1 Einleitung

Trotz vielfältiger Wandlungsprozesse der Arbeitswelt stellt Erwerbsarbeit noch immer einen zentralen gesellschaftlichen Integrationsmodus dar. In der „Erwerbsarbeitsgesellschaft“ bedeutet Lohnarbeit für das Individuum mehr als nur materielle Existenzsicherung. Sie vermittelt soziale Sicherheit, biografische Orientierung sowie sozialen Status und beinhaltet bestenfalls sinn- und identifikationsstiftende Komponenten. Diese Integrationsfunktion erfüllen aber immer weniger Beschäftigungsverhältnisse. Infolge der Flexibilisierung von Arbeitsmärkten (Giesecke 2006), der Vermarktlichung betrieblichen Handelns (Kratzer 2005) sowie der gezielten politischen Förderung deregulierter Beschäftigung im Zuge der Hartz-IV-Reformen (Scherschel und Booth 2012) bildet gegenwärtig das „Normalarbeitsverhältnis“ „den abnehmenden Regelfall, atypische Formen hingegen den zunehmenden Ausnahmefall“ (Keller und Seifert 2009, S. 42).Footnote 1

Diese Entwicklung wird seit geraumer Zeit als Prekarisierung von Arbeit diskutiert. Als prekär gelten Erwerbsverhältnisse dann, wenn das durch sie erzielbare Erwerbseinkommen das Minimum einer existenzsichernden Entlohnung unterschreitet, wenn sie eine gleichberechtigte betriebliche Integration erschweren und die Beschäftigten von institutionell verankerten Rechten und Partizipationschancen als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer ausschließen (Mayer-Ahuja 2003, S. 15). Dass sich Prekarität jedoch nicht nur auf der arbeitsvertraglichen Ebene zeigt, sondern auch die mit der Erwerbsarbeit verknüpften Erwartungen, Ansprüche und Anrechte betrifft, konnte durch eine Erweiterung der Prekaritätsforschung mit „sinnhaft-subjektbezogenen“ Faktoren (Dörre et al. 2006; Brinkmann et al. 2006) gezeigt werden. Mittlerweile liegt eine Reihe an Studien vor, welche die subjektiven Auswirkungen prekärer Arbeit in den Mittelpunkt stellen und qualitativ fundierte Typologien von Deutungs- bzw. Umgangsformen mit Prekarität vorschlagen (vgl. zum Beispiel Dörre et al. 2013; Schiek 2010; Grimm und Vogel 2010; Rademacher und Lobato 2008; Lantermann et al. 2007; Krenn und Flecker 2004).

Ein Kernbefund dieser Studien lautet, dass der normative Referenzrahmen der „Normalarbeitsgesellschaft“ in einem großen Teil des prekären Beschäftigungssegments weiterhin Orientierungsfunktion besitzt. Er gerät jedoch mit der erlebten Arbeitsrealität in Konflikt. Zum Beispiel wird die Anforderung, einer regulären Erwerbsarbeit nachzugehen, weiterhin als normative Verpflichtung empfunden, der man aber nicht mehr nachkommen kann (Dörre et al. 2013, S. 123 f.). Prekär Beschäftigte verfolgen den Anspruch, den eigenen Erwerbsverlauf planen und gestalten zu können – jedoch wird dieser bei anhaltender Erwerbsunsicherheit allmählich aufgegeben (Grimm et al. 2013, S. 261). Normalbiografische Vorstellungen geben weiterhin Orientierungen vor – sie lassen sich bei diskontinuierlichen Erwerbsverläufen aber nicht mehr ohne Weiteres zur Ordnung der eigenen Lebensgeschichte heranziehen (Schiek 2010). Das Prekäre einer Erwerbsarbeit kommt auf subjektbezogener Ebene demnach als Diskrepanz zwischen Normalitätsvorstellungen einerseits und der erlebten Realität unsicherer Erwerbsverhältnisse andererseits zum Ausdruck. In der bisherigen Forschung werden einzelne Aspekte von Normalitätsvorstellungen untersucht, deren Verhältnis zu anderen Normalitätsvorstellungen aber häufig nicht systematisch berücksichtigt.

Daran anknüpfend verfolgt der vorliegende Beitrag das Ziel einer Erweiterung der Untersuchungsperspektive. Auf der Grundlage qualitativer Interviewdaten, die wir im Forschungsprojekt „Soziales Kapital im Lebensverlauf – Beschäftigungsrisiken und ökonomische Unsicherheit in ihren Auswirkungen auf soziale Netzwerke und freiwilliges Engagement“Footnote 2 erhoben haben, unterscheiden wir drei Kategorien von Normalitätsvorstellungen in Bezug auf Erwerbsarbeit, die für eine Analyse der Deutungs- und Umgangsformen mit Prekarität gemeinsam betrachtet werden müssen: einer Dimension der Gestaltbarkeit der eigenen Erwerbsgeschichte, in der sich der Anspruch auf Kontrolle der eigenen Berufsbiografie findet, einer normativen Dimension, in der sich gesellschaftlich legitimierte Anrechte als Arbeitnehmer manifestieren, sowie einer Dimension von Sinnerwartungen an Erwerbsarbeit, in der persönliche Wünsche an sinnvolle Arbeit zum Ausdruck kommen.

Nach einer kurzen Darstellung des Konzepts „Normalarbeitsgesellschaft“ als konzeptueller Ausgangspunkt (Abschn. 2) folgt die Darstellung unseres Forschungsprozesses (Abschn. 3) sowie die Beschreibung unserer aus dem Datenmaterial gebildeten Kategorien von Normalitätsvorstellungen (Abschn. 4). Eine Typologie von Umgangsformen stellen wir in Abschn. 5 vor. Es lässt sich weder ein reines Festhalten noch ein reines Ablösen vom Referenzrahmen der Normalarbeitsgesellschaft ausmachen. Vielmehr finden sich kontinuierliche Versuche, bisherige Orientierungsmuster zu transformieren, um sie an die erfahrene Realität prekärer Beschäftigung sinnhaft anzupassen (Abschn. 6).

2 Die subjektive Deutung und Bearbeitung prekärer Erwerbsarbeit vor dem Hintergrund der „Normalarbeitsgesellschaft“

Als „Normalarbeitsverhältnis“ wurde im Jahre 1985 von Ulrich Mückenberger das allgemeine Leitbild einer dauerhaften, sozialversicherungspflichtigen Vollzeiterwerbstätigkeit bezeichnet. Wenn es auch damals schon nicht die empirische Realität vollständig umschrieb, da atypische Beschäftigungsverhältnisse einen nicht unerheblichen Teil des Arbeitsmarktes ausmachten, so war es doch erstens eine angemessene Beschreibung eines arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Bezugspunktes, an dem sich staatliche Instanzen, Tarifparteien und Betriebspolitiken orientierten (Mückenberger 1985). Zweitens war das Normalarbeitsverhältnis darauf angelegt, die Notwendigkeit einer dauerhaften Erwerbstätigkeit auch als Lebensentwurf, Werthaltung, Selbst- und Fremdbild arbeitender Menschen zu verankern (Mückenberger 1989, S. 212). Erwerbsarbeit konnte so insbesondere in der Hochphase des Fordismus zum zentralen Strukturgeber der „Normalbiographie“ (Levy 1977; Kohli 1985) werden: Ein um Erwerbsarbeit strukturierter, institutionalisierter Lebenslauf gab eine Gliederung des Lebens in die Phasen der Ausbildung, Erwerbsarbeit und Ruhestand vor und erzeugte dadurch die Erwartbarkeit materieller Kontinuität im Leben und auch die Vorstellung zeitlicher Ablauf- und Entwicklungsschemata (Dröge und Somm 2005).

Eine entscheidende Verknüpfung zwischen normalarbeitsgesellschaftlichen und normalbiografischen Vorstellungen stellen erwerbsbiografische Orientierungsmuster (Hardering 2011, S. 86) dar. Sie enthalten „berufsbiographische Skripte“ (Corsten 2004), die Handlungsanleitungen, Deutungsmuster und Planungshilfen einer gelingenden Erwerbsbiografie zur Verfügung stellen, die dann zum Beispiel mit dem Skript der „Aufstiegskarriere“ (Hardering 2011) gerahmt werden können, durch das Senioritätsprinzip ihre Legitimation erfahren (Wagner 2004, S. 224 ff.) oder das Erbringen individueller Leistung mit entsprechend erwartbaren Gegenleistungen seitens des Arbeitgebers verknüpfen (Rössler 2005, S. 408).

Typisch für die Normalarbeitsgesellschaft war somit nicht nur eine weitgehende Abstimmung arbeitsmarktlicher, lebenslaufbezogener und wohlfahrtsstaatlicher Ebenen, sondern auch ein weitgehendes Passungsverhältnis zwischen den subjektiv zu erwartenden Folgen des eigenen berufs- und arbeitsmarktbezogenen Handelns und den hierauf ausgerichteten arbeitsmarktlichen Rahmenbedingungen. Beschäftigungsverhältnisse waren zudem in rechtlich-institutionelle Kontexte eingebunden, die Rechte und Pflichten der Beschäftigten sowie auch der Arbeitgeber, Entgelte für die Arbeit, die Einbindung in soziale Sicherungssysteme und kollektive Vertretungen regelten (Schweiger und Peitler 2010). Wie von Axel Honneth (2008) bzw. Stephan Voswinkel (2013) hervorgehoben wird, spiegeln sich in der rechtlichen Regulierung von Arbeitsverhältnissen gesellschaftlich für verbindlich gehaltene und normativ legitimierbare Anerkennungsverhältnisse wider. Schließlich lassen sich auf der individuellen Ebene von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern seit den 1980er-Jahren auch zunehmend Wünsche nach einer persönlich sinnvollen und zufriedenstellenden Arbeit finden (Baethge 1991). Die für die Normalarbeitsgesellschaft kennzeichnende Notwendigkeit einer dauerhaften Erwerbstätigkeit als Lebensziel wurde zunehmend mit eigenen Erwartungen an eine Selbstverwirklichung im Beruf verknüpft.

Mit der Prekarisierung von Arbeit ist die Verknüpfung von normativ begründbaren Anrechten, berufsbiografischen Skripten und Sinnerwartungen unter dem Dach der Normalarbeitsgesellschaft deutlich infrage gestellt worden. Wie sich vor diesem Hintergrund individuelle Vorstellungen von „Normalität“ verändern, wird derzeit verschieden gedeutet.

Einige Studien gehen von einem grundlegenden Bedeutungswandel von Erwerbsarbeit bei prekär Beschäftigten aus. Überspitzt formuliert wird hier davon ausgegangen, dass Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt eine funktionale Anpassung der Subjekte erzeugen. Es bilden sich neue, der objektiven Lage nach und nach angepasste Identitäten, Selbstbilder, normative und biografische Orientierungen heraus. Letztlich wird hier die These einer zunehmenden Ablösung vom Orientierungsrahmen der Normalarbeitsgesellschaft behauptet. Bei Beschäftigten in prekären, höchst flexibilisierten oder unsicheren Erwerbslagen würden sich auf subjektiver Ebene neue, ihrer objektiven Situation angepasste Bewusstseinsformen bilden. Zum Beispiel verweisen Natalie Grimm et al. (2013) darauf, dass prekär Beschäftigte durch die Bewusstmachung ihrer Situation über die Zeit ein „Zwischenzonenbewusstsein“ entwickeln, das auf einem wahrgenommenen Weder-noch-Status beruht und sich durch eine zunehmende Ablösung vom Referenzrahmen der Normalarbeitsgesellschaft auszeichnet: Die Beschäftigten sind weder arbeitslos und ausschließlich von Sozialleistungen abhängig, noch sind sie Erwerbstätige, deren soziale Teilhabe langfristig gesichert ist. Ansprüche an Arbeit und Zukunftserwartungen werden nach unten angepasst und materielle, berufliche und private Einschränkungen hingenommen. Ein ähnlicher Befund wird von Klaus Dörre et al. (2013) vorgelegt: Je länger eine prekäre Erwerbslage anhält, umso eher wird die Orientierung an einer Zentralität von Erwerbsarbeit für das eigene Leben aufgegeben.

Andere Studien gehen davon aus, dass prekär Beschäftigte weitgehend an tradierten Vorstellungen von Erwerbsarbeit festhalten. Zugespitzt formuliert wird hier davon ausgegangen, dass sich die Normalarbeitsgesellschaft im Bewusstsein der Beschäftigten derart fest verankert hat, dass sie kaum Veränderungen unterliegt und gegenwärtig noch normative Gültigkeit besitzt. Letztlich wird hier die These eines Festhaltens am Orientierungsrahmen der Normalarbeitsgesellschaft aufgestellt. So gelangt zum Beispiel Daniela Schiek (2010) zu dem Ergebnis, dass die „Normalbiografie“ bei prekär Beschäftigten weiterhin eine subjektive Orientierungsfunktion besitzt und als Referenzfolie für die Beurteilung des bisherigen Lebensverlaufs dient. Schiek zeigt, wie sich prekär Beschäftigte gerade aufgrund einer lang anhaltenden erwerbsbiografischen Diskontinuität verstärkt dem Konstrukt „Normalbiografie“ zuwenden und es als Orientierungsschema für die Beurteilung der Gegenwart und Zukunft aktivieren.

Wir möchten im Folgenden auf der Grundlage eigener Daten ein drittes Argument ausarbeiten: Weder reagieren Beschäftigte funktional in Reaktion auf „objektive Prekarität“, noch werden sie in ihren Vorstellungen und Handlungen von internalisierten Normen der klassischen Erwerbsarbeitsgesellschaft geleitet. Vielmehr können wir anhand unseres empirischen Materials zeigen, wie sich die Befragten reflektiert, bewusst und aktiv auf einzelne Aspekte des Orientierungsrahmens „Normalarbeitsgesellschaft“ positiv beziehen, andere hingegen umdeuten und mit neuem Sinn versehen, wieder andere hingegen weitgehend relativieren oder gar für ungültig erklären. Statt „Ablösen“ oder „Festhalten“ trifft hier eher das Bild einer stets vorzunehmenden Rekombination bzw. Umdeutung des Orientierungsrahmens der „Normalarbeitsgesellschaft“ zu. Bevor wir unser Argument anhand des qualitativen Datenmaterials schrittweise entfalten, geben wir einen Überblick über die methodische Anlage unserer Studie.

3 Aufbau der Studie

Datengrundlage unserer Ergebnisse sind 17 teilnarrative Interviews, die wir im Rahmen des Forschungsprojekts „Soziales Kapital im Lebensverlauf“ erhoben haben.Footnote 3 Unsere Interviewpartnerinnen und -partner waren zum Zeitpunkt der Befragung in Leiharbeit, befristeten Arbeitsverträgen, Mini-Jobs oder Werkverträgen beschäftigt, einige seit wenigen Monaten, andere seit mehr als zehn Jahren. Sie kommen aus dem Bereich der Pflegebranche, der sozialen Arbeit, der Banken- und Versicherungsbranche, der Marktforschung, der Automobil- und Flugzeugindustrie und dem Reinigungsgewerbe. Die Heterogenität von Erwerbsformen im prekären Beschäftigungssegment spiegelt sich somit in unserem Sample wider. Durch die in Anzeigen und Flyern verwendete Formulierung „Sind Sie in eine Situation beruflicher Unsicherheit geraten?“ gelang es, fast ausschließlich Beschäftigte zu finden, die bereits über Erfahrungen beruflicher „Sicherheit“ verfügten. Dies konnte eine mehrjährige volle und unbefristete Stelle sein, eine abgeschlossene betriebliche Ausbildung, ein Studium oder auch eine Lebenssituation, die finanziell weitgehend durch das Einkommen des Partners getragen wurde.

Bei der Interviewinterpretation überließen wir den Befragten die Problematisierung ihrer Erwerbssituation und rekonstruierten anschließend die Vergleichsmaßstäbe, vor deren Hintergrund eine Erfahrung als problematisch dargestellt wurde. Es ging uns darum, „die Problem- und Problemlösungskontexte/-kontexturen beschreibbar zu machen, die von Interviewtexten selbst entfaltet werden“ (Nassehi und Saake 2002, S. 83; vgl. auch Schneider 1992) und durch die eine Erwerbssituation ihre Bedeutung als „prekär“ erst erlangt – anstatt von zuvor definierten Merkmalen subjektiver Prekarität auszugehen. Wir folgten damit dem Ansatz der Grounded Theory (vgl. Glaser und Strauss 1967). Unser Vorgehen bei der Interpretation der Interviews sei – in der hier gebotenen Kürze – stellvertretend anhand einer Sequenz aus dem Interview mit Herrn WeberFootnote 4, einem 44-jährigen Industriemechaniker in Leiharbeit, verdeutlicht:

„Es ist so gewesen, dass sie mich alle haben wollten. Bei [Unternehmen A.] wollten sie mich haben. Bei [Unternehmen B.] wollten sie mich haben. Und ich mir da gute Chancen ausgerechnet hatte. Bloß die Krisen kommen, kamen mir immer dazwischen. Und das frustriert. Dass ich so, trotz guter Arbeit, trotz guter Leistung, ne? […] Und dann wird man da so abserviert, weil die Zahlen nicht stimmen. Weil einer sagt: ‚Hier, guck mal, wir haben die und die Vorgabe. Das tut uns leid. Wir können dich hier nicht halten‘. […] Also ich war mehrmals schon auf’m Absprung. Aber es kam immer was dazwischen.“

Die Prekaritätserfahrung wird bei dieser Problembeschreibung der Arbeitssituation durch Herrn Weber verständlich, wenn man die Maßstäbe und Erwartungen einbezieht, die durch die gescheiterten Übernahmen in die Stammbelegschaft enttäuscht wurden: durch „gute Leistung“ seine Position auf dem Arbeitsmarkt verbessern und verstetigen zu können und somit eine realistische Chance auf eine Festanstellung in der Stammbelegschaft zu erhalten sowie die Erwartung, dass Beurteilungen durch Vorgesetzte über eine Weiterbeschäftigung entscheiden sollten – und nicht zufällig auftretende „Krisen“. Prekarität, so lässt sich schlussfolgern, kommt an dieser Stelle durch die Enttäuschung zweier Aspekte des Orientierungsrahmens „Normalarbeitsgesellschaft“ zum Ausdruck: dem Leistungsprinzip und der Vorstellung eines selbst gestaltbaren Erwerbsverlaufs.

Im Anschluss an das offene Kodieren der einzelnen Interviews entwickelten wir durch fallübergreifende Vergleiche drei Kategorien: (1) die Vorstellung von der Gestaltbarkeit eigener Arbeitsmarktchancen, (2) normativ begründete Anrechte als Arbeitnehmer und (3) persönliche Sinnerwartungen an Erwerbsarbeit. Diente der fallübergreifende Vergleich der Ausformulierung und empirischen Anreicherung der Kategorien, interessierten wir uns im zweiten Schritt dafür, wie fallintern, d. h. im einzelnen Interviewverlauf, auf diese Kategorien Bezug genommen wurde. Dadurch wurde deutlich, dass alle Befragten auf unterschiedliche Aspekte der Normalarbeitsgesellschaft Bezug nahmen, sich jedoch darin unterschieden, wie sie diese Aspekte bei der Darstellung und insbesondere Bewertung der Erlebnisse betonten, umformulierten, einschränkten oder sich widersprachen. Die dabei erkennbaren Muster verdichteten wir zu verschiedenen Typen von Umdeutungen von Vergleichsmaßstäben der Normalarbeitsgesellschaft: dem Suchen nach Chancen in Spielräumen und Grenzen (Typ 1), der Desillusionierung normativer Referenzrahmen (Typ 2) und dem Anpassen und Umdeuten von Sinnerwartungen (Typ 3).

4 Prekarität als wahrgenommene Diskrepanz zwischen Arbeitsrealität und dem Orientierungsrahmen der Normalarbeitsgesellschaft

So wie objektive Prekarität ein relationaler Begriff ist, d. h. nur im Vergleich zu den Merkmalen eines Normalarbeitsverhältnisses bestimmt werden kann, so ist auch wahrgenommene Prekarität nur verstehbar, wenn man die persönlichen Normalitätserwartungen der Beschäftigten bezüglich Erwerbsarbeit rekonstruiert. Was wir als „subjektiv empfundene Prekarität“ bezeichnen, entsteht unseren Ergebnissen folgend in ständiger Wechselwirkung zwischen den (erwerbsbiografisch häufig wechselnden) Arbeitsbedingungen und den zu ihrer Deutung jeweils herangezogenen Vorstellungen von Normalität. Die Diskrepanz zwischen Arbeitserfahrungen und Vergleichsmaßstäben wirkt auf die Vergleichsmaßstäbe selbst zurück, sodass von einer stetigen Neuaushandlung von Vorstellungen über Normalität, Erwartbarkeit und persönlichen Ansprüchen an Erwerbsarbeit gesprochen werden kann. Prekaritätserfahrungen führen somit nicht zu einer funktionalen Anpassung, sondern – aufgrund vielfältiger Erlebnisse wie Wechseln zwischen prekärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und neuen Arbeitsplatzsuchen – eher zu immer wieder neuen Umdeutungen der Vergleichsmaßstäbe. Bei einigen Befragten sind grundlegende Neuformulierungen festzustellen, bei anderen Befragten finden sich hingegen eher Verschiebungen im Detail. Diese unterschiedlichen Bearbeitungsformen sind der Ausgangspunkt unserer Typenbildung, die wir in Abschn. 5 erläutern.

4.1 Die Vorstellung von der Gestaltbarkeit eigener Arbeitsmarktchancen

Die von den Interviewten benannten Kontexte, vor deren Hintergrund die eigene Situation als „unsicher“, „problematisch“ oder „belastend“ beschrieben wurde, lassen sich in drei Gruppen unterteilen.

Besonders häufig handelte es sich um die Vorstellung, durch einen angemessenen Einsatz auf dem Arbeitsmarkt (Investitionen in Bildung und Ausbildung, Weiterqualifikationen, gute Arbeitsleistungen) die Chancen auf einen zufriedenstellenden Arbeitsplatz positiv beeinflussen zu können. Diese Vorstellung ist bei vielen Befragten nachhaltig enttäuscht worden. Die Erwartung einer guten Arbeit befindet sich in einem Spannungsverhältnis zu arbeitsmarktlichen und gesamtwirtschaftlichen Strukturen, die als nicht beeinflussbar wahrgenommenen werden. Von einigen Befragten wird bereits der Beginn ihres Erwerbsverlaufs als Enttäuschungserlebnis geschildert. Im weiteren Erwerbsverlauf, zum Beispiel beim Übergang von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt, treten Schwierigkeiten bei allen Befragten auf: Die Knappheit an Ausbildungsplätzen und die hohe Arbeitslosigkeit der 1990er Jahre, die Wirtschaftskrise 2008/2009, die schwankende Auftragslage von Unternehmen sowie die unberechenbare Entleihpraxis von Leiharbeitsfirmen durchkreuzen die Pläne und Handlungsabsichten immer wieder. Das „Hangeln von Job zu Job“, sei es aufgrund befristeter Arbeitsverträge oder häufig wechselnder Entleihungen, prägt die Erwerbsverläufe aller Interviewten und zwingt sie zu immer wiederkehrenden Deutungsbemühungen der Spielräume und Grenzen eigenen Handelns auf dem Arbeitsmarkt und zu Anpassungen an die Beschäftigungssituation.

Wir finden bei allen Befragten Verweise auf diese Rahmenbedingungen, jedoch in unterschiedlichen Varianten und in unterschiedlicher Stärke. Im Anschluss an Fritz Schütze (1996, S. 92) können wir in manchen Fällen von verlaufskurvenartigen biografischen Strukturen sprechen, in denen größere biografische Abschnitte als Verkettung nicht-intendierter Ereignisse geschildert werden, die vom Subjekt als äußerlich und übermächtig empfunden werden. Während sich die Spielräume des eigenen Handelns zunehmend verengen, steigt das Ausmaß an geschilderter Fremdsteuerung. Andere Fälle zeichnen sich jedoch trotz wiederkehrender Verweise auf strukturell ungünstige Rahmenbedingungen durch eine weitgehend selbstbestimmt geschilderte Biografie aus, in der die Verwirklichung eigener Interessen zumindest teilweise auch gelang – zum Beispiel indem Handlungsspielräume auch gegen widrige Umstände durchgesetzt wurden. Spielräume, so lässt sich für den Großteil unserer Fälle zusammenfassen, verengen sich erwerbsbiografisch zunehmend. Die Vorstellung der Gestaltbarkeit eigener Arbeitsmarktchancen variiert jedoch innerhalb unseres Samples und bildet daher die erste Dimension unserer Typenbildung.

4.2 Normativ begründete Anrechte als Arbeitnehmer

Bei der Schilderung von Unsicherheitsempfinden nehmen die Befragten Bezug zu weiteren Aspekten, die wir zur Kategorie der „normativ begründeten Ansprüche als Arbeitnehmer“ zusammengefasst haben. Im Unterschied zur ersten Kategorie geht es hier nicht um die Einschätzung der Wirksamkeit eigenen Handelns (und dessen Begrenzung durch nicht beeinflussbare Strukturen), sondern um Vorstellungen von gerechten, guten und angemessenen Erwerbs- und Lebensbedingungen, auf die ein sozial verallgemeinerbarer und teilweise auch rechtlich einklagbarer Anspruch besteht. Wir unterscheiden zwischen verschiedenen Dimensionen dieser normativ begründbaren Anrechte. Besonders häufig nehmen die Befragten Bezug zu den Themen Sicherheit, Leistungsprinzip und betrieblicher Aufstieg. Diese kommen zum Beispiel zum Ausdruck, wenn Befragte ihre langjährige Erwerbsunsicherheit mit dem Anspruch vergleichen, sich durch gute Leistung auch eine gewisse Sicherheit und einen betrieblichen Aufstieg erarbeiten zu können, oder sich für ihre Arbeitsleistung unzureichend entlohnt fühlen.

Eine weitere Dimension ist die Orientierung an der „Normalbiografie“ (Kohli 1985) und damit verknüpft der Bezug zu Altersnormen (Mayer und Diewald 2007). Interviewte vergleichen ihren Lebensverlauf mit ihren Vorstellungen über zeitliche Abfolgen der Passagen des Lebens, die sich an einer klassischen (Aufstiegs-)Karriere orientieren. Diese Vorstellungen dienen als Hintergrundfolie, die bisherige Biografie zum Beispiel resümierend als „ein einziges Auf und Ab“ oder den eigenen Lebenslauf „als Katastrophe“ zu bezeichnen. Altersnormen werden herangezogen, um die Prekarität der eigenen Situation zu verdeutlichen, zum Beispiel wenn eine Befragte darauf verweist, dass sie in ihrem Alter „eigentlich erwarten würde, dass mal was bestehen bleibt“. Als eine weitere Dimension des normativen Referenzrahmens bezeichnen wir jene Normen, die zwischenmenschliche Beziehungen, entweder persönliche oder Rollenbeziehungen, betreffen. Dies kommt zum Ausdruck in Äußerungen über (enttäuschte) Erwartungen auf eine gerechte Behandlung als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer, aber auch faire Verhaltensweisen unter Kollegen bzw. im Betrieb allgemein. Hier fallen Vorstellungen von gerechter Erwerbsarbeit hinein, die zum Beispiel das Arbeitnehmer/Arbeitgeber-Verhältnis betreffen sowie Aspekte der Anerkennung oder des Ausgenutzt-Werdens als (prekärer) Arbeitnehmer, ebenso wie Vorstellungen über Verbesserungsmöglichkeiten der eigenen oder gemeinsamen Situation, zum Beispiel durch ein gewerkschaftliches Engagement.

Die Bezugnahme auf diese normativ begründeten Anrechte variiert zwischen den Fällen. Während einige Befragte ihre bisherigen Beschäftigungsverhältnisse wiederholt unter Rückgriff auf gerechte oder faire Arbeitsbedingungen als prekär herausstellen, beziehen sich andere nur bei der Nacherzählung vergangener Enttäuschungserlebnisse darauf – oder sie formulieren sie abstrakt als eigentlich wünschenswerte Arbeit. In wieder anderen Fällen finden wir das Thema normativ begründbarer Anrechte nur noch als Beschreibung einer Zeit, die für die gesamte Gesellschaft vorbei sei: Dass man Gerechtigkeit oder Fairness in der Arbeitswelt erwarten könne, wird für alle Arbeitnehmer in Abrede gestellt.

4.3 Persönliche Sinnerwartungen an Erwerbsarbeit

Ein dritter thematischer Bezug bei der Schilderung von Prekaritätsempfinden ist der Bereich der persönlichen Sinnerwartungen an Arbeit. Im Unterschied zu normativ begründeten Anrechten, bei denen es sich um gesellschaftlich legitimierte Anrechte an eine Erwerbsarbeit handelt, begründen sich persönliche Sinnerwartungen in der Argumentation der Befragten durch Verweise auf persönliche Vorstellungen und Wünsche. Unter dieser Kategorie fassen wir die in den Interviews formulierten und eingeforderten Sinn- und Selbstverwirklichungsansprüche an die eigene Erwerbstätigkeit zusammen. Die Personen unseres Samples zeichnen sich keinesfalls durch ein geringes Anspruchsniveau aus. Sie verbinden mit Erwerbsarbeit die Befriedigung sozialer und kreativer Interessen, die berufliche und persönliche Weiterentwicklung ebenso wie Wünsche nach Anerkennung, Selbstverwirklichung, der Vereinbarkeit von Leben und Arbeit, nach „Spaß bei der Arbeit“ oder den Wunsch, durch die eigene Arbeit etwas für andere zu tun. Dabei kollidieren diese Erwartungen im Erwerbsverlauf immer wieder mit der Realität prekärer Arbeitsbedingungen.

Zum Ausdruck kommen diese Wünsche nach Sinnhaftigkeit und Selbstverwirklichung innerhalb der biografischen Erzählung vor allem an Übergängen im Lebensverlauf wie dem von der Ausbildung in den Beruf. Sie rahmen die Wahl eines bestimmten Ausbildungsberufs oder eines Studienfaches. Häufig werden diese Erwartungen in negativer Form, das heißt als Beschreibungen über das, was eigenen Vorstellungen über wünschenswerte Arbeit widerspricht, geäußert. Sie dienen als Maßstab zur Beurteilung von Arbeitserfahrungen und zur Verdeutlichung, warum bestimmte Arbeitsbedingungen als Belastung empfunden werden.

Persönliche Sinnerwartungen können sich im Erwerbsverlauf verändern, wenn sich Lebensumstände wandeln oder neue Interessen entstehen. Teilweise bleiben bestimmte Erwartungen aber auch über längere Zeit und verschiedene Erfahrungshorizonte hinweg stabil. Für die meisten Interviewten bieten prekäre Arbeitsverhältnisse nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten der Erfüllung von Sinnerwartungen. Die Umdeutungen persönlicher Sinnerwartungen, die aus dieser Divergenz resultieren, sind vielfältig: Während einige Befragte stark an ihren ursprünglichen Sinnbezügen festhalten, reduzieren andere ihre Erwartungen und passen sie an ihre jeweiligen Arbeitsbedingungen an oder verlieren einen klaren Bezugspunkt für ihre Anspruchsbildung. Der unterschiedliche Umgang mit der Diskrepanz zwischen eigener Sinnsetzung und der erfahrenen Arbeitsrealität ist die dritte Dimension unserer Typenbildung.

5 Die Umdeutung von Normalitätsvorstellungen – eine Typologie

5.1 Typ 1: „Suchen nach Chancen“

Fallbeispiel: Herr Weber (44 Jahre)

Herr Weber wird 1970 in Hamburg geboren. Die Erzählung seines Erwerbsverlaufs folgt zunächst dem Muster einer klassischen Normalerwerbsbiografie: Nach dem Realschulabschluss absolviert er eine Lehre als Industriemechaniker, an die sich nahtlos eine Festanstellung in einem mittelständischen Unternehmen für Rolltreppenbau anschließt. Dort arbeitet er in verschiedenen Abteilungen und übernimmt zunehmend Verantwortung. Höhepunkt seines bis dahin als betriebliche Aufstiegskarriere geschilderten Erwerbsverlaufs ist ein achtmonatiger Auslandseinsatz, bei dem er beim Aufbau eines Werkes hilft und für die Qualitätskontrolle zuständig ist.

Zehn Jahre ist Herr Weber in diesem Unternehmen beschäftigt, bevor er nach einem Auftragseinbruch im Jahr 2001 entlassen wird. Nach nur zweiwöchiger Arbeitslosigkeit findet er eine Beschäftigung als Leiharbeiter in dem von ihm favorisierten Bereich Flugzeugbau, die er in der Hoffnung auf einen „Klebeeffekt“ annimmt. Nach vierjähriger Entleihung wird er jedoch aufgrund von auftragsbedingten Engpässen abgemeldet. Es folgen verschiedene kurz- und längerfristige Entleihungen sowie drei Wechsel der Leiharbeitsgesellschaft. Bei drei längerfristigen Entleihungen wird ihm von seinen direkten Vorgesetzten mitgeteilt, dass sie ihn aufgrund seiner guten Arbeit gerne behalten wollen, die Bestrebungen scheitern aber jeweils an „Entscheidungen von oben“, zum Beispiel mit Verweis auf die Wirtschaftskrise 2008/2009. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Herr Weber seit zwei Monaten bei einem neuen Entleihbetrieb. Auch hier hofft er auf eine Festanstellung. Er versucht erneut, seine Chancen durch Arbeitseinsatz und Fleiß zu verbessern. Von 2001 bis heute ist sein Erwerbsverlauf eine Aneinanderreihung von mehr als zehn Entleihungen bei insgesamt vier Leiharbeitsfirmen.

Von der Gestaltbarkeit des Erwerbsverlaufs zum „Suchen nach Chancen“

Herr Weber steht exemplarisch für einen Typus prekär Beschäftigter, dessen Deutung der eigenen Erwerbslage von einem Konflikt zwischen den Arbeitsbedingungen einerseits und dem Vergleichsmaßstab der normativ begründbaren Anrechte als Arbeitnehmer andererseits geprägt ist. Dieser Maßstab wird auch nach langjähriger Prekarität nicht aufgegeben: Die Fälle, die wir diesem Typus zugeordnet haben, orientieren sich beständig an Kontinuität, Leistungsprinzip, Senioritätsprinzip und Statuserwartungen, auch wenn diese in der jeweiligen Arbeitssituation nicht oder nur teilweise realisiert sind. Sie fordern normativ legitimierte Anrechte an Arbeit hinsichtlich kontinuierlicher Erwerbs- und guter Verdienstmöglichkeiten sowie gewisse Aufstiegsmöglichkeiten und eine Wertschätzung für die erbrachte Arbeit für sich ein. Herr Weber sieht in seiner Beschäftigung als Leiharbeiter sowohl die Norm einer leistungsgerechten Bezahlung durch die Ungleichbehandlung von Leiharbeitern und Stammbelegschaft als auch das Versprechen auf eine langfristige Betriebszugehörigkeit durch Treue zum Unternehmen (Senioritätsprinzip) verletzt, und sein Wunsch nach langfristiger Planung und finanzieller Sicherheit durch Erwerbsarbeit erfüllt sich nicht. Trotzdem hält er an diesen normativ legitimierten Anrechten fest und hofft auf eine zukünftige Verwirklichung.

Sinnerwartungen sind im Vergleich zu normativ legitimierten Anrechten zweitrangig oder verlieren sich im Zuge des unstetigen Erwerbsverlaufs. Während Herr Weber seine erste Entleihung noch mit Bezug auf seine inhaltlichen Erwartungen an Arbeit schildert – er sah die Chance, in seiner Wunschbranche, dem Flugzeugbau, Fuß zu fassen und sein persönliches Interesse an Luftfahrt auch beruflich zu verfolgen –, äußert er bei den weiteren Entleihungen keine diesbezüglichen Sinnerwartungen mehr.

Die Befragten dieses Typus sind davon überzeugt, dass es durchaus Spielräume auf dem Arbeitsmarkt gibt, die eine Gestaltbarkeit der eigenen Arbeitsmarktchancen und damit die Verwirklichung normativ legitimierter Anrechte zulassen. Dass diese Gestaltung gelingt, haben sie häufig auch beispielhaft vor Augen: Herr Weber bewertet sein Arbeitsverhältnis zwar im Vergleich mit der Stammbelegschaft als prekär – zugleich veranschaulicht die Stammbelegschaft aber die potenzielle Erreichbarkeit einer solchen Position. Auch nahestehende Personen wie Familienangehörige oder Freunde dienen als Beleg für eine begründete Hoffnung auf eine verbesserte Arbeitssituation, ebenso eigene zurückliegende berufsbiografische „Normalitätserfahrungen“. Wenn er „sein Bestes gibt“, so hofft Herr Weber, könne auch nach vier geplatzten Übernahmeversprechen der Sprung in die Stammbelegschaft gelingen.

In ihrer Hoffnung sind die Personen aber nicht naiv: Die meist langjährigen Prekaritätserfahrungen prägen in großem Maße die Wahrnehmung der Gestaltbarkeit der eigenen Arbeitsmarktchancen. So schildert beispielweise Herr Peterson, der ebenfalls als Leiharbeiter beschäftigt ist, seine negativen Gefühle nach beendeten Entleihungen als „Delle im Selbstvertrauen“. Er bewertet seine mehrfachen kurzen Entleihungen sowie bestehende Lücken im Lebenslauf als chancenverringernd im Bewerbungsverfahren. Die Personen dieses Typus nehmen ihre Chancen somit durchaus als sehr begrenzt wahr. Gerade deshalb versuchen sie, die wenigen sich bietenden Möglichkeiten aufzuspüren. Dafür setzt sich dieser Typus intensiv mit den strukturellen Bedingungen des Arbeitsmarktes auseinander, um dem „Beschäftigungsglück“ auf die Sprünge zu helfen. Wirtschaftliche Schwankungen, die diese Hoffnung immer wieder vereiteln, werden dann ins Positive umgedeutet, etwa in der Art, dass nach jeder Auftragsdelle auch wieder eine Auftragsspitze zu erwarten sei oder langfristig auf eine vermehrte Arbeitsnachfrage im Zuge des demografischen Wandels gehofft wird. Innerhalb dieses ständigen Auf und Ab betreiben die Befragten dieses Typs viel Aufwand, um ihre Chancen zu verbessern. Im Vordergrund steht dabei das Festhalten am Leistungsprinzip:

„Ja, ich hoffe natürlich, dass ich da jetzt wieder rankomme. Also jeder neue Job ist ʼne neue Hoffnung. Ich machʼ meine Arbeit sauber, möglichst fehlerfrei. Und dann sehen die Leute, dass ich gut arbeite, ne? Also das gleiche Thema wie vorher. Gute Arbeit, gute Leistung, aber es hängt immer noch von denen ab. Ich kann denen nur zeigen, wie ich arbeite und was ich arbeite und wie gut ich arbeite. Das ist mein Potenzial, das ist mein Gut, was ich habe, und dann müssen die das entscheiden. Wenn die sich entschieden haben, dann klappt das manchmal auch ʼn Meter vor der Ziellinie, wird das auch wieder nix, ne.“ (Herr Weber)

Die Prekaritätserfahrungen innerhalb des Erwerbsverlaufs schmälern bei diesem Typus die Orientierungsfunktion des normativen Referenzrahmens trotz des Spannungsverhältnisses zur derzeitigen Arbeitssituation nicht, sie bleibt als Vergleichsmaßstab bestehen. Paradoxerweise wird die Hoffnung auf weitere Arbeitsmarktchancen trotz der gegenwärtig prekären Arbeitssituation durch die normativen Überzeugungen gestützt: Der Grundsatz, dass sich Arbeitsleistung und Treue zum Unternehmen normalerweise auszahlen, nährt weiterhin die Hoffnung auf Chancen für eine langfristige Erwerbsintegration.

5.2 Typ 2: Desillusionierung

Fallbeispiel: Frau Thiel

Frau Thiel wird 1983 als erstes von drei Kindern in Ostfriesland geboren. Ihre Mutter ist Finanzbeamtin im Mittleren Dienst und die Hauptverdienerin der Familie, ihr Vater ist ungelernter Hilfsarbeiter in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Frau Thiels Berufsbiografie beginnt als Geschichte des Hocharbeitens: Sie betont ihre ausgezeichneten Schulnoten und ihr zielstrebiges Studium der Ökotrophologie an einer Fachhochschule, welches sie früh mit diversen berufsvorbereitenden Praktika ergänzt und mit Bestnote besteht. Bei der Stellensuche geht sie strukturiert vor und beginnt ein halbes Jahr vor Beendigung ihres Studiums, Bewerbungen zu schreiben. Der Berufseinstieg erweist sich bei Frau Thiel allerdings als äußerst schwierig: Erst nach über hundert Bewerbungen bekommt sie eine Stelle im Außendienst eines Pharmaunternehmens. Nach zweieinhalb Monaten wird ihr aufgrund von Umstrukturierungsprozessen gekündigt. Kurze Zeit später beginnt sie eine andere Stelle im Außendienst. Aufgrund eines schweren Autounfalls während eines Außeneinsatzes wird sie nach einem dreiviertel Jahr entlassen. Es folgen eine Phase der Arbeitslosigkeit, in der sie Arbeitslosengeld I bezieht, sowie verschiedene unterqualifizierte Beschäftigungsverhältnisse, zum Beispiel als Interviewerin oder als Servicekraft. Zwei Traineeprogramme, die sie beginnt, werden während der Probezeit vom jeweiligen Arbeitgeber gekündigt. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Frau Thiel noch in einem dieser Traineeprogramme; die Kündigung wird aber zum Ende des folgenden Monats wirksam.

Von der Aufstiegskarriere zur „Gesellschaft, in der wir uns kaputt machen“: die Relativierung normativ begründbarer Anrechte

Frau Thiel steht exemplarisch für einen Typus prekär Beschäftigter, der (zunächst ähnlich wie Typ 1) durch die Diskrepanzerfahrung zwischen normativ begründbaren Anrechten als Arbeitnehmer und den Erfahrungen der Arbeitsrealität gekennzeichnet ist. Wie bei den meisten Befragten dieses Typus identifiziert sich Frau Thiel zu Beginn ihres Erwerbsverlaufs sehr stark mit den Vorstellungen der klassischen Erwerbsarbeitsgesellschaft. Der Glaube an die Möglichkeit, sich durch gute Arbeit auf einer „Karriereleiter“ hochzuarbeiten, und die Erwartung, dass sich höhere Bildungsabschlüsse in eine gute berufliche Position transferieren lassen, nennt sie als wesentliche Motivatoren ihres Studiums und ihrer Praktika. Während normativ begründete Anrechte somit sehr stark geäußert werden, spielen persönliche Sinnerwartungen bei diesem Typus, sowohl bei der Berufswahl als auch im weiteren Erwerbsverlauf, nur eine untergeordnete Rolle.

Ihre Aufstiegsambitionen kann Frau Thiel letztlich nicht verwirklichen. Im Zuge ihrer Prekaritätserfahrung wandelt sich die Vorstellung der Gestaltbarkeit eigener Arbeitsmarktchancen bei diesem Typus sehr stark. Die Hoffnung auf vielfältige Arbeitsmöglichkeiten, unter anderem bedingt durch gute Bildungsabschlüsse, ist der Wahrnehmung starker Grenzen und Fremdbestimmungen gewichen. So sieht Frau Thiel keine Chancen mehr, ihre ursprünglichen Ziele zu erreichen. Die von ihr erlebten Arbeitsbedingungen machen die gewünschte langfristige Karriere- und Lebensplanung unmöglich, sodass sie diese aufgeben musste und nur noch „von heute auf morgen“ plant. Sie ist durch ihre berufliche Situation emotional belastet und fühlt sich entmutigt. Diese Divergenz zu ihren normativ begründeten Anrechten und ihren Gestaltbarkeitsvorstellungen der eigenen Biografie führt bei Frau Thiel genauso wie bei den anderen Personen dieses Typus zu einer starken Infragestellung des Orientierungsrahmens der Normalarbeitsgesellschaft. Für Frau Thiel werden wir zu einer „Gesellschaft […], wo wir uns kaputt machen“ und in der Menschen zu „Dingen“ werden, „die man sich holt und wegwirft, wenn man sie nicht mehr braucht“. Ein sicherer Arbeitsplatz sei zu einem „puren Luxus“ geworden, von dem nur noch eine kleine Minderheit profitieren kann.

Dieser Desillusionierung wird mit der Suche nach neuen Bezugspunkten außerhalb der Erwerbsarbeit begegnet, in denen Ansprüche an Teilhabe, Anerkennung und Sinnstiftung realisiert werden können. So sucht Frau Thiel zunehmend Halt in ihrem privaten Umfeld und intensiviert die Beziehungen zu Personen ihres engeren Freundeskreises, die ebenfalls Prekaritätserfahrungen ausgesetzt sind. Eine andere Befragte, Frau Kroncyk, die seit Jahren als Messe-Hostess auf Werkvertragsbasis arbeitet und vor kurzem ihr Studium abbrechen musste, richtet für sich und ihre Kinder einen Erholungs- und Rückzugsort auf einem Campingplatz ein, „auf dem man nicht ständig schauspielern muss“. Die Suche nach anderen Orientierungsbereichen bleibt in diesen und anderen Fällen jedoch eine Suche mit noch offenem Ausgang. Eine Alternative zur Erwerbsarbeit bietet sich für unsere Interviewpersonen nur in geringem Maße, sodass Desillusionierungs- und Frustrationsgefühle bestehen bleiben. Ihre Umgangsform mit der Prekarität kann diesen Emotionen nicht entgegenwirken, sondern hilft lediglich, sie einzuordnen und sich neuen Orientierungspunkten zuzuwenden.

5.3 Typ 3: Anpassen von normativ begründeten Anrechten und Umdeuten von Sinnerwartungen

Fallbeispiel: Frau Berger

Frau Berger wird 1957 als zweites von fünf Kindern geboren. Ihre Eltern sind beide ausgebildete Volksschullehrer, der Vater macht sich später als freier Medienschaffender selbstständig. Nach dem Abitur wird Frau Berger für ihr Wunschstudienfach Heilpädagogik nicht zugelassen, sie entscheidet sich für ein Fachhochschulstudium der Sonderpädagogik. Nach einer kurzen Phase der Sucharbeitslosigkeit nimmt sie eine auf zwei Jahre befristete Schwangerschaftsvertretung in einer sozialpädagogischen Einrichtung an. Es folgen mehrere ebenfalls befristete Beschäftigungsverhältnisse, bis sie eine Festanstellung als Sozialpädagogin erhält. Diese gibt sie nach vier Jahren auf, um zu ihrem Lebensgefährten in eine andere Stadt zu ziehen. Dort nimmt sie wieder befristete Stellen als Sozialpädagogin an. Die Beziehung zerbricht jedoch nach einigen Jahren. Nach und nach wird Frau Bergers Erwerbsverlauf unsteter. Zwischen verschiedenen befristeten Stellen entstehen länger werdende Arbeitslosigkeitsperioden, die durch ABM-Stellen und Ein-Euro-Jobs ergänzt werden. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau Berger auf 450-€-Basis als Putzkraft in einer Schule angestellt und bezieht parallel Arbeitslosengeld II. Seit über fünf Jahren arbeitet sie nun überwiegend in Mini-Jobs.

Die Umdeutung persönlicher Sinnerwartungen: durch Putzengehen „Menschen was Gutes tun“

Frau Berger steht exemplarisch für einen Typus prekär Beschäftigter, bei denen die Arbeitsbedingungen besonders stark mit ihren ursprünglichen persönlichen Sinnerwartungen an Erwerbsarbeit kollidieren. Schon zu Beginn ihrer berufsbiografischen Erzählung gibt sie dem Thema der Identifikation mit den Arbeitsinhalten einen großen Raum und stellt sie als prägend für weitere berufliche Entscheidungen dar: Frau Berger wählte ihr Studienfach Sozialpädagogik, da sie sich in diesem Beruf für Bedürftige einsetzen kann. Im weiteren Erwerbsverlauf lassen sich die ursprünglichen Erwartungen aber immer schlechter realisieren. Im Fall von Frau Berger führen häufige Befristung und Arbeitslosigkeit dazu, dass sie normativ legitimierte Anrechte an Sicherheit und gutes finanzielles Auskommen nicht realisieren kann. Auch ihre Erwartungen an den Sinn der Arbeit werden nicht erfüllt, weil es für sie kaum mehr möglich ist, eine ihrer ursprünglichen inhaltlichen Vorstellung entsprechende Arbeit im sozialen Bereich zu bekommen.

Beurteilten die Befragten dieses Typus die Gestaltbarkeit eigener Arbeitsmarktchancen zu Beginn ihrer erwerbsbiografischen Erzählung noch positiv, verschlechtert sich die Einschätzung im Zuge der zunehmenden Prekaritätserfahrungen. Zum Zeitpunkt des Interviews befinden sich alle Befragten des Typus schon über längere Zeiträume hinweg in prekärer Beschäftigung und gehen davon aus, dass sich an dieser Situation nicht mehr viel ändern wird. Auf ihre Zukunft angesprochen, äußert Frau Berger, dass ihr bewusst sei, dass sich ihre finanziell prekäre Situation auch im Alter nicht verbessern wird. Da ihre bisherigen Rentenansprüche aufgrund ihres diskontinuierlichen Erwerbsverlaufs gering sind, habe sie gar nicht mehr die Möglichkeit, eine existenzsichernde Rente aufzubauen. Auch im Alter sei sie somit auf Grundsicherungsleistungen angewiesen. Arbeit zu finden, hält Frau Berger nur im Bereich von Mini-Jobs für realistisch.

Im Unterschied zum Typus „Suchen nach Chancen“ beziehen sich die Fälle dieses Typus weniger auf normalbiografische Schemata, auf Vorstellungen betrieblichen Aufstiegs oder auf als gerecht und fair empfundene Arbeitsbedingungen. Sie halten eine Verwirklichung normativ legitimierter Anrechte zwar durchaus für einen grundsätzlich richtigen Maßstab, sie gehen aber davon aus, dass sie diese Anrechte in ihrem eigenen Leben nicht mehr realisieren können, und reagieren mit der Anpassung ihrer Ansprüche an ihre prekäre Arbeitssituation: Sie nehmen die geringen, häufig ungünstigen Arbeitszeiten hin und schränken ihr Konsumniveau aufgrund der geringen finanziellen Entlohnung ein. Zwar nehmen sie die finanziellen Einbußen als belastende Einschränkung wahr, betonen aber durchweg, dass sie mit der Situation sehr gut zurechtkommen. Sie passen sich den neuen Gegebenheiten an, wie ein weiterer Befragter, Herr Karlebach beschreibt: „ich hab zwar weniger Geld jetzt, aber man lernt damit umzugehen, also, ich komm damit zurecht“.

Auf die Divergenz zwischen ihren ursprünglichen Sinnerwartungen und der gegenwärtigen Arbeitssituation reagieren die Fälle dieses Typus mit einer Umdeutung der eigenen Sinnerwartungen. In den prekären Beschäftigungsverhältnissen werden positive Aspekte aufgespürt und im Verlauf des Interviews in den Vordergrund gerückt. So sieht zum Beispiel auch Herr Karlebach, der ebenfalls im Rahmen eines Mini-Jobs in der Gebäudereinigung arbeitet, den Sinn seiner Arbeit in der Möglichkeit, aktiv zu bleiben und seinem Tagesablauf im Vergleich zur Arbeitslosigkeit ein Stück Struktur zurückgeben zu können. Ebenfalls betont er, im Putzen eine ehrenwerte Arbeit zu sehen, mit der er anderen (unbekannten) Personen etwas Gutes tut, und weist das Bild einer möglicherweise schmutzigen oder niedrigen Arbeit von sich. Personen, die auch zu Beginn ihres Erwerbsverlaufs Sinnkomponenten von Arbeit hervorheben, finden diese also auch in prekärer Erwerbsarbeit, was ihnen den Umgang mit den prekären Bedingungen erleichtert. Sie heben hervor, dass es für sie akzeptabel sei, Arbeit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus auszuüben. Das folgende Zitat verdeutlicht, dass Frau Berger das Reinigen der Büros anderer nicht als „unter ihrer Würde“ empfindet, auch wenn man dies aufgrund ihrer Qualifikation vielleicht annehmen könnte:

„Ja die Arbeit, man möchte es selber im Privaten auch sauber haben, und dann ist es keine Schande, meinetwegen irgendwo mal ein Büro zu putzen. Wenn man da selber arbeiten müsste oder selber im Büro schon gesessen hat, dann hat man sich gefreut, wenn die Putzfrau sauber gemacht hat und vielleicht Rücksicht genommen hat, wenn man telefoniert hat und vielleicht nicht durchgestürmt ist, wenn es gar nicht passend war. Wenn man die andere Seite kennt, also, ja es ist für mich ok. Also ich hab jetzt nicht so, dass man vielleicht denkt, das wärʼ unter meiner Würde, diese Arbeit zu machen oder so.“ (Frau Berger)

Den Befragten dieses Typus ist es wichtig, nicht als „Leistungsempfänger“ stigmatisiert zu werden; sie wollen als Erwerbspersonen verstanden werden und versuchen, sich so gut wie möglich mit den prekären Arbeitsbedingungen, die sie als unüberwindbar wahrnehmen, zu arrangieren.

5.4 Die subjektiven Umgangsformen mit Prekarität im Vergleich

Tab. 1 Umdeutungsformen innerhalb des Orientierungsrahmens der Normalarbeitsgesellschaft; kursiv hervorgehoben ist die für den jeweiligen Typus zentrale Umdeutungsleistung innerhalb einer der Kategorien

Alle unsere Befragten sind prekär beschäftigt und empfinden ihre Arbeitssituation als belastend. Das Sample erlaubt daher keinen Vergleich mit prekär Beschäftigten ohne empfundene Prekarität, es erlaubt aber herauszuarbeiten, auf welche unterschiedlichen Weisen diese Belastungen verarbeitet werden. Wie Tab. 1 verdeutlicht, konzentrieren sich die Umgangsformen der drei Typen jeweils besonders auf eine unserer drei Kategorien.

Typ 1 („Suchen nach Chancen“) hält im Zuge der Prekaritätserfahrung an der Einschätzung der Gestaltbarkeit der eigenen Arbeitssituation fest. Die Befragten dieses Typus versuchen, ihre Erwerbssituation durch sehr gute Arbeit sowie Wachsamkeit und Beobachtung der Entwicklungen in ihrem Arbeitsumfeld und des Arbeitsmarktes zu verbessern. Typ 2 („Desillusionierung“) und Typ 3 („Anpassen und Umdeuten von Erwartungen“) haben die Hoffnung einer grundlegenden Verbesserung ihrer Erwerbssituation hingegen aufgegeben. Während Befragte des zweiten Typs zu der Überzeugung gekommen sind, dass der Arbeitsmarkt generell kaum individuelle Gestaltungsmöglichkeiten mehr eröffnet, begründet Typus 3 diese Einschätzung mit ihren Erfahrungen und ihrem Erwerbsverlauf.

Die Umgangsform von Typ 2 („Desillusionierte“) kommt durch die Infragestellung eigentlich als legitim empfundener normativer Anrechte dem am nächsten, was als Ablösung von normalarbeitsgesellschaftlichen Vorstellungen bezeichnet werden kann. Während Typ 1 an normativen Anrechten festhält und ihre gesellschaftliche Gültigkeit nicht infrage stellt und Typ 3 sie zwar für sich selbst nicht mehr als realistisch einschätzt, aber für insgesamt wünschenswert und auch möglich hält, ziehen die „Desillusionierten“ eine gesamtgesellschaftlich düstere Bilanz: Normative Anrechte als Arbeitnehmer scheinen kaum mehr realisierbar. Obwohl alle unsere Befragten mit der Nichterfüllung dieser normativen Anrechte in ihren derzeitigen Arbeitsverhältnissen konfrontiert sind, variieren die Umdeutungen dieser Kategorie zwischen den Typen sehr stark. Einfluss auf die Reaktion nehmen insbesondere die Hoffnung auf Verbesserung sowie die Dauer und der Verlauf der Prekaritätserfahrung. Typ 1 verschiebt die Hoffnung auf Verwirklichung dieser Anrechte in die Zukunft. Bei Typ 3 hingegen hat das kontinuierliche Einschleichen von Prekarität und somit die langsame Verschlechterung der Erwerbssituation zu einer Aufgabe der normativ begründeten Anrechte als Anpassungsreaktion geführt. Die Aufstiegsambitionen von Typ 2 werden meist bereits durch Erfahrungen des Scheiterns zu einem früheren Zeitpunkt der Erwerbsbiografie enttäuscht.

Sinnerwartungen bleiben für die Personen unseres Samples auch in prekären Beschäftigungsverhältnissen besonders relevant, die bereits ihre Berufswahl und ihren Berufseinstieg als durch Sinnhaftigkeits- und Selbstverwirklichungsvorstellungen geprägt schildern (Typ 3). Die Sinnerwartungen werden aber an die prekäre Situation angepasst: Es werden positive inhaltliche Elemente der Arbeit hervorgehoben und ihre soziale Relevanz betont. Bei Typ 1 und Typ 2 spielen Sinnerwartungen hingegen bereits bei der Schilderung ihres Berufseinstiegs eine untergeordnete Rolle. Für Typ 1 scheint ihre Relevanz im Zuge der Prekaritätserfahrung abzunehmen, während Typ 2 den Sinn von Arbeit für das Leben insgesamt relativiert und sich auf die Suche nach neuen Bezugspunkten macht, die Sinn stiften, da die Erwerbsarbeit diese Funktion für ihn nicht mehr erfüllt.

6 Fazit

Die von uns aus dem empirischen Material gewonnenen Umgangsformen mit prekärer Erwerbsarbeit verdeutlichen, dass sich das Verhältnis prekär Beschäftigter zu normalarbeitsgesellschaftlichen Vorstellungen nicht auf Ablösung oder Beharrung reduzieren lässt. Die Fälle zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass zwar Bezugnahmen auf tradierte Vorstellungen von Erwerbsarbeit stattfinden, diese jedoch mit neuen Inhalten versehen werden: So wird die Vorstellung von der Gestaltbarkeit der eigenen Erwerbsbiografie durch persönlichen Leistungseinsatz zwar in einigen Fällen beibehalten, jedoch zu einer von Glück und Zufällen abhängigen Laufbahn umgedeutet, in der die eigentliche Leistung in einer permanenten Beobachtung von Beschäftigungschancen besteht. Normative Ansprüche, zum Beispiel in Form von Arbeitnehmerrechten, werden zwar weiterhin für legitim erachtet – sie werden aber persönlich nicht mehr für einklagbar gehalten. Dass Erwerbsarbeit schließlich auch Modus der Verwirklichung persönlicher Wünsche und Sinnerwartungen ist, bildet zwar einen Bezugspunkt einiger Fälle des Samples, muss jedoch an eine ansonsten unbefriedigende Erwerbssituation erst erfolgreich angepasst werden.

Betrachtet man den Orientierungsrahmen „Normalarbeitsgesellschaft“ auf den drei Ebenen, die wir anhand des Materials unterscheiden konnten, kann von einer „prekären Mentalität“, d. h. einer Angleichung von Erwerbs- oder gar Lebensorientierungen prekär Beschäftigter nicht gesprochen werden. Wir können auch nicht bestätigen, dass die Dauer prekärer Beschäftigung im Erwerbsverlauf einen Einfluss hat. Zum einen fanden wir Fälle mit langjähriger prekärer Beschäftigung (mehr als zehn Jahre), die noch immer an einer – wenn auch mit neuer Bedeutung versehenen – Vorstellung von Kontrolle über die eigene Erwerbsgeschichte ausgehen. Zum anderen konnten wir hingegen unserem Typ der „Desillusionierten“ vorwiegend kürzere Erwerbsbiografien zuordnen.

In Bezug auf die Frage, warum die Fälle des Samples auf Prekaritätserfahrungen unterschiedlich reagieren, kommen wir zu dem Ergebnis, dass vorhandene Beispiele einer an den Normalitätsmaßstäben gemessenen gelungenen Erwerbsintegration eine wichtige Rolle spielen. Typ 1 hat solche Beispiele vor Augen: entweder eigene Kollegen in der Stammbelegschaft, eigene frühere Erfahrungen oder nahestehende Personen, deren Erwerbsintegration als gelungen angesehen wird. Bei Typ 3 sind Partner, Freunde und Bekannte, mit denen sich der Befragte vergleicht, häufig ebenfalls in einer prekären Erwerbssituation. Typ 2 bezieht sich in den Interviews sowohl auf Beispiele gelungener als auch prekärer Erwerbsintegration aus dem Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis, interpretiert aber die positiven Beispiele als abnehmende Sonderfälle, die durch Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt kaum mehr möglich seien. Beispiele von ebenfalls prekären Erwerbsverläufen in ihrem Umfeld werden häufig zur Untermauerung dieser Überzeugung angeführt. Somit deutet sich an, dass für zukünftige Forschung der Blick auf die soziale Netzwerkeinbettung prekär Beschäftigter vielversprechend ist, um auf soziale Vergleichsprozesse als Erklärung schließen zu können. Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Desintegrationspotenzial prekärer Arbeit unterschiedlich Ausdruck verschaffen kann und seine Wahrnehmung, Akzeptanz, Ignoranz oder Umdeutung vielfältigen (erwerbs)biografischen Einflüssen unterliegt. Die zukünftige Diskussion um subjektive Prekarität muss diese Differenzierungen aufspüren, um eine Vorstellung von der Prozesshaftigkeit der Umdeutung „normaler“ Erwerbsintegration und ihren Rahmenbedingungen zu bekommen.