlverwirklichung thematisieren zu müssen: „Wenn sie ihre Identität als praxisbezogene und praxisorientierte Wissenschaft nicht verlieren will“, so Scharpf (1992, S. 96), „(kann) die Politikwissenschaft (…) dieser im Kern normativen Frage (nach der Steigerungsmöglichkeit von Problemlösungskapazitäten, der Verf.) nicht ausweichen.“ (Hervorhebung durch den Verf.). Bereits innerhalb des steuerungstheoretischen Governance-Verständnisses ist diese Frage freilich unterschiedlich beantwortet worden.

3.2 Wohlfahrtsökonomische und funktionalistische Gemeinwohlbestimmung in steuerungstheoretischen Governance-Theorien

Wie schon beim Verhältnis zwischen Leistungsstrukturen und Regelungsstrukturen wird auch bei der steuerungstheoretischen Auseinandersetzung mit dem Gemeinwohlbegriff eine eigentümliche Ambivalenz sichtbar. Die Steuerungstheorie will das Gemeinwohl prozeduralistisch bestimmen, zugleich aber resultatsbezogen. Damit geht die Notwendigkeit einher, in das praktische Design von Verfahren Annahmen über das regelmäßige Hervorbringen gemeinwohlförderlicher Politiken einfließen zu lassen. So identifiziert Mayntz den gemeinsamen Ausgangspunkt unterschiedlicher Gemeinwohlverständnisse im Diskurs des kooperativen Staates zunächst in der Einsicht, dass es „für die Bestimmung von Gemeinwohl auf der Ebene ganzer Gesellschaften keinen objektiven Maßstab gibt“ und so „jeweils in einem politischen Prozeß Einverständnis über das hergestellt werden muß, was von den Mitgliedern der Gesellschaft als erstrebenswerter Zustand für diese ihre Gesellschaft angesehen wird“ (Mayntz 2002, S. 112–113). Einem vermeintlich „eher utopische(n) Diskursmodell“ Habermasianischer Prägung stellt sie eine Bestimmung des „Zielzustand(s) als Kompromiß“ gegenüber (Mayntz 2002, S. 113). Zugleich sieht Mayntz die „Achillesferse“ derart prozeduraler Gemeinwohlbestimmungen in ihrer „Maßstablosigkeit“, weil erreichte Kompromisse innerhalb eines Sektors nicht im Hinblick „auf das Wohl des Gemeinwesens, die Systemrationalität“, beurteilt werden könnten (Mayntz 2002, S. 113). Das Streben nach Kompromissen, d. h. faktischen Konsensen, muss sich also doch an einem prozess- und konsensexternen Maßstab bemessen lassen, der selbst nicht prozeduralistisch sein soll. Aber werden diese Maßstäbe nicht selbst umstritten sein?

Im Falle Scharpfs ist der Maßstab ein wohlfahrtsökonomischer, der utilitaristische mit dezisionistischen Momenten verbindet. Gemeinwohl ist zum einen identisch mit der Maximierung des Gesamtnutzens, der im Prinzip als Summe individueller Nutzen zu messen ist. Die Verteilung des Nutzens kann zum anderen gemäß bestimmter (normativ zu begründender, aber letztlich wohl nicht konsensfähiger) Gerechtigkeitsprinzipien durch demokratische Mehrheitsentscheidungen verändert werden. Die Sachangemessenheit einer Problemlösung fällt für Scharpf in eins mit der koordinierten Realisierung einer höheren Gesamtnutzensumme („positive Koordination“). Vernetzung schafft das dafür erforderliche Vertrauen, Institutionen müssen die passenden Anreize setzen. Dichtere Vernetzung führt zudem zu stärkerer Rücksichtnahme auch auf momentan abwesende Dritte („negative Koordination“) (vgl. Scharpf 1992, S. 102–103). Die normative Qualität der Orientierung beteiligter Akteure wird bei Scharpf gewissermaßen spieltheoretisch neutralisiert und auf die Dichotomie Kooperation/Konflikt reduziert. Im Unterschied zu Tauschakten auf Märkten ist die Orientierung an übergreifenden moralischen Zielsetzungen in Verhandlungssystemen zwar nicht prinzipiell, aber doch erwartbar dysfunktional (Scharpf 1992, S. 100). Denn Verhandlungssysteme können nur dann problemlösend funktionieren, wenn sich die beteiligten Akteure in eine kooperative Handlungsorientierung einpassen. Bei Akteuren mit ‚moralischen Interessen‘ ist diese Orientierung fraglich, weil sie sich in besonderer Weise durch Intransigenz auszeichnen können. Außerdem führt ihre Berücksichtigung in einer wertpluralistischen Gesellschaft zur Aufsplitterung des Akteursfeldes. Zwar sollen sich – wie von der pluralistischen Demokratietheorie verlangt – möglichst alle Interessen organisieren. Verhandeln können und sollen am Ende aber nur wenige – was nicht nur der spieltheoretischen Rekonstruktion zugute kommt, sondern auch der Problemlösung selbst, weil nur so überhaupt „zweckgerichtetes Handeln“ möglich ist (Scharpf 2000, S. 142). So ist dieser „Zwang zur Vereinfachung“ (Scharpf 2000, S. 141) am Ende selbst gemeinwohlförderlich. Im Gegensatz dazu tauge eine populistische Inszenierung antagonistischer Gegensätze im politischen Wettbewerb gerade nicht für die in der Praxis wichtigen Fragen der Produktion zu verteilender Güter und der Suche nach der „insgesamt vorteilhafte(n) Lösung“ (Scharpf 1993, S. 41–42). Hier wird deutlich, dass in Scharpfs Verständnis von Praxis normative Vorannahmen eingehen, die keineswegs allgemein geteilt werden müssen. Während etwa aus der Perspektive der antagonistischen Demokratietheorie der Sinn von Politik gerade im Ausdruck dieser polaren Gegensätze liegt (vgl. Mouffe 2007), würde eine deliberative Sicht darauf pochen, dass Kompromisse stets im Licht kontrafaktischer Idealisierungen beurteilt werden müssen.

Renate Mayntz hat sich von Scharpfs wohlfahrtsökonomischem Gemeinwohlverständnis abgegrenzt und stattdessen ein funktionalistisches Kriterium der „Systemrationalität“ befürwortet. Das richtige Verständnis von Wohlfahrt lasse sich nicht einfach „aus den (wohlverstandenen) Interessen der (gegenwärtigen und zukünftigen) Mitglieder des Gemeinwesens“ ableiten (so Scharpf 1994, S. 385). Wohlfahrtsökonomisch könne der Unterschied zwischen systemnützlichen oder systemschädlichen Präferenzen konzeptionell nicht erhellt werden (Mayntz 2002, S. 118–119). „Systemrationalität“ wird von Mayntz als „Ultrastabilität“ bestimmt (Mayntz 2002, S. 118), d. h. als dynamische Aufrechterhaltung arbeitsteilig-funktionaler Strukturen in einer komplexen und pluralistischen Gesellschaft. Mayntz’ kontinuierliches Insistieren auf der Bedeutung unabhängiger Funktions-Experten in Netzwerkkonstellationen (Mayntz 1993, S. 52–53) erklärt sich aus dieser Annahme. Die Systemrationalität soll sich zudem auf eine Art Faktum der politischen Integration stützen, den Umstand nämlich, „daß Individuen über eine abgestufte Reihe sozialer Identitäten verfügen“, wobei die Identifikation mit ihrer „national verfaßten“ Gesellschaft die Grundlage dafür biete, dass „Individuen als Bürger und mehr noch als eigens hierfür bestellte Politiker darüber nachdenken, was im Interesse des Ganzen zu tun wäre“ (Mayntz 2002, S. 123); hinzu kommen schließlich sozialwissenschaftliche Experten, die mit einer negativen funktionalen Heuristik der Identifikation von Systemgefährdungen wie „Identitätsverlust“, „Regression auf frühere Entwicklungsstufen“ und „physische Auslöschung“ operieren (Mayntz 2002, S. 124).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich sowohl die wohlfahrtsökonomische als auch die funktionalistische Bestimmung des Gemeinwohls im enthierarchisierten Regieren auf ein objektivistisches Verständnis von Gemeinwohl zurückziehen, das doch in einem ersten Schritt negiert wird. Es verwundert von daher nicht, wenn die prozedurale und die substanzielle Seite durch fragwürdige Annahmen als kongruent ausgegeben werden. Nicht nur bei Scharpf (vgl. Mayntz 2002, S. 118), sondern auch bei Mayntz scheint eine ‚unsichtbare Hand‘ am Wirken zu sein, die das für gut Gehaltene und das Systemnützliche zur Deckung bringt.Footnote 4 Nur so erscheint das vorausgesetzte Vertrauen in korporative Groß-Akteure und Experten als plausibel. Irritierend ist auch der recht unbekümmerte Rückgriff auf gemeinsame Identitäten und letztlich auf die nationale Identität.Footnote 5

3.3 Jenseits von Wohlfahrtsökonomie und Funktionalismus? – Steuerung als kollektives Lernen in ausdifferenzierten Policy-Arenen

Der bereits von Mayntz (1993) vertretene Ansatz der Differenzierung von Arenen des Verhandelns und Arenen des Argumentierens wurde in Konzepten der Arenendifferenzierung und -kopplung weitergeführt (vgl. als Übersicht Heinelt 2005). Auch in diesen Konzepten lassen sich freilich die Grundzüge des steuerungstheoretischen Governance-Verständnisses wiederfinden. Dies wird etwa in Dietmar Brauns Auseinandersetzung mit Mayntz’ Position deutlich (Braun 2000). Im Zentrum steht hier die Institutionalisierung von komplementären Interaktionsarenen, welche unterschiedliche kollektive Akteure (einschließlich sozialer Bewegungen) zum Policy-Lernen stimulieren sollen. Dabei müssten ‚systemrationale‘ Problemlösungen drei Anforderungen erfüllen (Braun 2000, S. 137–138 und 149): die der ‚Problemangemessenheit‘ bzw. ‚Sachgerechtheit‘ von Policies, die der Zustimmung hinsichtlich fairer Verteilungskompromisse sowie die der Übereinstimmung mit den normativen Überzeugungssystemen eines politischen Gemeinwesens. Verhandlungs- und Argumentationsprozesse in Netzwerken können diese Anforderungen an Systemrationalität nicht allein bewältigen, auch nicht unter Einsatz des Schattens der Hierarchie. Sie sind nur eine unter mehreren neuen Arenen der Gemeinwohlinterpretation und -verwirklichung im enthierarchisierten Regieren.

Der Schlüssel zum guten Institutionendesign liegt nach Braun in einer doppelten Transformationsleistung: von eigennütziger Orientierung in Gemeinnutzenorientierung und von Rigorismus in Konsensbereitschaft. Gemeinwohlorientiertes Handeln strebe die „Maximierung des Gesamtnutzens“ an – so die immer noch ökonomistisch gefärbte Darstellung (Braun 2000, S. 127). Auch Brauns Konzept ist von der Vorstellung geprägt, Regieren müsse faktischen Konsens stiften, indem Gewünschtes und Machbares zur Deckung gebracht werden. In der Tat geht es nicht nur darum, dass Akteure die Maximierung irgendeiner Vorstellung von Nutzen für die gesamte Gesellschaft anstreben – darüber bestehen nämlich „unterschiedliche Überzeugungssysteme“ (Braun 2000, S. 127); vielmehr muss zugleich Konsens hinsichtlich des zu maximierenden Kollektivguts generiert werden. Nicht nur in Politiknetzwerken (so bereits Mayntz), sondern auch in institutionellen Kontexten relativ unabhängiger sektoraler Regulierungsinstanzen, die spezifische Problemfelder regulieren, und in problemorientierten öffentlichen Foren, die unterschiedliche Sichtweisen einfließen lassen, kann es im Prinzip zu der gewünschten Transformation der Handlungsorientierungen kommen. Netzwerke allein können zwar nur einen modus vivendi der Interessen ermöglichen. Autonome regulative Institutionen jedoch agieren nach Braun hinter einem „Schleier der Indifferenz“, da sie selbst nicht von Verteilungswirkungen betroffen seien bzw. durch Verteilungsbetroffene nicht direkt sanktioniert werden können (auch nicht durch die Wähler). Ihre an Professionalitätskriterien ausgerichteten Regulierungsaktivitäten berühren freilich Vorstellungen des guten Lebens und können so auf zivilgesellschaftlichen Widerstand stoßen. Öffentliche Foren wiederum gäben Raum für konkurrierende, in unterschiedlichste Funktions- und Organisationszusammenhänge hineingreifende advocacy coalitions im Sinne Sabatiers (Braun 2000, S. 146–147). In ihnen werde zumindest approximativ hinter einem ‚Schleier des Nichtwissens‘ (Rawls) interagiert. Allerdings gibt es in der Realität keinen Einigungszwang. Regulierungsinstitutionen und ‚kritische Analysen‘ (Rein u. Schön 1993) können, so die Hoffnung, Reflexionsanstöße bewirken, welche zu einer Öffnung verhärteter ideologischer Positionen beitragen – etwa, indem begründete Zweifel an der Realisierbarkeit ‚einfacher‘, aus weltanschaulichen Überzeugungen relativ unvermittelt abgeleiteter Problemlösungsansätze angemeldet werden oder die Kontingenz der Kernüberzeugungen deutlicher zum Vorschein tritt (Braun 2000, S. 147–148). Die Arenen werden zudem durch das Verlangen der gemeinsamen Bewältigung von Risiken der reflexiven Modernisierung (vgl. Beck et al. 1996) zusammengeschweißt. Verantwortungsethische Haltungen, nach klassisch steuerungstheoretischer Sicht die Voraussetzung für funktionierende Netzwerke (Braun 2000, S. 146), stellen dann gerade die Frucht dieser institutionalisierten Interdependenz dar. Auch hier richtet sich die Institutionalisierung von Governance auf die Generierung von Konsens über spezifische Policies.

3.4 Fazit: Governance und Steuerung

Am Schluss der Weiterentwicklung der Steuerungstheorie stand die Frage, ob Governance überhaupt noch als Steuerung zu verstehen sei. Einerseits verwies Mayntz zu Recht darauf, dass „der Perspektivenwechsel von Steuerung zu Governance (…) kein Paradigmenwechsel im radikalen Kuhnschen Sinne“ sei, sondern bloß eine „Akzentverschiebung“ darstelle (Mayntz 2005, S. 17). Letztlich geht es um die intentionale Gestaltung von Regelungsstrukturen als Voraussetzung von Problemlösung; also institutionenveränderndes Handeln. Es ist somit nicht verwunderlich, dass Governance in der vorherrschenden Sicht immer noch durch den Rekurs auf den Steuerungsbegriff erläutert oder synonym damit verwendet wird. So schreibt etwa Benz: „Governance bedeutet Steuern und Koordinieren“ (Benz 2004, S. 25). Andererseits hat sich der Ort der Einlösung des Gemeinwohlanspruchs in den drei behandelten Konzepten von Governance im Umkreis der steuerungstheoretischen Perspektiven immer stärker von staatlichen Akteuren zu regulativen Kontexten verschoben, bei denen nicht mehr klar ist, wer denn nun eigentlich im Sinne des Gemeinwohls steuert. Eine immer heterogenere Konstellation von Akteuren soll gemeinsam zu Lösungen finden.

Die Konzeptualisierung von Gemeinwohlbezügen und institutionellen Designs ist zum ersten von der Vorstellung problemlösungsförderlicher Rücksichtnahme angeleitet, d. h. der Verbindung von verhandelten oder ‚argumentierten‘ Konsensen und inhaltlicher Sachangemessenheit von Policies. Damit verbindet sich zum zweiten eine normative Parteinahme für pragmatische Kooperation. Die dargelegte Weiterentwicklung politischer Steuerungskonzepte macht deutlich, dass es bei Governance-Konzepten, die steuerungstheoretische Anliegen weiterführen, nicht mehr um direkte und isolierbare Effektivitätssteigerungen geht, die im Rahmen eines handlungstheoretischen Verständnisses von Steuerung als Relation von Steuerungssubjekten, Steuerungsstrategien und Steuerungsobjekten zu rekonstruieren wäre. Die ‚kausale Wirksamkeit‘ einer Policy kann von der Zustimmung nicht mehr systematisch getrennt werden und letztere nicht von der Einflussposition der Akteure.

Den kontingenten Charakter enthierarchisierter Praktiken des Regierens haben noch stark von der Steuerungstheorie geprägte Autoren wie Scharpf und Mayntz dadurch entproblematisiert, dass sie zum einen Kontingenz durch den Rekurs auf objektivistische Gemeinwohlbestimmungen (Wohlfahrtseffizienz, Ultrastabilität) und gegebene integrativ wirkende Identitäten (nationale Identität als umfassende Identität mit machtpolitischer Deckung durch den Staat) verdeckt, zum anderen den ‚Schatten der Hierarchie‘ als Bürgschaft für steuerungsfreundliche Kooperation ‚relevanter‘ Akteure etabliert haben. Brauns Konzept der Arenendifferenzierung unter Einbeziehung ‚ideenpolitischer‘ Gehalte trägt zwar zu einem umfassenderen Bild eines steuerungstheoretischen Verständnisses von Governance bei. Allerdings wirft die auch hier zentrale Vorstellung der Beförderung von Steuerbarkeit durch policy-spezifischen Konsens Fragen auf. Wie soll mit der Tatsache umgegangen werden, dass oft eben kein Konsens möglich ist? Besteht das Ziel in jedem konkreten Fall überhaupt in möglichst weitgehender Übereinstimmung über eine durchzuführende Policy? Für mindestens ebenso wichtig wie Chancen der Kompromissfindung zwischen Advocacy-Koalitionen kann man – sowohl aus demokratietheoretischer als auch aus sozialintegrativer Sicht – die Möglichkeit erachten, dass unterschiedlichste Gruppen überhaupt in Advocacy-Koalitionen inkludiert werden, auch wenn dadurch Kompromissfindung zunächst erschwert werden mag. Das Ziel einer „emanzipatorische(n) Politik“ (Braun 2000, S. 148) wird kaum zu befördern sein, wenn politische Partizipation ins Prokrustesbett der Suche nach gangbaren Kompromissen gezwängt wird. Dies sollte Anlass genug sein, die Governance-Perspektive noch stärker von ihrem steuerungstheoretischen Erbe zu lösen und nach alternativen Konzepten Ausschau zu halten.

4 Alternativen zu steuerungstheoretischen Governance-Konzepten

4.1 Neo-Institutionalismus: Governance als normative Integration und Institutionalisierung von sozialem Sinn

Die integrationstheoretische Sicht, für die im Folgenden auf die Beiträge von James March und Johan Olsen (March u. Olsen 1989, 1995) zurückgegriffen wird, richtet den Blick auf die normative Sinnvermittlung des demokratischen Staates für das Selbstverständnis politischer Gemeinschaften. Governance verweist hier auf Praktiken der Institutionalisierung von Kriterien der Angemessenheit des Regierens. Die integrationstheoretische Sicht wird von einer ausgesprochenen Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des rational-intentionalen Designs organisationeller Felder gespeist. Doch nicht die suboptimale Leistungsfähigkeit gesellschaftlicher Teilsektoren, sondern die Fragmentierung des Regierens und der damit einhergehende Sinnverlust der politischen Gemeinschaft werden als das zentrale Problem des Regierens betrachtet. Das Grundproblem von Governance wird gerade in einer Art Selbstverwicklung des modernen Staates in rationalistische Steuerungs- und Demokratiekonzepte gesehen, die letztlich zu einer Lähmung institutionenpolitischer Kreativität und zu zunehmender Entfremdung führen.

March’ und Olsens Diskussion der Integrationsprobleme des „korporatistischen Verhandlungsstaates“ (March u. Olsen 1989, S. 111) ging in skandinavischen Ländern unmittelbar in die Neubestimmungsversuche demokratischen Regierens ein (vgl. etwa den Abschlussbericht der offiziellen „Machstudie“ in Schweden, SOU 1990, S. 44). Diese Diskussion ist nicht zuletzt darin bemerkenswert, dass sie zwei in der Folgezeit zentrale Dimensionen von politischen Integrationsdiskursen miteinander verbindet: zum einen die Dimension der Wiedergewinnung politischer Führungspotenziale und zum anderen die Dimension der Entwicklung neuer demokratischer Leitbilder von Staatlichkeit. March und Olsen halten fest, dass der Gegensatz zwischen unterschiedlichen Funktionslogiken politischer Institutionen „is found most starkly in theories of political leadership“ (March u. Olsen 1989, S. 163). Die als dominant wahrgenommenen ‚aggregativen‘ Institutionen gründen sich demnach auf eine Praxis politischer Führung, deren Kern „winning political coalitions among participants with given demands“ bildet (March u. Olsen 1989, S. 163). Die entsprechende Rolle politischer Führungsakteure liegt im Fall ‚integrativer‘ Institutionen hingegen darin, „educator“ zu sein, „stimulating and accepting changing worldviews, redefining meanings, and exciting commitments“ (March u. Olsen 1989, S. 163; zur Unterscheidung aggregativer und integrativer Institutionen s. a. March u. Olsen 1989, S. 117–142). Notwendig sei eine Stärkung integrativer Institutionen, die auf eine Unterscheidung ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Gründe bei Forderungen an den Staat ausgerichtet sind.

So kommt eine Praxis ‚institutioneller Governance‘ in Abgrenzung zu einer Praxis ‚instrumenteller Governance‘ in den Blick. Als konstitutive Momente der ersteren nennen March u. Olsen (1995, S. 45–46) folgende Praktiken:

  • die Entwicklung sozialer Identitäten in der Umwelt der Politik, sowohl im Hinblick auf die Gesamtheit der Bürger als auch einzelner Gruppen;

  • die Entwicklung von Fähigkeiten zu angemessenem politischen Handeln unter Bürgern, Gruppen und Institutionen;

  • die Entwicklung narrativer Darstellungen politischer Ereignisse, durch die Interpretationsgemeinschaften gegenüber der Kommunikationslogik des Systems der öffentlichen Meinung abgeschirmt werden sollen, in denen Ereignisse vorrangig nach Siegen und Niederlagen kodiert würden;

  • die Entwicklung eines adaptiven politischen Systems, womit vor allem gemeint ist, dass die Bereitschaft zur Akzeptanz von Risiken und Differenzen erhöht wird, um ko-evolutive Entwicklungsoptionen zu eröffnen.

Nun kämen Diskurse, die Akzeptanz für integrative Formen politischer Führung erlangen wollen, nicht umhin, die konstitutionelle Dimension des Institutionendesigns zu thematisieren. Das Dilemma des Institutionendesigns liegt nämlich darin, dass der korporatistische Verhandlungsstaat selbst kaum institutionelle Kapazitäten für die hierarchische Gestaltung eines konstitutionellen Transformationsprozesses bietet (March u. Olsen 1989, S. 112–113). Staatsreformen würden zu „a domain for shaping the way people in general think and talk about the state, including the values on which the state should be based“ (March u. Olsen 1989, S. 115). March und Olsen nehmen eine distanziert-reflexive Haltung zu den konkreten Leitbildern ein, dem „supermarket“, dem „institutional“ und dem „sovereign state“ (March u. Olsen 1989, S. 113–115). Neue Verständnisse von Staatlichkeit sind zwar wichtig, um die Dinge und vor allem die Sprache in Bewegung zu bringen und politische Autonomie gegenüber Verhandlungssystemen zurückzugewinnen. Sie suggieren jedoch eine rationalistische Eindeutigkeit des Institutionendesigns, die die normative Eigenlogik und soziale Abwehrlogik von Institutionen verfehlt. Zudem gelte, dass institutioneller Wandel, wenn er sich auf kulturell-normative Grundlagen der politischen Gemeinschaft erstrecken solle, „cannot be imposed by government, by a majority in parliament, or be settled within the conventional corporate-bargaining procedures“ (March u. Olsen 1989, S. 115). Neue Leitkonzepte und Ideen von Staatlichkeit sollten dieser Vorstellung zufolge dazu dienen, einen deliberativen Wandel demokratischer Kommunikation, Gemeinschaftsbildung und Willensbildung zu unterstützen, indem die Implikationen staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten thematisiert werden (vgl. March u. Olsen 1989, S. 184; vgl. Schmalz-Bruns 1990). Sektorale Governance-Formen haben den Sinn des Experimentierens mit neuen Ansätzen politischer Integration.

Die von March und Olsen präsentierte Erzählung der Rückkehr integrativer Institutionenpolitik setzt auf die Möglichkeit normativer Konsense bei einer gleichzeitigen Dezentrierung des Staates und der Eröffnung kreativer Freiräume der Institutionalisierung neuer Verständnisse der politischen Gemeinschaft. Die Annahme derartiger Verständigungsmöglichkeiten blendet freilich die systemischen Desintegrationsdynamiken moderner Gesellschaften, insbesondere jene der Funktionslogik einer kapitalistischen Ökonomie, aus. Sie steht zudem in der Gefahr, demokratische Politik auf normative Verständigung einzuengen. Dies verhält sich anders mit den zwei im Folgenden zu diskutierenden Governance-Perspektiven, die einen konflikttheoretischen Ausgangspunkt haben.

4.2 Regulationstheorie und Governance im kapitalistischen Staat

Die Dimension der konfliktiven Steuerung widersprüchlicher Integrationsziele in spätkapitalistischen oder postfordistischen Gesellschaften kommt in den regulationstheoretischen Überlegungen Bob Jessops prägnant zum Ausdruck. Die Transformation des Regierens wird hier als Wandel des kapitalistischen Staates thematisiert. Jessops strategic-relational approach der Staatstheorie verortet sich im Neomarxismus, nimmt jedoch auch vielfältige Anleihen bei anderen Theorietraditionen, etwa der Foucaultschen Herrschaftsanalyse, aber auch der Systemtheorie Luhmannscher Prägung (Jessop 2002a, 2007). Auch hier wird eine konzeptionelle und interdisziplinäre ‚Brücke‘ gespannt, doch bleibt Jessop darauf bedacht, dass der Praxis und ihren Problemen konstitutive Konflikte eingeschrieben bleiben. Für die Governance-Debatte bieten Jessops Überlegungen jedenfalls einen interessanten Anknüpfungspunkt hinsichtlich des von Mayntz ausgemachten Bedarfs, politische Machtausübung nicht nur unter Steuerungsgesichtspunkten, sondern auch „durch die Brille marxistischer Klassentheorie“ zu betrachten (Mayntz 2004, S. 75). Governance wird bei Jessop gleichsam ‚im Schatten der Ökonomie‘ verortet, wobei die prägenden Strukturveränderungen in dem regulationstheoretisch üblichen Schema des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus eingefangen werden (vgl. Hirsch 2005, S. 114–140).

Eine wesentliche Einsicht von Jessops Überlegungen zur Konstruktion neuer Regulationsformen in der Gegenwartsgesellschaft liegt jedoch in der Verbindung zweier gegenläufiger Momente: Zum einen ist diese Konstruktion strategisch-konfliktiv geprägt und weist stets eine hegemoniale Ausrichtung auf; zum anderen ist sie von der Nichtplanbarkeit und Fragilität effektiver Steuerungsregime geprägt. Aus der Fragilität und Anfälligkeit für Versagen (failure) in gegenwärtigen Praktiken der Koordinierung zwischen staatlicher, ökonomischer und gesellschaftlicher Sphäre folgt nicht nur das Erfordernis einer permanenten Rejustierung von Koordinationsformen, sondern auch der Einbettung flexibler institutioneller Arrangements und reflexiver Regulierungsformen in übergreifende Staatsprojekte. Diese Staatsprojekte müssen versuchen, die Unsicherheit des Erfolges durch den Nachweis der Legitimität der strategischen Ausrichtung insgesamt zu absorbieren und sie in Institutionen abzufangen, die kulturelles Verarbeiten und flexibles Reagieren auf Scheitern ermöglichen. Im Zentrum der materialistischen Analyse des Staatswandels steht die Transformation des Keynesian welfare national state (KWNS) als passender Staatsform fordistischer Ökonomie in Schumpeterian workfare postnational regimes (SWPR), die Funktionsanfordernisse des Postfordismus erfüllen sollen (Jessop 1993, 2002a, 2007). Im Postfordismus wird der Staat gedrängt, die globalisierte Logik ‚kompetitiver Strukturen‘ sich selbst und der Gesellschaft einzuschreiben und sich zugleich als Ausdruck einer universalen Integrationslogik darzustellen. Er ist darin auf die Kooperation gesellschaftlicher Akteure angewiesen. Zugleich kommt es zu einem Prozess der Reskalierung staatlicher Aufgaben (vgl. Brenner 2004). Während die Regulierung von Märkten und individuellen Freiheiten tendenziell auf die supranationale Ebene hochskaliert wird und die nationalen Politiken einen Umbau staatlicher Leistungen als Investition in Humankapital und fiskalische Selbstdisziplinierung betreiben, kommt urbanen und regionalen Regimen die Rolle einer je spezifischen Ausbalancierung von Produktivitäts- und Kohäsionszielen zu (vgl. Jessop 1997).

Jessops Überlegungen haben erklärtermaßen den Sinn einer „negativen Heuristik“, d. h. sie dienen eher der Identifikation von „sources of governance failure than success“ (Jessop 1997, S. 60, 1998). Marktversagen und Staatsversagen in der Bewältigung der postkeyniasianischen Herausforderungen haben zu „heterarchischen“ Governance-Ansätzen mittels horizontaler Selbstorganisation geführt, also Netzwerken und Formen „dezentrierter Kontextsteuerung“ (Willke) (Jessop 2002a, S. 224–230, b, S. 39–44). Nach Jessop (2002a, S. 230) verweist heterarchisches Regieren auf die Vorstellung des homo politicus. Gerade weil Governance im Grunde eine Ausweitung des Politischen bedeutet, geht die Einführung von Governance-Praktiken mit einer Beschwörung von Partnerschaft, Dialog und Konsens einher. Damit verbindet sich eine Ablösung politischer Arenen von der Arena des Nationalstaates und die Heraufkunft ‚innovativer Regionen‘ und Metropolen. Heterarchische Formen des Regierens stehen nicht nur im Schatten der Ökonomie und hegemonialer Projekte, sondern auch ihres eigenen Versagens. Vor diesem Hintergrund wird „selbstreflexive Ironie“ eine zentrale Tugend (vgl. Jessop 2002b, S. 51). Zugleich gilt es, normativen Ernst zu bewahren und nach Gestaltungsalternativen auch im Rahmen postfordistischer Ökonomien zu fragen. Auch wenn Jessop nicht direkt Partei ergreift, gehört seine Sympathie offensichtlich jenen Strategien, welche die Rekommodifizierung durch die Dekommodifizierung der Ökonomie kontern wollen. Mit der Ausweitung der „sozialen Ökonomie“ soll in dieser Strategie versucht werden, „to oppose the extension of capitalist logic to other spheres of life such that education, health services, housing, politics, culture, sport, and so on are directly commodified, or, at least, subject to quasi-market forces“ (Jessop 2002a, S. 264). Jessops Konzept bietet damit die Perspektive einer fundamental konfliktiven Struktur des Regierens, die den Blick auf hegemoniale Staatsprojekte richtet und gleichwohl sensibel gegenüber der Unübersichtlichkeit des modernen Regierens bleibt.

4.3 Gouvernementalität und postliberales Regieren

Als letztes soll auf die gouvernemetalitätstheoretisch geprägte Governance-Perspektive von Eva Sørensen (2002) eingegangen werden. Sørensen stellt in ihrer poststrukturalistischen Deutung der Governance-Debatte die Dimension des Brüchigwerdens demokratiekonzeptioneller Gewissheiten ins Zentrum. Sie stellt die entsprechende Diagnose in den Horizont einer agonistischen Demokratiekonzeption, die Praktiken des Regierens als zugleich unüberwindbar konfliktiv wie auch als notwendig kulturell, im Sinne von diskursiv konstruiert, begreift. Im Gegensatz zu der Integrationsperspektive wird hier über die Differenzierung einer Vielzahl von Arenen der Integration hinaus die politische Konkurrenz unterschiedlicher Diskurse und damit zusammenhängender ‚Regierungstechnologien‘ im Sinne Foucaults betont. Demokratische Politik wird als Partizipation an agonalen Mobilisierungspraktiken und Governance als Chance der ‚Rückkehr des Politischen‘ (Mouffe 1993) begriffen.

Anders als in den governmentality studies nicht selten der Fall, thematisiert Sørensen Regierung und Staat als Sphären mit eigenständiger Bedeutung und löst diese nicht völlig in Praktiken der Gouvernementalität auf (vgl. Lemke 2000 für eine entsprechende Kritik an den governmentality studies). Prozesse der Enthierarchisierung des Regierens werden darauf befragt, inwiefern sie einerseits neue Diskurse der ‚Normalisierung‘ von Herrschaftszuständen, andererseits Chancen der subversiven Infragestellung verfestigter Herrschaftszustände im Foucaultschen Sinne bieten. So vertritt Sørensen die Auffassung, dass durch Prozesse der Enthierarchisierung des Regierens die bereits auf konzeptioneller Ebene stichhaltigen Einwände an liberalen Demokratiekonzepten nun auch als hochgradig problemerzeugend, mithin politisch dringlich wahrgenommen werden. Aus der Perspektive der Gouvernementalität liegt die Chance dieser Entwicklung darin, dass Herrschaftszustände in Bewegung geraten, wenn Diskurse erschüttert werden. Bis vor einiger Zeit funktionierte der liberale Diskurs zumindest insoweit, als die problematischen Seiten zentraler Leitkategorien von Staat und Demokratie mit pragmatischen Hinweisen auf offensichtliche Steuerungserfolge abgewehrt werden konnten. So wie sich der vermeintlich einheitliche Staat in Fragmente aufzulösen scheint, deren Verbindung zueinander zunehmend kontingent und damit politisch gestaltbar wird, so verlieren umgekehrt auch zentrale Begrifflichkeiten der demokratischen Ordnung einen eindeutigen Referenzrahmen und lösen sich in einzelne semantische Versatzstücke auf, deren sinnvolle Beziehung zueinander erst durch diskursive Praktiken neu generiert werden muss. Begriffe wie Volk bzw. Bürgerschaft, Repräsentation, Gleichheit und Freiheit, aber auch Verwaltung (im Gegensatz zu Politik) verlieren ihre vermeintlich eindeutigen Konturen. Die zentrale Herausforderung liegt darin, die Politisierungs- und Demokratisierungspotenziale des enthierarchisierten Regierens zu nutzen.

Der konzeptionelle und letztlich auch zeitdiagnostische Reiz dieser Perspektive besteht nicht zuletzt darin, dass die als Krise dieser Begrifflichkeiten auftretende Verunsicherung nicht einfach als Ausdruck eines Niedergangs einer vermeintlich funktionierenden Demokratie und (Wohlfahrts-)Staatlichkeit verstanden wird. Vielmehr wird das in der wohlfahrtsstaatlichen Demokratie organisierte Gesellschaftsmodell als Form der institutionellen Stabilisierung einer bestimmten Repräsentation der Gesellschaft wahrgenommen, die den politisch-fiktionalen Grundzug dieses Modells selbst kaschiert hat. Wie für Jessop, so steht auch für Sørensen der Umgang mit komplexen Akteurskonstellationen für eine konfliktbehaftete Politisierungsdynamik: „The fragmentation of the political system into many layers and self-governing units has initiated a still more intense political battle between elected or otherwise appointed political elites about the right to represent ‚a people‘“ (Sørensen 2002, S. 698). Strategien der Gestaltung sind gefordert, die dargelegte Kontingenz, Offenheit und Interpretationsnotwendigkeit zentraler demokratischer Leitkonzepte zu reflektieren. An managerialistischen wie auch an zivilgesellschaftlichen Strategien zeigt Sørensen, dass diese dieser Anforderung nur unzureichend gerecht werden. Denn sie führten beide erneut substanzielle Verortungen der Bestimmung des Gemeinwohls und der Rolle einzelner Sphären ein, welche zu einer abermaligen Schließung des institutionenpolitischen Diskurses führen und die Offenheit der Machtspiele beschränken. Erst im Rahmen einer Strategie der radikalen Demokratisierung von Netzwerksteuerung bekämen auch diese ersten beiden Strategien ihren angemessenen Ort (Sørensen 2005). Die institutionenpolitische Agenda politischer Führung wäre hier auf die Bewahrung und Stärkung agonaler und imaginativer Momente in der Dezentrierung des Regierens angelegt und somit auf die Beförderung radikaler Demokratie im poststrukturalistischen Sinne (vgl. Mouffe 1993, S. 9–22). Diese Demokratiepolitik soll sich nach Sørensen (2002, S. 707–712) auf drei Dimensionen richten: die Beförderung der Konkurrenz um Repräsentation, die Politisierung der Beziehung zwischen Politik und Verwaltung sowie die Thematisierung von Gleichheit und Teilhabe jenseits der Dichotomisierung von Staat und Gesellschaft.

Die imaginativ-kulturelle Dimension von Governance aufzuschließen, ohne sie durch die Logik des Konsenses zu entschärfen, kann als Verdienst von poststrukturalistischen Perspektiven wie der von Sørensen begriffen werden. Allerdings wird hier – ähnlich wie bei March und Olsen – die Frage ausgeblendet, inwiefern Governance unter dem Veränderungsdruck systemischer Imperative erfolgt und inwiefern dies Restriktionen für die Entwicklung neuer Formen demokratischen Regierens mit sich bringt. Dies kann uns Jessops Ansatz verdeutlichen.

5 Schluss: Auf dem Weg zu einem multiperspektivischen Verständnis neuer Formen des Regierens

Die vier vorgestellten Perspektiven, die von steuerungstheoretischen, integrationstheoretischen, regulationstheoretischen und gouvernementalitätstheoretischen Annahmen ausgehen, konzeptualisieren in unterschiedlicher Weise die zentralen Herausforderungen des Regierens. In der Zusammenschau können sie ein multiperspektivisches Verständnis von neuen Formen des Regierens und der durch sie adressierten Probleme erschließen, aber auch dabei helfen, einen bloßen Eklektizismus und ein unreflektiertes Verständnis des postulierten Praxisbezugs zu vermeiden. Governance-Probleme weisen stets einen vierfachen Bezug auf: einen kooperativ-ergebnisorientierten Bezug, bei dem das Regieren sich sektoral fokussiert und Folgen und Nebenfolgen in Praktiken des Verhandelns und Argumentierens auf kausale Problemlösung ausrichtet; einen konsensual-kulturellen Bezug, durch den Sphären des sektoral-strategischen Interagierens erst in einen übergreifenden Kontext der politischen Gemeinschaft und deren normativem Selbstverständnis gestellt werden; einen hegemonial-strategischen Bezug, der Anpassungserfordernisse der politischen Ökonomie in Projekte einer veränderten Staatlichkeit gießt; und einen herrschaftstechnologischen Bezug, der die diskursive Konstitution politischer Subjekte und die Öffnung und Schließung diskursiver Praktiken betrifft.

Das in der Politikwissenschaft dominante steuerungstheoretisch geprägte Verständnis ist von der Annahme der intentionalen Gestaltbarkeit von steuernden Institutionen als Regelsystemen anstelle der Auswahl passender Steuerungsinstrumente geprägt. Aufgabe von Governance-Forschung ist es aus dieser Sicht, relevante regulative Gestaltungsoptionen ausfindig zu machen, und zwar durch den Nachweis von effektiven Formen der Handlungskoordination und der Interdependenzbewältigung. In der Redefinition von Steuerung als Governance wurde eine anfänglich enge Sichtweise auf Politiknetzwerke als Regelungsstruktur zu einer komplexeren Sicht der Berücksichtigung verschiedenartiger Arenen und deren systemrationalem Zusammenspiel geweitet; so in Richtung ideenpolitischer Steuerungskonzepte wie dem von Braun. In der beibehaltenen Verbindung von Konsensproduktion und kausal adäquaten Regulierungsformen als Voraussetzungen für Systemrationalität liegt jedoch auch die Achillesferse einer steuerungstheoretisch geprägten Governance-Perspektive. Gemeinwohldiskurse, Institutionengestaltung und interaktive Problembearbeitung werden im Hinblick auf das politisch Machbare bestimmt. Von den Beteiligten wird eine pragmatische Orientierung eingefordert, während sich eben dieses Machbare selbst immer deutlicher als Resultat von Aushandlungsprozessen erweist. Zugleich wird immer fraglicher, inwiefern sich kausale Zusammenhänge zwischen institutionellen Kontexten und Steuerungseffekten eindeutig rekonstruieren, geschweige denn ex ante als Empfehlungen konzeptualisieren lassen.

Claus Offe hat bereits am Ende der 1970er-Jahre die Fixierung auf strategisch-koordinative Konsensgenerierung in sektoralen Teilbereichen als Achillesferse einer sozialdemokratisch-neokorporatistischen Strategie der Überwindung von Unregierbarkeit ausgemacht (Offe 1979, S. 310). Steuerungstheoretische Governance-Konzepte blenden weiterhin wichtige Fragen aus: Inwiefern sind die Konsenskorridore von übergreifenden Rahmenbedingungen geprägt? Inwiefern spiegeln diese Rahmenbedingungen funktionale Imperative und widersprüchliche Normen und Werte wider, die Konsense von vornherein unter den Verdacht der Gemeinwohlillusion stellen? An welcher Stelle muss der Staat statt der politisch konzertierten Steigerung von Funktionsleistungen eine Ermäßigung von Steuerungserwartungen vertreten? Wie können die disziplinierenden Züge eines auf pragmatischen Konsens und Regierbarkeit von Komplexität gerichteten Schattens der Hierarchie durch subversive Diskurse aufgebrochen werden? Wenn Mayntz Krisen- und Unregierbarkeitsdiagnosen aus der Steuerungsdiskussion gerade hatte fernhalten wollen (Mayntz 1987, S. 89–90), so wird mit der Rekonzeptualisierung der Steuerungs- als Governance-Perspektive endgültig deutlich, dass diese Abschottungsstrategie kritisch zu sehen ist. Der Zusammenhang zwischen institutionellen Governance-Designs und kausalen Wirkungen von Policies wird letztlich selbst immer komplexer, bis am Ende der Fokus auf Problemeffektivität keine eindeutigen Kriterien dieser Designs mehr abzugeben vermag. Am Ende bleibt die vage Hoffnung, dass es im Konsens besser geht.

Das enthierarchisierte Regieren löst nicht einfach unsere Probleme mehr oder weniger. Es verändert vor allem auch unser Verständnis dieser Probleme. Der ‚Praxisbezug‘ der Governance-Perspektive muss entsprechend weiter gefasst werden, als dies in der steuerungstheoretischen Perspektive der Fall ist. Was die drei im Anschluss an das steuerungstheoretische Paradigma diskutierten Governance-Perspektiven zeigen, ist, dass neue Ansätze des Regierens nicht auf eine geteilte Verantwortung für irgendwie objektivierbare funktionale Leistungen und Gemeinwohlbilanzen reduziert werden dürfen. Vielmehr geht es darüber hinaus um die (Re-)Konstruktion politischer Identitäten und Deutungsformen. Aus allen drei Perspektiven folgt, dass es nicht darauf ankommen kann, Institutionen und Akteure in politischen Ämtern vorrangig an ihren faktischen Steuerungserfolgen zu messen und institutionelle Designs auf die Erzeugung von Konsens über Politikergebnisse auszurichten. Steuerungsversuche operieren gleichsam im Schatten von hegemonialen Projekten, Umdeutungen der Demokratie und des Wohlfahrtsstaates sowie Neubestimmungen politischer Subjekte und kollektiver Identitäten. Die analytische und normative Isolierung von Steuerungsproblemen erzeugt ein verkürztes Praxisverständnis. Es ist an der Zeit, Governance-Forschung tatsächlich multiperspektivisch zu betreiben.