1 Einleitung

Der aus der Migrationsforschung hervorgegangene Ansatz der Transnationalisierung hebt die Herausbildung transnationaler Sozialräume in den und durch die alltäglichen Lebenspraktiken von sozialen AkteurInnen hervor (Glick Schiller et al. 1999; Portes 1999; Pries 2007). Innerhalb der Migrationssoziologie hat er den Blick dafür geschärft, dass die gegenwärtigen Migrationsbewegungen nicht (mehr) zwangsläufig dem herkömmlichen Verständnis einer einmaligen und unidirektionalen Verlagerung des Lebensmittelpunkts vom Herkunftsland ins Zielland entsprechen:

Die als „normal“ angesehene, permanente Einwanderung wird zunehmend ersetzt durch Pendelwanderung, konjunkturelle Arbeitskräftewanderung, zirkuläre Elitenmigration sowie all die weiteren Formen transnationaler Mobilität (Fassmann 2002, S. 357).

Die gegenwärtigen Alltagswelten und Lebensverläufe vieler Individuen sind durch wiederholte Migrationen sowie eine Habitualisierung ihrer grenzüberschreitenden physischen und psychischen Aufmerksamkeits- und Aktionsräume geprägt. Wenngleich die Mehrheit der europäischen BürgerInnen, laut dem Eurobaromenter 2009 beispielsweise 84 %, über keinerlei Erfahrung mit dem Leben und Arbeiten im Ausland verfügt, verweisen zahlreiche empirische Studien der Migrations-, Europa- und Kosmopolitismusforschung auf ein bemerkenswertes Ausmaß an transnationaler Mobilität innerhalb bestimmter sozialer Gruppen: Beaverstocks (2002) transnationale Eliten, Favells (2008) Eurostars, Haour-Knipes’ (2001) moving families, Ossmans (2004, 2013) serial migrants, Pollock und Van Rekens (2009) third culture kids, Werbners (1999) working class cosmopolitans und viele andere illustrieren dies eindrücklich.

Unter dem Begriff der transnationalen Mobilität werden von Fassmann (2002, 2003) jene neuen Migrationsformen aufgegriffen, die sich neben der klassischen Migration mit dem idealtypischen Ziel der Sesshaftigkeit und sozialen Integration herausgebildet haben und diese ergänzen. Als transnationale Mobilität bezeichnet er temporäre Wanderungen, bei denen zwei (oder auch mehr) alternative Lebensmittelpunkte aufrechterhalten werden (siehe Abb. 1):

Wesentlich bei der transnationalen Mobilität sind die Beibehaltung des Wohnstandortes im Herkunftsland, die Aufrechterhaltung familiärer und sozialer Strukturen auch über große Distanzen hinweg und damit die Etablierung eines sozialen Raumes, unabhängig von Grenzen und Territorien (Fassmann 2003, 438).

Abb. 1
figure 1

Formen transnationaler Mobilität

Für die hier im Zentrum stehende Untersuchungsgruppe der transnational mobiles ist das Charakteristikum der Bewahrung des Wohnstandortes im Herkunftsland jedoch sekundär. Bei ihnen spannt sich der transnationale Sozialraum zwischen den verschiedenen Lebensorten ihrer transnationalen Biographien und den aus ihnen hervorgegangenen grenzüberschreitenden Kommunikations- und Interaktionsbeziehungen auf. Fassmann (2003, S. 453) zufolge sind die Übergänge von der transnationalen Mobilität zur definitiven Aus- und Einwanderung einerseits sowie zu zirkulären Wanderungsbewegungen andererseits fließend. Als nunmehr zentrales Merkmal und Folge der transnationalen Mobilität verweist er auf die Hybridität der kulturellen Identifikationen in Form von „doppelten Identitäten“, die auf einem Leben zwischen hier und dort beruhen und durch ein Sowohl-als-auch gekennzeichnet sind (Fassmann 2002, 2003). Von besonderer Relevanz ist, dass eine solche Ambivalenz im Rahmen der transnationalen Mobilität nicht nur ein transitorisches Phänomen darstellt, sondern eine dauerhafte Erscheinung ist (Fassmann 2003, S. 436).

Auf Grundlage einer biographieanalytischen Untersuchung von transnational mobiles soll in diesem Beitrag die subjektive Verarbeitung ihrer Mobilitäts- und Migrationsformen betrachtet werden.Footnote 1 Dabei steht die Frage im Zentrum, inwieweit die mehrfachen transnationalen Migrationserfahrungen mit Kosmopolitisierungsprozessen einhergehen und Veränderungen in den Zugehörigkeitsgefühlen und Identitätskonstruktionen bedingen. Hierfür soll die Gruppe der transnational mobiles zunächst bestimmt und innerhalb der bestehenden Migrationstypologien verortet werden, um im Zuge dessen ihre Bedeutung für die aktuelle Migrationsforschung und die Untersuchung von Internationalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen herauszuheben Nachfolgend werden die vorhandenen Wissensbestände sowie die grundlegenden Schwierigkeiten der empirischen Untersuchung von transnational mobiles thematisiert und der Nutzen des angewandten qualitativ-biographischen Forschungsansatzes aufgezeigt. Schließlich werden erste vorläufige Ergebnisse anhand einer Fallrekonstruktion dargestellt und diskutiert.

2 Wer oder was sind „transnational mobiles“ und warum sind sie relevant?

Im Zuge fortschreitender Globalisierungsprozesse wird, wie Merz-Benz und Wagner (2002, S. 9 f) treffend konstatieren, auch das Phänomen der grenzüberschreitenden Migration und Mobilität vorangetrieben. Die gegenwärtige Beschleunigung und Ausweitung der globalen Wanderungsprozesse gehen ihnen zufolge auch mit einer Vervielfältigung der Migrationstypen einher. Hierbei gewinnen, wie bereits angemerkt, die temporären Migrationsformen an Gewicht, welche, wie Kaźmierska et al. (2011) schreiben, mit den Wandlungsprozessen spätmoderner Gesellschaften zusammenhängen:

The permanent and long-term migration which is usually synonymous with one’s attempts to adapt the cultural patterns of the approached group (Schütz 1972) or immersion in national communities trying to preserve their language and culture has been rapidly replaced with new practices of mobility resulting from socioeconomic, cultural and political changes characteristic of the societies of late modernity (Kaźmierska et al. 2011, S. 5 f).

In ihrer Studie über transnational worker in der EU identifizieren sie drei arbeitsbezogene Mobilitätsmuster, die sich hinsichtlich des intendierten Zeitrahmens von der einmaligen und dauerhaften Migration unterscheiden (ebd., S. 6 ff). Dazu gehören erstens die relativ spontan und als Chance ergriffene haphazard mobility, zweitens die sorgfältig geplante und bedachte, vorübergehende zielorientierte Arbeitsmobilität sowie drittens die zeitweise vorgesehene Pendelmobilität. Diese grenzüberschreitenden Mobilitätsformen stellen die Offenheit und Reversibilität der Migrationsentscheidungen als zentrales Phänomen und Element der gegenwärtigen Migrationsstrukturen heraus. Auch andere qualitative und quantitative Studien rekonstruieren bzw. erfassen solche temporären und wiederholten Migrationsbewegungen (u. a. Kreutzer und Roth 2006; Fassmann 2002, 2003; Favell 2008; Ossman 2004, 2013; Verwiebe 2004).

Bauman (1997) argumentiert auf der gesellschaftstheoretischen Ebene, dass sich die „Vagabunden“ im Übergang von der Moderne zur Postmoderne zum repräsentativen Typus entwickelt haben: Während die Moderne viele Sesshafte und wenige „Vagabunden“ beherbergte, dreht sich das Verhältnis, seiner Ansicht nach, in der Postmoderne um (Merz-Benz und Wagner 2002, S. 20). Damit übereinstimmend beschreibt auch Beck (2004, S. 69) einen sozialen Wandel vom „ortsmonogamen Leben“ der nationalstaatlich geprägten Moderne hin zur „Ortspolygamie“, welche die postmoderne „innere Globalisierung der Biographie“ zum Ausdruck bringt. Die Untersuchungsgruppe der transnational mobiles, deren Lebens- und Berufsverläufe durch vielfältige Formen und ein besonders hohes Maß an transnationaler Mobilität gekennzeichnet sind, repräsentieren diesen Wandlungsprozess in außerordentlicher Weise. Mit ihren wiederkehrenden grenzüberschreitenden Umzügen und den flankierenden vielfachen beruflichen und privaten Reisen stellen sie in Levitts (2001) Kategorien transnationaler Mobilität den Gegenpol zu den Sesshaften, an einem Ort Bleibenden, dar (Kreutzer und Roth 2006, S. 7).

Doch wer oder was sind nun transnational mobiles? Unter transnational mobiles werden hier Individuen verstanden, die über einen längeren Zeitraum in mehreren verschiedenen Ländern gelebt haben. Sie entsprechen den von Ossman (2004, S. 114) als serial migrants bezeichneten und wie folgt bestimmten Personen:Footnote 2

I define serial migrants as people who have lived in at least three countries for a significant period of time.

Ossman (2004) legt als Definitionskriterium eine Aufenthaltsdauer von mindestens drei Jahren in den einzelnen Ländern fest. In anderen, vor allem statistischen, Erhebungen dagegen werden schon Personen zur Migrantengruppe gezählt, die ihren Wohnort (offiziell) für mehr als ein Jahr verlassen (Favell 2008, S. 100). Für die Untersuchung der transnational mobiles werden als Orientierungspunkt längerfristige Auslandsaufenthalte von mindestens einem, in der Regel zwei, drei und mehr Jahren herangezogen. Von größerer Bedeutung als das von außen auferlegte Zeitkriterium ist jedoch die Beobachtung, dass die mit dem Auslandsaufenthalt verbundenen Erfahrungen biographisch relevant erscheinen und in den Erzähldarstellungen der transnational mobiles deutliche Spuren hinterlassen haben. Eine solche Herangehensweise ist für biographieanalytische Studien konsequent und charakteristisch und findet sich auch in der bereits erwähnten EU-Studie über „transnational worker“ wieder:

We define „transnational workers“ as the people whose work activities abroad are, have been or were considerable long lasting to result in biographically relevant experiences (Kaźmierska et al. 2011, S. 1).

Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass je mehr die Auslandsaufenthalte für soziale Akteure eine andauernde und wiederkehrende Erfahrung darstellen, desto stärker werden auch ihre Biographie und Lebensführung durch die transnationale Mobilität geprägt (Kreutzer und Roth 2006, S. 7).

Dass hier die Bezeichnung transnational mobiles gegenüber serial migrant oder auch onward migrant bevorzugt wird, liegt zum einen daran, dass sie die beiden wesentlichen Aspekte ihrer sozialen Existenz und Biographie, nämlich Transnationalität und Mobilität, vereint. Zum anderen verortet sie diese passenderweise im Forschungsansatz der Transnationalisierung, in welchem der entscheidende Paradigmenwechsel von der Vorstellung einmaliger, unidirektionaler Migrationsbewegungen zur (neuen) Realität mehrfacher grenzüberschreitender Mobilitätsformen vollzogen worden ist. Hierbei sollen jedoch die transnational mobiles von der Gruppe der TransmigrantInnen unterschieden werden.

transnational mobiles waren, sind und/oder bleiben in Bewegung, überschreiten dabei nationale Grenzen und spannen in und mit ihren Lebensverläufen einen individuellen transnationalen Raum auf. In der sozialen Typologie des Fremden, die Merz-Benz und Wagner (2002) auf Grundlage klassischer Texte der Migrationssoziologie entwickelt haben, lassen sie sich als Weiterziehende einordnen – als Wandernde, die heute kommen und morgen bzw. übermorgen wieder gehen (Simmel 1908), vergleichbar mit der Figur des „Hobo“ (Park et al. 1925), des „Vagabunden“ (Bauman 1997) und des „Kosmopoliten“ (Hannerz 1990). Idealtypisch betrachtet teilen sie jene soziale Position, die ein hohes Maß an Mobilität mit einem niedrigen Grad an Integration verbindet (vgl. Merz-Benz und Wagner 2002, S. 14 ff). Dies lässt sich nicht zuletzt damit erklären, dass die habituelle Wirksamkeit in und die biographische Verbundenheit mit einem lokalen oder nationalen sozialen Kontext – zwei wesentliche Dimensionen der Identität nach Mecheril (2003) – an den Faktor des Zeitverbringens gebunden sind, der sich gerade in Bezug auf die Gruppe der transnational mobiles als beschränkt und fragmentiert erweist. Diese haben eine „Kultur der Mobilität“ inkorporiert und verweilen – ihrem kosmopolitischen Hang zur fortdauernden Erfahrung der kulturellen Vielfalt folgend oder aus verschiedenen, empirisch zu erkundenden anderen Gründen – an keinem Ort dauerhaft:

All of the people we have interviewed have told us how they feel so very different from people who have never moved. Mobility itself becomes a valued measure of individual achievement (Ossman 2004, S. 117).

Durch ihre fortschreitenden Migrationsbewegungen unterscheiden sie sich, ob aus der Fremdperspektive oder ihrem Selbstbild nach, nicht nur von den „Sesshaften“, sondern auch von den „einfachen“ MigrantInnen. Favells (2008) erforschte „Eurostars“, die weitgehend dem Profil der transnational mobiles entsprechen, verneinen seine Frage: „Are you a migrant?“:

The most frequent answer to this question was an emphatic, sometimes bemused, „No!“ (Favell 2008, S. 101), Oh, free mover sounds so much better! (ebd., S. 102), We are Europeans (ebd., S. 103).

In Ossmans (2004, S. 117) Untersuchung ist augenfällig, dass sich die transnational mobiles von ihren jeweiligen Landsleuten distinguieren, selbst von jenen, die über eigene – wenn auch einmalige – Migrationserfahrungen verfügen. Darüber hinaus tendieren Menschen, die mehr als einmal grenzüberschreitend umgezogen sind, ihrer Beobachtung zufolge dazu, ihre Migrationsgeschichten anders zu erzählen als solche, die sich „nur“ von einem Land in ein anderes bewegt haben. Insbesondere die Integrationsschwierigkeiten, von denen „einfache“ MigrantInnen oftmals berichten, scheinen nicht das Kernthema der transnational mobiles zu sein (ebd., S. 112). Dies mag zum einen, wie Ossman vermutet, an den besonderen Beobachtungs- und Sozialkompetenzen liegen, die sie sich im Verlauf ihrer wiederholten Migrationsgeschichten angeeignet haben. Denn den von Schütz (1972) beschriebenen „Prozess der sozialen Annäherung“ – in welchem sie als „Neuankömmlinge“ ihr Alltagswissen in einem kontinuierlichen Lern- und Definitionsprozess neu konstruieren müssen – vollziehen sie quasi gewohnheitsmäßig. Zum anderen könnte eine vergleichsweise geringe soziale Integration bis zu einem gewissen Grad auch mit ihrer wesenseigenen Orientierung des In-Bewegung-Bleibens, ihrer sich auf den Raum projizierenden inneren Lebensrhythmik, übereinstimmen (Simmel 1908; Merz-Benz und Wagner 2002, S. 17).

Was ist es nun, das transnational mobiles – trotz ihrer unterschiedlichen sozialen, nationalen, ethnischen, kulturellen und beruflichen Hintergründe – miteinander verbindet und von anderen Migrationstypen unterscheidet? Mit ihrem zweiten Länderwechsel, der weiterführenden Migration, bricht, Ossman (2004, S. 113) zufolge, der doppelte Referenzrahmen auf, in dem „einfache“ MigrantInnen typischerweise ihr Aufenthaltsland mit dem „Herkunftsland“ vergleichen. Über eine solche binäre Wahrnehmungsfolie hinaus beobachten und kontrastieren transnational mobiles die Sitten und Gebräuche, sozialen und politischen Systeme jener, per definitionem mehr als zwei Länder, in denen sie gelebt haben. So können sie auf Grundlage ihres erweiterten Erfahrungs- und Referenzrahmens eine implizite quasi-ethnographische, komparative Sozialforschungshaltung entwickeln (ebd., S. 113 f). Zudem überschreiten transnational mobiles, wie Ossman bemerkt, die „betwixt and between“-Position zwischen zwei Kulturen, die einmalige MigrantInnen oftmals einnehmen. Bhabha (2000) hat das in diesem Zusammenhang passende Konzept des dritten Raums geprägt. Für die transnational mobiles stellt der dritte – oder auch vierte und fünfte Ort – jedoch einen ganz konkreten Platz dar, der sich auf der Weltkarte identifizieren lässt und mit einer bestimmten Sprache und Kultur sowie bestimmten Menschen und Institutionen verbunden ist (Ossman 2004).

Sie gehören zu der von Coleic-Peisker (2010, S. 467) benannten signifikanten Gruppe von postmodernen AkteurInnen, in deren Lebenswelten das territoriale, vornehmlich nationale, Prinzip transzendiert wird. Von Interesse ist hier: Wie wirkt sich die transnationale Mobilität auf ihre Identität und Zugehörigkeitsgefühle aus? Welche Bezüge und Positionen spiegeln sich in ihren Identitätskonstruktionen wider? Inwieweit geht die transnationale Mobilität mit der Herausbildung postnationaler oder kosmopolitischer Identitäten einher? Gleichwohl der Wechselwirkungszusammenhang von Transnationalisierung und Kosmopolitisierung theoretisch naheliegend ist, bleibt er eine offene und nur empirisch zu beantwortende Frage (Roudometof 2005; Mau 2007). Dabei muss sich das Verhältnis, Roudometof (2005, S. 127 f) zufolge, nicht notwendigerweise als positiv linear erweisen, indem ein größeres Ausmaß an Transnationalisierung auch zu einem höheren Kosmopolitisierungsgrad führt. Denn eine transnationale Ausdehnung und Intensivierung des physischen und psychischen Sozialraums kann theoretisch sowohl eine kosmopolitisch offene Mentalität als auch gegenteilig eine lokal oder national defensive und geschlossene Haltung motivieren (Roudometof 2005; Beck et al. 1996). Die Wahl zwischen beiden ist eine Frage der Ethik und des moralischen Urteils (Roudometof 2005, S. 128) und wird vom historischen und gesellschaftlichen Kontext mitbestimmt (Kendall et al. 2009).

Das Konzept des Kosmopolitismus bzw. des „neuen Kosmopolitismus“ (Köhler 2006) ist in den letzten Jahren, sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene, in zunehmendem Maße thematisiert und diskutiert worden. In der Fülle an existierenden Definitionen, Verständnissen und Ansätzen lassen sich nach Nowicka und Rovisco (2009, S. 3 ff) drei Denktraditionen und Dimensionen des Kosmopolitismus unterscheiden: der ethisch-moralische, der kulturell-ästhetische und der politische Kosmopolitismus. Mit dieser Unterscheidung gehen diametrale Relevanzen und Akzentuierungen des Gemeinsamen und Differenten einher. Während die ethisch-moralische Form des Kosmopolitismus auf die Gleichheit der Menschen, unabhängig von ihrer nationalen, ethnischen oder religiösen Herkunft, rekurriert, sind für die kulturell-ästhetische Form die Orientierung und das Interesse an den Unterschieden, genauer gesagt an den kulturell abweichenden Erfahrungen, maßgeblich (Merz-Benz und Wagner 2002, S. 19). Ferner lassen sich hinsichtlich der kosmopolitischen Dispositionen auf der Subjektebene unterschiedliche Ausmaße bzw. Reflexionsgrade differenzieren. Die von Kendall et al. (2009, S. 112 ff) qualitativ-empirisch entwickelte Typologie klassifiziert unterschiedliche Formen des alltagsweltlichen Kosmopolitismus: den „sampling“, „immersive“ und „reflexive style of cosmopolitanism“. Welche Formen und Grade des Kosmopolitismus für die transnational mobiles kennzeichnend sind, soll die Untersuchung beantworten helfen. Die Erfahrungswelten und Verarbeitungsprozesse der transnational mobiles können einen Einblick in die längerfristigen Folgen der transnationalen und transkulturellen Verflechtungen und Dynamiken spätmoderner Gesellschaften bieten. Hier eröffnet sich ein weites, bisher nur bedingt untersuchtes Forschungsfeld, welches neben spannenden Fragen auch mit spezifischen Schwierigkeiten aufwartet. Letztere sollen im Folgenden zusammen mit den vorhandenen empirischen Wissensbeständen zur weiterführenden Migration thematisiert werden.

3 Was erfahren wir (nicht) über „transnational mobiles“

Ein nicht unbeträchtlicher Teil der internationalen Migration kann quantitativen und qualitativen Studien zufolge als wiederholte Migrationen charakterisiert werden (Aydemar und Robinson 2006; Constant und Massey 2002; DaVanzo 1983; Lindley und Van Hear 2007; Nebky 2006; Takenaka 2007).Footnote 3 Dabei scheint insbesondere die Bedeutung der weiterführenden Migration zuzunehmen. Für Schweden beispielsweise kann Nebky (2006) zeigen, dass der Anteil der fortschreitenden Migrationsbewegungen an der gesamten Emigrationsrate in den Jahren 1991 bis 2000 von 12 % auf 32 % gestiegen ist. Auch Aydemar und Robinson (2006) haben – auf Grundlage eines in Kanada neu zur Verfügung stehenden Längsschnittdatensatzes, der die Immigration seit 1980 erfasst – herausgefunden, dass sich ein beachtlicher Teil der ImmigrantInnen als onward migrants bezeichnen lässt. So kamen sie beispielsweise zu dem Ergebnis, dass 40 % der immigrierten ArbeitnehmerInnen und Selbstständigen innerhalb der ersten zehn Jahre weitergezogen sind.Footnote 4

Gleichwohl wird den transnational mobiles in der Forschung nur begrenzte Aufmerksamkeit geschenkt. Das liegt zum einen daran, dass das Phänomen der hochmobilen MigrantInnen kaum als gesamtgesellschaftlich relevante Größe eingestuft wird (Merz-Benz und Wagner 2002, S. 18). Zum anderen kommt erschwerend hinzu, dass die Untersuchung transnationaler Mobilität äußerst voraussetzungsreich ist und, vor allem im quantitativen Bereich, vom Zuschnitt der vorhandenen Daten abhängt. Transnational mobiles werden von der Umfrageforschung nicht ohne weiteres erfasst. Ihre transnationalen Lebensverläufe tauchen in den offiziellen Statistiken und Meldedaten der Immigrationsländer oft gar nicht auf oder ihre mehrfachen Migrationsbewegungen verschwinden darin (Ossman 2004, S. 112; Kuhn 2011, S. 138 f). Ferner sind spezifische Migrationspopulationen, wie die der transnational mobiles, in der Regel zu klein, um in Standardumfragen adäquat repräsentiert zu werden (Aydemar und Robinson 2006; Kuhn 2011, S. 139). Die grundlegende Problematik einer quantitativen Untersuchung der wiederholten Migration besteht in einem Mangel an geeigneten Datensätzen mit detaillierten Informationen über die Immigrations- und Emigrationsbewegungen der transnational mobiles. Dieser wird teils mit aufwendigen und voraussetzungsreichen Methoden des Datenmatchings und der Datenanalyse (Aydemar und Robinson 2006; Lindley und Van Hear 2007), teils mit kreativen Samplingstrategien (Recchi und Favell 2009) kompensiert.

Auf diese Weise ist es vereinzelten quantitativen Studien gelungen, zwischen verbleibenden, rückkehrenden und weiterziehenden MigrantInnen zu unterscheiden sowie diesbezüglich relevante Einflussfaktoren zu identifizieren (Aydemar und Robinson 2006; DaVanzo 1983; Nebky 2006). Dabei hat sich gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit zur wiederholten Migration mit dem Bildungsstatus steigt, mit dem Alter abnimmt und sich hinsichtlich des Einkommens der MigrantInnen U‑förmig verhält, d. h. sowohl bei Personen mit hohen als auch mit geringen bis keinen Einkünften häufiger zu erwarten ist (Nebky 2006). Zudem scheint die wiederholte Migration umso wahrscheinlicher, je größer die geographische Distanz ist, die bei der ursprünglichen Migration überwunden wurde. Hierbei ziehen hochgebildete MigrantInnen eher weiter, während zuvor arbeitslose zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer bzw. an ihre Herkunftsorte tendieren (DaVanzo 1983; Nebky 2006). Insgesamt betrachtet, weisen die statistischen Untersuchungen, neben dem genannten Alter, Bildungsstand und Einkommen, auch die Herkunftsländer der Migrierten und das wohlfahrtsstaatliche System ihres Aufenthaltslandes als bedeutsame unabhängige Variablen aus. Kritisieren lässt sich jedoch die vielfach sozioökonomisch-reduktionistische Betrachtungsweise der Studien, unter der andere theoretisch und empirisch relevante Beweggründe wie familiale Beziehungen und Netzwerke, ethnische Gemeinschaften, kosmopolitische Dispositionen etc. ausgeklammert bleiben. Wobei dies, bis zu einem gewissen Grad, auch der vorhandenen Datengrundlage geschuldet sein mag.

Eine sich davon abhebende quantitative Studie stellt das PIONEUR Projekt dar, welches mit hohem Aufwand und innovativen Samplingmethoden einen länderübergreifenden Datensatz generiert hat, der eine systematische Erforschung der innereuropäischen Mobilität ermöglicht (Recchi und Favell 2009; Kuhn 2011, 138 f).Footnote 5 In diesem „European Internal Movers Social Survey“ (EIMSS) werden neben dem demographischen Profil die Migrationsmotive, die soziale Mobilität, die soziokulturelle Adaption sowie die kollektive Identität, die politische Partizipation und die Mediennutzung jener europäischer StaatsbürgerInnen untersucht, die sich dazu entschieden haben, in einem anderen EU-Mitgliedsstaat zu leben und zu arbeiten. Gleichwohl diese EU-mover mit den transnational mobiles nicht identisch sind, so zeigt sich doch, dass die Hälfte von ihnen über vorherige Migrationserfahrungen verfügt und 26,5 % sogar in einem dritten Land. Hinsichtlich der Frage ihrer kollektiven Identität kommt die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass jede(r) zweite interne EU-mover über eine dreifache territoriale Identität verfügt, welche die nationalen Bindungen zum Herkunfts- und Aufenthaltsland mit einem Gefühl der Zugehörigkeit zur EU verbindet (Rother und Nebe 2009, S. 135 ff). Die andere Hälfte teilt sich nahezu gleichmäßig auf drei Gruppen auf: erstens solche, die sich mit beiden Nationen identifizieren; zweitens jene, die einen Identitätskonflikt erfahren haben und deren Identität sich auf die EU sowie das Herkunfts- oder das Aufenthaltsland bezieht; und drittens solche, die nur eines oder auch keines der territorialen Identitätsverständnisse für sich proklamieren. Demnach scheint sich die Erfahrung innereuropäischer transnationaler Mobilität, wenn auch unterschiedlich, auf die nationale und europäische Identität der EU-mover auszuwirken. Vor dem Hintergrund sozialpsychologischer Theorien schlussfolgert das Autorenteam aus seinen Ergebnissen, dass die beste Voraussetzung zur Entwicklung einer europäischen Identität darin besteht, zwei nationale Identitäten konfliktfrei miteinander verbinden bzw. integrieren zu können (Rother und Nebe 2009, S. 152). Das heißt keinesfalls, dass eine „kognitive Inkonsistenz“ zwischen den nationalen Identitäten des Herkunfts- und Aufenthaltslandes die Herausbildung einer europäischen Identität ausschließt, sondern nur, dass deren Wahrscheinlichkeit, gemäß den Daten, geringer ist. Zentral ist und bleibt aber die Betrachtung der EU-mover als PionierInnen des transnationalen Europas, welche die europäische Integration von unten vorantreiben und verwirklichen (Recchi und Favell 2009). Nun lässt sich mit Kuhn (2011, S. 143) zu Recht (hinter)fragen: „Are European freedom of movement and European citizenship rights really the prime motors of migration across the continent? Are intra-EU-movers really ‚Pioneers of European integration‘ or rather children of a globalizing world?“ Die zur Klärung dieser Frage relevanten – über die klassifikatorischen Motive von Arbeit, Bildung, Lebensqualität sowie Liebe/Familie hinausgehenden – tieferliegenden Zusammenhänge und Sinnstrukturen der internen europäischen Migration müssen in der äußerst informativen quantitativen Studie allerdings offenbleiben.

Inhaltlich und methodisch anders gelagert ist die qualitative Untersuchung weiterziehender EU-BürgerInnen mit Flüchtlingshintergrund, in der Lindley und Van Hear (2007) ein ihnen zufolge zunehmendes, aber bisher weitgehend übersehenes Muster europäischer Mobilität identifizieren. Am Beispiel von Somali und Sri-Lanka-Tamilen, die nach Aufhebung ihres Flüchtlingsstatus und der damit verbundenen Anerkennung als EU-BürgerInnen nach Großbritannien weitergezogen sind, beleuchten sie die Migrationsentscheidungen zuvor geflüchteter Personen.Footnote 6 Die weiterführende Migration jener ehemaligen Flüchtlinge ist oftmals Teil einer komplexen Migrationsgeschichte und stellt für viele, die vor ihrer Flucht nach Europa zeitweise in anderen Ländern gelebt haben, nicht erst die zweite, sondern schon die dritte oder vierte Migrationsstation dar (ebd., S. 18). Herkömmlichen Ansichten zufolge münden Vertreibung und Flucht, laut den Autoren, in die Sesshaftigkeit in einem anderen Land oder allenfalls in eine spätere Rückkehr ins Herkunftsland (ebd., S. 19). Im Gegensatz dazu weisen die Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass ein Teil der Flüchtlinge im Verlauf ihrer Vertreibung und fortschreitenden Migration eine „Kultur der Mobilität“ entwickelt haben und infolgedessen, im Vergleich zu anderen EU-BürgerInnen, zu innereuropäischen grenzüberschreitenden Umzügen bereitwilliger und fähiger erscheinen (ebd., S. 20). Dieses Phänomen wirft, Lindley und Van Hear (2007) zufolge, die Frage auf, inwieweit sich bei einem Teil der transnational mobilen EU-BürgerInnen mit Flüchtlingshintergrund ein regionaler, d. h. europäischer „Kosmopolitismus“ herausgebildet hat, in Anbetracht dessen sich diese weniger in bestimmten Ländern als vielmehr in der EU als Gesamtes verorten und integrieren. Jedenfalls verfügen sie über kosmopolitische Erfahrungen und Kompetenzen in Form einer Vertrautheit mit verschiedenen europäischen und außereuropäischen Kulturen sowie eines potentiellen erfahrungsbasierten kosmopolitischen Bewusstseins und Weltbilds. Hierzu wären weitere Untersuchungen aufschlussreich, die klären, inwiefern sich die neuen EU-BürgerInnen mit Flüchtlingshintergrund hinsichtlich ihrer transnationalen Praxen und kosmopolitischen Sozialitäten von anderen transnational mobiles unterscheiden oder welche Gemeinsamkeiten zum Ausdruck kommen. Im Vergleich zu den zuvor zitierten quantitativen Studien können Lindley und Van Hear (2007) mit ihren qualitativen semi-strukturierten Interviews die – theoretisch und empirisch relevanten – individuellen Erfahrungen, Erwartungen und Orientierungen ihrer spezifischen Untersuchungsgruppe unmittelbarer und detaillierter erfassen. Die gesamte Komplexität der Migrationsgeschichten und -bewegungen und die ihnen zugrundeliegenden Sinnstrukturen kommen aus methodischen Gründen der Fokussierung nur ansatzweise bzw. fragmentarisch zum Ausdruck. Daher soll im nächsten Kapitel ein Untersuchungsansatz vorgestellt werden, der geeignet ist, die bei einem solchen Vorgehen offenbleibenden Untersuchungsfragen zu verfolgen und darüber hinausgehende Erkenntnisse über transnational mobiles zu generieren, die zur Minimierung der aufgezeigten Forschungslücke beitragen können.

4 Die Migrationsverläufe der „transnational mobiles“ aus biographieanalytischer Sicht

Migrationsprozesse können, wie Kennedy (2009, S. 35) schreibt, als „fateful moments“ im Sinne Giddens (1991) aufgefasst werden. Sie bewirken Veränderungen in den Lebenszusammenhängen, bedingen neue Erfahrungen und markieren den Übergang bzw. das Ende und den Neubeginn von biographischen Phasen. Die Relevanz der Migrationsbewegungen für die Ordnung der biographischen Erfahrungen und Phasen kommt in der lebensgeschichtlichen Erzählstruktur der transnational mobiles klar zum Ausdruck. Geplante oder vollzogene grenzüberschreitende Umzüge veranlassen MigrantInnen, ihre Wahlmöglichkeiten zu betrachten sowie die Risiken und Konsequenzen ihrer Handlungen einzuschätzen (ebd.). Die Migration als ein entscheidender Transitionspunkt hat aber nicht nur wesentliche Auswirkungen auf die Umstände der aktuellen und zukünftigen Handlungsweisen, sondern auch auf die individuelle und kollektive Identität. Infolge der einmal getroffenen Entscheidungen und den mit ihnen verbundenen Konsequenzen für die Lebensführung gestaltet sich das reflexive Projekt der Selbstidentität von einmalig wie mehrmalig Migrierten neu. Migrationserfahrungen können Individualisierungs- und Kosmopolitisierungsprozesse anstoßen und intensivieren, sowie Veränderungen des Zugehörigkeitsgefühls hervorrufen (Hunger 2008; Kennedy 2009, S. 22, S. 35; Mau 2007; Scott 2004, S. 401 u. a.). Vor diesem Hintergrund lassen sich die transnationalen Karrieren und Biographien als Prozesse der Selbsttransformation betrachten und ideal mit einer prozessorientierten Methode untersuchen (Kennedy 2009, S. 21; Nowicka und Rovisco 2009, S. 6; Vorheyer 2013).

In Migrationsbiographien gruppieren, stapeln und überschneiden sich, Apitzsch (2003) zufolge, verschiedene geographische, nationale, kulturelle und soziale Erfahrungshorizonte. transnational mobiles bewegen sich in transnationalen „Lebenslandschaften“, die sie im Verlauf ihrer fortschreitenden Migrationsprozesse erzeugen und innerhalb derer sie – noch stärker als andere Migrationsgruppen – Verbindungen, Sinnzusammenhänge und Bedeutungshorizonte herzustellen gefordert sind. Aus jener interaktionistischen und biographieanalytischen Perspektive rückt die integrative und reflexive Leistung der transnational mobiles in den Blick. Dabei stellt sich die Frage, wie sie die vielfachen nationalen und kulturellen Grenzüberschreitungen und die mit ihnen einhergehenden potentiellen Fremdheitserfahrungen auf der kognitiven, affektiven und (inter)aktionalen Ebene verarbeiten (Schöppe-Kahlen 2005) und auf welche Art und Weise sie identitätsrelevante Kontinuität und Konsistenz herstellen.

Kosmopolitische Sensibilitäten und Sozialitäten setzen eine ontologische Dimension voraus und können in personalen Narrationen eingefangen werden (Nowicka und Rovisco 2009, S. 3). Für die Untersuchung des Zusammenhangs von Transnationalisierungs- und Kosmopolitisierungsprozessen eröffnet die Methode des autobiographisch-narrativen Interviews hervorragende Analyse- und Erkenntnismöglichkeiten (Vorheyer 2013). Sie ist in besonderer Weise geeignet, die den fortschreitenden Migrationsbewegungen zugrundeliegenden Sinnstrukturen, Orientierungsmuster und kosmopolitischen Selbsttransformationen zu erfassen, da sich in den zusammenhängend erzählten Lebensgeschichten der transnational mobiles, Schütze (1983, S. 285) zufolge, die „Ereignisverstrickung“ und „Erfahrungsaufschichtung“ der BiographieträgerInnen so lückenlos reproduzieren lassen, wie das im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt nur möglich ist. Von enormer Bedeutung ist zudem, dass in den Erzähldarstellungen der weiterziehenden MigrantInnen nicht nur die „äußeren“ Ereignisabläufe, sondern auch die „inneren“ Reaktionen – also die Erfahrungen mit den Ereignissen und ihre interpretative Verarbeitung in Deutungsmustern – zur Sprache kommen (ebd., S. 285 f). Die Methode des narrativen Interviews mit seiner durch die Erzählung hervorgerufenen Darstellung des Ereigniszusammenhangs, der Deutung und der Handlungsorientierung kann aufzeigen, welche Konstruktions- und Reflexionsprozesse in der biographischen Erzählung dargelegt und in Gang gesetzt werden. Beispielsweise, inwieweit transnational mobiles kulturelle Anpassungsprozesse vollziehen oder inwiefern die wiederholte Aneignung der „Ethnomethoden“ des jeweiligen „neuen“ kulturellen Kontexts in den Interviews thematisiert wird. Solche Bearbeitungskompetenzen und Bewältigungsstrategien sind für den Zusammenhang von Transnationalisierungs- und Kosmopolitisierungsprozessen ebenso zentral wie die Frage nach den Veränderungen der Selbstidentität, für welche der Ansatz zur Rekonstruktion narrativer Identität eine ergänzende Analyseperspektive „im Überschneidungsbereich von autobiographischer Erzähl-, Identitäts- und Bewältigungsforschung bieten kann“ (Lucius-Hoene 2000).

Die Anwendung des fallorientierten biographischen Forschungsansatzes erscheint für die Rekonstruktion der Bedeutungsherstellung im Alltags- und Biographiekontext sowie der Handlungs- und Orientierungsmuster als konstitutive Elemente des sozialen Kontexts und der transnationalen Lebensverläufe der transnational mobiles fruchtbar und vielversprechend (Breckner 2007). Bevor jedoch der Zusammenhang von Transnationalisierungs- und Kosmopolitisierungsprozessen anhand einer Fallrekonstruktion beleuchtet wird, soll zunächst die Anlage der Studie, insbesondere das Sample und die Problematik der qualitativen Interviewforschung, im fremdsprachlichen Kontext skizziert werden.

5 Die Untersuchung der „transnational mobiles“: Sampling und Sprache

Die biographieanalytische Untersuchung der Transnational Mobiles orientiert sich an der „Grounded Theory Methodologie“ und verfolgt somit das Ziel, aus systematisch gewonnenem und analysiertem Datenmaterial eine gegenstandsbezogene und gegenstandsverankerte Theorie zu entwickeln (Strauss und Corbin 1996). Hierbei werden die theoretischen und empirischen Kategorien des sozialen Phänomens der fortschreitenden Migration aus Einzelfallanalysen und Fallvergleichen gewonnen. In der vorliegenden Untersuchung wird zudem die Identität, im Sinne einer abduktiven Verfahrensweise, aus bestehenden Untersuchungen der Migrations- und Transnationalisierungsforschung als potentiell relevantes heuristisches Konzept herangezogen. Gemäß der „Grounded Theory Methodologie“ zirkuliert der Forschungsprozess zwischen Datenerhebung und Datenauswertung. Das aktuelle Untersuchungssample beruht auf zwölf Interviews, die nach dem Prinzip des Theoretical Samplings erhoben wurden. Der Grundgedanke des Theoretical Samplings ist, dass die Stichprobe nicht schon zu Beginn der Untersuchung festgelegt ist, sondern erst nach und nach im Verlauf der empirischen Untersuchung im Zuge der sich herauskristallisierenden theoretischen Gesichtspunkte aufgebaut wird. Das heißt, auf Grundlage der empirischen Daten wird entschieden, welche Daten, beispielsweise Interviews, als Nächstes zu erheben sind. Wenn in einem Fall etwa die transnationale Karriere individuell, d. h. ohne PartnerIn oder Familie realisiert wird, scheint es für die weitere Untersuchung relevant, im Gegensatz dazu auch Fälle zu erheben bzw. zu analysieren, bei denen die transnationale Mobilität mit PartnerIn bzw. Familie verwirklicht wurde. Natürlicherweise lassen sich, ausgehend von den Charakteristika eines Falls in Bezug auf das zu erforschende Phänomen, nicht nur eine, sondern mehrere Kontrastdimensionen entwerfen. Das gegenwärtige Untersuchungssample repräsentiert eine Vielfalt der transnational mobiles hinsichtlich des Alters, des Geschlechts und der nationalen Herkunft sowie des Familienstands, des Bildungshintergrunds und der Erwerbstätigkeiten. Des Weiteren unterscheiden sich die Befragten bezüglich des Zeitpunkts der ersten Migration, des Kontexts ihrer transnationalen Mobilität wie auch deren Umfangs, Reichweite und jeweiligen Richtungen (z. B. West-Ost, Ost-West).Footnote 7 Zudem wurden die bisherigen Interviews mit Frauen und Männern geführt, die überwiegend akademisch gebildet sind, wobei das Sample aber auch zwei Fälle mit einer beruflichen Ausbildung beinhaltet. Die Befragten arbeiten in unterschiedlichen Berufsfeldern, u. a. in der Wirtschaft, in internationalen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, der Wissenschaft sowie den Informations- und Kommunikationstechnologien. Sie befinden sich im mittleren, zum Teil aber auch im frühen und späten Erwachsenenalter. Die interviewten transnational mobiles stammen aus verschiedenen Ländern West-, Ost- und Südosteuropas sowie Amerikas und blicken auf unterschiedlich umfangreiche, weiträumige und in verschiedene Richtungen verlaufene Migrationswege zurück. Der Großteil hat in mehr als drei verschiedenen Ländern in Europa, aber auch in Afrika, Südamerika sowie im Mittleren und Fernen Osten gelebt. Viele von ihnen befinden sich in binationalen, teilweise auch transnationalen Partnerschaften oder Ehen, mit oder ohne Kinder. Einige leben mit einer Partnerin/einem Partner aus dem gleichen Herkunftsland zusammen und eine Interviewpartnerin ist alleinerziehende Mutter einer bereits erwachsenen Tochter. Da mit der Gruppe der transnational mobiles ein transnationales Phänomen untersucht wird, setzt sich das Sample – im Gegensatz zur Masse der Migrationsstudien – aus AkteurInnen unterschiedlicher Herkunftsländer und Migrationskontexte zusammen. Indem in der Untersuchung die Bedeutung der nationalen Herkunft nicht vorherigdefiniert und determiniert wird, soll nicht zuletzt der Forderung nach der Überwindung des methodologischen Nationalismus (Glick Schiller et al. 1992) Rechnung getragen werden. Ungeachtet dessen bietet das Untersuchungssampling die Möglichkeit, die Nation bzw. den Nationalstaat als relevante Kategorie, der kollektiven Identifizierung beispielsweise, zu entdecken.

Die Untersuchung transnationaler Karrieren und Biographien mit einer Methode, die in besonderem Maße auf der Kommunikation und damit einer gemeinsam geteilten Sprache beruht, stellt im Kontext eines national und damit auch (erst-)sprachlich heterogenen Samplings eine besondere Herausforderung und Schwierigkeit dar (Lutz et al. 2012).

Bislang wurden die Interviews auf Deutsch oder auf Englisch geführt, welche sich häufig als die Erst- oder Zweitsprache der befragten transnational mobiles herausstellte. In einzelnen Fällen boten sich aufgrund der Sprachbiographie der InterviewpartnerInnen beide Sprachen gleichermaßen an, sodass sie zwischen beiden wählen konnten. Interessanterweise entschied sich einer der transnational mobiles, der zum Zeitpunkt des Interviews im deutschsprachigen Raum lebte und mit einer deutschsprachigen Frau verheiratet ist, für Deutsch als Sprache, die er sehr gern hat. Englisch, die er für sich als Arbeitssprache klassifiziert, schließt er aus. Seine Gefühlssprache ist Französisch, obwohl er aus der Türkei stammt und dort seine frühe Kindheit verbracht hat. In der Gegenwart beherrscht er die türkische Sprache jedoch ebenso wenig wie die Interviewerin die französische. Dem Erzählen der eigenen Lebensgeschichte in einer Fremd- oder Zweitsprache sind gleichermaßen Grenzen gesetzt wie der Interpretation fremdsprachlicher Transkripte, die zudem differente kulturelle Kontexte dokumentieren.

Hierbei stellen sich Fragen der Sprachkompetenz wie auch der Sprachverwendung und den damit einhergehenden kontextuellen Bedeutungen. Sowohl für die Forschenden als auch die Befragten sind mehrdimensionale Übersetzungsleistungen sprachlicher und inhaltlicher, d. h. kultureller und sozialer Art notwendig. Dabei weisen Kruse et al. (2012, S. 10) darauf hin, dass Übersetzungs- und Interpretationsprozesse immer ein kulturelles Wissen voraussetzen, da jede Sprache und jede Sprachkultur, auch die einer Subkultur, eines bestimmten Milieus oder einer Generation, mit demselben Begriff etwas anderes verbindet. Die Methoden der qualitativen Sozialforschung bieten ihnen zufolge einen heterogenen „Werkzeugkoffer“, um „fremden“ Sinn zu rekonstruieren und jene Kontexte nachzuvollziehen, die die Bedeutung einer Äußerung oder Handlung ausmachen (ebd., S. 11). Die fremdsprachliche und fremdkontextuelle Erzähldarstellung kann neben den Schwierigkeiten auch einen produktiven Beitrag zur wechselseitigen Verständnissicherung leisten, indem Worte, Bedeutungszusammenhänge und Kontexte von den InterviewpartnerInnen stärker erklärt und explizit gemacht werden (müssten). Wie Jorgensen (2004, S. 163) und Krumm (2010) ausführen, sind Sprechende in der Regel darum bemüht, alle ihnen zur Verfügung stehenden linguistischen Mittel zu gebrauchen, um ihr kommunikatives Ziel zu erreichen und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen Sprachkompetenz. Damit sollen keineswegs die mit dem Fremdsprachenkontext verbundenen Schwierigkeiten und Grenzen biographischen Erzählens und Interpretierens negiert werden. Jedoch entsprechen diese den gewohnten alltagsweltlichen Wirklichkeiten und Herausforderungen der transnational mobiles, sodass der Umgang mit ihnen in der Auswertung auch produktiv als Anzeichen ihrer transnationalen und interkulturellen Kommunikations- und Reflexionsdispositionen herangezogen werden kann.

6 „Transnational mobiles“ – Der Fall einer „Lonely Rider“

Die Biographieträgerin dieser Fallrekonstruktion wird als „Lonely Rider“ bezeichnet, da sich bei ihr eine, in weiten Teilen, individualistische transnationale Karriere abzeichnet. Die weiterführende Migration wird in der Regel von ihren eigenen Beweggründen vorangetrieben wird, sodass sie am Ende selbst thematisiert und bilanziert, dass sie die mit der transnationalen Karriere verbundenen Anstrengungen allein auf sich nimmt und bewältigen muss. Darüber steht die Bezeichnung in keinerlei Beziehung zur Qualität ihrer lokalen und transnationalen Beziehungen und Netzwerke.

Die biographieanalytische Untersuchung der transnational mobiles nimmt die sozialen und biographischen Erfahrungshintergründe von weiterziehenden MigrantInnen in den Blick. Sie fragt nach den Einstiegswegen und Verläufen ihrer transnationalen Karrieren. Welche Motivationen, Bedingungen und Konstellationen lassen sich beobachten? Worin bestehen die Gewinne und Schwierigkeiten aus der Selbst- und Fremdperspektive? Welche spezifischen Sozialisations- und Lernprozesse sind mit den transnationalen Biographien verbunden? Inwieweit bilden sich transnationale oder kosmopolitische Habitus- oder Identitätsformationen heraus?

Zur zumindest partiellen Beantwortung dieser Fragen soll im Folgenden die transnationale Karriere einer „Lonely Rider“ rekonstruiert werden. Nach der Darstellung ihrer transnationalen biographischen Ereignis- und Erfahrungsaufschichtung wird die Transnationalität ihrer Lebenswelt und ihrer Selbstverortung in den Blick genommen. Die 38-jährige Claire, die zum Zeitpunkt unseres Interviews bereits seit zwölf Jahren in Europa lebt, ist im Unterschied zu ihren zwei älteren Geschwistern in den USA geboren und aufgewachsen.Footnote 9 Sie hat in verschiedenen ost- und westeuropäischen Staaten in nationalen sowie internationalen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen gearbeitet. Die Struktur ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung orientiert sich, wie bei allen anderen befragten transnational mobiles, an den verschiedenen Stationen ihrer transnationalen Biographie. Claire wächst bereits in einer transnationalen Familie auf. Ihre Mutter stammt aus dem französischsprachigen Teil Kanadas, während ihr Vater als junger Erwachsener aus politischen Gründen aus der Tschechischen Republik nach Kanada geflüchtet ist. In einem biographietheoretischen Kommentar zu Beginn des Interviews – welcher als Prolog und Kondensat ihrer biographischen Erzählung verstanden werden kann – begründet Claire ihr persönliches Interesse an europäischer Geschichte und Kultur sowie an Sprachen mit jenem transnationalen und transkulturellen Familienhintergrund. Ihre Lebenswelt ist von Kindheit an durch die „natürliche“ Präsenz einer kulturellen und bis zu einem gewissen Grad auch sprachlichen Vielfalt geprägt. Obgleich sie aus elterlicher Sorge um ihre amerikanische Sozialisation und Integration primär englischsprachig aufwächst, sind ihr französische Musik, Literatur und Ausdrücke über die habituellen Gewohnheiten ihrer Mutter dennoch gegenwärtig. An ihrem Geburtsort besucht Claire gemeinsam mit ihren Geschwistern eine katholische Schule. Interessanterweise kategorisiert sie rückblickend sowohl ihre Familie als auch den Ort ihrer Kindheit, ungeachtet der von ihr beschriebenen nationalen und kulturellen Heterogenität, als klein. Dies ließe sich zum einen damit erklären, dass die dominante katholische Religionszugehörigkeit von ihr als einigendes, übergreifendes und integrierendes Ordnungsmuster der diversen Nachbarschaften und Schulgemeinschaften erlebt worden ist. Zum anderen mag sie die Familiengröße ihrer irisch-katholischen MitschülerInnen und NachbarInnen als kulturell bedingten, kognitiven Referenzrahmen heranziehen. Darüber hinaus könnte sie auch auf die fehlende Gegenwart einer weiterreichenden Verwandtschaft rekurrieren, da ihre Mutter als Waise bei ihrem Onkel und ihrer Tante aufgewachsen ist und die Familie ihres Vaters infolge der geographischen, insbesondere aber auch politischen Distanz zu den damaligen Ostblock-Staaten abgeschnitten ist.

Den allerersten biographischen Einschnitt, der sich auch in der Erzählstruktur widerspiegelt, erfährt Claire in ihrer frühen Jugendzeit, als ihre Eltern aus beruflichen Gründen aus dem Süden der USA in den Norden ziehen. Der Beginn ihrer persönlichen Mobilitätsgeschichte geht für die Befragte nicht nur mit einem Ortwechsel, sondern auch mit einer Veränderung ihres schulischen und sozialen Kontextes einher, da sie nicht länger auf eine katholische, sondern von da an auf die öffentliche Schule geht. Die biographische relevante Veränderung kommt in der lebensgeschichtlichen Erzählung in Form einer Gegensatzanordnung zum Ausdruck, in welcher Claire die kleine, als homogen erlebte Lebenswelt ihrer Kindheit mit der nationalen und religiösen Vielfalt ihrer jugendlichen Umwelt kontrastiert. Dieses erste, noch nationale Migrationserlebnis wird von dem erzählten wie auch dem erzählenden Ich als ambivalent, d. h. einerseits als bereichernde, andererseits als schwierige Erfahrung bilanziert.

Nach dem Schulabschluss nimmt die Biographieträgerin ein Bachelorstudium auf, in dem sie sich der russischen Sprache sowie der osteuropäischen Kultur, Politik und Ökonomie widmet. Ihr starkes Interesse an Osteuropa begründet sie selbst auf der individuell-biographischen als auch auf der historisch-gesellschaftlichen Ebene, indem sie einerseits auf die Lebensgeschichte ihres Vaters und die durch die politische Situation des Kalten Krieges bedingte Nichtpräsenz (s)eines Teils der Familie verweist und andererseits die damalige politische Spannung zwischen den Ost- und Westblockstaaten und die damit verbundene Trennung von der kommunistischen Welt anführt. Das gesellschaftlich konstruierte Feindbild weckt ihre Neugier und Wissbegierde, jenseits der persönlichen familialen Verbindung.

Auch während ihres anschließenden Masterstudiums behält Claire ihren Osteuropa-Fokus bei und kann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zum ersten Mal ins „richtige“ Ausland reisen. Die mehrfachen Familienbesuche in Kanada werden von ihr nicht als im sozial-kulturellen Sinne grenzüberschreitend betrachtet. Sie sind ihr in der lebensgeschichtlichen Erzählung gar nicht der Rede wert. Im Gegensatz zu ihrem studienbezogenen Aufenthalt in Russland sowie ihrem längeren Ferienaufenthalt im Herkunftsland ihres Vaters, wo sie sich aus eigener Initiative eine private Tschechischlehrerin sucht, um die für sie familienbiographisch relevante Fremdsprache zu erlernen.

Nach Beendigung des Studiums zieht Claire nach Washington, D.C., ins politische Zentrum der USA, um ihr intentionales Handlungsschema eines beruflichen Engagements in einer zivilgesellschaftlichen Organisation realisieren zu können. Während ihrer mehrjährigen Berufseinstiegsphase, die über ehrenamtliche Tätigkeiten schließlich zu Anstellungen in verschiedenen NGOs führt, kommt Claire in den Genuss kurzfristiger Projektaufenthalte in Osteuropa. Der erste Trainingseinsatz erfolgt zufällig in der Region, in der ihr Vater vor seiner Emigration nach Kanada als politischer Gefangener inhaftiert war. Dieses Ereignis löst bei der Biographieträgerin ein Gespür für die globale Verbundenheit sowie für Versöhnungsprozesse im Kontext politischer Veränderungen aus.

Im weiteren Verlauf ihrer beruflichen Tätigkeit reichen ihr jedoch die temporären Auslandsaufenthalte nicht mehr aus, sodass sie nach einer längerfristigen bzw. dauerhaften Arbeitsmöglichkeit im osteuropäischen Raum zu suchen beginnt. Ihre Bemühungen tragen Früchte, als ihr eine Position bei einer internationalen Organisation in Ungarn angeboten wird. Mit freudiger Erwartung nimmt Claire die Stelle an und baut sich in den vier Jahren, die sie in der ungarischen Hauptstadt verbringt, ein heterogenes soziales Netzwerk aus lokalen und internationalen ArbeitskollegInnen und FreundInnen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und beruflichen Kreisen auf. Zudem lernt sie ihren ungarischen Lebenspartner Janos kennen, vertieft ihre Sprachkenntnisse und führt ein komfortables, verwurzeltes und integriertes Leben. Gleichwohl nimmt sie am Ende ihrer Anstellungszeit das Arbeitsangebot einer zivilgesellschaftlichen Organisation in Dänemark an, wohin sie Janos begleitet.

Während ihres dreijährigen Aufenthalts in Dänemark ist Claire mit unerwarteten Schwierigkeiten konfrontiert. Die von ihr als geschlossen empfundene Gesellschaft sowie die von ihr beschriebenen kulturellen Differenzen zwischen der ausgeprägten kollektivistischen Orientierung ihres ArbeitskollegInnenkreises und ihrem eigenen sozialisierten amerikanischen Individualismus befremden sie. Zu ihrem Bedauern beschränken sich ihre lokalen Sozialbeziehungen auf internationale KollegInnen sowie DänInnen mit Auslandserfahrungen oder ausländischen PartnerInnen. Zudem gestaltet sich auch ihr Privatleben problematisch, da es ihrem Partner aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen unvorhergesehenerweise nicht gelingt, eine Arbeitsgenehmigung zu erhalten und sich sozial zu integrieren. Vor diesem Hintergrund geraten ihre Ambitionen, in der Freizeit einerseits Dänisch zu lernen, andererseits möglichst Zeit viel mit Janos zu verbringen, in Konflikt. Die geringen Fortschritte beim Spracherwerb begünstigen und verstärken ihre persönlichen, teilweise schmerzhaften Exklusionserfahrungen. Unter diesen Bedingungen beschließen sie in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess, Dänemark zu verlassen und nach Irland zu gehen, wo für beide Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt bestehen und ihr Partner zudem seine englischen Sprachkenntnisse zu verbessern erhofft.

In Irland verbringt das Paar zwei Jahre. Die Biographieträgerin ist bei einer NGO tätig und fühlt sich in das gesellschaftliche und soziale Leben vor Ort gut integriert. Sie genießt die Offenheit der After-Work-Pub-Kultur und ist im Gegensatz zu Dänemark mit keinerlei sprachlichen Problemen konfrontiert. Ungeachtet dessen bewirbt sie sich um eine gute Position bei einer internationalen Organisation in der Schweiz und diskutiert im Verlauf des langwierigen Bewerbungsverfahrens den möglichen Orts- und Länderwechsel mit ihrem Partner. Jedoch kommt es aufgrund bestehender Beziehungsschwierigkeiten, die sie auch zwischenzeitlich in Irland nicht lösen konnten, zur Trennung. Dieses Auseinandergehen stellt für Claire eine sehr schmerzhafte Erfahrung dar, die ihr auch während der Erzählung im Interview noch anzumerken ist.

Nach einem positiven Ausgang des Bewerbungsprozesses zieht sie, entgegen ihrer ursprünglichen Erwartungen, allein in die Schweiz, um ihre berufliche Karriere dort weiterzuverfolgen. Bei diesem Länderwechsel beginnt sie, sich zum ersten Mal über sich selbst zu wundern und sich zu fragen, wieso sie sich erneut einer solchen Herausforderung stellt. Auf ihre bisherige transnationale Karriere zurückblickend, charakterisiert die Biographieträgerin ihre verschiedenen Lebensstationen in Europa als überwiegend arbeitsbezogenes Wandern. Im Hinblick auf die Zukunft äußert Claire den Wunsch, weiterhin zu reisen, um andere Länder und Kulturen kennenzulernen. Gleichzeitig bringt sie aber auch ihr erworbenes europäisches „Heimatgefühl“ und den Plan, ihre transnationale Mobilität auf diesen Raum zu beschränken, zum Ausdruck.

Im Anschluss an die skizzenhafte Rekonstruktion dieser transnationalen Lebensgeschichte lässt sich fragen, welche zentralen Zusammenhänge und Kategorien der weiterführenden Migration hier zutage treten? Wie gestaltet sich die transnationale Lebenspraxis der Biographieträgerin? Welche Bezüge nimmt sie bei der Konstruktion ihrer kollektiven Identität vor? Als biographische Hintergründe und Sinnquellen der transnationalen Mobilität wirken in diesem Fall der Migrationshintergrund der Eltern, das damit verbundene Aufwachsen in einer transnationalen Familie sowie eigene Mobilitätserfahrungen im Jugendalter, die mit dem Erleben einer größeren nationalen und religiösen Diversität verbunden sind. Infolge ihres transnationalen Familienhintergrunds entwickelt die Biographieträgerin ein Bewusstsein und Interesse für andere Sprachen und Kulturen. Im Jugendalter beginnt sie aus eigener Initiative mit dem Erlernen verschiedener Fremdsprachen. Hierbei bilden sowohl das Bedürfnis der Erschließung ihrer familialen Wurzeln als auch die Gestaltung von sozialen Beziehungen, in denen eine Verbindung zwischen unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Kontexten hergestellt wird, die zentralen Beweggründe und Motive. Die Herkunft ihrer Mutter motiviert sie zum Französischlernen, die Migrationsgeschichte ihres Vaters und das amerikanische Feindbild Russlands begründen ihre Hinwendung zur russischen und tschechischen Sprache und Kultur und aufgrund einer romantischen Jugendbeziehung eignet sie sich obendrein Deutsch an. Jene biographischen Basispositionen einer kosmopolitischen Offenheit und Neugier wirken sich in ihrer transnationalen Karriere nicht nur als Motoren, sondern auch als Ressourcen aus. In der Darstellung der verschiedenen Stationen ihrer transnationalen Mobilität kommt eine ethnographische Sensibilität, ein Gefühl für die kulturellen Unterschiede und Differenzen zum Ausdruck. Infolge der wiederholten Migration hat sie den Umgang mit nationaler und kultureller Heterogenität habitualisiert. Zudem verfügt sie über eine ausgeprägte soziale Adaptionsfähigkeit, die sie allerdings nicht durchgängig vor misslichen Fremdheitserfahrungen bewahrt. Im Kontext von subjektiven wahrgenommenen und erlittenen Exklusionserlebnissen läuft die kosmopolitisch sozialisierte Biographieträgerin singulär Gefahr, der kognitiven Fehlleistung in Form einer Überabstraktion und (negativen) kollektiven Stereotypisierung zu erliegen. Hierin mögen sich die Grenzen des „going native“ und des permanenten interkulturellen Verständnisses und Reflexionsvermögens im Rahmen einer solch ebenso extensiven wie intensiven transnationalen Mobilität abzeichnen.

Die Transnationalität ihrer alltäglichen Lebenswelt beruht auf einem transnationalen sozialen Netzwerk, welches die Familie, den Partner sowie Freunde und frühere ArbeitskollegInnen umfasst. Das engere transnationale Familiennetzwerk spannt sich zwischen den in den USA lebenden Eltern und ihrem Bruder, der in Kanada geborenen und dorthin zurückgekehrten Schwester und dem jeweiligen Aufenthaltsland der Biographieträgerin auf. Interessanterweise scheint für sie die Kategorie des Nationalstaats infolge der transnationalen Mobilität an Bedeutung zu verlieren und sie zieht anstelle dessen die geographische Distanz als bedeutsamere und die soziale Kommunikation und Interaktion bestimmendere Größe heran. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass sie hinsichtlich ihrer ersten Station in Europa bemerkt, dass sie dort von ihren Eltern genauso weit entfernt ist wie ihr Bruder, der seinen Lebensmittelpunkt an die Westküste der USA verlagert hat. Claire wendet viel Zeit und Energie für die Aufrechterhaltung und Pflege von einst lokal entstandenen Beziehungen auf, die sich im Zuge ihrer wiederholten Migration nunmehr grenzüberschreitend gestalten. Trotz ihrer frischen binationalen und transnationalen Partnerschaft hält sie sich jedes zweite Wochenende und auch Ferientage frei, um sich mit ihren FreundInnen zu treffen, d. h. sie entweder zu sich einzuladen, sie zu besuchen oder auch gemeinsame Reisen zu unternehmen. Darüber hinaus werden wichtige Ereignisse und Feiern zum Anlass genommen, um miteinander Zeit zu verbringen und sich jenseits von technischen Kommunikationsmöglichkeiten auszutauschen. Ebenso dienen Dienstreisen dazu, private Kontakte zu aktivieren, die vor Ort bestehen oder bei denen sich dort eine Zusammenkunft arrangieren lässt. Aufgrund des zeitlichen und räumlichen Koordinationsaufwands können Face-to-Face-Begegnungen seltener realisiert werden als bei lokal verorteten Beziehungen. Dies ist für andere transnational mobiles selbstverständlich, kann aber bei Personen mit überwiegend lokalen, regionalen oder nationalen sozialen Netzwerken auf Verständnis- und Akzeptanzprobleme stoßen. Bei der Biographieträgerin deuten sich infolge der Erwartungshaltung ihrer „sesshaften“ BekanntInnen und FreundInnen latente Schwierigkeiten an.

Nicht nur im Hinblick auf die Beziehungsgestaltung, auch bezüglich des Zugehörigkeitsgefühls hinterlässt die transnationale Biographie Spuren. Die Identitätsfrage stellt für Claire insofern keine einfache Frage dar, als dass sowohl der familiale Migrationshintergrund als auch die eigene transnationale Karriere verschiedene potentielle Ankerpunkte darbieten:

It’s been difficult for me cause since my mother is French Canadian and my father is Czech.

Zu den multiplen Identitätsbezügen gesellen sich differente Fremdzuschreibungen, in denen sie teilweise als Amerikanerin, teilweise als Europäerin betrachtet wird:

This is also funny how people react to this, because some people have always seen me as American and some people would see me, even when I first came to Europe they would see me as European. They would say: Okay your mother is French your father is Czech you understand these different languages.

Auf jene divergierenden Identitätsbestimmungen ihrer InteraktionspartnerInnen reagiert die Biographieträgerin mit einer diskursiven Haltung hinsichtlich der herangezogenen Bestimmungsmerkmale in Form von nationaler Herkunft (der Eltern) und Sprachkenntnissen:

And I say: Well, what is it based on. O.k., if it’s my parents or my heritage this is European, if it’s languages it’s European. Most of my work and my studies were all in Europe, but at the same time I’m not European. I mean, I’m not Czech in the sense, I wasn’t born in Czech Republic, I don’t speak Czech fluently, my Czech is even tourist level, it’s very bad. So I find it interesting to discuss that with people how they see identity.

In ihrem eigenen Selbstbild bleibt die Frage der Zugehörigkeit und kollektiven Identität offen. Stattdessen findet eine Verlagerung und Kanalisierung auf die Ebene von kosmopolitischen Werten und Ethiken, z. B. in Form von humanitärem und umweltbewusstem Handeln, statt:

I think it’s more important your kind of principles or norms that you bring to life and, and really how you live it, not only what you say.

Das Erleben und Bewältigen ihrer transnationalen Lebenswelt führt zu Momenten, die von einer ambivalenten Spannung von gleichzeitiger Nähe und Distanz gekennzeichnet sind. Bei einer Hochzeitsfeier von FreundInnen, die im Herkunftsland ihres Vaters stattfindet, beschreibt die Biographieträgerin beispielsweise die Widersprüchlichkeit des von ihr gewünschten und geteilten Zugehörigkeitssinns einerseits und dem Gespür ihrer Unterschiedlichkeit und Differenz andererseits als „something bittersweet“. In der Verarbeitung und Reflexion dieses Ereignisses wird ihr bewusst, dass jenes Gefühl von Fremdheit bzw. Andersartigkeit eine wesentliche Grundlage ihrer Identität und Individualität bildet.

Was Claire mit vielen transnational mobiles teilt, ist die Disposition und das Empfinden „between places“ and „never fully settled“ zu sein. Vor diesem Hintergrund und in Verbindung mit ihrer Adaptionsfähigkeit und -gewohnheit, fühlt sie sich überall und nirgends zugehörig:

I feel like I adapt very easily. But you also never feel fully settled. And then you start to feel like I could live anywhere and I don’t belong. I belong anywhere or I don’t belong anywhere and this is really – it’s the most positive and the most negative feel – result of this lifestyle.

Diese mit positiven und negativen Aspekten einhergehende kosmopolitische Verortung führt sie als Folge ihrer transnationalen Lebensweise an. Das Zuhause sein in der Welt geht auf Kosten der natürlichen und unhinterfragten, doxischen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort bzw. einem bestimmten Land. Im Verlauf ihrer transnationalen Karriere und Biographie hat Claire eine kosmopolitische Identität entwickelt, die kaum mehr Raum für eine nationale Identifikationsform lässt.

Dass transnationalen Lebensverläufe nicht gemeinhin zu kosmopolitischen Identitätskonstruktionen führen, zeigt der Vergleich mit anderen Fällen. Vielmehr lässt sich bei den transnational mobiles eine Spannbreite von mehr oder weniger stark ausgeprägten nationalen, über supranationale, bis hin zu kosmopolitischen Selbstverständnissen beobachten. Auf Grundlage des bisherigen Untersuchungssamples deutet sich an, dass, je früher die transnationalen Karrieren und Biographien ihren Anfang nehmen und je komplexer und weitreichender sie gestaltet sind, desto wahrscheinlicher scheint die Herausbildung kosmopolitischer Identitätsformationen zu sein. Hier zeigen sich Differenzen zwischen einem bereits im Kindes- und Jugendalter einsozialisierten Kosmopolitismus von „Third Culture Kids“ (TCKs) und „Cross Culture Kids“ (CCKs) (Pollock und Van Reken 2009) beispielsweise und einer rein berufs- und karrierebedingten mehr oder weniger strategischen transnationalen Mobilität im Erwachsenenalter. Jedoch treten auch bei transnational mobiles mit nationalen Identitätskonstruktionen ethisch-moralische oder kulturell-ästhetische Elemente und Formen des Kosmopolitismus zutage. Die expliziten kosmopolitischen Äußerungsformen beruhen allerdings auf einer Selbstdarstellung und Identifizierung als „Internationale“ bzw. „Internationaler“ oder auf einer Zurückweisung der Relevanz von nationalen Kategorien und Verortungen. Multiple Identitätsbezüge und identitätsbezogene Such- und Reflexionsprozesse bilden einen typischen Hintergrund für kosmopolitische Verortungen und Selbsttransformationen.

7 Zusammenfassung und Ausblick: die bisherige und weitere Reise mit den „transnational mobiles“

Transnational mobiles stellen eine besondere Migrationsgruppe dar, welcher in der Forschung bis jetzt nur begrenzte Aufmerksamkeit geschenkt wurde, obwohl sie sowohl im Hinblick auf die Migrations- und Gesellschaftstheorie als auch -emperie bedeutsam ist und deren Untersuchung zur Formulierung und Beantwortung aktueller Forschungsfragen beitragen kann. Allerdings bilden die für die transnational mobiles charakteristischen wiederholten Migrationsbewegungen für die empirische Forschung, insbesondere für quantitative Studien, eine besondere Herausforderung, die sich nicht nur auf die aktuelle Datenlage beschränkt. Mit den qualitativen, rekonstruktiven Methoden, insbesondere dem prozessorientierten autobiographisch-narrativen Interview, lassen sich transnationale Karrieren und Biographien als zusammenhängende Geschichten erfassen und deren individuelle und kollektive Hintergründe und Verläufe angemessen rekonstruieren. Die vorläufigen Ergebnisse der Untersuchung verweisen auf eine Vielfalt an sozialen und biographischen Erfahrungshintergründen, Motivationen sowie Transnationalisierungs- und Kosmopolitisierungsprozessen. In der hier vorgestellten Fallanalyse wird ein Typus von transnational mobiles verkörpert, bei dem die transnationale Mobilität durch vorherige transnationale Familienstrukturen, damit einhergehende transkulturelle Sozialisationsprozesse sowie frühe Mobilitätserfahrungen bedingt ist, und zu einer kosmopolitischen Identitätskonstruktion führt. Latente „Entwurzelungsprozesse“ in Form von frühen Mobilitäts- und Migrationserfahrungen sowie Marginalisierungserlebnissen scheinen ebenso für transnationale Lebensverläufe zu prädestinieren wie die Sozialisation in einem national und kulturell heterogenen Umfeld, sei es auf familialer, institutioneller oder regionaler Ebene. Andererseits spielen auch berufliche Aufstiegs- und Karriereorientierungen, gesellschaftliche Transformationen, sozioökonomisch nachteilige Bedingungen im Herkunftsland sowie das Eingehen von binationalen Partnerschaften oder ein/e Partner/in mit internationalen Arbeitsambitionen eine ausschlaggebende Rolle für ursprüngliche und weiterführende grenzüberschreibende Migrationsprozesse. Wie die Studie weiter zeigt, ziehen transnationale Lebenswege, unabhängig von den ursprünglichen Plänen oder Motiven, in der Regel eine Offenheit für weitere und zukünftige Migrationen nach sich. Auch binationale oder transnationale Partnerschaften gehören zu den Auswirkungen der mehrfachen grenzüberschreitenden Mobilitätsbewegungen. Im Hinblick auf die kollektive Identität lässt sich unter den transnational mobiles aber eine Bandbreite an mehr oder weniger stark ausgeprägten nationalen, europäischen und kosmopolitischen Identitätsbezügen ausmachen, die abhängig von der Reichweite, Intensität und dem Zeitpunkt der ersten Migrationserfahrungen sind. Vor allem in den Fällen mit Migrationserfahrungen und transnationaler oder transkultureller Sozialisation im Kindes- und Jugendalter zeichnet sich eine Reflexivierung und Denaturalisierung des nationalen Zugehörigkeitsgefühls ab, die mit multiplen Identifikationen, teilweise auch Identitätsdiffusionen, und/oder einem kosmopolitischen Selbstverständnis einhergehen. Jedoch bedingen die transnationalen Biographien nicht grundsätzlich eine postnationale, supranationale oder kosmopolitische kollektive Selbstverortung der transnational mobiles, vor allem wenn sie sich im Kontext einer strategischen beruflichen Karriereorientierung vollziehen, im Erwachsenenalter aufgenommen werden und/oder das Herkunftsland in negativer Hinsicht von globalen Ungleichheiten betroffen ist oder aus mit Marginalisierungs- oder Stigmatisierungserfahrungen verbunden ist. In der zukünftigen Untersuchung soll dieser Wechselwirkungszusammenhang weiter analysiert und ferner das Spektrum des Untersuchungssamples hinsichtlich der geographischen und nationalen Herkunft, dem Bildungshintergrund und den Berufsfeldern der transnational mobiles sowie der Richtung ihrer transnationalen Bewegungen erweitert werden. Darüber hinaus könnten sowohl ethnographische Untersuchungen zu ihrem transnationalen oder kosmopolitischen Habitus als auch gezielte quantitative Datenerhebungen und -analysen zu ihren sozialen und biographischen Hintergründen, Migrationsverläufen und kollektiven Zugehörigkeitsgefühlen aufschlussreich sein.