1 Einleitung

Wenn das international besetzte UNESCO-Welterbekomitee zusammentritt, berät es über so heterogene Gegenstände wie historische Städte, Flusslandschaften, Industriegelände, Korallenriffe, Felszeichnungen oder Weinkeller. Die Mitgliedsstaaten des Komitees verwalten auf ihrer jährlichen Sitzung die Liste des UNESCO-Welterbes: ein internationales Verzeichnis derjenigen Natur- und Kulturstätten, die gemäß dem Selbstverständnis der Initiatoren und Verwalter dieses Instruments von herausragender Bedeutung für die gesamte Menschheit sind. Den Stätten, die in der Welterbeliste verzeichnet sind, wird auf diese Weise zugeschrieben, dass ihre Bedeutung die Grenzen des Nationalstaates, auf dem sie sich befinden, überschreitet. Auf dieser Grundlage werden sie unter besonderen internationalen Schutz gestellt.

Das Verfahren zur Verleihung des Welterbetitels durch die UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) stellt eine spezifische Form der sozialen Produktion des Wertvollen dar: Ausgewählte Stätten des nationalen Erbes von Staaten werden auf der Grundlage international ausgehandelter Kriterien auf ihren Welterbestatus hin bewertet. Mit der Verleihung des Titels wird den Kultur- und Naturstätten vom Welterbekomitee ein „außergewöhnlicher universeller Wert“ („outstanding universal value“) zugesprochen. Diesem Universalitätsanspruch stehen kulturell spezifische Verständnisse und Bewertungen der einzelnen Stätten gegenüber. Wie kann eine Stätte, die in einem spezifischen nationalen und kulturellen Kontext von Bedeutung ist, einen universellen Wert erhalten? Wie tritt das, was bereits Gegenstand lokaler Praktiken der Wertschätzung ist, indem es beispielsweise von der Bevölkerung für seine Schönheit geschätzt, unter Denkmalschutz gestellt und von Fachleuten restauriert wird, vor die „Welt“? Das Welterbeverfahren verbindet die kulturelle Spezifik einer Stätte mit einem globalen Geltungsanspruch. Am Welterbe zeigt sich somit ein gegenwärtiges globales Strukturprinzip, das Roland Robertson (1992) abstrakt als ein Spannungsverhältnis zwischen Partikularität und Universalität bezeichnet hat. Universalistische Prinzipien, die selbst das Ergebnis spezifischer kultureller Entwicklungen des Okzidents sind (Weber 2004), aber eine über den „Westen“ hinausreichende Gültigkeit beanspruchen (Tönnies 1995), sind Robertson zufolge nicht unvereinbar mit Partikularismen. Robertsons Beobachtung eines doppelten Prozesses der Universalisierung des Partikularismus und der Partikularisierung des Universalismus (Robertson 1992, S. 100) sensibilisiert dafür, den Verschränkungen von Universalität und Partikularität in globalen Konstellationen nachzugehen. Diese Verschränkung zeigt sich auch in der spezifischen Inwertsetzung von Kultur- und Naturstätten zu einem Teil des Welterbes durch die UNESCO.

Worauf gründet sich der Universalitätsanspruch, die behauptete globale Geltung des kulturellen Wertes einer Stätte? Der vorliegende Beitrag bearbeitet diese Frage ausgehend von der These, dass der spezifische Produktionsmodus des UNESCO-Welterbes in einer praktischen Universalisierung des Partikularen, des kulturell und natural Spezifischen besteht. Unter „Universalisierung“ wird eine Vermittlungsarbeit verstanden, die konkrete Natur- und Kulturstätten mit der Vorstellung ihres gemeinsam geteilten Wertes für die gesamte Menschheit in Beziehung setzt. Dies geschieht über ein komplexes und voraussetzungsreiches transnationales Bewertungsverfahren, das im Folgenden genauer beleuchtet und systematisiert wird.

Mit dieser Untersuchung soll ein Beitrag zur Soziologie der Bewertung geleistet werden, die sich erst in jüngerer Zeit als umfassendes Forschungsprogramm konstituiert hat (Lamont 2012), obwohl Fragen der Klassifikation und Bewertung die Soziologie bereits seit Beginn ihrer Entwicklung als wissenschaftliche Disziplin beschäftigt haben (vgl. etwa Durkheim und Mauss 1987). Im Anschluss an die Perspektive dieses Forschungsprogramms, auf die im folgenden Abschnitt (2) eingegangen wird, sollen im Untersuchungsteil des Aufsatzes der institutionelle Rahmen der Bewertungskonstellation (vgl. den Beitrag von Meier et al. in diesem Heft), der Einsatz von und der Umgang mit den Bewertungskriterien sowie kurz auch ein spezifisches Beispiel für die Rolle der materiellen Infrastruktur im Bewertungsprozess betrachtet werden. Der Beitrag beschränkt sich auf die kulturellen Stätten des Welterbes, die, wie noch zu zeigen sein wird, insbesondere hinsichtlich ihrer Authentizität bewertet werden.

Öffentliche Auseinandersetzungen um die Bewertung des kulturellen Erbes, etwa in politischen oder gesellschaftlichen Debatten um den Erhalt von denkmalgeschützten Gebäuden, sind nicht selten konflikthaft und beziehen sich auf divergierende Kriterien, die häufig implizit bleiben. Im Rahmen des institutionalisierten UNESCO-Welterbeverfahrens werden dagegen in Vertragstexten und Richtlinien ausformulierte und systematisierte qualitative Kriterien zur Bewertung von Kultur verwendet, verhandelt und reflektiert. Um diesen Prozess besser zu verstehen, werden im weiteren Verlauf des Beitrages die zentralen Elemente des UNESCO-Bewertungsverfahrens beschrieben. Ausgehend von der Einsicht der Soziologie der Bewertung, dass Bewertungsprozesse von Momenten der Unsicherheit geprägt sind, die auf besondere Weise markiert und begrenzt werden, wird gezeigt, dass sich bei der Bestimmung des Welterbes vielfältige Bewegungen des Öffnens und Schließens beobachten lassen, die darauf gerichtet sind, den Bewertungsprozess zu strukturieren und so die Unsicherheit zu reduzieren (Abschnitt 3). Beispiele dafür sind etwa das Öffnen und Schließen der Welterbeliste oder die Arbeit an und die Arbeit mit den Bewertungskriterien. Die Kriterien werden im Bewertungsprozess meist als unproblematisch angesehen und als geschlossene Einheiten, als „black boxes“ eingesetzt. An anderen Stellen werden sie jedoch in besonders markierten Prozessen geöffnet, indem sie zur Debatte gestellt und einer Reflexion unterzogen werden, die zu einer Veränderung der Kriterien führen kann. Diese Bewegungen analysiert der Beitrag am Beispiel des Kriteriums der Authentizität, das in Reaktion auf die Kritik am Eurozentrismus des Welterbeverfahrens reflektiert und revidiert worden ist. Die Überarbeitung des Kriteriums lässt sich als Partikularisierung des Authentizitätsverständnisses begreifen (4.1). Im Unterschied dazu werden in den Sitzungen des Welterbekomitees und der dortigen Bewertungsdebatte die Kriterien des Welterbeverfahrens unhinterfragt eingesetzt. Hier lassen sich verschiedene Argumentationsstrategien der Diplomatinnen und Diplomaten identifizieren, mit denen die Universalität des Wertes der Stätten, die für eine Aufnahme in die Welterbeliste nominiert wurden, erwiesen werden soll (4.2). Sowohl die Veränderung von Bewertungskriterien als auch ihre Verwendung in der Bewertungspraxis sind Teil der Universalisierungsarbeit im UNESCO-Welterbeverfahren.

2 Das UNESCO-Welterbe als Fall einer Soziologie der Bewertung

Das UNESCO-Welterbeverfahren stellt ein spezifisches Verfahren der Produktion des kulturell Wertvollen dar. Die Stätten des UNESCO-Welterbes lassen sich mit Lucien Karpik (2011) als singuläre Entitäten begreifen. Ebenso wie Kunstwerke, Filme oder literarische Werke, die Karpik in seiner Studie zur Ökonomie des Einzigartigen untersucht hat, sperren sie sich gegen quantifizierende Bewertungen und lassen sich nur schwer vergleichen. Ihre Bewertung geschieht daher stets vor dem Hintergrund einer fundamentalen „Qualitätsunsicherheit“ (ebd., S. 24). Die Bearbeitung von Qualitätsunsicherheit bezüglich des kulturellen Erbes hat Nathalie Heinich in ihrer Studie La Fabrique du patrimoine. De la cathédrale à la petite cuillère (2009) analysiert. Sie arbeitet in Anlehnung an die Arbeiten des französischen Neopragmatismus (Boltanski und Chiapello 2003; Boltanski und Thévenot 1989, 2007) die Bewertungskriterien und Wertregime heraus, welche der Auswahl von Denkmälern und Artefakten für das zentrale Register des französischen Nationalerbes zugrunde liegen. Heinich zielt auf die Explizierung, Differenzierung und Systematisierung eines Katalogs an manifesten und latenten Kriterien, die von Experten aus dem kulturellen Feld bei der Entscheidung über die Aufnahme eines Gutes in das Inventar des französischen Nationalerbes angelegt werden. Authentizität erweist sich dabei als ein zentrales Kriterium zur Bewertung des kulturellen Erbes (Heinich 2011, S. 123), das in jedem Bewertungsfall aufgerufen und demonstriert werden muss. In der schematischen Systematisierung, der „critériologie“, die Heinich (2009, S. 164 ff.) aufstellt, wird Authentizität als offiziell formalisiertes und ausschließlich positiv konnotiertes (univokes) Kriterium charakterisiert. Diese Einschätzung trifft auch für die Vorstellung und Anwendung von Authentizität als Kriterium im Bewertungsprozess des UNESCO-Welterbes zu (vgl. Abschnitt 4.1). Im Unterschied zum französischen Nationalerbe erscheint die Bewertung dort jedoch aufgrund der Verhandlungen zwischen mehreren Nationalstaaten sowie aufgrund der Bewertungskonflikte zwischen den Experten des kulturellen Feldes und den Diplomaten als wesentlich spannungsgeladener.

Heinich wählt einen ethnografischen Zugang und entwickelt ihren Kriterienkatalog unter anderem aus der teilnehmenden Beobachtung der Arbeit von Expertinnen und Experten. Damit folgt sie dem Forschungsprogramm der Soziologie der Bewertung, das die Perspektive der Soziologie von der etablierten Untersuchung abstrakter gesellschaftlicher Werte (wie etwa in den Studien zum Wertewandel) hin zu alltäglichen und professionellen Praktiken der Bewertung sowie zu den damit verbundenen Institutionen und materiellen Arrangements verschiebt. Im Fokus dieses Forschungsprogramms stehen die konkreten Praktiken, die den Wert von Objekten hervorbringen (Heuts und Mol 2013). Diese Perspektive geht unter anderem auf den amerikanischen Pragmatismus und insbesondere John Dewey zurück. Dewey hat in seiner Theory of valuation (1939) die Vorstellung zurückgewiesen, dass Entitäten einen intrinsischen Wert besitzen, der außerhalb der menschlichen Praxis und Erfahrung liegt. Stattdessen begreift er Bewertungen als „empirically observable patterns of behavior“ (ebd., S. 51), als vorläufige Ergebnisse einer beständigen menschlichen Praxis, die unter veränderten Bedingungen revidiert werden. Dabei verweist er auf die situationalen Kontexte, die Bewertungen motivieren und ausrichten (ebd., S. 54 f.; vgl. dazu Muniesa 2011). Bewertungssituationen sind nach diesem pragmatistischen Verständnis Momente der Unsicherheit, die häufig sowohl räumlich als auch zeitlich markiert und begrenzt sind (Hutter und Stark 2015, S. 3 f.). Die Soziologie der Bewertung fokussiert dabei zum einen die Konflikte in den Bewertungsprozessen, welche die zu bewertenden Entitäten (Personen oder Objekte wie Waren etc.), die angemessenen Bewertungskriterien oder die Legitimität der bewertenden Personen und Institutionen betreffen können (Lamont 2012, S. 205). Zum anderen untersucht sie, wie Werte in vielfältigen Praktiken zugeschrieben werden, mit denen Entitäten zunächst unterschieden, also voneinander abgegrenzt und miteinander verglichen werden. Eine so verstandene Soziologie der Bewertung betrachtet also nicht abstrakte Kriteriensysteme, sondern die sozialen Praktiken, in denen diese aufrechterhalten, angelegt und verändert werden.

Entsprechend dieser Programmatik analysiert der vorliegende Beitrag die Bewertungsdebatte im Welterbekomitee im Hinblick auf bestehende Bewertungskonflikte und auf die praktische Herstellung des außergewöhnlichen universellen Wertes einer Welterbestätte. Er stützt sich auf Datenmaterial aus einem laufenden Forschungsvorhaben zur Produktion des kulturellen Erbes, das als „multi-sited ethnography“ (Marcus 1995) angelegt ist. In diesem Rahmen werden teilnehmende Beobachtungen an unterschiedlichen Orten durchgeführt, an denen das Welterbe verhandelt, verwaltet, geschützt oder kritisiert wird. Methodisch wird die teilnehmende Beobachtung ergänzt durch Experteninterviews sowie durch die Analyse der offiziellen Videodokumentation der Sitzungen des Welterbekomitees, der Berichte und Entscheidungsvorlagen, der historischen Beschlüsse und Protokolle sowie der relevanten internen Richtlinien des Welterbekomitees.Footnote 1 Der vorliegende Beitrag fokussiert die 39. Sitzung des Welterbekomitees 2015 in Bonn, anlässlich derer teilnehmende Beobachtungen, ethnografische Interviews und Experteninterviews durchgeführt wurden.

3 Die Bewertung im Welterbeverfahren

Im Folgenden werden die Charakteristika des Bewertungsverfahrens zur Evaluation und Produktion des UNESCO-Welterbes knapp skizziert. Dabei wird zunächst auf die relevanten Institutionen eingegangen, bevor das zentrale Instrument der Welterbeliste sowie der komplexe Kriterienkatalog betrachtet werden. Diese Elemente bilden den institutionellen Rahmen für die Arbeit an der Universalisierung des Wertvollen.

3.1 Die Institutionen des UNESCO-Welterbes

Die Vorstellung vom besonderen Wert einer Stätte für die gesamte Menschheit kann bis zu den Sieben Weltwundern der Antike zurückverfolgt werden kann. 1972 wurde ein völkerrechtlicher Vertrag geschlossen, der dieser Idee einen formalen Rahmen gibt: die „Convention Concerning the Protection of the World Cultural and Natural Heritage“ (Welterbekonvention) (UNESCO 1972).Footnote 2 Sie ist das bekannteste Programm der UNESCO, das weitreichendste internationale Übereinkommen zum Schutz von Kultur- und Naturerbe und mit gegenwärtig 191 Mitgliedsstaaten und -gebieten einer der meistratifizierten völkerrechtlichen Verträge. Die tragenden Institutionen der Konvention sind das Welterbekomitee als Exekutivorgan und das Sekretariat als Verwaltung. Das Welterbekomitee setzt sich aus 21 gewählten Mitgliedsstaaten der Konvention,Footnote 3 die alle Kontinente vertreten, zusammen. Es trifft sich jährlich zu einer Sitzung, auf der unter anderem über die Nominierungen neuer Welterbestätten diskutiert und entschieden wird. Es ist eine diplomatische Arena, in der unter anderem um nationales Prestige und globale Aufmerksamkeit gerungen wird, da Welterbestätten auch ein Einsatz in einer umfassenderen globalen Konkurrenz der Nationalstaaten um symbolische und ökonomische Gewinne sind (Bandelj und Wherry 2011).Footnote 4

Welterbe-Nominierungen können von allen Mitgliedsstaaten der Konvention für jeweils auf ihrem eigenen Territorium liegende Stätten eingebracht werden. Bei der Evaluation der Nominierungen sowie bei Fragen zum Erhalt der eingetragenen Stätten wird das Komitee von drei Fachgremien beraten, die mit Experten aus dem Bereich des Kulturgut- bzw. Naturschutzes besetzt sind. Für die Evaluation des Kulturerbes ist das „International Council on Museums and Sites“ (ICOMOS) zuständig. Eine Eintragung in die Welterbeliste erfolgt in mehrstufigen institutionellen Verhandlungs- und Bewertungsprozessen. Die Nationalstaaten erarbeiten in enger Abstimmung mit den beratenden Fachgremien umfangreiche Nominierungsanträge für ihre Stätten, die im Verlauf des Prozesses durch Gutachterkommissionen der Fachgremien evaluiert werden. Die Fachgremien formulieren Entscheidungsvorlagen, die vom Komitee übernommen oder debattiert und verändert werden können. Das Bewertungsverfahren ist also durch eine komplexe Verschränkung der Arbeit von Expertinnen und Experten aus dem kulturellen und dem politischen Feld gekennzeichnet (Brumann 2014).

3.2 Die Welterbeliste

Das Herz der Welterbekonvention bildet die UNESCO-Liste des Welterbes, das weltweit bekannte und beachtete Instrument des Programms. Die Liste wird von der Idee getragen, dass eine in ihr eingetragene Stätte zum Erbe der gesamten Menschheit gehört und deshalb eine Bedeutung hat, die über den Nationalstaat, auf dessen Territorium sie liegt, hinausreicht. Die Welterbeliste ist als kulturpolitisches Instrument der Lenkung von Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit auf internationaler Ebene eine spezifische Form der Produktion des Wertvollen.

Das Format der Welterbeliste kennt ausschließlich die Aufnahme oder Nichtaufnahme einer Stätte. Die aufgenommenen Stätten werden nicht qualitativ differenziert oder hierarchisiert. Es handelt sich also um ein Bewertungsverfahren des Ratings im Sinne einer klassifizierenden Einzelbewertung im Unterschied zum Ranking, das auf die Erstellung einer Rangliste zielt (Lamont 2012, S. 211). Die Welterbeliste ist lediglich nationalstaatlich sortiert.Footnote 5 Die einzig mögliche weitere Qualifizierung erfolgt, wenn das Komitee diejenigen Eigenschaften einer Stätte als bedroht ansieht, die zu ihrer Aufnahme in die Welterbeliste geführt haben. Die Stätte wird dann parallel in die sogenannte „Liste des Welterbes in Gefahr“ eingetragen, wodurch der jeweilige Staat zum Handeln aufgefordert wird. Dabei kann das Komitee sogar mit der Aberkennung des Titels und der Streichung von der Welterbeliste drohen.

Durch drohende oder vollzogene Aberkennungen und vor allem durch die neuen Nominierungen befindet sich die Welterbeliste in einem steten Wandel. Es gibt zudem keine Obergrenze für ihren Umfang: „No formal limit is imposed on the total number of properties to be inscribed on the World Heritage List“ (UNESCO 2015, § 58).Footnote 6 Aufgrund der stetig wachsenden Zahl von WelterbestättenFootnote 7 ist seit 1994 neben die bereits genannten formalen Kriterien die sogenannte „globale Strategie“ getreten, die den Auswahlprozess steuern soll: „The Global Strategy for a Representative, Balanced and Credible World Heritage List is designed to identify and fill the major gaps in the World Heritage List“ (UNESCO 2015, § 55).Footnote 8 Ziel ist es, die Ausgewogenheit und Repräsentativität der Liste zu erhöhen. Dabei haben sowohl Nationalstaaten Priorität, die bisher noch gar nicht oder nur mit wenigen Stätten auf der Liste vertreten sind, als auch Nominierungen, die inhaltliche Lücken der Liste schließen („filling the gaps“) (ICOMOS 2004). Bevorzugt sollen beispielsweise Erbestätten aufgenommen werden, die die Architektur der Moderne, das industrielle Erbe oder steinzeitliche Stätten auf der Liste repräsentieren. Die „Global Strategy“ bildet daher eine Art Meta-Kriterium des Auswahlprozesses, das sowohl bei der Begutachtung der nominierten Stätten als auch in den Debatten auf den Komiteesitzungen aufgerufen wird.

Das Instrument der „Liste“ lässt sich als ein komplexes Format der Produktion des Wertvollen begreifen.Footnote 9 Die nationalstaatliche Sortierung der Liste, ihre Unabgeschlossenheit sowie der Verzicht auf eine qualitative Hierarchisierung der Stätten prägen den Verhandlungs- und Bewertungsprozess. Im Begutachtungs- und Bewertungsverfahren geht es lediglich darum, die Listenwürdigkeit einer Stätte zu beweisen. Dafür wird durch Vergleiche mit anderen Stätten ihre Ebenbürtigkeit demonstriert. Sie muss jedoch nicht den anderen bereits gelisteten Stätten über- oder untergeordnet werden, wodurch Bewertungskonflikte entschärft und eine Prestigekonkurrenz zwischen den aufgenommenen Stätten vermieden werden. Die nationalstaatliche Logik der Liste erlaubt allerdings jederzeit einen Überblick darüber, welches Land mit wie vielen Stätten vertreten ist – eine Kennzahl, an die die beteiligten Nationalstaaten einen symbolischen Wert knüpfen. Die Unabgeschlossenheit der Liste garantiert den Mitgliedsstaaten grundsätzlich, ihre Ambitionen auf weitere Einschreibungen erfüllen zu können. Die Bemühungen von Staaten, die bislang nur mit wenigen Stätten auf der Liste vertreten sind, werden dabei durch die „Global Strategy“ unterstützt, die einen Vergleich unter den bereits aufgenommenen Stätten eingeführt hat und eine nominierte Stätte zu diesen in Beziehung setzt, um eine inhaltliche Lücke auf der Liste zu identifizieren. Somit wirkt die thematische und globale Verteilung der Stätten auf der Liste bereits auf den Auswahlprozess der Nationalstaaten zurück, die sich verstärkt bemühen, „passende“ Kultur- und Naturgüter zu nominieren. Wie die thematische Passung einer nominierten Stätte zu einem Argument im Bewertungsverfahren wird, wird unten in Abschnitt 4.2 an einem Fallbeispiel genauer beschrieben.

3.3 „Outstanding universal value“ und das System der Bewertungskriterien

Im Verlauf des Welterbeverfahrens wird jede nominierte Stätte anhand einer Reihe von Kriterien bewertet. Im Zentrum der Bewertung des Welterbes steht dessen „outstanding universal value“, also der außergewöhnliche universelle Wert einer Stätte. Der Begriff wird in der Präambel der Welterbekonvention eingeführt, in dem Dokument jedoch nicht genauer definiert. Im Rechtskommentar zur Welterbekonvention wird er wie folgt ausgelegt: Die verfahrensrechtlich relevante Bedeutung von „outstanding“ orientiert sich stark am Alltagsgebrauch des Begriffs und bezeichnet „something that is unique, exceptional, excellent, or very special“ (Francioni 2008, S. 18). Aus diesem Verständnis folgt, dass die Exzellenz einer zur Debatte stehenden Stätte durch eine vergleichende Evaluation bewiesen werden muss (ebd.).

Zur genaueren Bestimmung des außergewöhnlichen universellen Werts einer Stätte wurden im Lauf der Geschichte der Konvention eine Reihe von Kriterien entwickelt und mehrfach überarbeitet. Sie lassen sich in zehn „Begründungskriterien“ und drei „Bedingungskriterien“ differenzieren (Albert und Ringbeck 2015, S. 24 ff.). Jede nominierte Stätte muss zunächst mindestens eines der Begründungskriterien erfüllen, um ins Welterbe aufgenommen werden zu können (UNESCO 2015, § 77). Die bei der Einführung der Konvention noch strikt getrennten Begründungskriterien für das Kultur- und das Naturerbe sind 2005 zusammengefasst worden, um die Nominierungen flexibler zu gestalten und etwa die Aufnahme von Kulturlandschaften zu ermöglichen, bei denen es sich um vom Menschen geprägte Naturräume handelt. Relevant für die Begründung des Welterbestatus kultureller Stätten sind die ersten sechs Kriterien. Ihnen zufolge muss demonstriert werden, dass die Nominierungen „(i) ein Meisterwerk der menschlichen Schöpferkraft darstellen; (ii) für einen Zeitraum oder in einem Kulturgebiet der Erde einen bedeutenden Schnittpunkt menschlicher Werte in Bezug auf die Entwicklung der Architektur oder Technik, der Großplastik, des Städtebaus oder der Landschaftsgestaltung aufzeigen; (iii) ein einzigartiges oder zumindest außergewöhnliches Zeugnis von einer kulturellen Tradition oder einer bestehenden oder untergegangenen Kultur darstellen; (iv) ein hervorragendes Beispiel eines Typus von Gebäuden, architektonischen oder technologischen Ensembles oder Landschaften darstellen, die einen oder mehrere bedeutsame Abschnitte der Geschichte der Menschheit versinnbildlichen; (v) ein hervorragendes Beispiel einer überlieferten menschlichen Siedlungsform, Boden- oder Meeresnutzung darstellen, die für eine oder mehrere bestimmte Kulturen typisch ist, oder der Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt, insbesondere, wenn diese unter dem Druck unaufhaltsamen Wandels vom Untergang bedroht wird; (vi) in unmittelbarer oder erkennbarer Weise mit Ereignissen oder überlieferten Lebensformen, mit Ideen oder Glaubensbekenntnissen oder mit künstlerischen oder literarischen Werken von außergewöhnlicher universeller Bedeutung verknüpft [sind]“ (deutsche Übersetzung der Begründungskriterien nach Deutsche UNESCO-Kommission et al. 2009, S. 221 f.). Die Begründungskriterien spielen eine zentrale Rolle im Nominierungs-, Evaluierungs- und Auszeichnungsverfahren des Welterbekomitees.Footnote 10 Sie „begleiten“ eine Stätte gewissermaßen durch den gesamten Bewertungsprozess. Der Bezug zu dem jeweiligen Kriterium muss bereits im Nominierungsantrag ausführlich begründet sowie durch Vergleiche mit anderen Stätten belegt werden. Die Vergleichsstätten können selbst Teil des Welterbes sein; es kann sich aber auch um andere für bedeutend erachtete Orte handeln. Ergänzend wird auch auf wissenschaftliche Literatur aus dem Bereich der Kunstgeschichte und Denkmalpflege rekurriert. Die Evaluation durch die Fachgremien bezieht sich auf die jeweils von den nominierenden Staaten vorgebrachten Kriterien, Begründungen und Vergleiche und bewertet deren Überzeugungskraft. Im UNESCO-Welterbeverfahren sind somit die Aspekte der Evaluation und der Produktion des Wertvollen untrennbar miteinander verschränkt (vgl. dazu auch Heuts und Mol 2013).

Neben den Begründungskriterien finden drei Bedingungskriterien im Verfahren Verwendung, die zur Aufnahme in die Welterbeliste zwingend erfüllt werden müssen: Für jede Stätte muss, erstens, ihre Integrität, d.h. Unversehrtheit und Vollständigkeit bewiesen sowie, zweitens, ein überzeugender Schutz- und Verwaltungsplan vorgelegt werden. Für das kulturelle Erbe muss darüber hinaus, drittens, als zentrales Kriterium auch dessen Authentizität erwiesen sein (vgl. dazu Abschnitt 4.1). In den „Operational Guidelines“ stehen diese zwei bzw. drei Kriterien gleichwertig nebeneinander (UNESCO 2015, § 78). In der Praxis lässt sich jedoch beobachten, dass das Welterbekomitee häufig auch dann Einschreibungen vornimmt, wenn ein Managementplan von den Fachgremien bemängelt wurde. Diesem Kriterium wird somit in der Bewertungsdebatte seitens der Diplomaten eine geringere Relevanz beigemessen.

Der Wert des Welterbes, seine Bedeutung für die gesamte Menschheit, wird also im Zusammenspiel verschiedener heterogener Elemente produziert, die als „constraints“ (Lamont 2012, S. 211 ff.) den Rahmen des Bewertungsprozesses bilden. Die Wertzuschreibung des Welterbes vollzieht sich 1.) mittels einer unabgeschlossenen, in sich qualitativ nicht weiter differenzierten Liste, 2.) unter Bezug auf den übergeordneten außergewöhnlichen universellen Wert, der vergleichend demonstriert und festgestellt wird, 3.) in Relation zu einem komplexen und formalisierten Kriteriensystem, 4.) auf einer jährlichen Sitzung von Diplomaten, die 5.) Empfehlungen von Experten aus dem kulturellen Feld folgen, diese jedoch auch ignorieren oder modifizieren können. Dabei kommt es regelmäßig zu Bewertungskonflikten zwischen den Nationalstaaten sowie zwischen Experten und Laien und zwischen den Experten der Fachgremien und den Diplomaten (siehe dazu 4.2).

Die jährliche Debatte des Welterbekomitees über die Ergänzung der Welterbeliste um neue Stätten stellt einen zeitlich und räumlich begrenzten Moment der Unsicherheit dar (Berthoin Antal et al. 2015), in dem Argumente ausgetauscht, Vergleiche vorgenommen und Bewertungskonflikte ausgetragen werden. Im Bewertungsprozess lassen sich verschiedene Bewegungen des Öffnens und Schließens beobachten, die darauf gerichtet sind, den Prozess zu strukturieren und die Unsicherheit dieser Momente zu reduzieren: Die Welterbeliste wird nur einmal jährlich geöffnet und dann wieder geschlossen; die im Vorfeld der Sitzung formulierten Entscheidungsvorlagen können vom Komitee übernommen oder zur Debatte freigegeben und wieder geschlossen werden. Auch einzelne Kriterien – wie etwa das der Authentizität – werden zum Gegenstand von Öffnungen und Schließungen. Bei der Analyse des Welterbeverfahrens lässt sich feststellen, dass die Arbeit mit den Bewertungskriterien zeitlich (und räumlich) deutlich von der Arbeit an diesen Kriterien separiert wird. Sie können entweder unhinterfragt angewendet oder selbst zum Gegenstand eines institutionellen Reflexionsprozesses werden. Im ersten Fall werden die Kriterien als unproblematisch angesehen und als „black box“ behandelt, wie man in Anlehnung an die „Science and Technology Studies“ sagen kann (Latour 1987, S. 2 f. und passim). Mit diesem Begriff kann eine hilfreiche analytische Unterscheidung zwischen der bloßen Verwendung einer (materiellen oder ideellen) Entität und ihrem „Problematischwerden“, ihrer Analyse oder ihrer Umarbeitung getroffen werden. In letzterem Fall wird ein Kriterium einer Überarbeitung unterzogen und somit die „black box“ „geöffnet“, um im Bild zu bleiben.

4 Aspekte der Universalisierungsarbeit im UNESCO-Welterbe

In den nächsten beiden Abschnitten soll sowohl der Arbeit an als auch der Arbeit mit den Kriterien gefolgt und genauer betrachtet werden, wie die Universalität der auf der Liste verzeichneten Stätten praktisch hergestellt wird und auf welche Weise die Stätten mit der Vorstellung ihres gemeinsam geteilten Wertes für die gesamte Menschheit in Beziehung gesetzt werden. Zunächst wird untersucht, wie Konflikte um die Kategorie der Authentizität zu einer Revision dieses Kriteriums geführt haben. Die Überarbeitung des Kriteriums lässt sich als eine Partikularisierung des UNESCO-Verständnisses von Authentizität begreifen (4.1). Anschließend wird anhand des Beispiels einer Debatte des Welterbekomitees der Einsatz der Bewertungskriterien betrachtet. Hier werden verschiedene Argumentationsstrategien herausgearbeitet, die darauf zielen, den „außergewöhnlichen universellen Wert“ einer Stätte zu beweisen (4.2).

4.1 Die Arbeit am Authentizitätskriterium

Die Entwicklung des Authentizitätskriteriums im Welterbeverfahren lässt sich als inhaltliche Öffnung beschreiben, der ein Konflikt um das angemessene Verständnis von Authentizität vorausgeht. Grundsätzlich bestätigt sich Heinichs (2009) bereits angesprochene Diagnose aus dem Bereich des nationalen Kulturerbes: Authentizität ist auch beim UNESCO-Welterbe ein zentrales Bewertungskriterium, das formal festgelegt ist und generell positiv betrachtet wird. Es wird 1977 in den „Operational Guidelines“, den ersten Verfahrensrichtlinien, die sich das Welterbekomitee gegeben hat und die seitdem mehrfach überarbeitet worden sind, als zentrales Bewertungskriterium eingeführt. Voraussetzung für die Aufnahme einer Stätte in die Welterbeliste ist demzufolge, dass die Authentizität einer Stätte erwiesen wird: „the property should meet the test of authenticity in design, materials, workmanship and setting“ (UNESCO 1977, § 9). Dieses an der physischen Qualität von Objekten orientierte Verständnis von Authentizität im Sinne von historischer Echtheit hat in der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte eine lange Tradition (Knaller 2006). Authentizität wird dabei zum einen auf Kontinuitätsvorstellungen und zum anderen insbesondere auf den Erhalt der ursprünglich verwendeten Originalmaterialien und die an ihnen ablesbaren „Altersspuren“ gegründet (Falser 2012, S. 77). Ein zentrales Dokument des europäischen Verständnisses von Authentizität ist die sogenannte „Charta von Venedig“. In dem Grundsatzpapier zum Denkmalschutz von 1964, der „International Charter for the Conservation and Restoration of Monuments and Sites“, das ein modernes Restaurierungsverständnis ausdrückt und bis heute eine zentrale Referenz im Feld darstellt, ist das Kriterium der Authentizität zum ersten Mal im Kontext des Denkmalschutzes verwendet worden. Die Restaurierung von Denkmälern, Stätten und Artefakten soll der Charta zufolge am Prinzip des minimalen Eingriffs sowie an einer wissenschaftlichen Voruntersuchung und Expertise ausgerichtet werden. Der Wert eines Kulturgutes wird an dessen originale Materialien gebunden, die es zu erhalten gilt. Die international anerkannte Charta von Venedig ist gleichzeitig das Gründungsdokument des UNESCO-Fachgremiums ICOMOS. Die in der Charta formulierte europäische Konzeption von Authentizität wird durch dessen Einfluss auf die ersten „Operational Guidelines“ zur Grundlage des globalen UNESCO-Verständnisses von Authentizität und im Welterbeverfahren zur universalen Anwendung gebracht (Falser 2012, S. 63 ff.; Labadi 2013, S. 25 ff.). Dieses Authentizitätsverständnis soll im Folgenden kurz als „materialorientiert“ bezeichnet werden. Aufgrund seiner Kontinuitäts- und Materialorientierung vertritt das Authentizitätskonzept des UNESCO-Welterbes folglich zunächst ein eurozentrisches Verständnis von kulturellem Erbe.

Obwohl in den frühen Jahren der Geltung der „Operational Guidelines“ von 1977 bereits vereinzelt die Position vertreten wurde, dass die formulierten Authentizitätskriterien als ein flexibler Rahmen verstanden werden müssen und eine Stätte relativ zu ihrer jeweiligen Herkunftskultur bewertet werden sollte, herrschte in der Nominierungs- und Bewertungspraxis lange das materialorientierte Verständnis von Authentizität vor, indem die Anwendung des Kriteriums stets mit Vorstellungen von Originalität und Ursprünglichkeit verknüpft wurde (Labadi 2010, S. 67f.). Erst in den 1990er-Jahren setzte eine grundsätzliche Reflexion des Authentizitätskriteriums ein. Sie stand im Kontext einer breiten Debatte unter Expertinnen und Experten für kulturelles Erbe um die Dominanz des westlich-eurozentrischen Verständnisses von Welterbe (Byrne 1991; Cleere 2000; Labadi 2013, S. 11 ff.). Dabei wurde unter anderem die universale Geltung der wissenschaftlichen Expertise bei der Bewertung kultureller Güter sowie die Materialfixiertheit europäischer Vorstellungen von kulturellem Erbe kritisiert. Es wurde argumentiert, dass dadurch kulturell divergierende Positionen vom Welterbe ausgeschlossen werden, etwa Gemeinschaften, deren Kultur auf oraler Überlieferung beruht,Footnote 11 oder Authentizitätsvorstellungen, die nicht an die Idee der Ursprünglichkeit oder an die Materialität einer Stätte gebunden sind. Als Beispiel dafür wurden häufig japanische Holztempel wie der shintoistische Ise-Schrein genannt, der in regelmäßigen Abständen rituell zerstört und komplett neu errichtet wird.Footnote 12

Als Reaktion auf die Kritik am vorherrschenden Eurozentrismus der Welterbekonvention wurde das Authentizitätskriterium 1994 auf einem Treffen internationaler Experten aus dem Kulturbereich im japanischen Nara eingehend diskutiert. In Vorträgen und Diskussionen wurden interkulturell divergierende Auffassungen von Authentizität ausgetauscht und verhandelt, um zu einem erweiterten Verständnis von Authentizität zu gelangen. Wie im Vorwort zur Tagungspublikation hervorgehoben stellt das Ergebnis dieses Arbeitstreffens eine Bewegung „from a eurocentric approach to a post-modern position characterized by recognition of cultural relativism“ (Larsen 1995, S. xiii) dar.

Das aus dem Arbeitstreffen hervorgegangene „Nara Document on Authenticity“ (ICOMOS 1994) ist im Zuge der Überarbeitung der „Operational Guidelines“ (UNESCO 2005) in die Praxis der Auslegung der Welterbekonvention eingegangen. Es bekräftigt den Stellenwert von Authentizität für die Bewertung von Welterbe, lässt jedoch die westlich-eurozentrische Prägung des Konzepts hinter sich, indem es nicht länger eine ausschließlich auf materielle Artefakte bezogene Definition von Authentizität vertritt, sondern ein kulturrelativistisches und fallspezifisches Verständnis entwickelt: „Depending on the nature of the cultural heritage, its cultural context, and its evolution through time, authenticity judgements may be linked to the worth of a great variety of sources of information. Aspects of the sources may include form and design, materials and substance, use and function, traditions and techniques, location and setting, and spirit and feeling, and other internal and external factors. The use of these sources permits elaboration of the specific artistic, historic, social, and scientific dimensions of the cultural heritage being examined“ (ICOMOS 1994, § 13).

Das Nara-Dokument steht somit für eine interkulturelle Öffnung und Erweiterung des Authentizitätsverständnisses. Es stellt neben die klassischen, materialorientierten Aspekte, die bereits im „test of authenticity“ genannt wurden, auch immaterielle Aspekte wie den Gebrauch und die Funktion einer Stätte oder „Geist und Gefühl“ als Quellen der Begründung ihres Wertes. Mit dem Register „Gebrauch und Funktion“ öffnet das Nara-Dokument das Authentizitätsverständnis für die Anerkennung funktionaler Kontinuität, die auf einen diachron nachweisbaren Gebrauch gegründet wird; das Register „Geist und Gefühl“ dagegen lässt Kontinuitätsvorstellungen ebenso hinter sich wie eine wissenschaftliche Beweisbarkeit. Die Anerkennung der Notwendigkeit einer kulturrelativistischen Betrachtung von Authentizität drückt sich auch darin aus, dass die Analyse auf heterogene „Informationsquellen“ verwiesen wird, von denen ausgehend sich der jeweilige Kontext der betrachteten Stätte erschließen lässt.

Mit dem Nara-Prozess, der sich auf eine explizite Arbeit an dem Authentizitätskriterium durch wissenschaftlichen Austausch und die Formulierung eines Positionspapiers stützte, hat die Welterbekonvention die Einbindung nicht-westlicher Authentizitätsverständnisse ermöglicht. Nachdem das UNESCO-Verständnis von Authentizität zunächst das europäische Verständnis universal gesetzt hatte, wird nun die Relativität von Kultur stärker berücksichtigt. Die Arbeit an der Definition des Authentizitätskriteriums kann insofern als Partikularisierung der Authentizitätsvorstellung durch die UNESCO verstanden werden, als sie die Auslegungsmöglichkeiten und damit die Anwendbarkeit des Authentizitätskriteriums erweitert hat. Durch die Revision des Authentizitätskriteriums erweitern sich für die nominierenden Nationalstaaten die Möglichkeiten, das Authentizitätskriterium der Welterbekonvention zu erfüllen. Das zentrale Kriterium zum Aufweis des außergewöhnlichen universellen Wertes kultureller Stätten erhält seinen globalen Geltungsanspruch somit gerade durch die Integration kulturrelativistischer Auffassungen.

Betrachtet man die konkrete Verwendung des Authentizitätskriteriums im Bewertungsprozess, so wird deutlich, dass sich die Nominierungsdossiers der Nationalstaaten auch nach der Neudefinition noch häufig auf das materialorientierte Verständnis von Authentizität berufen (Labadi 2010). Es gibt jedoch auch Fälle, an denen sich zeigt, dass sich die Veränderung des Authentizitätsverständnisses auf die Bewertung auswirkt. So wurde auf der 39. Sitzung des Welterbekomitees 2015 in Bonn beispielsweise ein Antrag debattiert, dessen Bewertung durch das Fachgremium ICOMOS das Nara-Verständnis von Authentizität aufruft. In der Evaluation des Antrages „Sites of Japan’s Meiji Industrial Revolution“, der 23 ehemalige Standorte der japanischen Minen-, Stahl- und Schiffsbauindustrie aus der Mitte des 19. und dem frühen 20. Jahrhundert umfasst,Footnote 13 stuft ICOMOS zwar die materiale Originalität der Stätten als gering ein; ihre Authentizität wird jedoch über ihre Funktion als Erinnerungsstätten begründet und somit auf ihren sozialen Gebrauch in der Gegenwart bezogen.Footnote 14 Dabei wird ein kontextuelles Verständnis von Authentizität angelegt, das die Bedeutung einer Stätte explizit auch aus anderen mit der Stätte in Verbindung stehenden Informationsquellen heraus entwickelt: Die Evaluation von ICOMOS verweist hier auf „a large repository of historical sources held in both public and private archives“Footnote 15 und somit auf Dokumente, die selbst nicht Teil des Nominierungsantrages sind. In diesem Fall hat das partikularisierte Verständnis des Authentizitätskriteriums aus dem Nara-Dokument also Eingang in die praktische Universalisierungsarbeit des Welterbekomitees gefunden.

4.2 Die Arbeit mit den Bewertungskriterien im Welterbekomitee

Die Bewertungsdebatte im Welterbekomitee ist ein Ausschnitt aus dem komplexen transnationalen Bewertungsprozess, in dem Natur- und Kulturerbestätten mit der Vorstellung ihres gemeinsam geteilten Wertes für die gesamte Menschheit in Beziehung gesetzt werden. Nach der Arbeit an einem zentralen Bewertungskriterium des Bewertungsprozesses – dem der Authentizität – soll nun an einem weiteren Beispiel die Arbeit mit den Bewertungskriterien im Entscheidungsprozess des Komitees näher betrachtet werden. Auf der 39. Sitzung des Welterbekomitees 2015 in Bonn wurde der deutsche Antrag verhandelt, den Naumburger Dom und die Landschaft entlang der Flüsse Saale und Unstrut in Sachsen-Anhalt in die Welterbeliste aufzunehmen.Footnote 16 Der Antrag mit dem Titel „The Naumburg Cathedral and the Landscape of the Rivers Saale and Unstrut – Territories of Power in the High Middle Ages“ nominierte ein weiträumiges Gebiet, das den Dom und die Stadt Naumburg, ein Kloster, mehrere Burgen, Dörfer und Dorfkirchen sowie die sie umgebende Landschaft mit Verkehrswegen mittelalterlichen Ursprungs umfasst. Auch einige umliegende Weinberge sowie eine archäologische Stätte, die neolithische Kreisgrabenanlage von Goseck, finden in dem Antrag Erwähnung. Die Einzigartigkeit des nominierten Gebietes wird über den im Antrag zentralen Begriff der mittelalterlichen „Herrschaftslandschaft“ begründet. Der Nominierungsantrag beruft sich dabei auf zwei der zehn Begründungskriterien und beschreibt das nominierte Gebiet als eine Landschaft, die einen bedeutsamen Abschnitt der Geschichte der Menschheit versinnbildlicht (iv), sowie als Beispiel für eine überlieferte menschliche Siedlungsform und für die Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt (v).

Den teilnehmenden Delegierten lag bereits vor der Sitzung die 15-seitige Stellungnahme vor, mit der ICOMOS als beratendes Fachgremium empfiehlt, den Nominierungsantrag endgültig abzulehnen.Footnote 17 Die Begründung von ICOMOS stützt sich im Wesentlichen auf drei Kritikpunkte. Erstens wird der Stätte die notwendige Außergewöhnlichkeit abgesprochen, denn „what is purported to be unique in the nominated area instead appears commonplace within Europe“Footnote 18. Die argumentativ zentrale Begründungsfigur der „territories of power“ trägt nach Einschätzung von ICOMOS nicht dazu bei, die Besonderheit des nominierten Gebietes gegenüber anderen Regionen in Europa zu erweisen. Der Nominierungsantrag habe demzufolge nicht die Einzigartigkeit der Stätte mit Blick auf die beanspruchten Begründungskriterien beweisen können. Zweitens wird auch die Erfüllung der Bedingungskriterien Authentizität und Integrität in Zweifel gezogen. Die Authentizitätsprüfung ist stets auf das Begründungskriterium bezogen, auf das sich die jeweilige Nominierung zur Demonstration der Einzigartigkeit der Stätte beruft. In Relation zum Kriterium (iv) weist ICOMOS etwa die behauptete Authentizität der Kulturlandschaft zurück, denn „field parcels have seen changed their size, their use, therefore the visible landscape has been remodelled, modified or reconstructed in later centuries“Footnote 19. Damit sieht ICOMOS keine historische Kontinuität der landschaftlichen Bestandteile der nominierten Erbestätte vorliegen. Der dritte zentrale Kritikpunkt betrifft das Verhältnis der Nominierung zu den bereits in die Welterbeliste aufgenommenen Stätten. Deutsche Stätten aus dem Mittelalter sind dort bereits hinreichend vertreten.Footnote 20 Dieser Hinweis von ICOMOS begründet die Ablehnung also mit Bezug auf die „Global Strategy“, die festlegt, dass bei der Aufnahme neuer Stätten in die Welterbeliste diejenigen zu bevorzugen sind, die inhaltliche Lücken der Liste schließen.

Auf der Komiteesitzung debattierten die Delegierten einen vorformulierten Entwurf für die Ablehnung des Antrags.Footnote 21 Es regte sich starker Widerspruch. An der Diskussion beteiligten sich insgesamt 18 der 21 Komiteemitglieder, die ausnahmslos dafür plädierten, eine Überarbeitung des Antrags zu ermöglichen, oder sich diesem Wunsch zumindest mit einer kurzen Stellungnahme anschlossen. Sie setzten sich damit über das Urteil des Fachgremiums hinweg. Am Ende der Aussprache stand die Formulierung eines neuen Entscheidungsentwurfs, der den Nominierungsantrag zwar in seiner vorliegenden Form zurückweist, jedoch eine Überarbeitung und Wiedereinreichung ermöglicht („deferral“).Footnote 22

Im Folgenden soll auf der Grundlage einer teilnehmenden Beobachtung genauer herausgearbeitet und systematisiert werden, welche Argumentationsstrategien in der Debatte zur Anwendung kamen, um den „außergewöhnlichen universellen Wert“ der nominierten Stätte zu begründen. Zunächst fällt auf, dass viele Delegationen ihr Statement – diplomatischen Gepflogenheiten gemäß – mit einem Lob für die Arbeit des Fachgremiums ICOMOS eröffnen. Allerdings sehen die stimmberechtigten Delegierten im Unterschied zu ICOMOS ausnahmslos einen „outstanding universal value“ der Stätte vorliegen oder sehen zumindest eine Möglichkeit, diesen zu „demonstrieren“, wie es die Teilnehmer im Feld ausdrücken. Paradigmatisch ist die Aussage Japans: „if the site is proposed with different nomination strategy there are possibilities to show sufficient OUV“Footnote 23. In einer Umkehrung des Bewertungsprozesses stellen die Mitgliedsstaaten damit, erstens, argumentativ ihr Urteil über den außergewöhnlichen universellen Wert dieser Stätte an den Anfang und suchen nach Möglichkeiten, das gewünschte Ergebnis durch eine Veränderung des Ausgangspunktes der Bewertung zu erreichen. In diesem Fall steht also die Wertbehauptung des „outstanding universal value“ zunächst unbegründet im Raum. Die charakteristische sprachliche Verkürzung von „outstanding universal value“ auf „OUV“ verstärkt dabei den Eindruck, dass es sich bei dem außergewöhnlichen universellen Wert um einen Gegenstand mit unzweifelhafter Existenz und Evidenz handelt: „There is OUV“.

Die Delegierten präsentieren in ihren Plädoyers für eine Wiedereinreichung des Antrages verschiedene Lösungsansätze, wie sich der „OUV“ demonstrieren ließe. Eine Strategie, den universellen Wert der diskutierten Stätte zu beweisen, ist, zweitens, die Neu-Relationierung: Dabei wird auf eine Verschiebung des zugrundegelegten Begründungskriteriums abgestellt, wie etwa durch Vietnam, das die Stätte als Zeugnis einer kulturellen Tradition behandelt sehen will und daher Kriterium (iii) als Ausgangspunkt vorschlägt, da dieses einen bestimmten Abschnitt der europäischen Geschichte, nämlich den Kampf zwischen der spirituellen und der weltlichen Macht, zu erfassen vermag. Damit greift die Delegation den Kerngedanken des Nominierungsdossiers – die mittelalterliche „Herrschaftslandschaft“ – auf, der allerdings von ICOMOS – in Bezug auf die Kriterien (iv) und (v) – bereits als unzureichende Begründung zurückgewiesen wurde.

Eine dritte Argumentationsstrategie ist die Konzentration des Antrags auf bestimmte Komponenten, also eine Verkleinerung des beantragten Umfangs der Stätte. Ziel dieser Strategie ist der Ausschluss von als problematisch angesehenen Aspekten der Nominierung. So schlägt beispielsweise Serbien vor, auf einzelne, weniger überzeugende Elemente der Stätte (wie die Erwähnung der Verkehrswege) zu verzichten. Dabei solle jedoch nicht der Dom ausgeschlossen werden, der nach Meinung des Delegierten im Zentrum der Nominierung steht. Japan verweist dagegen auf ein anderes Element des nominierten Gebietes, die Kreisgrabenanlage von Goseck, als möglichen Kern für einen überarbeiteten Nominierungsantrag. Bei dieser Begründungsstrategie steht der Zuschnitt des Bewertungsobjekts selbst zur Debatte. Es zeigt sich, dass das Bewertungsobjekt im Prozess beweglich und anpassbar wird, wenn ein Konflikt die Passung zwischen Kriterium und Objekt infrage stellt.

Viertens ignorieren die Mitgliedsstaaten – insbesondere diejenigen, die ihre Argumentation auf den Dom stützen – weitgehend den Standpunkt von ICOMOS, dass die Nominierung allein aufgrund des Meta-Kriteriums der Ausgewogenheit der Welterbeliste nicht auf diese aufgenommen werden sollte. In der Debatte findet kein ausführlicher Vergleich zwischen der nominierten Stätte und den bereits gelisteten Stätten statt, wie er der „Global Strategy“ entsprechend nötig wäre und von ICOMOS vorgenommen wurde. Einzig der Vorschlag Japans, im Nominierungsdossier die Bedeutung der Kreisgrabenanlage von Goseck zu betonen, kann in die Richtung interpretiert werden, der „Global Strategy“ gerecht zu werden und einen „gap“ in der Welterbeliste zu identifizieren, da neolithische Stätten in der Welterbeliste noch wenig repräsentiert sind. Die Türkei greift zwar das Gegenargument von ICOMOS auf, behauptet aber kontrafaktisch „the central European High Middle Ages we believe are underrepresented“. De-facto-Behauptungen, die auf einem wirklichkeitssetzenden Sprechakt beruhen, können somit als fünfte beobachtete Argumentationsstrategie von Delegierten gefasst werden. Im Hinblick auf das Meta-Kriterium der Ausgewogenheit der Welterbeliste lassen sich also im Wesentlichen Strategien des Ignorierens oder der kontrafaktischen Behauptung identifizieren. An ihnen lässt sich zum einen ablesen, dass die Delegierten kein überzeugendes Argument finden, um diesen Mangel der Nominierung zu beheben. Zum anderen wird deutlich, dass das Meta-Kriterium weniger Gewicht hat als die Begründungs- und die Bedingungskriterien.

Eine sechste und zentrale Argumentationslinie ist schließlich der Aufweis des außergewöhnlichen universellen Wertes auf der Basis einzelner, im Antrag zusammengefasster Elemente. So geht etwa Kroatien vor, deren Delegierte eine bekannte Skulptur aus dem Westchor des Naumburger Doms, die sogenannte Uta von Naumburg, anführt und ihre Bedeutung für die Kunstgeschichte aufgrund ihrer Verbreitung „in every manual of art and architecture of the Middle Ages“ hervorhebt. Diese Bemerkung wie auch der Hinweis der Delegierten, die Statue habe Künstler von Spanien bis Polen in ihrer Arbeit inspiriert, lassen sich als Versuch interpretieren, den universellen Wert der nominierten Stätte mit dem Verweis auf ihre grenzüberschreitende Bedeutung zu begründen. Der behauptete international anerkannte Wert der ins Feld geführten Statue soll somit auf die gesamte Nominierung übertragen werden, um ihren Universalitätsanspruch zu untermauern.

Auch Serbien bezieht sich explizit auf die mittelalterlichen Skulpturen im Westchor des Doms und bezeichnet die Uta von Naumburg sogar in einem hochgreifenden Vergleich als „Mona Lisa in the realm of sculpture“. Dieser Vergleich soll abschließend genauer betrachtet werden, da er aus zweierlei Gründen besonders interessant ist: Sein Zustandekommen wirft zum einen ein Licht auf die materielle Dimension der Bewertungskonstellation, und zum anderen stellt seine Formulierung eine spezifische Argumentationsstrategie zur Begründung des außergewöhnlichen universellen Wertes dar. Für das Zustandekommen des Mona-Lisa-Vergleichs erwies sich ein Dokument als zentral, das die Praktikantinnen der deutschen Delegation am Tag der Debatte um den Naumburger Antrag morgens vor Sitzungsbeginn auf jeden Sitzplatz der Delegierten gelegt hatten. Es trägt den Titel „Expert Statement on the Naumburg Nomination“ und gibt als Urheber Prof. Jarosław Jarzewicz an, einen Kunsthistoriker an der Universität von Poznań. Das Dokument stellt die Einzigartigkeit des Naumburger Doms heraus und begründet dies mit dem Verweis auf zwei kunsthistorisch besonders relevante Skulpturen des Naumburger Doms, die Statuen der Uta von Naumburg und der Regelindis, die Jarzewicz als beste mittelalterliche Darstellungen von Frauen charakterisiert. Über Letztere schreibt er: „The distinguished an [sic] joyful Regelindis, a daughter of the first Polish king, has an equally ingenious and famous smile as the Leonardo’s Mona Lisa“.

Bei dem ausgeteilten Statement handelt es sich um den Versuch der deutschen Delegation, der Expertenmeinung des ICOMOS-Gutachtens die divergente Position eines anderen Experten aus dem kulturellen Feld entgegenzusetzen, um die anderen stimmberechtigten Delegierten des Welterbekomitees vom außergewöhnlichen universellen Wert der Nominierung zu überzeugen. Am reibungslosen Verlauf der Debatte ist allerdings zu erkennen, dass die meisten der stimmberechtigten Staaten bereits vor der Sitzung überzeugt werden konnten, für ein „deferral“ der Nominierung zu plädieren.Footnote 24 Aus welchem Grund erfolgte also die kurzfristige Verteilung des Dokuments? Offenbar ging es darum, den anderen Delegierten durch die physische Anwesenheit des Dokuments an ihrem Sitzplatz kurz vor der Debatte ein zusätzliches Argument buchstäblich „an die Hand“ zu geben. Tatsächlich scheint der Delegierte Serbiens aus dem Dokument zu zitieren, wenn er die Skulptur der Uta von Naumburg als „Mona Lisa in the realm of sculpture“ bezeichnet. Er überträgt dabei den Vergleich zwischen dem Lächeln der Regelindis und dem Lächeln der Mona Lisa, den Jarzewicz gezogen hat, auf die Uta von Naumburg und erweitert ihn zu einem Vergleich zwischen der Bedeutung der Skulptur und der Bedeutung des weltbekannten Gemäldes. Die Inspiration für diesen Vergleich entnimmt er dem ausgeteilten Dokument, dessen physische Präsenz im Verhandlungssaal somit die Bewertungsdebatte ad hoc beeinflusst. Das Dokument gewinnt damit einen nicht unwesentlichen Anteil an der freilich weitaus umfangreicheren materiellen Infrastruktur der Bewertungskonstellation.Footnote 25

Bezeichnend ist der Mona-Lisa-Vergleich aber auch noch in einer zweiten Hinsicht: Die argumentative Verbindung eines Elements des Nominierungsantrags (der mittelalterlichen Skulpturen), das als Pars pro Toto für die Relevanz der gesamten Nominierung aufgerufen wird, mit dem „universalen“ Kunstwerk schlechthin (der weltbekannten Mona Lisa) soll einen direkten Bezug zwischen dem Naumburger Dom und der „Welt“ herstellen, um den universellen Wert der Nominierung zu beweisen. Diese Begründungsstrategie umgeht somit das komplexe Kriteriensystem des Welterbeverfahrens und versucht, die Universalität des Wertes der Stätte unvermittelt durch einen direkten Vergleich mit einem anerkannten Objekt der Kunstgeschichte herzustellen.

5 Fazit

Im transnationalen Bewertungsverfahren des UNESCO-Welterbes wird der „outstanding universal value“ von Kultur- und Naturstätten durch eine komplexe Arbeit an der Universalisierung des Wertvollen hergestellt. Ausgehend von der Qualitätsunsicherheit bei der Bewertung singulärer Objekte wie Kulturgütern sowie der grundsätzlichen Offenheit eines von Momenten der Unsicherheit und von Konflikten geprägten Bewertungsprozesses wurden spezifische Charakteristika des Verfahrens zur Bewertung von UNESCO-Welterbe herausgearbeitet. Die Bewertung und Produktion von Welterbe wird unter Bezug auf drei Referenzrahmen vorgenommen: die zehn Begründungskriterien, die drei Bedingungskriterien, von denen das Kriterium der Authentizität für die Bewertung des Kulturerbes zentral ist, sowie das Meta-Kriterium der Repräsentativität der Welterbeliste. Diese Referenzrahmen des Welterbeverfahrens sind, im Vergleich zur Bewertung anderer singulärer Entitäten wie etwa in der Literatur- und Kunstkritik, hochgradig formalisiert. Sie werden in Richtlinien und anderen Dokumenten definiert und in institutionalisierten Prozessen verhandelt und angewendet, sowohl in der Arbeit der Fachgremien als auch in der Bewertungsdebatte im Welterbekomitee. Die Praktiken, in denen diese drei Referenzrahmen im Bewertungsprozess zueinander sowie mit den Stätten in Beziehung gesetzt werden, sind vielfältig. Sie umfassen den Vergleich zwischen Stätten, den Verweis auf wissenschaftliche Literatur (Kunstgeschichte, Denkmalschutz), den Bezug auf die ausformulierten Vertragstexte und Regularien, die sich das Komitee gegeben hat (Welterbekonvention, „Operational Guidelines“, „Global Strategy“), sowie den Verweis auf vergangene Entscheidungen des Komitees.

Das Komitee bringt die Weltgeltung einer Kultur- oder Naturstätte hervor, indem es in komplexen Bewertungspraktiken ihre Universalität demonstriert. Evaluation und Produktion des Wertvollen sind dabei untrennbar miteinander verbunden. Verschiedene Entitäten – Fachgremien, Kriterienkataloge, Dokumente und andere heterogene Beteiligte der Bewertungskonstellation – bilden Teile dieses Prozesses, alle leisten ihren je spezifischen Beitrag. Zwei Aspekte der Universalisierung des Wertvollen sind im Rahmen dieses Beitrages eingehender betrachtet worden. Erstens wurden die Reflexion und die daraus resultierende Umdefinition des Authentizitätskriteriums als ein Aspekt der Universalisierungsarbeit beschrieben. Die Aufnahme kulturrelativistischer Positionen durch die Neudefinition von Authentizität eröffnete Anschlüsse für Authentizitätsverständnisse, die von der eurozentrischen und materialorientierten Auffassung abweichen. Durch die Erweiterung des Authentizitätsverständnisses werden die Möglichkeiten ausgebaut, auf das Kriterium Bezug zu nehmen. Authentizität vermag nun auf der Grundlage vielfältiger kulturspezifischer Verständnisse aufgewiesen zu werden und gleichzeitig als allgemeingültiges Bedingungskriterium für alle kulturellen Stätten ihren außergewöhnlichen universellen Wert zu begründen. Im UNESCO-Welterbe erweist sich das Authentizitätskriterium als eine Kategorie, die in der Lage ist, Partikularismus und Universalismus miteinander zu verbinden. Es ermöglicht, dass hochgradig partikulare Güter wie Kulturerbestätten einen universellen Wert für „die gesamte Menschheit“ beanspruchen und erlangen können.

Zweitens sind mittels einer ethnografischen Fallstudie zur Bewertungsdebatte des Welterbekomitees verschiedene Argumentationsstrategien der Delegierten herausgearbeitet worden, die den außergewöhnlichen universellen Wert einer Stätte demonstrieren sollen. Sie sind auch auf andere Bewertungsvorgänge übertragbar. (1) Umkehrung der Logik des Bewertungsprozesses: Die Argumentation nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Behauptung eines „OUV“, um davon ausgehend verschiedene Begründungen für das Vorliegen dieses außergewöhnlichen universellen Wertes beim nominierten Kulturgut zu entwickeln. (2) Reorganisation der Kriterien: Eine grundlegende weitere Argumentationsstrategie besteht in der Neu-Relationierung der Bewertungsbezüge, indem die nominierte Stätte unter einem anderen Begründungskriterium betrachtet wird, was die Perspektive auf das Bewertungsobjekt verschiebt. (3) Manipulation des Bewertungsobjektes: Diese Strategie setzt auf Veränderungen am Bewertungsobjekt, um auf diese Weise eine Passung mit den Begründungs- und Bedingungskriterien herzustellen. Beispielsweise wird für eine Verkleinerung der nominierten Welterbestätte plädiert. Die Konzentration auf bestimmte Elemente des Antrags soll diejenigen Aspekte ausschließen, welche die Fachgremien nicht überzeugen konnten. Dafür werden die Grenzen der zu bewertenden Entität neu gezogen und das Bewertungsobjekt selbst bearbeitet; es wird beweglich und anpassbar. Der Bewertungsprozess wirkt somit auf den Zuschnitt des Bewertungsobjekts zurück. (4) Ignorieren von Argumenten bzw. Kriterien: Eine verbreitete Strategie besteht im Ignorieren von Referenzrahmen wie z.B. dem Meta-Kriterium der Repräsentativität der Liste. (5) De-facto-Behauptungen: Als eine weitere argumentative Strategie konnte herausgearbeitet werden, dass De-facto-Behauptungen – z.B. des Vorliegens eines OUV – als wirklichkeitssetzende Sprechakte ungeachtet einer wissenschaftlichen oder sonstigen Begründung vorgebracht werden – im Falle des Statements der Türkei zur Unterrepräsentation des europäischen Hochmittelalters auf der Welterbeliste sogar im direkten Widerspruch zur Einschätzung des Expertengremiums ICOMOS. (6) Fokussierung einzelner Elemente des Bewertungsobjektes: Eine letzte zentrale Strategie besteht in dem Versuch, den universellen Wert der gesamten nominierten Stätte auf ein einzelnes Element des Nominierungsantrags zu gründen. Der Vergleich zwischen der Uta von Naumburg und der Mona Lisa stellt den Versuch dar, die Bedeutung einer mittelalterlichen Statue aus einem Dom in Sachsen-Anhalt durch den Bezug auf ein global anerkanntes Objekt der Kunstgeschichte – das universale Kunstwerk schlechthin – zu begründen. Hier wird unter Umgehung des komplexen Kriteriensystems versucht, den universellen Wert der Stätte unvermittelt durch einen direkten Vergleich mit einem Kunstwerk, dessen Weltrang als unstrittig erachtet wird, zu demonstrieren.

Sowohl die Argumentationsstrategien der Delegierten im flexiblen Umgang mit den Bewertungskriterien als auch die Arbeit an den Bewertungskriterien selbst sind Teil der umfassenden Universalisierungsarbeit im transnationalen Bewertungsverfahren des UNESCO-Welterbes. Dabei werden partikulare Güter mit einem globalen Geltungsanspruch versehen, der auf der Vorstellung eines außergewöhnlichen universellen Wertes einer Kultur- oder Naturstätte für die gesamte Menschheit gründet. Die Universalisierungsarbeit zielt darauf, diesen Wert zu demonstrieren und herzustellen, indem sie die Stätten ein komplexes Bewertungsverfahren durchlaufen lässt. Das Beispiel der Revision des Authentizitätsverständnisses bestätigt dabei Roland Robertsons These, dass sich globale Universalität gerade auf die Anerkennung und Integration von Partikularität stützt.