1 Einleitung

Seit der Einführung der Forschungsrahmenprogramme in den 1980er-Jahren ist die EU darum bemüht, eine einheitliche europäische Forschungspolitik zu etablieren und Einfluss auf die nationalen Wissenschaften zu nehmen. Während in der anwendungsnahen Forschung große transnationale Kooperationsprojekte etabliert wurden, blieben die angebotenen Programme für die Grundlagenforschung weitgehend uninteressant. Eine umfassende Europäisierung der national verankerten akademischen Felder fand deshalb bisher nicht statt (Chessa et al. 2013), obwohl sie in vielen anderen Feldern deutlich voranschreitet, so etwa im juristischen (Vauchez und De Witte 2013), ökonomischen (Lebaron 2000) und im engeren Sinne politischen Feld (Georgakakis und Rowell 2013; Kauppi 2013). Obwohl wissenschaftliche Diskurse und Kooperationen längst zu großen Teilen transnationalisiert sind, hinkt die europäische Forschungsförderung dem globalen Charakter der Wissenschaft hinterher. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, den „European Research Council“ (ERC) zu beleuchten, denn er repräsentiert einen Bruch mit der lange vorherrschenden Ausrichtung auf die anwendungsbezogene Forschung und läutet damit eine neue Ära in der EU-Wissenschaftspolitik ein (Luukkonen 2014). Der ERC und die in ihm institutionalisierten wissenschaftspolitischen Strategien könnten dazu beitragen, dass die bisher national verankerten akademischen Felder in Zukunft von einer stärkeren Europäisierungsdynamik erfasst werden: Bei der Etablierung des ERC geht es neben materiellen Fördermitteln insbesondere um einen möglichen Beitrag zu einer europäischen Identität nach dem Motto „From ‚Science in Europe‘ to ‚European Science‘“ (Nedeva und Stampfer 2012; vgl. Maassen und Musselin 2009).

Der vorliegende Aufsatz befasst sich mit dieser Entwicklung und untersucht die spezifische Rolle des ERC aus feldtheoretischer Perspektive (vgl. Bernhard und Schmidt-Wellenburg 2012a, 2012b). In diesem Beitrag wird weder eine vollumfängliche Feldanalyse durchgeführt, noch wird die Geschichte des ERC als Organisation nachvollzogen (König 2015) oder die personale und thematische Zusammensetzung der Geförderten analysiert (Bach-Hönig 2015; Neufeld et al. 2013). Es wird vielmehr herausgearbeitet, welche Art von Wettbewerb durch den ERC etabliert wird und welche strukturellen Effekte sich daraus für den europäischen Hochschulraum zukünftig ergeben könnten. Es handelt sich um eine Analyse der wissenschaftspolitischen Ausrichtung des ERC und deren akademischer Rezeption, wobei keine Aussagen über die ERC-Peer-Reviews und die Qualität des Gutachterprozesses an sich getroffen werden: Im Fokus stehen die strukturellen Rahmenbedingungen des ERC und ihre zunehmende Akzeptanz im akademischen Feld.

Die Darstellung erfolgt entlang zweier Thesen: Erstens gelingt es dem ERC – im Gegensatz zur Ressortforschung der bisherigen Rahmenprogramme –, sowohl den autonomen als auch den heteronomen Ansprüchen an die Wissenschaft in Europa symbolisch zu genügen (Abschn. 2.1). Das gelingt unter anderem, indem beide Ansprüche in das Konzept der „Frontier Research“ und in die Gremien des ERC integriert werden. Damit wird die Konstruktion einer europäischen Exzellenz auch für die idealistisch-kritische Wissenschaftselite plausibel (Abschn. 2.2). Zweitens etabliert sich mit dem ERC eine Förderstruktur, die einem für die EU typischen Modus der Europäisierung, nämlich den der Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes, entspricht. Die individuelle Förderung „exzellenter“ Forscherinnen und Forscher konzipiert Europäisierung als Integration akademischer Eliten (Abschn. 3.1) und erzeugt über die individuelle Portabilität der ERC-Grants einen europaweiten Standortwettbewerb (Abschn. 3.2). Durch die Einbindung autonomer Wissenschaftsvorstellungen bleibt eine Grundsatzkritik aus, und der ERC gewinnt trotz seines Fokus auf wenige Drittmittelgewinner an Legitimität.

2 Die Verbindung von autonomen und heteronomen Ansprüchen an Wissenschaft als Strategie des ERC

Zur Formulierung dieser beiden Thesen wird auf die Habitus-Feld-Theorie zurückgegriffen, um den noch längst nicht abgeschlossenen Prozess der Genese einer akademisch legitimen Autoritätsquelle des europäischen Projekts erfassen zu können.Footnote 1 Zwar vergibt die EU mit den Rahmenprogrammen schon seit längerem Forschungsmittel – mit der Etablierung des ERC stehen die EU-Mittel inzwischen jedoch in stärkerem Maße für höchste wissenschaftliche Anerkennung (These 1). Es kann also eine zunehmende Akzeptanz einer europäischen Dimension beobachtet werden, die allerdings eine ganz bestimmte Konzeption von „guter“ Wissenschaft und Förderung transportiert (These 2; dazu unten in Abschn. 3). Die zunehmende Bedeutung des ERC wird insofern feldtheoretisch gefasst, als von einer zunehmenden Monopolisierung symbolischer Macht ausgegangen wird. Jene Instanzen, deren Urteil die höchsten Positionen in einem Feld definieren können, werden hierbei als Konsekrationsinstanzen beschrieben.

Unter „Konsekration“ verstehen wir mit Pierre Bourdieu den Akt der Anerkennung und damit Zuweisung feldspezifischen symbolischen Kapitals, der immer gleichzeitig zwei Dinge vollzieht (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 137 f., 148): Zum einen werden bestimmte Positionen im Feld stabilisiert bzw. etabliert, indem ihnen eine besondere Fähigkeit zur Produktion feldspezifischen Kapitals zugeschrieben wird. Diese Zuschreibung ist zunächst nur ein partikularer Akt der materiellen und symbolischen Anerkennung. Zum anderen leisten diese Konsekrationsakte gleichzeitig eine für das ganze Feld relevante Reproduktion bzw. Restrukturierung der Regeln des Feldes selbst. Im akademischen Feld sind solche Instanzen einerseits Universitäten und ihre professoralen Positionen, die Kraft ihres Amtes akademische Weihen vergeben können – Titel, Lehrstühle, Grundmittel usw. Zu diesem Bereich finden sich viele Untersuchungen zu unterschiedlichen nationalen Karrieresystemen und -regeln (z. B. Börjesson und Broady 2004; Möller 2015; Lenger 2008; Musselin 2005; Kreckel 2008). Andererseits wird wissenschaftliche Exzellenz jedoch zunehmend durch die Vergabe von Drittmitteln festgeschrieben, die mit wissenschaftlicher Reputation verbunden werden – etwa durch die National Science Foundation, die Deutsche Forschungsgemeinschaft usw. (Münch 2006; Kauppi und Erkkilä 2011). Während Bourdieu den Begriff der Konsekrationsinstanz zunächst vor allem auf Institutionen nationaler Felder anwandte (vgl. Bourdieu 1992), lässt er sich auch auf die transnationale Ebene übertragen. Dort kommt dem Drittmittelwettbewerb eine größere und den nationalen Universitätsbürokratien eine geringere Rolle zu, nicht nur für die jeweils individuell vergebenen Prädikate wissenschaftlicher Exzellenz, sondern auch im Hinblick auf die prinzipiellen „Spielregeln“ des akademischen Felds. Etabliert sich der ERC zunehmend als eine solche Konsekrationsinstanz für Europa, so stellt sich also zum einen die Frage, welche Akteure mit symbolischem Kapital ausgestattet werden, und zum anderen die Frage, nach welchem Wissenschaftsverständnis diese Konsekrationsakte stattfinden.

Wir konzipieren den ERC entsprechend als eine Instanz, die Wissenschaft in Europa als „exzellent“ konsekriert und ihr damit eine besondere Anerkennung zu verleihen imstande ist. Im Unterschied zu einer staatszentrierten Perspektive wird so sichtbar, wie der ERC nun die nationalen akademischen Felder öffnet und sich wissenschaftliche Akteure in Europa immer mehr an seine symbolische Wirkung binden. Um seine zunehmende symbolische Reichweite nachzuvollziehen, muss herausgearbeitet werden, wie er sowohl autonome als auch heteronome Positionen im akademischen Feld gleichermaßen adressiert.

2.1 Das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie in nationalen akademischen Feldern

Folgt man Bourdieus Feldtheorie (1991), steht das akademische Feld in einem vermachteten Wechselverhältnis mit anderen sozialen Feldern. Während am autonomen Pol eine genuine Eigenlogik akademischen Wissens vertreten wird, wirken am heteronomen Pol die Einflüsse anderer sozialer Felder. Die Institutionalisierung dieses Verhältnisses geht historisch mit der Entstehung nationaler Ordnungen einher. Sie manifestieren sich im akademischen Feld sowohl durch die staatlich gesteuerte Forschungsförderung als auch durch ein national tradiertes Verständnis dessen, was eine autonome Wissenschaft auszumachen habe (Paletschek 2010; Kaldewey 2013; Gengnagel und Hamann 2014). Gleichzeitig ist die Transnationalität des akademischen Feldes schon in dessen universalistischem Selbstverständnis angelegt. Während die institutionellen Bedingungen der Wissensproduktion weitgehend auf eine nationale Bürokratie angewiesen sind, unterliegen die wissenschaftlichen Kriterien der Wissensproduktion einem universellen, d. h. tendenziell globalen Anspruch. Heteronome Einflüsse anderer sozialer Felder wirken v. a. über das bürokratische Feld auf die Bedingungen der Wissensproduktion ein. Autonome Ansprüche des akademischen Feldes auf universelle Wissenschaftlichkeit sorgen wiederum für eine relative Brechung dieser Effekte.

Historisch wurden auf nationaler Ebene Teile dieser bürokratischen Strukturen „verwissenschaftlicht“, indem sich neben juristischen, politischen und ökonomischen Zwängen eine akademische Distinktionslogik etabliert hat: Im Bereich der Grundmittelfinanzierung sind dies zum Beispiel das universitäre Promotionsrecht, mit dem der Zugang zur „scientific community“ nach wissenschaftlichen Kriterien von den Akademikerinnen und Akademikern selbst kontrolliert wird, sowie die von dieser wissenschaftlichen Gemeinschaft besetzten Berufungskommissionen, die den Zugang zur Professur an akademische Meriten knüpfen. Neben diesen im nationalen akademischen Feld institutionalisierten Formen der Konsekration akademischen Prestiges gewinnt inzwischen die Drittmittelförderung an Gewicht, die zunehmend als Indikator wissenschaftlicher Leistung gilt. Auf nationaler Ebene ist zum Beispiel die DFG eine Konsekrationsinstanz, in der disziplinäre Fachkommissionen die Förderwürdigkeit von Forschungsvorhaben u. a. an deren Relevanz für innerdisziplinäre Entwicklungen messen (Brook et al. 1999, S. 21 f.). Dabei muss grundsätzlich immer sowohl eine dem gesellschaftlichen Rahmen vermittelbare soziale Relevanz als auch eine innerakademisch legitime Autonomie symbolisiert werden.

Die Legitimität des akademischen Feldes speist sich aus zwei konstitutiven Strategien der Selbstvergewisserung: der autonomen Selbstbehauptung und seiner heteronomen Inwertsetzung. In den historisch gewachsenen nationalen Felder lassen sich idealtypisch Strategien einer konservativ-professoralen Autonomie einerseits und einer reformorientierten Governance andererseits gegenüberstellen, die beide Ausdruck einer relationalen Konstruktion des akademischen Wertes und damit auch eines wissenschaftlichen Machtanspruchs sind. In den nationalen Feldern ist akademische Anerkennung immer an die Ausbalancierung dieses Grundkonflikts geknüpft (Bourdieu 1998). Die Institutionalisierung dieser Spannung ist jenseits des Nationalstaates erst im Entstehen begriffen und im Ergebnis noch offen. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die Etablierung des ERC als wissenschaftlich anerkannte Förderinstitution letztlich ebenfalls davon abhängt, ob es gelingt, sowohl die autonome als auch die heteronome gesellschaftliche Stellung der Wissenschaft gleichermaßen zu adressieren und in den Wettbewerb zu integrieren. Die Rahmenprogramme verstanden sich bisher jedoch als Technologieförderung und sprachen viele wissenschaftliche Akteure nicht an. Nun kommt es aber mit dem ERC zu einer Neuausrichtung. Um im nächsten Abschnitt verdeutlichen zu können, inwiefern dem ERC dies gelingt, wird zunächst am Beispiel der wissenschaftssoziologischen Debatte die Grundspannung zwischen den Autonomie und Heteronomie betonenden Positionen aufgezeigt, die in ein vereintes europäisches Wissenschaftsverständnis integriert werden müssen. In der Wissenschaftssoziologie sind insbesondere zwei Argumentationslinien für ein Verständnis der verhandelten Spannung wichtig:

Einerseits wird das Wissen über die interne Struktur des wissenschaftlichen Kosmos mit Analysen über disziplinäre Entwicklungen und den Stand der Differenzierung im akademischen Feld vertieft. Solche Untersuchungen bemühen sich um eine Beschreibung der Wissenschaft aus der Innenansicht (vgl. Weber 1992; Merton 1973). Der Fokus liegt in diesen Arbeiten auf Fehlentwicklungen wie einer drohenden Entdifferenzierung (Schimank 2005) oder dem Verlust der Wissenschaftlichkeit durch Orientierung an wissenschaftsexternen Leistungskriterien (Münch 2009, 2014; Nedeva und Boden 2006; Readings 1996). Eine solchermaßen emphatische Wissenschaftssoziologie versteht sich als wissenschaftsinternes, autonomes Korrektiv gegen die heteronomen Einflüsse politischer und wirtschaftlicher Interessen und verteidigt die professorale Autonomie gegen eine organisationale Governance.

Andererseits analysiert ein zweiter Forschungsstrang – deutlich optimistischer – die Möglichkeiten neuer Formen der Governance von Wissenschaft. Mögliche Kooperationen mit Politik und Wirtschaft werden als Chance begriffen, um Synergien zu erzeugen und eine gesellschaftlich relevante Wissenschaft zu ermöglichen. Hierbei geht es weniger um eine Verteidigung der akademischen Eigenlogik als vielmehr um deren Koordination im Hinblick auf gesellschaftliche Ziele. Die Autonomie der Wissenschaft wird eher auf der Ebene der Universität als strategischem Akteur angesiedelt (Meier 2009) und muss gegen die „Verkrustung“ traditioneller Strukturen durchgesetzt werden. Heteronome Zwänge anderer sozialer Felder werden als produktive Herausforderung integriert (Blümel et al. 2011; Müller-Böling 1999). Auch dieser zweite Strang tritt zumindest latent als Korrektiv auf, allerdings gegenüber der mangelhaften Anpassungsfähigkeit (nationaler) akademischer Traditionen an die Bedingungen der „knowledge-based economy“ und ihrer Mode-2- bzw. Triple-Helix-Wissenschaft (Etzkowitz und Leydesdorff 2000; Gibbons et al. 1994; Shinn 2002).

Bezieht man diese wissenschaftssoziologischen Beobachtungen auf nationale akademische Felder, zeigt sich, dass bisher immer beiden Auslegungen von Wissenschaft Genüge getan werden muss. Nur akademischen Eliten ist es jedoch möglich, für jeweils eine der akademischen Legitimationsstrategien einzutreten und der anderen dennoch weiterhin gerecht zu werden. Das gelingt ihnen, weil sie sowohl von der entsprechenden Absicherung in Fachverbänden und Förderinstitutionen und einem professoralen Beamtenstatus (institutionelles Kapital) profitieren als auch wissenschaftliches Prestige für disziplinäre Leistungen (wissenschaftliches Kapital) genießen (vgl. Bourdieu 2004, S. 55 ff.). Den gesellschaftlichen Nutzen der eigenen Forschung einzufordern, ohne den autonomen Anspruch des Fachdiskurses zu brüskieren, ist deshalb den verdientesten Vertretern eines Faches vorbehalten. Umgekehrt kann sich nur der nachhaltig auf den Fachdiskurs konzentrieren, der langfristige institutionelle Garantien genießt. So formulieren die beiden skizzierten Ansprüche an Wissenschaft jeweils Regeln des akademischen Feldes, denen auch subalterne Positionen verpflichtet sind, allerdings ohne gleichermaßen den autonomen als auch den heteronomen Ansprüchen wirklich entsprechen zu können (man denke etwa an die außeruniversitäre Auftragsforschung ohne wissenschaftliches Ansehen einerseits sowie die Qualifikationsstellen und Privatdozenturen ohne Möglichkeit zur institutionellen Etablierung andererseits). Forschung erscheint jedoch v. a. dann als umfassend legitim, wenn sie beides zumindest symbolisch erfüllt, und dieses symbolische Kapital ist eine knappe und begehrte Ressource.

Die erste These dieses Beitrages knüpft an diese feldtheoretische Beobachtung an und geht davon aus, dass der ERC nur dann zunehmend als anerkannte Konsekrationsinstanz fungieren kann, wenn er in seinem Konzept von Exzellenz auch wirklich diejenigen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen prämiert, die den autonomen und heteronomen Ansprüchen gleichermaßen genügen, also sowohl in den wissenschaftlichen Fachdiskursen angesehen sind als auch den wissenschaftspolitischen Ansprüchen der EU-Politik genügen. Wie die Universitäten die Promotion vergeben und der Exzellenzwettbewerb den Elitestatus (vgl. Münch 2007), so vergibt der ERC-Wettbewerb das Prädikat „Europäische Spitzenforschung“. Insofern wirkt er in diesem Bereich als Konsekrationsinstanz. Bis zur Gründung des ERC war die europäische Forschungspolitik nicht in der Lage, sich als wissenschaftlich anerkannte Förder- und Begutachtungsinstanz zu etablieren, sondern galt vielmehr als Instanz der Technologieförderung oder als Finanzierungsquelle von Auftragsforschung (Fleck 2007, S. 73 f.). Inzwischen etabliert der ECR durch seine Förderstruktur ein neues transnationales Leitbild von Exzellenz, das wie die deutsche Exzellenzinitiative auf Leuchttürme setzt und damit die existierenden materiellen sowie symbolischen Ungleichheitsverhältnisse des akademischen Feldes verfestigt und ausbaut. Aber darüber hinaus entwickelt er auch ein neues, stärker anwendungsbezogenes Konzept von Grundlagenforschung, das Autonomie und Heteronomie gleichermaßen ansprechen soll. Die Rede von einer „Frontier Research“, in der eine Aufhebung des bisher konstitutiven Gegensatzes von Grundlagen- und Anwendungsforschung behauptet wird, integriert sowohl Forderungen nach wissenschaftlicher Autonomie als auch nach gesellschaftlicher Relevanz (vgl. Flink 2012, 2016). Damit greift der ERC neben der heteronomen Perspektive der gesellschaftlichen Verwertbarkeit auch die Orientierung am wissenschaftlich autonomen Erkenntnisinteresse der Grundlagenforschung auf. Das symbolische Kapital dieser Programmatik ist auch in den Wissenschaften der Nationalstaaten allseits anerkannt, weshalb sich zunehmend auch national verankerte Wissenschaftsakteure für den europäischen Wettbewerb interessieren: Eine Prämierung nach ähnlichen Kriterien – aber mit größerer symbolischer Reichweite – kann nun potenziell auch zu einem höheren wissenschaftlichen Prestige beitragen. Im folgenden Abschnitt soll kurz die Neuausrichtung der europäischen Forschungsförderung im Zuge der Gründung des ERC nachvollzogen werden.

2.2 Die Verbindung von Autonomie und Heteronomie als Transnationalisierungsstrategie des ERC

Seit den 1980er-Jahren sind die sogenannten Forschungsrahmenprogramme das Hauptinstrument der EU-Forschungsförderung, die als Teil des bürokratischen Feldes der EU verstanden werden kann. Dabei handelt es sich um Förderprogramme für große Forschungsverbünde mit Beteiligung der Industrie, deren thematische Ausrichtung vonseiten der EU festgelegt wird. Die Rahmenprogramme zielen weniger auf eine umfassende transnationale Forschungsförderung über das gesamte disziplinäre Spektrum hinweg ab, sondern fördern die Etablierung großer Forschungsnetzwerke mit anwendungsorientierten Schwerpunkten, um so die Position Europas in der globalen Wissensökonomie zu stärken (Borrás 2003; Breschi und Cusmano 2004; Rodríguez et al. 2013). Die anvisierte transnational-europäische Ordnung des akademischen Feldes soll wirtschaftspolitischen Direktiven der EU und der Nationalstaaten entsprechen (Luukkonen 2014). Dies geschieht vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Hegemonie des anglo-amerikanischen Wissenschaftssystems, das gegenwärtig die Maßstäbe des akademischen Kapitalismus setzt (Münch 2014; Moore et al. 2011; Ordorika und Lloyd 2014) und dessen Wettbewerbsmodell der „Lissabon-Strategie“ als Vorbild dient (Slaughter und Cantwell 2012). Die Autonomie der nationalen Felder spielt in diesem Szenario eine untergeordnete Rolle. An den Maßstäben der nationalen Förderlogiken gemessen, herrscht in der europäischen Forschungsförderung – etwa im Vergleich mit der DFG – ein Pluralitätsdefizit vor (Massih-Tehrani et al. 2015). Dennoch sind die Rahmenprogramme ein erster Versuch zur „Top-down“-Europäisierung des akademischen Feldes. Vom ersten (1984–1987) bis zum sechsten (2002–2006) Rahmenprogramm stieg das Fördervolumen von 3,8 Mrd. Euro (bzw. EWE) auf 17,9 Mrd. Euro, während im wesentlich größeren siebten Rahmenprogramm schon mehr als 50 Mrd. Euro über sieben Jahre (2007–2013) ausgegeben wurden, davon erstmals im Programmteil „Ideas“ etwa 7,46 Mrd. Euro vom ERC, der 2007 als Exekutivagentur der EU gegründet wurde.

Die erste Förderrunde des ERC wurde 2007 im Rahmen des siebten Rahmenprogrammes durchgeführt (2007–2013). Während sich für „Horizon 2020“Footnote 2 (2014–2020) das absolute Budget des ERC auf über 13 Mrd. Euro erhöht hat (um 60 %), ist auch der relative ERC-Anteil an der europäischen Forschungsförderung leicht von 14 auf 17 % gestiegen – das Gros verbleibt also weiterhin in den Rahmenprogrammen (ERC 2014). Medial ist der ERC jedoch überproportional präsent. Seine drei HauptförderlinienFootnote 3 sind gut dotiert und mit fünf Jahren Laufzeit vergleichsweise langfristig: „Starting Grants“ (für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zwei bis sieben Jahre nach der Promotion, bis zu zwei Mio. Euro), „Consolidator Grants“ (für Nachwuchswissenschaftler sieben bis zwölf Jahre nach der Promotion, 2,75 Mio. €) sowie „Advanced Grants“ (für etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, bis zu dreieinhalb Mio. Euro). 2015 waren 430 Mio. Euro für 330 „Starting Grants“ budgetiert, 585 Mio. Euro für 330 „Consolidator Grants“ und 630 Mio. Euro für 280 „Advanced Grants“ (ERC 2015). Nach den projektförmig vergebenen Mitteln herrscht eine große Nachfrage: In den Bereichen „Life Sciences“ und „Physical and Engineering Sciences“ wurden 12 bzw. 13 % der Bewerbungen für „Starting Grants“ (2007–2012) angenommen sowie jeweils 15 % für „Advanced Grants“ (2008–2011). In den „Social Sciences and Humanities“ hingegen wurden 11 % der Bewerbungen sowohl für „Starting Grants“ als auch für „Advanced Grants“ angenommen (Freund 2011). Um die Ablehnungsquote von durchschnittlich 88 % der ersten Phase bis 2012 gab es wiederholt Diskussionen, in denen sich sowohl die idealistische als auch die Governance-nahe Position wiederfinden lassen. Bevor diese diskutiert werden kann, muss zunächst auf den symbolischen Wert der vom ERC vergebenen Grants eingegangen werden.

Neben den materiellen Vorteilen der Grants ist ein zentraler Aspekt der Attraktivität des ERC seine akademische Identität und der Fokus auf das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse. Er soll im Gegensatz zur thematisch vorgeprägteren Ressortforschung der Rahmenprogramme ein pluralistischeres (Selbst-)Bild europäischer Wissenschaft wiedergeben und via Gutachterverfahren einer innerakademischen Bewertung folgen (Vike-Freiberga et al. 2009; Luukkonen 2012). ERC-Drittmittelanträge werden entsprechend von einzelnen Forscherinnen und Forschern gestellt und nicht, wie in den Rahmenprogrammen üblich, von Institutionen. Die individuell initiierten Forschungsvorhaben sollen unter dem Label „High Risk – High Gain Research“ (Lejten et al. 2009) schneller auf aktuelle Forschungslücken reagieren können. Diese Fähigkeit wird mit besonders innovativen und leistungsfähigen Wissenschaftlern identifiziert, weshalb für das Gutachterverfahren „Exzellenz als das alleinige Förderkriterium“ ausgegeben wird. Während die EU-Rahmenprogramme also in erster Linie die wirtschaftsnahe Forschung unterstützen, ist der ERC mit einem pluralistischeren Anspruch angetreten. Er soll „exzellente Forschung“ über alle Fachbereiche hinweg fördern, allerdings unter Verzicht auf die übliche disziplinenspezifische Definition von Grundlagenforschung (vgl. Fleck und Hönig 2014, S. 49 ff.). Stattdessen soll interdisziplinär „Frontier Research“ geleistet werden (Lejten et al. 2009). Das Konzept der „Frontier Research“ hat spätestens im siebten Rahmenprogramm die vormalige Leitunterscheidung zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung abgelöst (Flink 2016). Die Europäische Kommission bemüht sich, den ERC als Gegenmodell zur politischen Steuerung der Rahmenprogramme darzustellen, und betont, dass er „nach einem auf der Initiative der Forscher basierenden ‚Bottom-up‘-Konzept [funktioniert], das es den Wissenschaftlern ermöglicht, neue Chancen in einem Forschungsbereich ihrer Wahl aufzugreifen“ (Europäische Kommission 2012, S. 2). Die Auswahl „intrinsisch riskanter Forschungsvorhaben“ sollen die Forscherinnen und Forscher autonom vornehmen. Damit ist nicht nur die Unabhängigkeit von unmittelbaren Verwertungsinteressen gemeint, sondern auch die von disziplinären Zuordnungen: „The term ‚frontier research‘ reflects a new understanding of basic research. On one hand it denotes that basic research in science and technology is of critical importance to economic and social welfare. And on the other that research at and beyond the frontiers of understanding is an intrinsically risky venture, progressing in new and the most exiting research areas and is characterised by the absence of disciplinary boundaries.“ (ERC Glossary o.J.).

Diese in ihren Forschungsvorhaben individuell autonomen Wissenschaftler sollen so zugleich der gesellschaftlichen Entwicklung dienen und die Autonomie der Wissenschaft wahren. Erst mit dem ERC werden nun also innerakademische Legitimationsquellen – das intrinsische Erkenntnisinteresse der ERC-Grantees – stärker als eigenständige Träger der Europäisierung relevant. Sie geben dem europäischen Projekt eine feldspezifische Dimension, die durch politische Programme allein nicht gegeben ist. Der ERC-Wettbewerb ist damit sowohl für die idealistische Konzeption des autonom Forschenden als auch für das Governance-orientierte Bild des Drittmitteleinwerbenden von herausgehobener Bedeutung.

Diese Kombination von innerwissenschaftlichem Prestige und Fokus auf die Verwertbarkeit der Forschungsergebnisse zeigt sich auch in der Besetzung der Mitglieder des „ERC Scientific Council“.Footnote 4 Die hier vertretenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus: durch ihre hohe Reputation in ihrer jeweiligen Disziplin und darüber hinaus in der „scientific community“, ihre teilweise starken Beziehungen zum globalen, angelsächsisch dominierten Wissenschaftsraum sowie ihre zum Teil ebenfalls ausgeprägten Beziehungen zur nationalen Forschungsförderung und Wissenschaftspolitik.

Das Durchschnittsalter der insgesamt 42 Mitglieder des „ERC Scientific Council“ lag in den Jahren 2007–2013 bei 66 Jahren, davon 30 Männer (71 %) und 12 Frauen (29 %). Die am stärksten vertretenen Länder sind Deutschland, Spanien und Großbritannien mit je sechs Mitgliedern (14 %) und Italien mit vier Mitgliedern (10 %). Die übrigen Länder haben nicht mehr als zwei Mitglieder. Die am stärksten vertretenen Disziplinen sind (nach der angegebenen Hauptdisziplin) Biologie (14 %) und Physik (12 %), gefolgt von Chemie, Biochemie, Informatik und Ökonomie (je 7 %). Untersucht man die Lebensläufe dieser Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, so fällt vor allem die Vernetzung mit dem angelsächsischen Wissenschaftsraum auf: 45 % von ihnen weisen Karrierestationen in den USA auf, ein Viertel war im Vereinigten Königreich.

Unter den 42 Mitgliedern finden sich zwei Nobelpreisträger (Tim Hunt, Paul Crutzen) sowie weitere hochangesehene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die in einer zum Teil immensen Anzahl von wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Gremien wichtige Funktionen einnehmen und so neben ihren akademischen Meriten auch viel institutionelles Kapital einbringen (z. B. Helga Nowotny, Robert McCredie May). Darüber hinaus hatten auch einige Mitglieder des „Scientific Council“ in nationalen Kontexten wissenschaftspolitisch bedeutende Positionen inne, etwa der ehemalige katalanische Wissenschaftsminister Andreu Mas-Colell oder die beiden ehemaligen DFG-Präsidenten Matthias Kleiner und Ernst-Ludwig Winnacker. Winnackers Berufung zum hauptamtlichen Generalsekretär des ERC 2007 wurde von der DFG als „Ausdruck des Vertrauens des ‚Scientific Council‘ des ERC in die Arbeit der DFG“ und seine „wissenschaftliche und forschungspolitische Erfahrung“ gewürdigt (DFG 2006).

Ebenfalls bemerkenswert ist die interdisziplinäre Struktur des „ERC Scientific Council“: 61 % der Mitglieder nennen zwei und mehr Disziplinen in ihren Lebensläufen. Insbesondere die Naturwissenschaften sind stark vernetzt, was eine ähnliche Prägung der Förderung interdisziplinärer Forschung und entsprechender Grundlagenforschung durch diese Fächer und Disziplinenkombinationen erwarten lässt: Biochemie und Medizin, Biologie und Medizin sind verbreitete Kombinationen, auch Mathematik und insgesamt die Naturwissenschaften, speziell die Lebenswissenschaften, bilden eine Koalition, die eine gemeinsame Agenda und gemeinsame Reproduktionsmuster wissenschaftlicher Autorität nahelegen.

In dieser personellen Zusammensetzung des „Scientific Council“ lässt sich der Versuch erkennen, den ERC mit dem nötigen akademischen, institutionellen und politischen Prestige auszustatten, das ihm im globalen Wissenschaftsraum Anerkennung verschafft. Das Bemerkenswerte besteht darin, dass hier nicht allein europäische Wissenschaftler zusammengebracht werden, obwohl der ERC ja auch als Abgrenzung zu den USA gedacht ist und auf eine genuin europäische Wissenschaft abzielt. Offenbar müssen deren Leitfiguren ihre wissenschaftliche Anerkennung auch aus der anglozentrischen Globalwissenschaft beziehen (Slaughter und Rhoades 2009). Gleichzeitig benötigt der ERC auch Mitglieder mit einer Form von öffentlicher Sichtbarkeit, die im politischen Feld der EU legitimierend wirkt, etwa indem sie wissenschaftspolitisch für den geforderten „Social Impact“ europäischer Wissenschaft stehen. Mit den Personen aus dem Umfeld der nationalen Fördereinrichtungen (wie der DFG) verspricht sich der ERC auch personell eine Verbindung von wissenschaftlicher Autonomie und staatlicher Finanzierung, wie sie im nationalen Kontext üblicherweise Anerkennung findet. Auch dadurch positioniert sich der ERC auf Augenhöhe mit den nationalen Konsekrationsinstanzen.

Das Konzept der anvisierten Förderlogik („Frontier Research“) findet sich also auch in der Besetzungslogik des „Scientific Council“ wieder. An der Förder- und Besetzungspraxis kann nachvollzogen werden, wie der ERC gleichzeitig versucht, sowohl wissenschaftliches Prestige als auch wissenschaftspolitische Kompetenz im Sinne des „Social Impact“ zu verkörpern. Durch diese Integration autonomer und heteronomer Ansprüche – so unsere erste These – gelingt es dem ERC, sowohl akademische Akzeptanz in den akademischen Feldern der Mitgliedstaaten zu erlangen als auch der globalen Wettbewerbslogik zu genügen. Durch die Integration intrinsischer Wissenschaftsideale erlangt der ERC so eine Attraktivität, die akademische Exzellenz statt bloßer Industrieforschung verspricht. Das im ERC symbolisierte transnationale Ideal von Wissenschaft stellt auf diese Weise die harmonische Vereinigung von institutionellem und wissenschaftlichem Kapital dar.

Nachdem in diesem Abschnitt dargelegt wurde, dass der ERC Exzellenz im Namen wissenschaftlicher Autonomie und gesellschaftlicher Verwertbarkeit zuweist und damit im akademischen Feld auf zunehmende Anerkennung stoßen kann, geht es im folgenden Abschnitt um die Frage, auf welche Art und Weise diese Exzellenzforschung die Wissenschaftslandschaft konzipiert und letztlich auch strukturiert. In ihm wird die zweite These ausgeführt, dass der ERC-Wettbewerb als wissenschaftsspezifische Form eines generellen Modus der Europäisierung gedeutet werden kann: Im Zuge der Europäisierung etablieren sich Wettbewerbsinstrumente, die die nationalen Räume und deren Spielregeln für einen europäischen Binnenmarkt öffnen.

3 Integration durch Eliteförderung: Die strukturierende Wirkung des ERC-Wettbewerbs

Der ERC konzipiert europäische Wissenschaft als „Frontier Research“ nicht nur so, dass neben heteronomen nun auch autonome Positionen des akademischen Feldes symbolisch integriert sind, sondern etabliert eine europäische Exzellenzlogik, die vor allem einzelnen Forscherpersönlichkeiten einer europäischen Wissenschaftselite zugutekommen soll (Abschn. 3.1). Dieser Prozess hat strukturelle Implikationen für Universitäten in ganz Europa, die über den individuellen ERC-Wettbewerb in einen europäischen Standortwettbewerb gebracht werden (Abschn. 3.2). Diese beiden Modi der Europäisierung werden im Folgenden im Hinblick auf ihre strukturellen Konsequenzen diskutiert.

3.1 Europa als Elitenprojekt: Die symbolische Reichweite des Exzellenzwettbewerbs

Verfolgt man die wissenschaftliche und öffentliche Debatte um Sinn und Unsinn des ERC, überrascht, dass selbst dessen Kritiker generell eine den ERC legitimierende Haltung einnehmen, auch im Namen der wissenschaftlichen Autonomie. In der Debatte wird die symbolische Bedeutung des ERC als Gutachter- und Konsekrationsinstanz nicht grundsätzlich infrage gestellt, da auch Kritiker das Küren und Fördern einer exzellenten Elite auf Kosten der breiten Masse an Wissenschaftlern für sinnvoll halten. Das ist prinzipiell schon in den bisher noch stärker national verfassten akademischen Feldern der Fall und tritt auf europäischer Ebene noch deutlicher hervor: Letztlich läuft auch der Anspruch auf Autonomie der Wissenschaft unkritisch auf den Ungleichheit erzeugenden Drittmittelwettbewerb einer kleinen, aber exzellenten Elite hinaus, solange dieser Wettbewerb die individuelle Autonomie der ERC-Grantees garantiert, ungeachtet der strukturellen Folgen für die Forschungsförderung (siehe Abschn. 3.2).

Weniger überraschend ist, dass auch vonseiten Governance-naher Ansätze keine grundsätzliche Kritik formuliert wird, da sie die Wissenschaft im Dienste der Gesellschaft prinzipiell als „Win-win-Situation“ begreifen und dabei noch bestehende akademische Widerstände gegen den drittmittelgetriebenen akademischen Kapitalismus vielfach als Mangel an Kreativität und administrativer Unterstützung auslegen, entproblematisieren bzw. entpolitisieren (z. B. Karlsson et al. 2007).

Beide Positionen mobilisieren einen wissenschaftlichen Machtanspruch, für den Elitenbildung prinzipiell attraktiv ist: Es gehört zur Doxa des akademischen Feldes, dass mit wissenschaftlichem Wissen ein besonderer sozialer Status und eine universale Anerkennung dieses Wissens einhergehen sollte. Die Anerkennung des wissenschaftlichen Genies bzw. des förderwürdigen Grantees als „Principal Investigator“ im akademischen Feld bedeutet immer auch die Verkennung der subalternen Positionen, auf deren Kosten akademisches Kapital überhaupt nur symbolisiert werden kann (und denen es nicht möglich ist, die beiden gegenläufigen Logiken plausibel auf sich zu vereinigen). Dass die ERC-Förderung vom autonomen Pol sowie letztlich auch von den akademischen Positionen außerhalb des Bewerberfeldes des ERC anerkannt wird, liegt daran, dass der ERC-Wettbewerb an einer in den nationalen Feldern bereits etablierten und legitimierten Verteilungslogik des Drittmittelwettbewerbs ansetzt. So scheint nun auch im nationalen akademischen Feld die Einflussnahme der europäischen Forschungspolitik zu gelingen, da der ERC den national legitimierten Elitewettbewerb auf ein europäisches Niveau überträgt.

Ähnlich wie in anderen sozialen Feldern Europas zielt die EU-Politik auf einen Modus der Europäisierung, der durch die Schaffung von mehr Wettbewerb zu einer engeren Vernetzung der produktivsten Teile der nationalen Felder führen und diese global „wettbewerbsfähiger“ machen soll. Auch die Schaffung eines europäischen Hochschulraums ist Teil einer Logik der Vermarktlichung, deren Fokus nicht auf der breiten Masse liegt, sondern auf denjenigen, die als Leistungsträger ihres Feldes identifiziert werden. Die aus anderen Bereichen der Europäisierung hinreichend bekannten Effekte der wirtschaftlichen Binnenmarktlogik (Scharpf 1996, 2009) und letztlich der neoliberalen Austerität (Streeck 2013; Streeck und Schäfer 2013) führen zu dynamischeren Arbeitsmärkten und wachsender Ungleichheit (vgl. Heidenreich und Wunder 2008; Heidenreich 2010). Dieser Effekt betrifft auch das akademische Feld: Die für den anvisierten „Weltmarkt“ der europäischen Wissenschaft irrelevante Masse ist von dieser Art des „Winner-takes-it-all“-Marktes grundsätzlich bedroht. Ein selektiver Exzellenzwettbewerb ist im Sinne des akademischen Durchschnitts strukturell problematisch, da vorrangig bereits sichtbare Universitäten und Wissenschaftler gefördert werden (Hönig 2014; vgl. Münch 2007, 2014) und periphere Länder weniger zum Zuge kommen (vgl. Mortelmans 2013). Eine deutliche Diskrepanz zeigt sich darin, dass einzelne ausgewählte Personen viel Geld erhalten, während viele Antragsteller aufgrund der geringen Erfolgsquote leer ausgehen. Ziel ist der Austausch sowie die Bündelung europäischer Spitzenforschung, um punktuell eine „kritische Masse“ und Exzellenzzentren zu bilden (Europäische Kommission 2007). Wie die Kritiker in europäischen Zeitschriften anmerken, spielt die breite Masse nicht-exzellenter Wissenschaft nur als zu aktivierender Zaungast eine Rolle. Von einer Umverteilung im Sinne einer europaweiten Angleichung der Produktionsbedingungen ist die EU auch im Fall des europäischen Hochschulraums weit entfernt. Der sozialdemokratische „Guardian“ titelte beispielsweise am 7. November 2014 (Guardian 2014): „European research funding: it‘s like Robin Hood in reverse. The EU’s Horizon 2020 programme has a budget of £ 63bn, but don’t expect a share unless you’re in one of the wealthiest countries and have a string of articles published in top journals“.

Aller journalistischen Kritik zum Trotz wird ein solch ungerechter Verteilungsprozess dennoch innerhalb des akademischen Feldes als grundsätzlich legitim anerkannt: Aus einer affirmativen, Governance-nahen Perspektive handelt es sich bei der rigorosen Selektivität des ERC-Vergabeprozesses ohnehin nur um einen notwendigen Schritt hin zu einer global wettbewerbsfähigen Wissenschaft, die nicht durch eine breite Masse getragen wird, sondern als weithin sichtbarer „Leuchtturm der wissenschaftlichen Exzellenz“ die globale Relevanz der europäischen „Spitzenforschung“ erhöhen soll (Europäische Kommission 2004, S. 9 f.). Eine hoch selektive Förderung nur der Allerbesten trage dazu bei, das Verständnis eines europäischen Mehrwertes durch Wettbewerb zu verinnerlichen und mit dem Begriff der wissenschaftlichen Exzellenz zu verknüpfen. Gleichzeitig habe die Exzellenz der wenigen ausgewählten ERC-Grantees stimulierende Wirkungen auf die Universitäten und Forschungseinrichtungen: „These are most pronounced in organizations ranking just below the top researchers, which use ERC grants to develop and implement structures and practices conducive to research excellence, like support for grant preparation and administration; ERC as a marker for research excellence also enables them to perform, compete, and align their activities in a European, rather than national context“ (Nedeva und Stampfer 2012, S. 983).

Die exponierte Rolle der elitären Minderheit, die sich im Peer-Review-Verfahren aus „Exzellenz als einzigem Kriterium“ ergibt, sorge also nicht nur für eine besonders hohe Qualität der geförderten Forschungsvorhaben, sondern auch unter den übrigen Forscherinnen und Forschern für Anpassungsdruck bzw. Reformimpulse im Sinne einer zunehmend europäischen und kompetitiven Ausrichtung.

Aus Sicht der idealistischen Kritik ist genau das jedoch Ausdruck eines akademischen Kapitalismus, in dem nicht der Erkenntnisfortschritt das anvisierte Ziel ist, sondern die Akkumulierung akademischen Kapitals (Münch 2014). Um einige wenige Leuchttürme der Exzellenz zu küren, wird die Entwertung der zur Antragskonzeption nötigen Arbeitszeit mehrerer tausend Wissenschaftler in Kauf genommen: Die Aufteilung der Mittel auf vergleichsweise wenige Forscherinnen und Forscher, die dann überproportional viele Zuwendungen erhalten, erzeugt einen ERC-geförderten Luxus an der Spitze, der weder auf langfristige Forschungsergebnisse noch auf die Weiterentwicklung der universitären Struktur zur Konsolidierung von Forschungs- und Lehrbedingungen ausgerichtet ist, sondern auf einen Standortwettbewerb um die „besten Köpfe“ hinausläuft. Dabei gelingt es nur den wenigen Drittmittelgewinnern, ihre akademische Exzellenz zu symbolisieren, während dem abgelehnten Rest eine europaweite Anerkennung ihrer Forschungsvorhaben verwehrt bleibt. Auch hier liegt in der hohen Selektivität ein Moment symbolischer Gewalt, der die wissenschaftliche Leistung einiger weniger hervorhebt und zum Ausdruck europäischer Spitzenforschung erklärt, während die Arbeit der übrigen Antragstellenden verkannt wird. Besonders eindeutig wurde diese Kritik anlässlich der ersten Runde der „ERC Starting Grants“ formuliert, als ganze 97 % der knapp 9000 Anträge abgelehnt wurden.Footnote 5 Der damalige Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, Christian Fleck, sah darin eine „exorbitante[] Verschwendung von Humankapital“. „9000 Personenmonate oder 820 Arbeitsjahre wurden vertan und im Juli erhielten 8235 Jungforscher einen Ablehnungsbrief aus Brüssel“ (Fleck 2007, S. 74 f.). Er hält die fachliche Konstruktion einer akademischen Nachwuchs-Elite „bottom-up“ für unmöglich: „Es gibt wohl kein einziges wissenschaftliches Fach, dessen Mitglieder von sich zu behaupten wagen würden, sie seien in der Lage, die europaweite Kollegenschaft zu überblicken. Natürlich weiß man in vielen Fächern, wo die Besten sitzen, doch wo die besten Jungwissenschaftler beheimatet sind, zu deren Förderung das ERC ja angetreten ist, entzieht sich der Urteilskraft auch der Willigsten und Wohlmeinendsten“ (ebd., S. 75).

Während die erste, Governance-nahe Perspektive Exzellenz tautologisch durch das verknappende Verfahren selbst definiert und dies allen anderen Mitgliedern des akademischen Feldes als europäisierenden Leistungsanreiz vorführt, pocht also die zweite, kritische Perspektive auf die Notwendigkeit akademischer Distinktionen, die noch weitgehend national und disziplinär legitimiert werden. Diese gelängen (noch) nicht europaweit, was nur mit größerem Budget sowie unter Berücksichtigung der disziplinären Grenzen und der historisch gewachsenen nationalen Besonderheiten erreicht werden könne. Diese Kritik kann jedoch durch „bessere“ Peer-Reviews (Luukkonen 2012) und eine Steigerung des Drittmittelvolumens (Europäische Kommission 2013) weitgehend entkräftet werden, ohne an der prinzipiellen Selektivität etwas zu ändern. Gerade damit aber nimmt die idealistische Position im Grunde die durch den ERC gesetzte Herausforderung an und beteiligt sich an einer Europäisierung dieses für das akademische Feld konstitutiven Konflikts um fachliche Autonomie. Zwar wird damit nicht dessen Struktur eins zu eins auf eine europäische Ebene gehoben, aber es werden grundlegende Ansprüche an die Wissenschaft im Namen von „Exzellenz“ und „Frontier Research“ auf den ERC projiziert (Flink 2016). Entsprechend der nur als punktuell konzipierten Förderung beschränken sich diese Ansatzpunkte auf die Spitzen der nationalen akademischen Felder und schließen an deren Exzellenzdiskurse an. Während die Förderung durch die Rahmenprogramme hauptsächlich vom Governance-nahen Forschungsstrang mit akademischer Aufmerksamkeit bedacht wurde, beginnt um den ERC nun eine Auseinandersetzung auch vonseiten der idealistisch auf Autonomie bestehenden Positionen. Dadurch bringen diese ihr wissenschaftliches Prestige kritisch mit ein und werten den Selbstanspruch des ERC auf. Indem vom ERC nationale Strategien der Symbolisierung akademischen Kapitals im Sinne akademischer Autonomie übernommen und an die EU-Agenda angepasst werden, bleibt der auf Autonomie pochenden Kritik nationaler Eliten nur das Kritisieren der Umsetzung. Damit wird von beiden Seiten die prinzipielle Grundlage für die Zuweisung akademischer Exzellenz durch den ERC gelegt. Sein Status und seine Rolle als Konsekrationsinstanz ist somit sowohl aus der idealistischen als auch der Governance-nahen Eliteposition nur noch eine Frage des „Wie“, nicht mehr eine des „Ob“.

Bei dieser Öffnung für einen europäischen Wettbewerbsrahmen handelt es sich um die akademische Variante eines zentralen Modus der Europäisierung, wie ihn die DFG-Forschergruppe „Europäische Vergesellschaftungsprozesse“ in verschiedenen Feldern beobachtet hat. Auch im Fall des ERC wird auf EU-Ebene materiell Elitenintegration betrieben, die symbolisch jedoch für alle gelten soll. Dieser Prozess funktioniert in dem Maße, wie es gelingt, die nationalen Eliten für eine Ausweitung ihrer Herrschaftsansprüche zu gewinnen, obwohl sie dadurch mit den Eliten der anderen europäischen Länder in Konkurrenz geraten. Die transnationale Ebene des akademischen Feldes entsteht dann als Wettbewerbsarena für diejenigen, die in den nationalen Feldern tendenziell ohnehin schon zu den Gewinnern gehören und dort über die entsprechende akademische Legitimation verfügen, wobei ihre national akkumulierte Anerkennung dann auf den ERC übergeht. In den Worten des damaligen EU-Forschungskommissars Janez Potočnik: „Mit dem ERC können wir eine Champions League der europäischen Wissenschaft schaffen.“ (DIE ZEIT vom 17. Juli 2008) Gelingt es dem ERC weiterhin, diesen Prozess der anerkannten Zuweisung akademischer Exzellenz zu übernehmen, so wird er als Konsekrationsinstanz zunehmend glaubwürdiger und damit zu einer Legitimationsquelle der Europäisierung im akademischen Feld.

Die Europäisierung der Wissenschaft als Konstruktion einer europäischen Wissenschaftselite erscheint dabei für Teile der nationalen Eliten zunächst noch als akademisch dysfunktional, da sie nicht allen Kriterien der nationalen disziplinären Konsekration folgt bzw. folgen kann. Betrachtet man Europa jedoch als ein differenziertes Zusammenspiel verschiedener Strukturlogiken (als „Feld von Feldern“, vgl. Schmitz et al. 2016), so ist diese Entwicklung zwar womöglich nicht funktional im Sinne einer pluralistisch verstandenen akademischen Eigenlogik, aber doch Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Tendenz in Europa, wobei der Steigerung des Wettbewerbs und der Öffnung bzw. potenziell der Entwertung lokaler und nationaler Distinktionen eine zentrale Rolle zukommt. Entsprechend bedeutet die in „Horizon 2020“ propagierte gleichzeitige „Verbreitung von Exzellenz und Ausweitung der Beteiligung“ (BMBF 2014, S. 5) eben keinen Widerspruch: Beteiligung ist hier zu verstehen als Steigerung der Antragszahlen, d. h. als Beteiligung an einem europäischen Wettbewerb, nicht als praktische Beteiligung an einer europäischen „scientific community“ in einem Merton’schen, emphatischen Sinne. Es gelingt dem ERC jedoch, einige Ansprüche der nationalen Eliten zu übernehmen und deren Anerkennung bzw. kritische Zustimmung zu erhalten, indem bestimmte elitäre Aspekte der akademischen Autonomie – wie der Fokus auf die individuelle Leistung einiger weniger exzellenter Forscherinnen und Forscher – in die Forschungsförderung integriert werden. Auch im akademischen Feld und in den darin zentral verhandelten wissenschaftlichen Positionen bedeutet Europäisierung also gegenwärtig vor allem Elitenintegration. Für die „scientific community“ insgesamt bleibt nur die symbolische Integration durch „Chancengerechtigkeit“.Footnote 6

3.2 Aufbrechen der nationalen Standortprotektion

Nicht nur in der selektiven Art und Weise der Vergabe von Grants durch den ERC lässt sich ein genereller „Modus der Europäisierung“ ausmachen, sondern auch anhand der Form der bewilligten Grants. Diese sind „portabel“, d. h. es steht den Grantees offen, sie an einem wissenschaftlichen Standort ihrer Wahl innerhalb Europas zu verausgaben.Footnote 7 In dieser Portabilität von ERC-Grants kann ein Zusammenhang mit der europäischen Politik der Arbeitnehmerfreizügigkeit gesehen werden, die Europäisierung v. a. als Wettbewerbsparadigma versteht. In beiden Fällen ist eine Marktlogik wirksam, die in jeweils spezifischen Feldern die Regeln kleinerer Arenen bricht und die Souveränität der lokalen und nationalen Ordnungsansprüche umgeht. Zugleich liegt es im Interesse der akademischen Eliten zentraler Länder, auch im europäisch geöffneten Wettbewerb die Akkumulation ihres symbolischen Kapitals voranzutreiben. Die nationalen Förderinstitutionen, die bisher die wichtigsten Konsekrationsinstanzen akademischer Distinktion darstellen, gehen entsprechend selbstbewusst auf den ERC als Indikator ihres exzellenten Wissenschaftssystems ein: „As Goethe already knew, ‚there is no harm in the strong strengthening themselves‘. Consequently, the European Research Council (ERC) and the Deutsche Forschungsgemeinschaft […] mutually strengthen each other“ (Matthias Kleiner, Präsident der DFG; DFG 2008, S. 3).

Auch hier lässt sich exemplarisch die Berücksichtigung beider Argumentationen wiederfinden. Zunächst wird der Governance-nahe Befund entproblematisiert, dass durch den ERC sozusagen „über Bande“ ein neuer Reformwille in den bisher zu fragmentierten und uneinheitlichen nationalen Förderinstitutionen erzeugt werde (Nedeva und Stampfer 2012, S. 983; Nedeva 2013). Aus einer Position der Stärke heraus wird dieser Reformimperativ an schwächere Teilnehmer des europäischen Wettbewerbs weitergegeben, während mit Goethe ein Fixpunkt des nationalen bildungsbürgerlichen Kanons zitiert wird. Damit wird im Umkehrschluss die Thematisierung von strukturellen Effekten des ERC, die auf Widerstände stoßen, zu einem Indikator von Schwäche. Insbesondere die Portabilität der Grants wird als Ansatzpunkt für mehr wissenschaftliche Autonomie gegenüber den universitären und nationalen Bürokratien hervorgehoben. Das BMBF zitiert z. B. einen deutschen „Starting Grantee“ zum Einfluss des ERC „auf den Forschungsstandort Deutschland“ mit den Worten: „Das Anwerben und Halten von erfolgreichen Antragstellern hat zu einer positiven Konkurrenz zwischen den Institutionen geführt. Auch wenn manche Fachbereiche es noch nicht wahr haben wollen, stellt ein bewilligter Antrag eine gute Verhandlungsposition dar, um die Rahmenbedingungen des Projektes im Interesse der/des Grantees zu gestalten.“ (BMBF 2014, S. 24).

So werden die lokalen Bedingungen, unter denen ein ERC-Grant verausgabt werden kann, einem europaweiten Vergleich ausgesetzt. Das soll – ganz im Sinne der europäischen Marktfreiheit – für eine Anpassung der lokalen Verhältnisse an die Bedingungen der besten Universitäten sorgen. Standorte, die nicht in der Lage sind, mit ihnen zu konkurrieren, können hingegen ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verlieren, was einerseits affirmativ als notwendige, d. h. marktgerechte Allokation der „besten Köpfe“Footnote 8 ausgelegt oder andererseits als „brain-drain“ der Peripherie kritisiert werden kann. In diesem Punkt bleibt die Kritik durch die idealistische Seite allerdings weitgehend aus, da ihr Verständnis von individueller professoraler Autonomie weniger die strukturellen Effekte dieser Marktfreiheit auf Standortsicherheit, Kollegialität o. ä. in den Blick bekommt, sondern vielmehr die Unabhängigkeit von erfolgreichen Drittmitteleinwerbern gegenüber den universitären Bürokratien gutheißt. Aus Sicht der Geförderten stellt sich das Aufbrechen der Standortgebundenheit als Empowerment dar: „The ERC grant is different because money goes to the PI, not the institute. It empowers the researcher. So if this doesn’t work in one place, I can move around. […] I can negotiate with both universities“ (ERC 2010, S. 12). So gelingt es dem ERC, an das Motiv der akademischen Autonomie anzuschließen und als einer ihrer europäischen Träger aufzutreten.

Die hier skizzierte Europäisierung vollzieht sich im akademischen Feld als materielle Integration der Eliten und symbolische Integration „schwächerer“ Positionen. Die entsprechend stark aufgeladene Funktion der ERC-Grants als „Goldstandard“ (Nowotny 2013) oder „European Champions League of Research“ (Potočnik, in DFG 2008, S. 4) ersetzt dabei nicht die weiterhin notwendige materielle Grundlage des akademischen Feldes, auf der es Forschenden möglich sein soll, Anträge zu verfassen und ihre „Marktfreiheit“ wahrzunehmen. Damit sind dieser Form der Ausweitung der europäischen Integration durch Wettbewerb Grenzen gesetzt, da sie schon national in Konflikt mit materiellen Umverteilungsfragen steht. Diese Debatte wird noch weitgehend innerhalb der nationalen Felder geführt, aus denen die Grundmittel weiterhin stammen. Durch den Bedeutungsgewinn des ERC ist sie jedoch auch auf europäischer Ebene zu erwarten. So stört sich der frühere DFG-Präsident Peter Strohschneider daran, „[d]ass Drittmittel immer mehr zu einer Art Währung im Wissenschaftssystem werden. Daher entscheidet die DFG indirekt über Gehaltszulagen von Professoren, Reputation oder inneruniversitäre Macht mit. Das hat den Nebeneffekt, dass die Zahl der Anträge stetig steigt und die Erfolgsquoten trotz unseres wachsenden Budgets sinken. Das macht auch den Ton rauer.“ (DIE ZEIT vom 13. Juni 2013)

Diese Kritik an der Verknappung von akademischem Kapital durch Drittmittelwettbewerb, der schon national mit einer Abwendung von den Grundmitteln einhergeht (Kreckel 2009, S. 329), lässt sich vom Beispiel des Wettbewerbs um DFG-Mittel auf den ERC übertragen. Sie trifft dort noch in einem verschärften Maße zu, da im Gegensatz zum nationalen Wissenschaftssystem die Bedingungen der Grundfinanzierung zwischen den nationalen Feldern noch stärker divergieren (EACEA 2013, S. 64 ff.). Das Argument richtet sich grundlegend gegen die strukturelle Notwendigkeit von Drittmitteln, deren punktuelle Gewährung kein Ersatz für eine prinzipielle Grundversorgung sein kann. „Wir entscheiden immer weniger darüber, ob jemand mit Drittmitteln unter besseren Bedingungen forschen kann, sondern ob er überhaupt forschen kann.“ (Strohschneider, in DIE ZEIT vom 13. Juni 2013)

Darüber hinaus können die ERC-Grants im Sinne eines „Goldstandards“ als eine Art europäische akademische Währung gedeutet werden, weil sie an allen Universitäten Europas einsetzbar sind. Das schafft zum einen symbolisch eine akademische Währungsunion Europas, während zum anderen die Zwänge der allgemeinen Austeritätspolitik sowie der innerakademische Trend weg von einer Finanzierung durch Grundmittel hin zu Drittmitteln eine Ausweitung der Beteiligung am Wettbewerb in Form von steigenden Antragszahlen und damit auch von Ablehnungsquoten erzeugen. Das kann sowohl im affirmativen als auch skeptischen Sinne als Europäisierung gedeutet werden, und wird es auch. Die hier skizzierten Konfliktlinien akademischer Selbstvergewisserung um den Exzellenzwettbewerb des ERC legitimieren ganz grundsätzlich Europa als ein Projekt der marktförmigen Elitenintegration. Die beschriebene Entwicklung hin zu einem europäischen Drittmittelwettbewerb der Elite bringt es mit sich, dass in der Summe die akademische Arbeit entwertet wird – wie z. B. in Form der auf die Anträge „verschwendeten Lebensjahre“. Gleichzeitig wird der zur Außendarstellung relevante Output in der Spitze erhöht, während die materiellen Bedingungen dafür weiterhin in den nationalen Feldern bereitgestellt werden sollen.

4 Fazit

Wie dargelegt, werden anhand des ERC Elemente der Europäisierung verhandelt, in denen sich die Kräfteverhältnisse des europäischen Projekts abzeichnen: Primat der Wirtschaft, Stärkung ökonomischer Logiken durch den Binnenmarkt und Aufbrechen der sozialen Integration bzw. Geschlossenheit der nationalen Felder. Was für autonome Kritiker eine Dysfunktionalität des Europäischen Hochschulraums ist (Fokus auf Industrieforschung, geringe Diversität v. a. in den Rahmenprogrammen etc.) und vom ERC erfolgreich als akademische Legitimationsquelle adressiert wird (für eine verknappte Leistungselite mit punktueller Überfinanzierung von wenigen ERC-Grantees), kann als Übersetzung der europäischen Kräfteverhältnisse im akademischen Feld interpretiert werden. Was innerakademisch als Heteronomie kritisiert oder als Reformimpuls begrüßt wird, ist ein Effekt der feldspezifischen „Verdichtung“ (Kannankulam und Georgi 2012) dominanter ökonomischer und politischer Zwänge, namentlich der Erzeugung von Elitenintegration und Standortwettbewerb. Diese mit den Prinzipien der innerakademischen Distinktion in Verbindung zu bringen, ist eine der zentralen Leistungen des ERC und der daran beteiligten akademischen Eliten.

In diesem Sinne ist auch die Förderstruktur des ERC funktional für die „Liberalisierungsmaschine Europa“ (Streeck 2013, S. 148 ff.), die ehemals geschlossene nationale Räume für einen übergreifenden Wettbewerb öffnet. Die symbolische Integration der nationalen Wissenschaftsfelder in ein imaginiertes Gesamtgefüge europäischer Wissenschaft wirkt über die vermeintliche Chancengerechtigkeit im ERC-Wettbewerb, dessen materielle Erträge nur der Spitze der akademischen Elite zugutekommen, aber gleichzeitig eine „europäische Exzellenz“ inszeniert. Die ökonomischen Kosten sind so relativ gering und auf die Produktion von wenigen Exzellenzclustern hin optimiert, während die akademischen Kosten immens sind. Indem sowohl die wirtschaftsnahe Governance als auch die ihre Autonomie verteidigenden nationalen Eliten jeweils anhand des ERC „wissenschaftliche Exzellenz“ in ganz Europa als Drittmittelforschung adressieren, tragen sie beide zur relationalen Konstruktion einer marktförmigen europäischen Dimension bei. Dieser Trend zur Monopolisierung symbolischen Kapitals ist jedoch nicht von außen oktroyiert, sondern basiert auf einer Vermarktlichung innerakademischer Leistungskriterien, die von den wissenschaftlichen Eliten geteilt werden. Deren akademische Selbstbeschreibung neigt dazu, die sozialen Grundlagen des Exzellenzwettbewerbs zu ignorieren.

Für eine in die Breite zielende europäische Forschungsförderung findet sich bislang keine Koalition – ähnlich dem allgemeinen Ausbleiben einer europäischen Sozialintegration. Im akademischen Feld wird die Frage nach dem sozialen Charakter Europas so verhandelt, als stünde „nur“ die Wissenschaft auf dem Spiel. In der Konsequenz entsteht das Bild, dass dem europäischen Projekt durch die Vermarktlichung akademischer Leistungen und die Akkumulation akademischen Kapitals in einem prestigeträchtigen Zentrum des europäischen Feldes am meisten gedient sei.

Die Frage, inwiefern diese in der Breite nur symbolische Integration von peripheren Positionen zu einer wirklichen Europäisierung der akademischen Deutungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata führt, wird vom hier skizzierten Elitendiskurs weitgehend nicht berührt. Es bleibt zu untersuchen, inwiefern die auf Elitenintegration ausgerichtete Konsekrationsinstanz ERC eine entsprechende Prägekraft unterhalb der ambitionierten Spitze entwickelt. Die institutionellen Grundlagen sind gelegt, und die Zustimmung der nationalen Elite ist eingeholt. Nun gilt es zu untersuchen, welche Breitenwirkung dieses akademische Elitenprojekt haben wird: Denkbar wären sowohl eine Internalisierung des Glaubens an die Chancengerechtigkeit des Drittmittelwettbewerbs als auch eine resignierte Distanzierung vom Projekt eines europäischen Forschungsraums.