1 Vormerkung

Innerhalb des inzwischen weit ausdifferenzierten Spektrums der technischen Bildmedien stellt die Fotografie, obschon die älteste Apparatetechnik, einen herausragenden Untersuchungsgegenstand für die visuelle Wissenssoziologie dar. Grund hierfür ist neben ihrer ungebrochenen, durch die neuen Technologien zur Herstellung und Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung sogar noch gesteigerten Anzahl und Erscheinungsvielfalt im modernen Alltag, vor allem ihre besondere symbolische Qualität. Denn zum einen fixieren fotografische Einzelbilder Wahrnehmungen, Lebensäußerungen, Handlungen und soziale Situationen technisch vermittelt in der visuell höchst erreichbaren Verdichtung von Raum und Zeit. Zum anderen findet die sozialwissenschaftliche Interpretation von technisch auf der Fotografie aufbauenden visuellen Daten, wie Filmen oder Web 2.0-Darstellungen, ihren analytischen Ausgangspunkt in der Auslegung und Deutung von Einzelbildern: Weil das Einzelbild fixiert (ist), lässt sich die Aufmerksamkeit der Interpreten an ihm fixieren.

Der hier vorgeschlagene Ansatz zu einer visuellen Wissenssoziologie der Fotografie wird in zwei Schritten hergeleitet und begründet, bevor ihn ein Fallbeispiel exemplifiziert. Den Einstieg bildet eine Diskussion von für die visuelle Soziologie insgesamt inzwischen kanonischen Grundpositionen: die diametral einander gegenüberstehenden erkenntnistheoretischen Ansätze und methodischen Zugänge zur Fotografie bei Roland Barthes und Pierre Bourdieu und die für eine empirisch verfahrende visuelle Soziologie nicht minder bedeutsamen und gleichfalls einen augenfälligen Kontrast zueinander bildenden bildtheoretischen und bildanalytischen Konzeptionen der Kunsthistoriker Erwin Panofsky und Max Imdahl. Auf das aus der Zusammenschau der Positionen hervortretende Spannungsfeld stützt sich die erste Begründung des hier vorgestellten Ansatzes (Abschn. 2).

Die zweite Begründung ist ein Effekt zweier verbreiteter Kritikpunkte an der hermeneutischen Wissenssoziologie und der Sequenzanalyse als ihrem methodischen Verfahren. Erstens fokussiere die Analyse einzig auf Einzelbilder, mache sie als Einzelfälle zum alleinigen Bezugspunkt der Interpretation und versuche deren Sinnstrukturen zu rekonstruieren, vernachlässige aber oder ignoriere gar die sozialen Praktiken der Bildproduktion, die Verwendungszusammenhänge der Bilder und ihre möglicherweise persuasiven Wirkungen. Zweitens lasse sich das von der hermeneutischen Wissenssoziologie für die Auslegung von Sprache und Text erarbeitete Verfahren der Sequenzanalyse nicht auf die Interpretation von Bildern als einer von Sprache und Text verschiedenen symbolischen Form anwenden. Die erste Kritik gibt Anstoß zum Abbau eines Missverständnisses, die zweite regt an zu einer vertieften Methodologie- und Methodendiskussion. Beide greift der vorliegende Beitrag auf durch Einbezug des für die Wissenssoziologie im Allgemeinen und für die visuelle Wissenssoziologie der Fotografie im Besonderen äußerst bedeutsamen, bislang allerdings allenfalls implizit berücksichtigten Konzepts des ‚Rahmens‘, indem er Erving Goffmans erkenntnistheoretische und methodologische Metapher für die sozialwissenschaftliche Analysearbeit zwischen Einzelbild, Bildkontexten und Sozialmilieu explizit macht (Abschn. 3). Anhand eines der aktuellen medialen Alltagskommunikation entnommenen Fallbeispiels werden die bis an diese Stelle vorangetriebenen Überlegungen veranschaulicht und empirisch erprobt (Abschn. 4), bevor ein Resümee die Argumentationen und Ergebnisse nochmals verdichtet und aufeinander bezieht (Abschn. 5).

2 Das Einzelbild im Spannungsfeld theoretischer Ansätze und interpretativer Zugänge

2.1 Phänomenologie und objektive Soziologie

Mit der Erfindung der Fotografie entsteht für Roland Barthes „ein neuer Typus von Bild, ein neues ikonisches Phänomen, das vollständig neu, anthropologisch neu ist“ (Barthes2002, S. 85). Seine vornehmlich in „Die helle Kammer“ geführte Auseinandersetzung mit dem revolutionären Medium will das anthropologisch Andere, Besondere und Eigentliche der Fotografie, ihr Wesen, aufhellen und „unbedingt wissen, was sie ‚an sich‘ war, durch welches Wesensmerkmal sie sich von der Gemeinschaft der Bilder unterschied“ (Barthes1985, S. 11). Die phänomenologische Wesensschau führt Barthes zu seiner berühmten Unterscheidung vonstudium undpunctum.

Dasstudium stützt sich auf das kulturelle und soziale Wissen um Formen, Figuren, Konventionen und Stile, um Mienen, Gesten, Haltungen und Handlungen, die in so gut wie jeder Fotografie wiedererkannt und sprachlich objektiviert werden können, durch Kommunikation soziale Bedeutung stiften und intersubjektives Verstehen ermöglichen. Während sich die Feststellungen desstudiums auf eine alltägliche Haltung gründen, wie sie gegenüber den allermeisten Fotografien eingenommen wird, ragen aus der Masse der Bilder einige wenige heraus, um die allein es Barthes getan ist, weil sie ihn beunruhigen, reizen, betroffen machen. In solchen Fotografien verweben und verdichten sich die Gegensätze von Präsenz und Entzug und das Wesen der Fotografie, „das Noema des ‚Es-ist-so-gewesen‘“ wird offenbar (Barthes1985, S. 87). Fotografien, die diese Erfahrung blitzartig auslösen, verfügen über einpunctum. Dabei kann das die Erfahrung anstimmende und wachhaltendepunctum ein einziges Detail des Abgebildeten sein, oder aber das Bild ist „geradezu übersät (…) von diesen empfindlichen Stellen“, und darüber hinaus „gibt es noch eine andere Expansion despunctum: wenn es paradoxerweise die ganze Photographie einnimmt und dabei doch ein ‚Detail‘ bleibt“ (ebd., S. 36, 50 ff.).

Allerdings ist mit diesen ‚Bestimmungen‘ die paradoxe Struktur despunctum noch nicht erschöpft. Denn einerseits hat daspunctum seinen Ursprung und Anlass im gegebenen Bild. Es bezeichnet jenen Ausgangsort und Angelpunkt, der sich aus den methodisch zunächst einzuklammernden Aspekten desstudiums, wie Komposition und Gegenstandsarrangement, erst konstituiert, und dem dann die besondere Bedeutung des Einzelbildes entspringt, wenn „das Element (…) wie ein Pfeil aus demZusammenhang heraus [schießt], um mich zu durchbohren“ (1985, S. 35, Hervorhebung J. R.). Formulierungen wie diese betonen erstens das unauflösliche Ineinandergreifen vonstudium undpunctum, das Barthes denn auch als die eigentlich epistemologische Herausforderung erkennt; und sie supponieren zweitens die eindeutige Identifizierbarkeit despunctum, suggerieren, die Modi seiner Wahrnehmung ließen sich verallgemeinern und seine Erfahrung konkret benennen. Andererseits bleibt daspunctum aber eine Leerstelle und die Fotografie letztlich eine „Botschaft ohne Code“ (Barthes1990, S. 13). Wenn Barthes deshalb folgert, „um daspunctum wahrzunehmen, wäre mir (…) keine Analyse dienlich“ (Barthes1985, S. 52), so durchbricht er die selbstauferlegte Interpretationssperre doch sogleich mit dem Hinweis, dass seine Phänomenologie der Fotografie „nur die Analyse einer Fotographie als Originalstruktur sein kann“, die darüber hinaus noch „vor der soziologischen Analyse ansetzt“ (Barthes1990, S. 12).

Barthes’ Erwähnung der soziologischen Analyse und seine Abstandnahme zu ihr markieren eine explizite Gegenposition zu Pierre Bourdieus Untersuchungen über die Amateurfotografie (Barthes1985, S. 15). In „Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie“ gelingt es Bourdieu, die relativ triviale Erkenntnis, dass auch technisch erzeugte Bilder Interpretationen von Wirklichkeit sind, um die Einsicht zu ergänzen, dass diese Interpretationen regelgeleitet stattfinden und Fotografien typisierte Wahrnehmungen sind, in denen sich die symbolischen Ordnungen einer sozialen Wirklichkeit dokumentieren. Anlass, Ort, Zeit, Umfang, Intensität, technische Ausstattung, die Entscheidungen für Objekte sowie deren Einpassungen ins Bild, ja die bilderzeugende Praxis insgesamt, unterliegen einem sozialen Reglement, „so dass noch die unbedeutendste Fotographie neben den expliziten Intentionen ihres Produzenten das System der Schemata des Denkens, der Wahrnehmung und der Vorlieben zum Ausdruck bringt, die einer Gruppe gemeinsam ist“ – ihren Habitus (Bourdieu et al.2006, S. 17).

Wenn Bourdieu noch zu Beginn seiner Studie die Kompositionsprinzipien der Amateuraufnahmen (Mittigkeit, Symmetrie, Frontalität etc.) auf Grundlage einer materialen Sichtung beschreibt, rückt er in deren weiterem Verlauf zunehmend von den konkreten Fotografien ab, nur um zu zeigen, dass sich die Analyse des Einzelbildes und dessen Sinn und Bedeutung konstituierender Bauform für die „objektive Soziologie“ ebenso erübrigt (Bourdieu et al.1991, S. 29) wie Reflexionen auf die Erfahrungen der deutenden und handelnden Subjekte. Sehr viel mehr könne sich „die ästhetische Analyse der überwiegenden Mehrzahl der fotographischen Produkte (…), ohne eine Einbuße zu erleiden, auf die Soziologie der Gruppen beschränken, die sie hervorbringen, der Funktionen, die sie ihnen zuschreiben, und der Bedeutungen, die sie ihnen explizit und, ganz besonders, implizit verleihen“ (Bourdieu et al.2006, S. 109).

Die Aufdeckung jener unter der Fülle von Einzelerscheinungen verborgenen, der sinnlichen Anschauung und dem individuellen Bewusstsein sich entziehenden Gesetzmäßigkeiten des Habitus vermag nicht nur das Einzelbild seiner vorgeblichen Einzigartigkeit zu entzaubern und es gleich den sozialen Praktiken seiner Hervorbringung als bloße Ausstülpung an der Oberfläche sozial determinierter und sozial determinierender ästhetischer Dispositionen zu enthüllen. Sie entthront auch den Gegenpol der ‚objektiven Soziologie‘, namentlich die an das schöpferische Individuum glaubenden, selbsterkorenen Ästheten mit ihrer vorgeblich natürlichen Gabe, für die gelebte Erfahrung des Einzelbildes „mit allen Codes, natürlich zuerst mit dem der alltäglichen Existenz brechen zu können, (…) um sich dem Werk selbst in seiner zunächst unerhörten Befremdlichkeit zu überlassen“, als Emanation des Habitus der privilegierten Klassen und ihrer selbstverblendenden, zugleich aber sozial distinguierenden „charismatischen Ideologie“ (Bourdieu1983, S. 180, 193 f.).

Die seitens Bourdieu in Anschlag gebrachte Objektivität steht damit in stärkster Opposition zu Barthes’ Subjektivität. Während Bourdieus Soziologie der Fotografie in Barthes’ Augen aufgrund ihres überdeterminierten Szientismus ironischerweise nicht einmal die Kriterien desstudium erfüllt, repräsentiert Barthes’ Phänomenologie der Fotografie für Bourdieu jenen Obskurantismus, wie er ihn für die in der ,charismatischen Ideologie’ befangenen, romantisch verklärten Ästheten als charakteristisch erachtet. In letzter Konsequenz allerdings – und dies markiert die Begründungsstelle des hier vertretenen Ansatzes zu einer Visuellen Wissenssoziologie der Fotografie – treffen und überschneiden sich die beiden Positionen. Bourdieu kann, ja muss von der Interpretation des Einzelbild absehen, ist ihm das dokumentierte visuelle Handeln doch Ausdruck einer immer schon vorausgesetzten sozialen Tatsache und ihrer bereits bekannten Gesetzmäßigkeiten: dem auf dem Feld der Ästhetik ausgefochtenen Klassenkampf. Barthes hingegen darf gerade jenes fotografische Einzelbild, das ihn auf das Phänomen despunctum stößt, anhand dessen er die Erfahrung idealtypisch beschreibt und das er deshalb in Großbuchstaben anspricht, nicht ausweisen: „Ich kann das PHOTO aus dem Wintergarten nicht zeigen. Es existiert ausschließlich für mich (…); es kann keine Objektivität einer Wissenschaft darstellen; es kann keine Objektivität im positiven Sinn des Begriffs begründen.“ (Barthes1985, S. 83). Im strengen Sinne ist Barthes’ methodischer Zugang damit für die empirischen Analysen einer Visuellen Wissenssoziologie der Fotografie nicht gangbar. Weil es einen Ort jenseits des Sozialen markiert und das Ursprungsmotiv seiner Zuschreibung im Subjekt verhaftet bleibt, ist ein konstatiertespunctum bereits innerhalb der Interpretationsgruppe für die Herstellung von Intersubjektivität diskursiv nicht verhandelbar. Zwar steht die Privatheit und Intimität des Blicks psychoanalytischen Deutungen offen (vgl. Wolf2002; Iversen2002). Doch als Ausgangspunkt für eine methodisch kontrolliert zu entwickelnde Idealtypenbildung im Sinne von Max Weber bleibt sie unverfügbar (Weber1973). Zudem würde das Gros der Fotografien, dem, siehe oben, per se keinpunctum zu attestieren ist, vom möglichen Einbezug in ein Datenkorpus ausgeschlossen, während doch die Hermeneutische Wissenssoziologie für sich in Anspruch nimmt, jedes in bzw. zu Daten fixierte soziale Handeln auslegen und mithin jedes Einzelbild auf seine Kulturbedeutung hin befragen zu können (vgl. Soeffner2004).

Beide Positionen rücken somit ab von der Interpretation der bildimmanenten, Sinn und Bedeutung generierenden Elemente, Strukturen und Bauformen. In entgegengesetzter Richtung überschreiten sie den Rahmen des Einzelbildes und projizieren Bedeutungen und Erklärungen von außen auf die bildliche Darstellung: Barthes die im Subjekt befangenen Imaginationen; Bourdieu das vermeintlich sichere Wissen der ‚objektiven Soziologie‘. Gleichwohl kann der hermeneutische Ansatz der Visuellen Wissenssoziologie weder des einen noch des anderen Zugangs entbehren. Vielmehr müssen beide an ihrem Ort einbezogen und für Ergänzungen, Verfeinerungen und Korrekturen der von ihr zu entwickelnden Strukturhypothese über das untersuchte visuelle Handeln eingesetzt werden. Doch zum eigentlichen Ansatzpunkt ihrer Interpretationen erhebt die Visuelle Wissenssoziologie der Fotografie jene Stelle, die Barthes und Bourdieu ausklammern: die konkrete Fotografie selbst, die sie als Ausdruckgestalt und Sinnfigur sozialen, hier visuellen Handelns begreift und von der aus sie vermittels materialer Feinanalyse ihre auf die Idealtypenbildung hinzielende Strukturhypothese erarbeitet.

So wie bereits Erwin Panofsky mit Karl Mannheim und wie Bourdieu seinerseits mit Panofsky können Wissenssoziologie und Kunstwissenschaft auf diesem Wege in einen, wie die bisherige Geschichte zeigt, für beide Disziplinen äußerst fruchtbaren Dialog treten (vgl. Raab2007). Zur Fortschreibung und Vertiefung dieses Dialoges kann die Wissenssoziologie an erster Stelle die von Max Imdahl in kritischer Auseinandersetzung mit Panofsky entfaltete und dessen Ikonographie und Ikonologie erweiternde Ikonik aufgreifen (vgl. Bohnsack2006).

2.2 Ikonographie, Ikonologie, Ikonik

Imdahls Begriffswahl zeigt an, dass Ikonographie, Ikonologie und Ikonik miteinander vereinbar sein sollen und einen sachlichen Zusammenhang bilden. Die Hauptkritik entzündet sich aber an dem Umstand, „daß Panofskys Interpretationsmethode die Stimmung oder den ersten anschaulichen Charakter des Bildes wie überhaupt alle Erfahrungen eines sehenden, nicht nur Gegenstände identifizierenden Sehens nicht in Betracht zieht“ (Imdahl1980, S. 102). Wo Panofskys Ikonologie auf einem kontext- und bildungsabhängigen Vorwissen beruht, das die Identifizierung in ein Bild eingeschriebener Textbezüge und in ihm wiedergegebener Sujets anleitet und absichert (vgl. Panofsky1979), da betont die Ikonik die Notwendigkeit der sinnlichen Erfahrung und auslegenden Anschauung bildlicher Darstellungen. Die Frage, welche Sinndimensionen und welche Sinngehalte ein Bild aus sich selbst hervorzubringen vermag, entspringt einer anderen erkenntnistheoretischen Haltung, verlangt nach einer anderen methodischen Vorgehensweise und fördert andere Einsichten zutage. Sie erweitert den Bildbegriff und öffnet den Blick für die Potentialität und Produktivität der Bilder, mithin für eine Erfahrungs- und Anschauungsweise, die Imdahl in Abgrenzung zumwiedererkennenden Sehen dassehende Sehen nennt. Zwar setzt jede Bildwahrnehmung das Wiedererkennen von Formen, Gegenständen, Inhalten voraus, und Imdahl ist weder daran gelegen, das bildungsabhängige Vorwissen zu negieren, noch von der Korrektur und Absicherung seiner Deutungen durch Kontextwissen abzusehen. Doch zieht er diese Wissensbestände erstnach der Formulierung und Überprüfung einer durch Erfahrung und Anschauung am Bild selbst gewonnenen Hypothese über dessen Sinn und Bedeutung konstituierende Konstruktionsprinzipien heran. In diesem Vorgehen erweist sich „der hermeneutische Ansatz“ der Ikonik (Imdahl1985). Wichtigstes methodisches Instrument für die bildimmanente Entwicklung von Lesarten und für das zu ihrer Kontrolle und Korrektur notwendige Hervorkehren von Widersprüchen ist die Rekonstruktion der planimetrischen und perspektivischen Bildordnung. Das als Hypothese formulierte „Feldliniensystem“ beschreibt die kompositorischen Hauptlinien des Bildaufbaus, erfasst konvergierende und divergierende Blickführungen und hebt über die Analyse dieser Prozesse die in der sinnlichen Wahrnehmung von Einzelbildern prinzipiell angelegte Doppelaspektivität von Simultaneität und Sukzession auf (vgl. Imdahl1996, S. 447 ff.).

Imdahls Einsicht, dass in Einzelbildern dokumentiertes visuelles Handeln in der unmittelbaren Wahrnehmung zunächst einmal innerhalb seines Rahmens gedeutet und verstanden werden kann, bevor Wissenskontexte über koexistierende Strukturen und bedingende Verhältnisse von außerhalb dieses primären Rahmens an ein Bild herangetragen werden, ist für die methodisch kontrollierte Interpretationsarbeit der Visuellen Wissenssoziologie der Fotografie elementar. Da Einzelbilder keine kontextlosen Gebilde sind, müssen sie jedoch stets in Zusammenhang mit ihren unmittelbaren und mittelbaren Bildkontexten sowie in Verbindung mit den Kontexten ihrer sozialen Handlungs- und Verwendungspraktiken interpretiert werden. Weil diese Kontexte aber verschiedene Aspekte berühren und weil sie zudem unterschiedlich strukturiert sind, bedürfen sie der gesonderten Betrachtung und daher einer analytischen Trennung. Für den begründeten Einstieg und für die kontrollierte Bewegung im Spannungsverhältnis von ‚Text‘ und Kontexten, Teil und ‚Ganzem‘, rekurriert die Visuelle Wissenssoziologie der Fotografie auf Erving Goffmans Rahmen-Analyse und nutzt seinen „Versuch über die Organisation von Alltagserfahrung“ als Interpretationsheuristik für die Analysearbeit zwischen Einzelbild, Bildkontexten und den Handlungshorizonten sozialer Milieus.

3 Wissenssoziologische Rahmen-Analyse der Fotografie

Für Goffman übernehmen sogenannteprimäre Rahmen (primary frameworks) die Basisarbeit für die menschliche Wahrnehmungs- und Handlungsorientierung. Primär sind diese Rahmen, weil sie als relativ geschlossene und stabile Sinngeneratoren den Angehörigen einer Kultur als selbstverständliche und intersubjektiv abgesicherte, deshalb in der Regel unbefragte Garanten der Normalität des Alltags gelten. Zudem bilden sie den steten Bezugspunkt vonRahmungen (framings), über die sich die Interaktions- und Kommunikationspartner mittels Regieanweisungen und Deutungshinweisen wechselseitig anzeigen, welcheRahmen (frames) gerade aktuell sind, in welchen typisierten Bedeutungs- und Handlungszusammenhängen sie sich also augenblicklich zu befinden glauben und gesehen, verstanden und behandelt werden wollen. Darüber hinaus sindprimäre Rahmen das Ausgangsmaterial für vielfältige Spielformen wieModulationen (keyings) undTäuschungen (fabrications) in Gestalt von Transformationen und Dekontextualisierungen, mithin von Änderungen, Wechseln oder Brüchen im Wirklichkeitsstatus.

3.1 Primärer Rahmen und Einzelbild

Die semantisch durchaus naheliegende, für die Visuelle Wissenssoziologie der Fotografie gezielt zu nutzende Analogie zwischen der erkenntnistheoretischen und methodologischen Metapher des Rahmens im Verständnis Goffmans einerseits und materiellen, medial-technischen Rahmen andererseits findet sich schon bei Georg Simmel, wenn dieser auf die prinzipiell zweiseitige ästhetische Wirkung des Gemälderahmens aufmerksam macht. Der Rahmen verdichtet den Bildraum nach innen und synthetisiert die im Ausschnitt ansichtigen Einzelobjekte, während er das so bewirkte Binnenereignis zugleich trennscharf von der außermedialen Wirklichkeit abschließt (Simmel1995). Auch wenn der materielle Rahmen mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert für die Präsentation von Gemälden an Bedeutung verliert und ab den 1950er Jahren in der Fotografie die oft noch wellenförmig geschnittenen, weißen Ränder an den nun unbegrenzt reproduzierbaren Bildabzügen wegfallen, hat sich das regelmäßige und rechtwinklige Rahmenrechteck bis heute in allen visuellen Aufnahme- und Wiedergabegeräten und für jegliche technische Produktion und Rezeption von Bildern erhalten. Der technische Rahmen eines visuellen Mediums stellt demnach einprimary framework im Verständnis Goffmans dar. In dem durch die Primärform eingerichteten, rational bemessenen und damit intersubjektiv verbindlichen Ausschnitt können für sich möglicherweise bereits sinntragende Elemente und Details konzentriert und so aufeinander hin arrangiert werden, dass sich zwischen ihnen sinngenerierende Bedeutungszusammenhänge kohärent und prägnant entwickeln, also eine immanente visuelle Ordnung in ihrer Bestimmtheit, Gliederung und Komposition sich konstituieren und mithin einframing in Goffmans Sinn vonstattengehen kann.

Als formale, ein jedes technische Bild fundamental bedingende, daher erste ‚natürliche‘ Sinngrenze bildet der primäre Rahmen zugleich die erste, gleichfalls ‚natürliche‘ Grenze der Bildanalyse. Dabei verharrt die Interpretation technisch erzeugter Bilder nicht auf den materiellen Rahmen ‚an sich‘, sondern konzentriert sich auf die Verhältnisse und Spannungen zwischen der für die Bestimmung einer Bildfläche elementaren ‚Randbedingungen‘ einerseits und den in Wechselwirkung mit ihnen konstruierten, Sinn und Bedeutung konstituierenden visuellen Ordnungen andererseits: auf dieEinordnung des Ansichtigen in den Rahmen, auf seineAnordnung innerhalb der gegebenen Sinngrenze und damit auf die stets bewirkteÜber- und Unterordnung des Sichtbaren (vgl. Waldenfels1999, S. 109). Die grundlegende Orientierung der Bildanalyse am Rahmen als dem Grundkonstitutiv einer jeden visuellen Sinnkonstruktion in den technischen Medien verhilft dazu, jene Bedeutungskerne und Bedeutungsränder eines bildlichen Wirklichkeitsausschnitts – die Roswitha BrecknerSegmente nennt und die sie für die von ihr vorgeschlagene Segmentanalyse rein inhaltlich identifiziert, um sie anschließend in Reflexion auf ihren subjektiven Wahrnehmungsprozess auf mögliche Sinnbezüge hin interpretativ zu befragen (vgl. Breckner2010, insb. S. 208 ff.) – zunächst formal, also zuallererst in gezielter Einklammerung der figürlich-gegenständlichen Inhalte einer Darstellung, intersubjektiv nachvollziehbar zu bestimmen, von denen aus und auf die hin die Rekonstruktion der inneren, genuin ikonischen Strukturierung eines Einzelbildes voranschreitet.

Für die Konkretisierung dieses Rekonstruktionsprozesses ist zunächst auf die in der Anschauung von Einzelbildern prinzipiell angelegte Doppelaspektivität von Simultaneität und Sukzession einzugehen. Im Unterschied zu sprachlichen Äußerungen, Schrifttexten, Filmen oder Musik sind in Einzelbildern – darin besteht ihr sie auszeichnendes kommunikatives Leistungspotential – alle Bedeutung tragenden und Sinn generierenden Elemente räumlich und zeitlich zugleich präsent. Einzelbilder sind Gebilde der Simultaneität par excellence, und es ist diese Eigensinnigkeit, die das zentrale Analyseverfahren der Hermeneutischen Wissenssoziologie vor ein methodisches Problem stellt (vgl. Bohnsack2009, S. 42 ff.). Denn die Sequenzanalyse rekonstruiert soziales Handeln als sukzessiven Ablauf in der Zeit, zeichnet hierfür den tatsächlichen Prozess sozialen Handelns detailliert nach und befragt jedes kommunikative Einzelmerkmal und Einzelereignis auf seine besondere Stellung im Handlungsverlauf sowie auf seine spezifische Bedeutung für die kommunikative Konstruktion sozialen Sinns. Doch im Einzelbild gibt es keine vorausgehenden Handlungsakte und keine zu erwartenden Nachfolgehandlungen. Was sich in ihm dokumentiert, ist kein Handeln, sondern eine bereits abgeschlossene Handlung (vgl. Luckmann1992; Schütz2010), in der Anlass, Ziel und Resultat eines visuellen Handelns in räumlich und zeitlich höchster Verdichtung typisiert und fixiert sind. Eine für die Visuelle Wissenssoziologie grundlegende Phänomenologie des Blicks muss sich daher auf die räumlichen und die zeitlichen Komprimierungen gleichermaßen einlassen. Denn in der Anschauung sieht das Auge die Ganzheit einer Bildkomposition zusammen mit den dynamischen Wechselbeziehungen seiner Teilelemente, über die das Zugleich des Sinnganzen wiederum erst erfassbar wird.

Die Interpretation reicht darum erst dann an ein Einzelbild heran, begreift sie es als Sinngeschehen, berücksichtigt also die Simultaneität des Alles-auf-einmal-Sehens zur Aufdeckung ganzheitlicher Relationen ebenso unbedingt wie die zur Erläuterung relationaler Spannungen und Strukturmuster erforderliche Sukzessivität der Wahrnehmung im statischen Medium. Jeder Versuch, das Dualitätsverhältnis von Simultaneität und Sukzession einseitig aufzulösen oder es gar in eine Dichotomie zu überführen, zielt an der Wesensart und Eigenlogik des Einzelbildes vorbei. Daher kann die aus Vereinseitigung in Richtung Simultaneität begründete Separierung von Segmenten (Formen, Figuren) als vermeintlichen Urelementen visueller Kommunikation immer nur einen späten Verfahrensschritt der methodisch kontrollierten Bildanalyse darstellen. Ein Umstand, dem Imdahl Rechnung trägt, wenn er in der Suche nach Antworten auf die Frage des ‚So-und-nicht-anders‘ einer Bildkomposition verschiedene Realisierungsalternativen beispielsweise einer Figurenkonstellation gedankenexperimentell durchspielt, diese „Kompositionsvariation“ (Bohnsack2009, S. 42 f.) aber notwendigerweise erstnach der Rekonstruktion „formaler Bildwerte“ und von „abstrakten, rein formalen Entsprechungen“ (wie etwa Symmetrie), ohne das Bestehende zu zergliedern oder zu variieren, in der konkret vorliegenden Komposition einsetzen lässt, also an erster Stelle der Bildinterpretation die so und nicht anders gegebene Bildordnung immanent auf die Spezifik ihrer Originalstruktur hin befragt (vgl. Imdahl1994, S. 302 f.,1985, S. 139 f.). Nicht anders greift die Vereinseitigung in Richtung Sukzession zu kurz, liest sie Einzelbilder wie Schrifttexte und versucht eine der sprachlichen Syntax und Grammatik analoge Verknüpfungslogik zwischen sinntragenden Bildelementen, die Bildautoren gleich zu folgenden Pfaden möglicherweise in ihre Darstellungen legen, sequenzanalytisch aufzuschließen (vgl. Loer1994; Ritter2003).

Die hier vorgeschlagene wissenssoziologische Rahmen-Analyse der Fotografie nimmt zum Ausgang ihrer Bildinterpretationen, was als einzig objektive Struktur vorausgesetzt werden kann, weil es als formale Bedingung der Möglichkeit jeglicher alltäglichen Produktion und Rezeption technisch-medialer Handlungsprodukte a priori vorgelagert ist: den Rahmen. Die primäre Funktion des durch einen Rahmen definierten Bildraumes ist, dass er sich sein eigenes Zentrum schaffen und um diesen Bedeutungskern ein Randgebiet mehr oder weniger bedeutsamer Bildelemente anlegen kann. Mit kreisförmigen und quadratischen Rahmen teilt das allgemein gebräuchliche Rahmenrechteck zunächst die Chance, das Zentrum im geometrischen Mittelpunkt, zugleich dem physikalischen Schwerpunkt eines Bildes, zu platzieren. Es erlaubt aber darüber hinaus die hoch variable Anlage nicht nur eines, sondern mehrerer Zentren (vgl. Arnheim1996). Für die Analysearbeit auf der Ebene von primärem Rahmen und Einzelbild folgt hieraus wiederum, dass sich die Interpretation auf die Erschließung und Auslegung jener Konfigurationen richten muss, die den Sinn und die Bedeutung einer Bildkomposition konstituieren. Zur Rekonstruktion des subjektiv gemeinten Sinns visuellen Handelns bewegt sich eine solcheKonstellationsanalyse zwischen Form und Inhalt (vgl. Nolda2007, S. 483 f.). Dabei setzt sie jene objektive Form primär, von der aus subjektive Bedeutungen ausgeformt und ins Bild gesetzt werden, nur um sogleich zu fragen, welche noch näher zu bestimmenden Inhalte wo und wie in die Primärform des Rechteckrahmens eingelassen sind und welche – zunächst wieder formal, dann inhaltlich – von ihnen ableitbaren Beziehungsverhältnisse, ganz im Sinne von Imdahlssehendem Sehen, in Gestalt von Formkorrelationen, Richtungstendenzen und Motivverdichtungen beschrieben werden können. So vermag die sozialwissenschaftliche Analyse noch vor der Berücksichtigung von Kontexten jenseits des primären Rahmens auf Sinnstrukturen aufmerksam zu werden, die ansonsten unter Umständen gar nicht oder nur einseitig interpretiert worden wären, und sie gelangt zu einer ersten Strukturhypothese als einer Schritt für Schritt erarbeiteten, idealtypischen „Konstruktion zweiter Ordnung“ über das in der Komposition eines Einzelbildes als alltagsweltlicher „Konstruktion erster Ordnung“ dokumentierte visuelle Handeln (vgl. Schütz2004).

3.2 Unmittelbare und mittelbare Bildkontexte

Die fotografische Einfassung und Einpassung von Aspekten der außermedialen Wirklichkeit in den primären technischen Rahmen, ihre Setzung in die Primärform, ist bereits eine Übersetzung: einframing, und – für Goffman „das rahmentheoretische Problem“ der Fotografie und überhaupt des „Bilder-Rahmens“ schlechthin (vgl.1981, S. 45 ff.) – damit in gewisser Hinsicht bereits eine Modulation(keying), die immer auch bereits das Potential der Täuschung(fabrication) in sich trägt. Dasframing erreicht für die Analysearbeit aber eine neue Qualität, ist bzw. wird ein Einzelbild, was die Regel ist, in Bildkontexte gebettet.

Auf der ersten Rahmungsebene schließt der Kontext jenes kommunikative Arrangement ein, das ein Einzelbildunmittelbar mit Deutungshinweisen oder gar Direktiven versieht, wie die ein Bild rahmenden Texte, Tabellen, Graphiken usw., genauso wie weitere, gegebenenfalls zur Veranschaulichung von Abläufen, Wandlungen und Variationen oder schlichtweg zu Vergleichsordnungen arrangierte Bildfolgen. Ihre Grenze erreicht die unmittelbare Rahmung spätestens dort, wo sie ein Einzelbild mit anderen kommunikativen Elementen zu einer in sich wiederum geschlossenen Sinneinheit verklammert und auf eine eingegrenzte Bedeutung hin organisiert, beispielsweise zu Plakaten, Flyern oder Artikeln, Zeitungen, Illustrierten und Büchern, Ausstellungen, Katalogen und Alben, Internetseiten, Archiven und Portalen usw. Auf der Rahmungsebene unmittelbarer Bildkontexte kann denn auch die Sequenzanalyse von Texten im engeren Sinn ansetzen, ergänzt und erweitert durch die nun auch möglichen komparativ-kontrastiven Analysen von Bild und Text, Bild und anderen Bildern (vgl. Soeffner2006).

Die zweite Rahmungsebene des Bildkontextes bezieht sich auf jene individuellen und gesellschaftlichen Wissensbestände, die eine Interpretation von jenseits der Grenzen des primären Rahmens und der unmittelbaren Rahmung an das gegebene Einzelbild heranträgt. Zu diesemmittelbaren Bildkontext gehören subjektive Bilderfahrungen und Sehgewohnheiten mit den durch sie angeregten Appräsentationen und Assoziationen ebenso wie das Bezüge, Vergleiche und Kontraste zu anderen Bilddarstellungen eröffnende, über unterschiedliche Bildungsprozesse angeeignete, kulturelle Wissen um Stile und Sujets, Symbole und Gattungen, Bildprogramme und Bildtraditionen. Auf dieser Rahmungsebene bedient sich die Interpretation jenes Zusammenspiels auswiedererkennendem Sehen (Imdahl) und Kontextwissen, auf das sich Panofskys Ikonographie und Ikonologie stützen. Im konkreten Falle der Fotografie gehören zu den mittelbaren Bildkontexten zudem die Selbstaussagen eines Fotografen und Informationen über seine Biographie, seine Themen, sein Werk, seine Rezeption sowie Kenntnisse über den Entstehungskontext einer Fotografie und über ihre Karriere an verschiedenen Publikationsorten, wie schließlich die gegebenenfalls von einer Interpretationsgruppe eigens zu ihrem Fall empirisch erhobenen Daten.

3.3 Sozialmilieu und Handlungshorizont

Die Frage nach demWie einer Bildverfertigung ist eingebunden in die Frage nach ihremWarum: Weshalb wurde genau diese Darstellungsoption als Antwort auf ein kommunikatives Problem gewählt und keine andere, auch noch mögliche? Die im Zuge der Konstellationsanalyse auf der Ebene von primärem Rahmen und Einzelbild entwickelte und durch die Erschließung der Rahmungen unmittelbarer und mittelbarer Bildkontexte korrigierte und ergänzte Strukturhypothese über das ‚So-und-nicht-anders‘ einer visuellen Ästhetik erfährt durch ihre Anlegung, Überprüfung und Korrektur an jenem Rahmen eine nochmalige Erweiterung, welche die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit eines spezifischen visuellen Handelns aufwirft. In diesem Rahmen formen sich die Beziehungen des einzelnen zu seiner Umgebung und zu seiner sozialen Mitwelt (vgl. Goffman1977, S. 22 f.), und aus ihm begründet sich – wissenssoziologisch gesprochen – die „Standortgebundenheit“ (Mannheim1995) und die „relativ natürliche Weltanschauung“ (Scheler2006, S. 61 f.) eines Individuums innerhalb seines sozialen Milieus nicht weniger als die seiner Milieuwelt innerhalb einer diese umgreifenden soziokulturellen Ordnung.

Aus der Kultur-, Gesellschafts- und Gruppenzughörigkeit heraus – und wiederum auf diese hin – werden nun jene kommunikativen Darstellungsformen, Arrangements und Inszenierungen entworfen, ausgestaltet und vorgeführt, die im Ringen um soziale Akzeptanz die Kommunikationserwartungen der ‚Zielgruppen‘ zu bedienen versuchen. Damit wirkt ein solcher Handlungsrahmen zugleich als Auslöser, Gegenstand, Ziel und Resultat menschlicher Erfahrungen, Äußerungen und Handlungen, und in ihm überkreuzen sich die Ästhetik und die Pragmatik visuellen Handelns. Innerhalb seiner Grenzen bilden soziale Milieus ihre eigenen medialen Typisierungen aus und entwickeln Sehordnungen mit spezifischen Gewohnheiten und Erwartungen, die sie dann wiederum medial für die eigene Sehgemeinschaft reproduzieren (vgl. Raab2008). Doch der wissenssoziologischen Rahmen-Analyse der Fotografie kann es nicht darum getan sein, allein die Reproduktionsmechanismen und Schließungsprozesse und über den Habitus die reine Faktizität einer Milieuwelt zu beschreiben (vgl. Bourdieu1987). Vielmehr müssen sich ihre Untersuchungen auch und gerade auf die Experimentierfelder visuellen Handelns und auf die in ihnen möglichen Grenzgänge und Grenzüberschreitungen richten und damit auf jene Handlungshorizonte von Sozialmilieus, an denen sich die Potentiale für Neuorientierungen und Strukturumbildungen des Handelns ebenso auftun wie für die Öffnungen, Anpassungen und Wandlungen von sozialen Milieus selbst sowie von soziokulturellen Ordnungen insgesamt. Kurz, materiale Analysen von symbolischen Ausdrucksformen sozialen Handelns und Milieuanalysen sind nicht voneinander zu trennen.

Zusammenfassend und allgemein gesprochen erstreckt sich die Rekonstruktionsarbeit wissenssoziologischer Rahmen-Analysen somit von der Erschließung der inneren Organisationsstruktur kommunikativer Symbole durch das Verfahren der Konstellationsanalyse, über die Untersuchung der Rahmung von Symbolen in ihren unmittelbaren und mittelbaren kommunikativen Kontexten bis hin zur Beschreibung der kulturellen Umwelt und sozialen Situation jener, die diese Symbole herstellen, verwenden, vermitteln und rezipieren. Die im deutenden Verstehen des Einzelfalls über die drei damit beschriebenen Rahmen hinweg zu entwickelnde, fortschreitend zu überprüfende, zu korrigierende und zu verfeinernde Strukturhypothese erhält dann ihren Erklärungswert, geht sie ein in eine idealtypische Konstruktion, die den subjektiv gemeinten Sinn eines singulären sozialen, hier eines visuellen Handelns, in seiner Kulturbedeutung zu erfassen vermag (vgl. Weber1973).

4 Ein Fallbeispiel

Die bis an diese Stelle vorangetriebenen methodologischen und methodischen Erörterungen sollen nun in gebotener Kürze an einem Fallbeispiel exemplifiziert werden. Das Beispiel entstammt der aktuellen massenmedialen Alltagskommunikation und wurde für den ersten Analyseschritt aus seinem unmittelbaren Kommunikationskontext herausgelöst. Die Entscheidung für gerade diese Fotografie fiel vor dem Hintergrund einer zum Entscheidungszeitpunkt keineswegs ausformulierten sozialwissenschaftlichen Problem- oder Fragestellung. Doch die nur vage Idee reichte hin, jene erste Aufmerksamkeit zu wecken und jene besondere Einlassung anzuregen, die Barthes als Effekte despunctum und Hans-Georg Gadamer als generelle Bedingung eines jeglichen Verstehens beschreibt: „Das erste, womit das Verstehen beginnt ist, dass uns etwas anspricht“; es gilt „zu begreifen, was uns ergreift“ (Gadamer1986, S. 64, 108) (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Bildbeispiel

Bereits der den Anfang einer Konstellationsanalyse markierende Einzug zweier einfacher formaler Hilfslinien offenbart, dass eine runde, weiße, opake Form den geometrischen Mittelpunkt und physikalischen Schwerpunkt der Fotografie besetzt. Betrachtet man diese Form kontextfrei als relativ geschlossene Sinneinheit – im Sinne von Breckner (2010) als einSegment –, eine Lesart, die durch die Kreisform mit angedeutetem schwarzen Rand gestützt wird, dann stellt sich dem Verstehen das Paradox, dass das deutlich herausgehobene planimetrische Zentrum zugleich gefülltund leer ist.

Unmittelbar an der Leerstelle, ja diese überlappend, befindet sich in maximalem Kontrast zum sinnfreien Nichts ein weiteres Segment, das Menschen kulturübergreifend sofort und unmissverständlich sinnhaft deuten und mit Bedeutung belegen können: ein menschliches Gesicht, dessen Mimik weder Wut noch Angst oder Freude, sondern Trauer ausdrückt. Wird die durch formale Überlappung und inhaltlichen Kontrast angezeigte Richtungstendenz als erste, noch vage und gewagte Hypothese genommen und ausgehend vom Bildmittelpunkt in eine einfache Linie übersetzt, so stellt sie eine Verbindung zu einem im Hintergrund leicht erhöhten, gleichfalls trauernden Gesicht her, bevor sie in der Ecke links oben am Bildrand abschließt. Die Erweiterung und Vervollständigung dieser Linie zur Bilddiagonalen bestärkt die Hypothese, denn die bereits erkannte Struktur setzt sich in der entgegengesetzten Richtung fort, wenn die Linie eine dritte trauernde Person – die sich nun paradoxerweise als die erste und ursprüngliche zu erkennen gibt – in die Konfiguration aufnimmt und wenn sie dabei wie zu ihrer letztgültigen Bestärkung stets ein Auge dieser Personen durchläuft. Die Diagonale ist damit die allererste, nun sogleich zu überprüfende, zu korrigierende und zu erweiternde Strukturhypothese über die formale Bildkomposition (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Rekonstruktion des Feldliniensystems

Inhaltlich lässt der durch die Komposition angezeigte Dreizeilenfall keinen Zweifel über das von der Fotografie dokumentierte Hauptthema aufkommen. Irritierend ist allerdings, dass es sich bei den sieben Trauernden um Soldaten handelt, die noch dazu, worauf die Farben der Hemden, Barretts und Embleme aufmerksam machen, in den Uniformen unterschiedlicher Truppengattungen auftreten und dabei jegliche militärische Gruppenformation vermissen lassen. Doch klammern wir die inhaltlichen Aspekte und das Kontextwissen vorerst wieder ein und prüfen die Strukturhypothese, wie es der Forschungsstil der Grounded Theory vorsieht, zunächst durch minimale Kontrastierung.

Die einfache Parallelverschiebung unserer Diagonalen gibt das dreimalige Aufgreifen der angezeigten Richtungstendenz zu erkennen, was der Fotografie planimetrisch eine dominante Blickführung verleiht, die über die aufsteigende, dreifache ‚Schichtung‘ der Akteure perspektivisch noch verstärkt wird. Eine letzte Unterstützung erfahren diese kompositorischen Strukturmomente durch die maximale Kontrastierung der Hauptlinie mit der ihr gegenläufigen Bilddiagonalen, denn diese bliebt nicht nur singulär, auch die mit ihr vom rechten Bildrand in die Gruppe einbezogene Figur konterkariert durch Alleinstellung, Mimik und Kleidung die in der Gruppe angezeigten Formwiederholungen und Motivverdichtungen. Und auch diese Bildstelle durchzieht eine paradoxe Struktur, denn die Randfigur ist ja bereits durch ihre Blickrichtung und vor allem über eine der dominanten, aber gegenläufigen Richtungslinien sozial integriert, zumal eine Linie, die deren aufzeigender Geste folgt: ihrem durch Faltenwurf am hellen Ärmel und Uhr zusätzlich betontem Unterarm, bis hinauf zur Hand, die zuerst auf einer anderen Hand und schließlich auf der Schulter eines Nebenmannes ruht.

Zusammen besehen gibt das durch die Konstellationsanalyse bis an diese Stelle rekonstruierte Feldliniensystem somit eine streng am primären Rahmen(primary framework) orientierte, kompositorische Bildordnung zu erkennen, die es vermag, in scharfer, bis hin zum Paradox gereichender Kontrastsetzung formal und inhaltlich widersprüchliche Bildsegmente in Wechselwirkung zueinander zu bringen und zu einer geschlossen erscheinenden Gesamtform zusammenzuziehen. Zugleich weist die geschlossene Gestalt über sich hinaus auf mögliche Anschlussstellen der Kommunikation: durch die mehrfach indizierte Blickführung und über die wenigstens an drei Rahmenseiten angezeigte inhaltliche Unvollständigkeit des Bildausschnitts (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Cover Dummy

Die Rahmung setzt der Fotografie einen weißen Rand mit mehreren schwarzen Schriftzusätzen hinzu.Footnote 1 Rein formal findet die Setzung starker Kontraste eine Fortführung, wird doch die große, weiße Leerstelle im Zentrum der Fotografie durch Blickführung mit dem alle anderen Textstellen in Großbuchstaben überragenden Wort „Dummy“ in Beziehung gestellt. Größe und Platzierung weisen „Dummy“ als Titel eines „unabhängigen Gesellschaftsmagazins“ aus. Inhaltlich steht „Dummy“ für ein Artefakt, eine Attrappe, die allgemein gesprochen zur möglichst getreuen Annäherung an eine Wirklichkeit dient, welche aus technisch-pragmatischen, methodischen, moralisch-ethischen oder ästhetischen Gründen selbst jedoch nicht zur Erprobung, Überprüfung, Übung oder Untersuchung herangezogen werden kann oder darf: ein semantischer Platzhalter und eine Leerstelle, die – darauf machen Nummerierung und Themennennung aufmerksam – durch die jeweilige Ausgabe eingenommen und ausgefüllt werden. Die Fotografie weist mittels des oben rekonstruierten Feldliniensystems auf die genannten Elemente der Rahmung(framing) hin und zieht sie zur Symbolgestalt des Covers zusammen. Ein Umstand, den das Editorial als einzige Textstelle, die sich im Magazin direkt auf die Fotografie bezieht, aufgreift: „Für das großartige Bild des REUTERS-Fotografen Eric Gaillard von den israelischen Soldaten, die den Tod eines Kameraden beweinen, haben wir neben dem Cover auch die Rückseite freigeräumt. Mehr Platz kann man männlichen Gefühlen nicht geben.“ Die Rückseite komplettiert den inhaltlich bislang unvollständigen Bildausschnitt zu einer planimetrisch, perspektivisch und choreographisch geschlossenen und abgeschlossenen Form. Dabei fungiert die durch Rahmung und Heftrücken mittig platzierte Trennlinie wie eine Symmetrieachse, die – nur um zwei bereits als markant herausgestellte Aspekte wieder aufzugreifen – nicht nur der Randfigur ein bis zu Haltung, Gestik, Uhr und Mimik fast identisches Pendent hinzusetzt, sondern auch die Leerstelle im Zentrum spiegelt und verdoppelt (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Cover mit Rückseite

An dieser Stelle kann die Interpretation über die unmittelbare Rahmung der Fotografie hinausweisende Anspielungen, Adaptionen und Zitationen von Vorbildern aus dem kulturellen Bildgedächtnis abrufen und versuchen, den mittelbaren Bildkontext durch die Hinzusetzung von Bildungswissen um Bildtraditionen und Bildsujets aufzuschließen. Für ikonische Anleihen und die mit ihrem Erkennen sich möglicherweise einstellenden ästhetischen Genüsse liegt rein inhaltlich Raffaels Grablegung Christi und rein formal Masaccios Dreifaltigkeit nahe. Doch um die Bewegung möglichst eng am vorliegenden Bild selbst einsetzen zu lassen, soll zunächst – und nur aus Platzgründen hier allein – die von Eric Gaillard veröffentlichte Fotografie als Vergleichs- und Kontrastfall dienen.

Die in internationalen Zeitungen und im Internet publizierte Originalaufnahme trägt selbst keinen Titel, führt aber häufig eine Unterschrift, die sich mit leichten Abwandlungen wie folgt ausnimmt: „Eric Gaillard, Reuters: Israeli soldiers mourn during the funeral of their comrade, Staff Sgt. Alex Mashavisky, in the military cemetery of the southern Israeli town of Beersheba, January 7, 2009.“ Mashavisky stammt aus Beersheba, war zum Zeitpunkt seines Todes 21 Jahre alt und Unteroffizier einer Pioniereinheit der ‚Israel Defence Forces‘. Am 5. Januar 2009 gerät der Verband im Norden des Gaza-Streifens in ein Feuergefecht, in dessen Folge vier israelische Soldaten leicht verwundet werden und Mashavisky fällt. Über diese Informationen hinaus ist aus Internetquellen nichts über den Soldaten zu erfahren. Sein Name taucht nur in Verbindung mit seinem Tod und nur in Zusammenhang mit den Bildern zu seinem Begräbnis auf. Offen ist die Frage, weshalb von den zahlreichen Aufnahmen, die von diesem Anlass veröffentlicht sind, Gaillards Fotografie einen Sonderstatus einnimmt. Denn sie ist nicht nur die mit Abstand am häufigsten zu dem Ereignis im Internet auffindbare. Als einzige durchlief sie auch eine ‚Karriere‘, von der Aufnahme in die Zusammenstellung „Reuters – Unsere Welt in Bildern“ über die Einreihung in die Galerie „World Pictures of the Decade (2005–2009)“ bis hin auf das Cover des Lifestyle-MagazinsDummy (Abb.  5 und6 ).

Abb. 5
figure 5

Originalfotografie

Abb. 6
figure 6

Modulation

Dummy übernimmt die Fotografie jedoch nicht eins zu eins, sondern überformt sie für die Ansprüche seiner Kommunikation – sieht man von der Aufbringung des Barcodes ab – durch nicht weniger als vier Eingriffe. Erstens, den Bildeindruck am stärksten verändernd, über die Seitenverkehrung der Fotografie. Sie verlagert den Fluchtpunkt von der Ecke rechts oben in die Bildmitte, was der Gruppe zu jener stufenartigen Aufschichtung verhilft, die schon zu Beginn der Interpretation auffiel und was die bereits am höchsten stehende Person zur Spitze einer gleichschenkligen Kompositionspyramide erhebt. Zudem ist die Seitenverkehrung der erste Schritt in der Einrichtung des Covers, bringt sie doch jene Bildhälfte in Position, die mit ihren besonderen, eingangs der Interpretation herausgearbeiteten Eigenschaften die an ein Titelbild im vorliegenden Kommunikationszusammenhang gestellten Bedingungen offenbar adäquater erfüllt als ihr Pendant. Hierauf folgt zweitens die Zerreißung der Fotografie, mit ihrer äußerst bedeutsamen Wirkung der Anzeige einer Hauptrichtung für Anschlussstellen der Folgekommunikation. Hinzu kommt drittens die Beschneidung bei gleichzeitiger Vergrößerung des Bildausschnitts, was einen noch unbedingteren Abschluss nach außen und eine zusätzliche Verdichtung der Darstellung nach innen bewirkt; ein Effekt, den die beiden einander entsprechenden, Bild und Gruppe einfassenden und wie zwei Klammern zusammenziehenden Randfiguren noch forcieren. Beschneidung und Vergrößerung nehmen darüber hinaus Einfluss auf die Tiefenschärfe und lassen die Leerstelle im Zentrum des späteren Coverbildes noch prägnanter hervortreten. Viertens vervollständigt eine Reihe von Retuschen die Zurichtung. Die offensichtlichste unterstützt durch Vereinheitlichung des Hintergrundes die Umstellung des Fluchtpunkts. Vier weniger ins Auge springende Retuschen bearbeiten den unteren Bildrand im Ausschnitt des späteren Coverbildes und bringen eine Schulterklappe, einen Finger, eine Sonnenbrille sowie ganz in der unteren rechten Ecke einen kleinen hellen Fleck zum Verschwinden. Nicht zuletzt wird ein gleichfalls unscheinbares, weil überwiegend bereits verdecktes Abzeichen an der Brust des Trost spendenden Soldaten im Bildzentrum entfernt (Abb. 7 und8).

Abb. 7 und 8
figure 7

Modulation im Cover-Ausschnitt

Die Neuzuschnitte, Entleerungen und Auffüllungen der Fotografie sind allesamt Modulationen(keyings) im Verständnis Goffmans. Im Falle von Fotografien verdichten solche Modulationen, was durch den fotografischen Akt bereits symbolisch verdichtet ist, so dass von einer sekundären symbolischen Verdichtung gesprochen werden kann, welche ein visuelles Handeln, das, wie im vorliegenden Fall, ganz im Dienste der Intensivierung einer Bildkommunikation steht, durch Hyperprägnanz- und Hyperkohärenzbildungen zu verwirklichen sucht. Am Ende eines solchen Überdeterminierungsprozesses steht eine visuelle Ausdrucksgestalt, die auf wenigstens zwei kommunikative Grundprobleme antwortet. Zum einen flaggt ein Bildausschnitt die Frontseite des Magazins aus, der mit seiner Leerstelle, seinen Zentren und offenen Rändern, seinem Feldliniensystem und seinen zahlreichen Retuschen, die allesamt von den Attraktionslinien der Blickführung möglicherweise ablenkende Details aus dem Bild herausredigieren, mit offenbar genau jenen formal-ästhetischen Eigenschaften ausstaffiert ist, die das Aushängeschild eines Mediums aufbieten kann und muss, will es sich auf Wettbewerbsmärkten bewähren. Dann wirkt der zur profanen Werbefläche überformte Bildausschnitt für Blicke, welche die mit dutzenden von Konkurrenzprodukten gefüllten Auslagen der Kioske nur flüchtig streifen, als Aufmerksamkeitsgenerator, gefälliger Appetizer und mögliches Bindemittel der Kommunikation (vgl. Hahn2010). Zum anderen löstDummy Gaillards Fotografie vollständig aus ihrem originären Handlungs- und Bedeutungszusammenhang und übersetzt sie in einen Kontext, in dem weder der Tod des jungen Soldaten noch der politische und kriegerische Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern irgendeine Rolle mehr spielen.

5 Resümee

Aufgabe der Visuellen Wissenssoziologie ist die Rekonstruktion des Rahmenwerkes visueller Kommunikation. Für die sozialwissenschaftliche Analyse von Fotografien als spezifischen Ausdrucks- und Darstellungsformen visueller Kommunikation findet die Visuelle Wissenssoziologie ihre grundlegenden Ansatz- und Diskussionspunkte in der Phänomenologie von Roland Barthes und in der Soziologie von Pierre Bourdieu einerseits sowie in den kunsthistorischen Interpretationsansätzen von Erwin Panofsky und Max Imdahl andererseits. Für die fruchtbare Zusammenführung dieser für sich bereits sehr komplexen und dabei zudem hoch kontroversen theoretischen Positionen und empirischen Zugänge nutzt die Visuelle Wissenssoziologie die epistemologischen Grundzüge von Erving Goffmans Rahmen-Analyse als methodologisch-methodische Heuristik.

Für die methodisch kontrollierte Durchdringung des Rahmenwerkes visueller Kommunikation zwischen Einzelbild, Bildkontexten und Sozialmilieu zielt die sozialwissenschaftliche Untersuchung auf der ersten Rahmungsebene darauf ab, durch die in Anlehnung an Max Imdahls Ikonik vorgeschlageneKonstellationsanalyse die konkrete ästhetische Bauform einer Fotografie zu rekonstruieren. Auf diesem Weg soll der soziale Sinn eines visuellen Handelns bereits an jener empirischen Stelle feinanalytisch erschlossen werden, an der er in einem technisch voreingerichteten, daherprimären Rahmen zuallererst konstituiert, materialisiert, objektiviert und kommunikativ vermittelt wird: der Ordnung des fotografischenEinzelbildes. Die Analyse einer solchen Ordnung und die aus ihrer Rekonstruktion zu konstruierende Strukturhypothese über die bildgenerierende Sinnkonstruktion vermag dann Antwort zu geben auf die Frage, wie einzelne Elemente und Details eines visuellen Handelns an ihrer spezifischen Stelle in einem Kommunikationsgeschehen dazu beitragen, einem Handlungszusammenhang ein Sinn- und Bedeutungspotential zu verleihen. Darüber hinaus wird Aufschluss gegeben über die Weil-Motive und über die Um-zu-Motive eines visuellen Handelns (vgl. Schütz2004) und nicht zuletzt aufmerksam gemacht auf die fundamentale Bedeutung der Sinne und der sinnlichen Wahrnehmung für die Orientierung des Menschen in der Lebenswelt und für sein Handeln in der Sozialwelt (vgl. Simmel1992; Raab2001).

Weil in wissenssoziologischer Perspektive die hermeneutische Auslegung einer konkreten Erscheinungsform visuellen Handelns stets im Zusammenhang mit deren typischen und typisierbaren Beziehungen zu allgemeinen und verallgemeinerbaren historischen, kulturellen und sozialen Strukturen zu geschehen hat, führt die Untersuchung auf der zweiten Rahmungsebene zunächst die vielfältigenunmittelbaren und mittelbaren Bildkontexte in die Analyse ein, zu denen das fotografische Einzelbild entweder bereits direkt in Beziehung steht oder sich begründet in Beziehung setzen lässt und in denen bzw. aus denen heraus es eine spezifische kommunikative Wirkung und Bedeutung entfaltet.

Den äußersten Rahmen der wissenssoziologischen Analyse bilden schließlich die typischen und typisierbaren Strukturbeziehungen jenesSozialmilieus und seines Handlungshorizonts, dem das visuelle Handeln entstammt bzw. auf das es sich kommunikativ richtet. Der Einbezug dieser dritten Rahmungsebene gibt Einsicht in die lebensweltlich-historischen Bedingungen der Möglichkeit und gegebenenfalls der Notwendigkeit eines visuellen Handelns. So kann ein subjektiv gemeinter Sinn aus seiner Einbettung in Geschichte und Gesellschaft sowie aus den Bezügen zum Handlungs- und Deutungsmilieu seiner Sehgemeinschaft über eine idealtypische Konstruktion verständlich und erklärbar gemacht werden. Da aber die Handlungshorizonte sozialer Milieus allerdings auch Potentialitäten in sich tragen, müssen sich alle idealtypischen Konstruktionen an den konkreten, historisch sich wandelnden Erscheinungsformen und Ausdrucksgestalten visuellen Handelns immer wieder aufs Neue bewähren.