1 Einleitung

Dass sich in soziotechnischen Umbruchperioden die Handlungsbedingungen etablierter Akteure mitunter radikal verändern und neue Akteurformationen mit zum Teil erheblichen gesellschaftlichen Rückwirkungen entstehen, ist sozialhistorisch evident. So sind etwa im Zuge der kapitalistischen Industrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Organisationen und kollektiven Aktionsformen der Arbeiterbewegung entstanden (Kocka 1983; Hinton 1983). Seit Ende der 1960er Jahre haben sich, angestoßen durch soziale und technologische Kontroversen, neue soziale Bewegungen wie die Bürgerrechts-, Studenten-, Anti-Kriegs-, Anti-Atom- oder Ökologiebewegung als wirkmächtige gesellschaftliche Einflussgrößen etabliert (Rucht 1994; Della Porta und Diani 2006, S. 33 ff.).

Heute sind es nicht mehr so sehr grundlegende soziale Auseinandersetzungen und klar fokussierte gesellschaftliche Kontroversen, die den Ausgangspunkt für erneute Erweiterungen und Ausdifferenzierungen im Akteur- und Handlungsspektrum moderner Gesellschaften bilden, sondern neue informations- und kommunikationstechnologische Angebote, die sich in sehr unterschiedlicher Weise kollektiv nutzen lassen – als aggregierte Ausdrucksform von Konsumentenpräferenzen ebenso wie zur Mobilisierung und Organisierung politischen Protests. Dazu zählen Massenphänomene wie feedbackgebende Kunden in Online-Stores und Nutzer von Social-Networking-Diensten wie Facebook oder von Filesharing-Plattformen wie The Pirate Bay, aber auch die aktiven Kerngruppen in Open-Content- und Open-Source-Projekten wie Wikipedia, Linux oder Apache, themenzentrierte Gruppen von Bloggern oder informell strukturierte Protestkollektive wie Anonymous oder Occupy. Die Onlinetechnologien fungieren dabei vorderhand „as organizing agents“ (Bennett und Segerberg 2012, S. 752) bzw. als „technological tools that fundamentally enhance connectivity among people“ (Bimber et al. 2012, S. 3) und haben Anlass zur Suche nach und zur Identifizierung von neuartigen oder grundlegend veränderten kollektiven Formationen und Akteuren im Web gegeben, denen nicht selten weitreichende Handlungs- und Einflussmöglichkeiten zugeschrieben werden.

Die Ergebnisse dieser Suche sind bislang aus zwei wesentlichen Gründen unbefriedigend geblieben. Zum einen fehlt es an soziologisch informierten und theoretisch orientierenden Beiträgen, die sich nicht auf die Erfindung einprägsamer Begrifflichkeiten und die Analyse von Einzelfällen beschränken, sondern die unterschiedlichen Formen kollektiven Verhaltens und Handelns im Internet entlang akteur- und handlungstheoretischer Kategorien präziser aufeinander beziehen. Mit Blick auf ihre Größe, innere Struktur, Interaktion, Stabilität, Leistung und Strategiefähigkeit heben sich die verschiedenen kollektiven Formationen im Internet deutlich voneinander ab und lassen sich nur um den Preis der analytischen Nichtaussage auf den einen allgemein gültigen Begriff bringen. Genau dies geschieht allerdings immer wieder. Pauschale und ohnehin sehr dehnungsfähige Begriffe wie „swarms“, „crowds“ oder „networks“ dienen oft dazu, schlicht alle Formationen zu beschreiben, die sich nicht als stabile soziale Gebilde fassen lassen. Sie tragen zum Verständnis der sehr unterschiedlich strukturierten kollektiven Aktivitäten im Netz freilich ebenso wenig bei wie entsprechend weite Definitionen solcher Web-Phänomene als „an undefined (and generally large) network of people“ (Howe 2006; ähnlich z. B. Hammon und Hippner 2012; Ritzer und Jurgenson 2010).

Zum anderen fehlt es aber auch an einer techniksoziologischen Fundierung des Einflusses technologischer Rahmenbedingungen auf die Formierung, Strukturierung und Handlungsausrichtung der neuen sozialen Formationen im Netz. All die Äußerungsmöglichkeiten der Nutzer und die Bewegungsmöglichkeiten des Schwarms, der Menge, der Gemeinschaft oder der sozialen Bewegung im Web wären ohne technische Plattformen und deren Strukturierungsleistungen so gar nicht denkbar. Die technischen Infrastrukturen des Netzes ermöglichen neue Formen kollektiven Verhaltens und Handelns, strukturieren es aber auch auf zum Teil rigide Weise mit. Die Herausbildung neuer sozialer Kollektive wird im Internet weit stärker als zuvor zu einem soziotechnischen Prozess, in dem soziale und technische Einflussgrößen eng zusammenspielen. Zwar wird in der Literatur immer wieder auf den handlungsermöglichenden bzw. -erweiternden Charakter der neuen Onlinetechnologien hingewiesen (Bennett und Segerberg 2012; Benkler 2006, S. 120 f.; Bimber et al. 2005). Die Bedeutung der technischen Infrastrukturen sowie das Verhältnis von technischen und sozialen Strukturierungen für die Entstehung und Bewegung kollektiver Formationen im Internet werden allerdings in der Regel nicht konkretisiert.

Aus diesen beiden Defiziten ergeben sich die zentralen Problemstellungen, die in diesem Aufsatz diskutiert werden sollen. Im Fokus der nachfolgenden Überlegungen stehen die Fragen, (1) wie sich kollektive Formationen im Internet akteur- und handlungstheoretisch fassen, einordnen und voneinander abgrenzen lassen und (2) welche Rolle die technologischen Infrastrukturen, in denen sie sich bewegen, hinsichtlich ihrer Formierung, Strukturierung und Aktivität spielen. Diese Fragen lassen sich unseres Erachtens nur im systematischen Rückgriff auf entwickelte soziologische Akteur- und Handlungskonzepte beantworten. Nur über diesen Weg lässt sich auch das Neue kollektiver Formationen, die es in der einen oder anderen Ausprägung auch schon vor dem Internet gegeben hat, herausarbeiten.

Der Beitrag beginnt daher im folgenden Abschn. 2 mit einer kurzen Durchsicht grundlegender soziologischer Akteurvorstellungen, die wir auf unseren Gegenstand beziehen. Daran anknüpfend unterscheiden wir in den Abschnitten 3 und 4 zwischen zwei wesentlichen Varianten kollektiver Formationen im Internet, die wir als nicht-organisierte Kollektive und als strategiefähige kollektive Akteure bezeichnen. In diesem Zusammenhang diskutieren wir auch, welche Bedeutung die Infrastrukturen des Netzes für deren Herausbildung, Bewegung und Stabilisierung jeweils haben. Im abschließenden Abschn. 5 fassen wir zusammen, was unseres Erachtens das Neue der kollektiven Formationen im Netz ist: Es besteht in einer so zuvor nicht gekannten Verschränkung nach wie vor unverzichtbarer sozialer Konstitutions-, Koordinations- und Institutionalisierungsdynamiken mit den technischen Infrastrukturen, die das Internet bietet. Klassische soziale Entstehungs- und Organisierungsmuster kollektiven Verhaltens bzw. Handelns mischen sich im Online-Kontext systematisch mit eigenständigen technischen Strukturierungsleistungen.

2 Ausgangspunkt: Individuelle, korporative und kollektive Akteure

Um soziale Formationen im Internet, ihre Strukturierung, Organisierung, Leistungsfähigkeit und Handlungsorientierungen einschätzen und aufeinander beziehen zu können, lohnt ein Blick auf vorhandene Akteur- und Handlungskonzepte. In diesem Abschnitt fragen wir danach, welchen heuristischen und analytischen Mehrwert sie für die Untersuchung neuer sozialer Formationen im Web haben (können). Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bilden drei basale Typen sozialer Akteure, die die Realitäten moderner Gesellschaften prägen und sich auch im Web wiederfinden: Individuen, Organisationen und kollektive Formationen verschiedenster Art. Sie zeichnen sich durch jeweils spezifische Wirklichkeitswahrnehmungen und Präferenzen, Handlungsorientierungen und Entscheidungsmodi aus und verfügen zur Verfolgung ihrer Ziele über ebenso spezifische materielle und immaterielle Handlungsressourcen (Scharpf 1997, S. 51 ff.). Während individuelle und korporative Akteure recht klar konturierte Einheiten darstellen, sind die hier interessierenden kollektiven Akteure erheblich heterogener strukturiert (Tab. 1).

Tab. 1 Idealtypische Eigenschaften von Individuen, Organisationen und Kollektiven

2.1 Individuen

Dass Individuen als Akteure intentional und gestaltend handeln können, steht seit Langem außer Frage (Schimank 2000, S. 23 ff.). Die Handlungsäußerungen und -spielräume individueller Akteure werden natürlich mehr oder minder stark mitgeprägt und beeinflusst von den gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen sie sich bewegen, von sozialen Regeln und Normen, die eingehalten werden sollen, und von spezifischen Rollenerwartungen, die erfüllt werden wollen. Die grundsätzliche Ausrichtung des individuellen Handelns an regulativen, normativen oder kulturellen Institutionen ist unabweisbar, der Konformitätsdruck, dem individuelles Handeln in der Gruppe ausgesetzt ist, in aller Regel hoch, die Nachahmung andernorts beobachteten oder sozial positiv besetzten Verhaltens signifikant (Ortmann 2003, S. 132 ff.).

Gleichwohl erschöpft sich das Handeln individueller Akteure nicht in der schlichten Erfüllung vorgegebener Rollenerwartungen, der strikten Orientierung an geteilten sozialen Normen und Werten oder der bloßen Befolgung klar definierter Regeln, wie dies besonders deutlich in frühen strukturfunktionalistischen Ansätzen formuliert wurde (Durkheim 1970; Parsons 1937; Dahrendorf 1958). Individuen sind durchaus in der Lage, ihre persönlichen und sozialen Umwelten bewusst wahrzunehmen und eigenwillig zu interpretieren, subjektive, oft freilich situationsspezifisch variierende Präferenzen auszubilden, individuelle Handlungsziele zu formulieren, eigenständige Entscheidungen zu treffen und diese auch zu verfolgen (Turner 1978). Handelnde Individuen lassen sich, kurz gesagt, „weder als schiere Konformisten noch als bornierte Kalkulateure ihrer Interessen, sondern als mehr oder minder freie, kompetente, kreative und durchaus emotionale Akteure vorstellen“ (Ortmann 2003, S. 133).

Stets mischt sich also, individuell höchst verschieden, regelkonformes, -abweichendes und -veränderndes Handeln. Auch im Internet zeichnen sich individuelle Akteure durch sehr verschiedene Handlungsorientierungen sowie unterschiedlich weit reichende Aktivitäts- und Kreativitätsgrade aus. Sie alle verwenden die erweiterten Handlungsmöglichkeiten, die das Web ihnen bietet, eigenwillig und selektiv. Nur wenige von ihnen greifen dort allerdings aktiv gestaltend in die Entwicklung neuer Techniken, Produkte, Dienstleistungen oder Inhalte ein, leisten substanzielle Beiträge zur Erweiterung der Netzangebote und -infrastrukturen oder zeichnen sich durch gezielt regel- und normabweichendes Verhalten aus.

Die überwiegende Mehrheit individueller Onliner nutzt die ohne ihr Zutun entstandenen neuen Möglichkeiten der Information, der Kommunikation oder des Konsums weitgehend so, wie sie durch die etablierten Anbieter im Web zur Verfügung gestellt werden. Facebook-Nutzer beispielsweise haben sich, wenn sie dort aktiv werden wollen, sowohl auf die technischen Vorgaben als auch auf die dort geltenden sozialen Gepflogenheiten einzulassen, die sie in Gestalt der technischen Rahmensetzungen der Plattform und der Geschäftsbedingungen des Unternehmens zu akzeptieren haben – und sie tun dies oft sehr bereitwillig. Hier entfaltet sich vor allem anderen die verhaltensprägende und regelsetzende Kraft des Internets und seiner Nutzungsmöglichkeiten: Es hat mit all seinen Anwendungen die persönlichen Darstellungsmöglichkeiten, Informations- und Kommunikationspraktiken signifikant erweitert und prägt die individuellen Handlungsorientierungen zugleich wie ein neues institutionelles Setting, das den regulativen Rahmen vorgibt, unter dem gehandelt werden kann und soll. Die Ausrichtung individuellen Verhaltens durch technisch vermittelte Angebote und die dort geltenden sozialen wie technischen Regeln ist bei der Mehrheit der Internetnutzer wesentlich ausgeprägter als deren eigenständige kreative Gestaltung (Busemann 2013, S. 396; Döring 2010).

Nichtsdestoweniger können auch individuelle Akteure, die das Internet vornehmlich in der Art und Weise nutzen, wie es ihnen angeboten wird, mit ihrem Handeln soziale, politische oder ökonomische Wirkungen erzeugen und Einfluss auf Technisierungsprozesse oder die konkrete Ausgestaltung von Anwendungen nehmen – allerdings nicht als einzelne Personen, sondern erst dann, wenn sich ihre individuellen Präferenzen und Aneignungsformen, Bedenken oder Verweigerungshaltungen zu einem Massenphänomen verdichten, auf das Unternehmen oder die Politik über kurz oder lang reagieren müssen. Dazu zählen marktvermittelte individuelle Konsumentscheidungen ebenso wie nichtmarktliche Tauschprozesse (z. B. Filesharing) oder nichtorganisierter Widerstand gegen neue Angebote, Werbe- und Datenauswertungspraktiken auf Social-Networking-Plattformen. Ein solches kollektiv gleichartiges Verhalten baut sich weitgehend unkoordiniert auf und lässt sich als „kontingente Kumulation gleichgerichteter, nicht selten diffuser und beeinflussbarer individueller beliefs, Problemperzeptionen, Nutzungs- und Konsummuster“ beschreiben (Dolata 2003, S. 33).

2.2 Organisationen

Moderne Gesellschaften sind freilich nicht vorrangig um Individuen strukturiert, sondern werden in erster Linie durch das Handeln von und die Interaktion zwischen formalen Organisationen geprägt und bewegt (March und Simon 1958; Coleman 1974; Perrow 1991). Korporative Akteure wie Unternehmen oder politische und wissenschaftliche Organisationen können erheblich systematischer und verlässlicher als Individuen intentional handeln, zeichnen sich durch formalisierte und situationsübergreifend abrufbare Handlungs- und Entscheidungsroutinen aus und verfügen über die Fähigkeit, im organisationalen Kontext vorhandene Ressourcen zur Verfolgung ihrer Ziele strategisch und dabei mehr oder minder unabhängig von den Präferenzen und Interessen ihrer Mitglieder einzusetzen. Auch sie agieren natürlich vor dem Hintergrund spezifischer ökonomischer, politischer und sozialer Bedingungen, die ihre Tätigkeiten rahmen. Sie sind allerdings weitaus stärker als individuelle Akteure in der Lage, die institutionellen Grundlagen ihres Handelns mit ihren Aktivitäten und unter Einsatz ihrer Ressourcen mitzugestalten (Geser 1990; Mayntz und Scharpf 1995).

Für die Analyse der Organisationsmuster neuer kollektiver Formationen im Web ist die Berücksichtigung klassischer Organisationen und vor allem von Unternehmen in zweierlei Hinsicht relevant: International tätige Großunternehmen sind erstens im Online-Kontext die zentralen Träger von technologischen Neuerungen und darauf basierenden Angeboten, und sie stellen dort dementsprechend zweitens wesentliche kommunikationstechnische Infrastrukturen bereit, auf denen sich individuelle Nutzer wie kollektive Formationen vornehmlich bewegen.

Die fünf derzeit dominierenden Online-Unternehmen – Apple, Microsoft, Google, Amazon und Facebook – verfügen über große eigene Forschungszentren und konfrontieren die Internetgemeinde regelmäßig mit neuen Angeboten, die sie selbst oft unter Bedingungen strenger Geheimhaltung entwickelt haben. Sie erweitern ihre eigenen Innovationskompetenzen vornehmlich über extensiv betriebene Kooperations- und Akquisitionsstrategien – wie den Kauf von Flickr durch Yahoo, von YouTube durch Google oder von Instagram und WhatsApp durch Facebook. Sie haben natürlich intensiv die oft volatilen Nutzerpräferenzen und -dynamiken zu reflektieren und zu berücksichtigen, wenn sie gegenüber der Konkurrenz bestehen wollen. Sie verwerten dazu die Daten, die ihnen die User zumeist bereitwillig bereitstellen, und sie greifen auch auf die kreativen Potenziale von Prosumern oder Micropreneuren etwa in den App-Stores für Mobile Devices zurück (Kleemann et al. 2012; Thackston und Umphress 2012). Aber sie verlieren dabei nicht die Kontrolle über ihre Innovations- und Produktionstätigkeit oder ihr Kerngeschäft (Dolata und Schrape 2013; Trott und Hartmann 2009; van Dijck und Nieborg 2009). Auch dort, wo eine größere Zahl von Nutzern in die Entwicklung von Hard- und Software, Dienstleistungen oder Inhalten eingebunden wird, erfolgt das in vielen Fällen unter der Regie der anbietenden Großunternehmen, die den orientierenden Rahmen aufspannen, innerhalb dessen Impulse von semi-professionellen Beiträgern aufgegriffen und ausgewertet werden (Papsdorf 2009).

Mit alldem werden die führenden Internetkonzerne zu den wesentlichen Organisationen, welche die infrastrukturellen Grundlagen des Netzes bereitstellen und weiterentwickeln. Typisch für die zentralen Plattformen, auf denen sich individuelle Nutzer und auch viele kollektive Formationen im Netz bewegen, ist die Vorherrschaft einzelner oder weniger marktbeherrschender Unternehmen. Apple und Google dominieren mit ihren Betriebssystemen den Markt für Mobile Devices, Google den Suchmaschinenmarkt und die Internetwerbung, Amazon den Online-Handel, Apple die Distribution digitaler Medieninhalte und Facebook das Social Networking – und dies nicht regional begrenzt, sondern international. Die Internetkonzerne fungieren damit als regelsetzende Akteure, die das Online-Erlebnis individueller Nutzer prägen, den soziotechnischen Rahmen für deren Bewegung vorgeben und dadurch das auf ihren Angeboten basierende kollektive Verhalten und Handeln maßgeblich mitstrukturieren. Sie werden so, vermittelt über die von ihnen bereitgestellten technischen Infrastrukturen, zu bedeutenden Einflussgrößen der Formierung und Bewegung sozialer Kollektive im Web.

2.3 Kollektive Formationen

Im weiten Feld zwischen Individuen und Organisationen finden sich schließlich kollektive Formationen verschiedenster Art. Derartige Kollektive können durch sehr verschiedene Koordinations- und Bewegungsmuster gekennzeichnet sein und lassen sich nicht umstandslos als soziale Akteure mit geteilten Zielen, Ressourcen und Handlungsorientierungen fassen. Wir werden im Folgenden zwei basale Typen von sozialen Kollektiven unterscheiden, die unseres Erachtens auch für das Internet konstitutiv sind.

Erstens sind dies nicht-organisierte Kollektive, deren wesentliches Kennzeichen die Aggregation ähnlicher individueller Entscheidungen und Verhaltensweisen ist. Sie verfügen über keinen organisierten und handlungsanleitenden Kern, sondern basieren auf geteilten individuellen Wahrnehmungen, Konsumäußerungen oder Problemperzeptionen, die sich zu massenhaft gleichgerichtetem sozialem Verhalten verdichten können, ohne dass diesem eine kollektive Entscheidung oder Handlungsorientierung zugrunde läge. Herbert Blumer (1939, S. 187) hat dieses Phänomen bereits Ende der 1930er Jahre auf den Punkt gebracht: „The form of mass behavior, paradoxically, is laid down by individual lines of activity and not by concerted action.“ Mit solch massenhaftem Verhalten, auch darauf hat Blumer hingewiesen, können durchaus weitreichende soziale Effekte erzielt werden: „A political party may be disorganized or a commercial institution wrecked by such shifts in interest and taste.“ (ebd.) Derartige Effekte lassen sich allerdings, wie Fritz W. Scharpf (1997, S. 54) betont, nicht der strategischen Entscheidung eines kollektiven Akteurs zuschreiben, sondern resultieren aus den gleichgerichteten Verhaltensentscheidungen individueller Akteure: „The aggregate effect is then a result of individual choices, but it is not itself an object of anyone’s purposeful choice.“ Das heißt: Nicht-organisierte Kollektive handeln nicht als Einheit. Sie sind keine strategiefähigen, rationalen und reflexiven Akteure eigener Art, sondern zeichnen sich durch spontane und volatile Formen kollektiven Verhaltens aus.

Wenn sich derart amorphe und eher zufällige soziale Konstellationen zu sozialen Bewegungen oder Gemeinschaften mit bewusst geteilten Zielen, Regeln, Identitätsausprägungen und auch organisatorischen Verstrebungen unterhalb formaler Organisation verdichten, dann kann demgegenüber, zweitens, von handlungs- und strategiefähigen kollektiven Akteuren gesprochen werden. Diese schälen sich fallweise aus den Zusammenhängen kollektiven Verhaltens heraus, entwickeln mit der Zeit eine eigene Gruppenidentität, stabilisieren sich über Institutionalisierungsprozesse, welche die Reproduktion von Gruppenstrukturen ermöglichen, differenzieren sich intern zwischen Aktivisten und Mitläufern, bilden entsprechende Einfluss- und Machtasymmetrien heraus und werden mit alldem sukzessive auch situationsübergreifend strategie- und mobilisierungsfähig (Marwell et al. 1988; Marwell und Oliver 1993; Eder 1993, S. 42 ff., 1990). Kollektive Akteure zeichnen sich stets durch spezifische Formen des Organisierens aus, die sich allerdings von formalen Organisationsformen deutlich unterscheiden, wie Dieter Rucht (1994, S. 70 ff.) mit Blick auf soziale Bewegungen sowie Leonhard Dobusch und Sigrid Quack (2011, S. 177) mit Bezug auf Gemeinschaften herausgearbeitet haben: Sowohl soziale Bewegungen als auch Gemeinschaften „sind nicht ‚unorganisiert‘, denn sie beruhen auf impliziten und expliziten Regeln, ihre Mitglieder teilen ein bewusstes Zusammengehörigkeitsgefühl und sie formieren sich regelmäßig rund um formale organisationale Einheiten. Aber im Unterschied zu formalen Organisationen wird die Mitgliedschaft zu einer Gemeinschaft durch bestimmte Praktiken […] erworben, werden Entscheidungen ohne Bezugnahme auf irgendeine Form rechtlich bindender Regelungen getroffen und gibt es keinen ‚Schatten der Hierarchie‘.“ Dobusch und Quack bezeichnen dieses typische Organisationsmuster kollektiver Akteure in Abgrenzung zum formalen Organisieren in Organisationen als „organisierte Informalität“ (ebd.). Erst dadurch werden entsprechende Formationen überindividuell strategiefähig und lassen sich in den Rang kollektiv handelnder sozialer Akteure heben.

3 Präzisierung I: Nicht-organisierte Kollektive und kollektives Verhalten

3.1 Swarms, Crowds, Publics – Spielarten kollektiven Verhaltens im Netz

Viele der im Online-Kontext aktuell diskutierten Formen sich mehr oder weniger spontan bildender Kollektivität (z. B. Swarms, Crowds, Mobs, Shitstorms) sind für die Soziologie im Grundsatz keine neuen Erscheinungen. Eine der ersten systematischen und noch heute inspirierenden Taxonomien kollektiven Verhaltens hat der bereits erwähnte Herbert Blumer (1939) entwickelt, der zwischen drei Ausprägungen differenziert, die fallweise in stabilere und organisiertere Formen kollektiven Handelns übergehen können.

Die nichtorganisierte Masse (mass) kann zwar in der Beobachtung entlang bestimmter Kriterien als Aggregat wechselseitig anonymer Individuen beschrieben werden (Scharpf 1997, S. 53 f.). Diese interagieren jedoch nicht bewusst miteinander und bilden insofern auch keine kollektiven Handlungsdispositionen aus. In diese Kategorie fallen etwa die bloßen Nutzer soziotechnischer Infrastrukturen, Rezipienten massenmedialer Angebote, Wähler oder auch Konsumenten, die durch ihre individuellen Auswahlleistungen in der Summe mitunter einen erheblichen Einfluss auf Wirtschaft, Politik oder technologische Entwicklungen nehmen können, ohne dass sie dies als Kollektiv intendieren und bewusst inszenieren. „Mass behavior, even though a congeries of individual lines of action, may become of momentous significance. If these lines converge, the influence of the mass may be enormous, as is shown by the far-reaching effects on institutions ensuring from shifts in the selective interest of the mass“ (Blumer 1939, S. 187). Der durchschlagende Erfolg von Google als präferierter Suchmaschine oder von Facebook als derzeit zentralem Social-Networking-Dienst, der rasante Bedeutungszuwachs der freien Enzyklopädie Wikipedia oder die wirtschaftliche Bedrohung der Medienindustrien durch milliardenfaches Filesharing – all das sind Resultate kumulierter, aber nicht bewusst oder gezielt koordinierter individueller Auswahlentscheidungen und insofern genuine Massenphänomene, die ohne einen organisierenden oder orientierenden Nukleus auskommen.

Die schon eingrenzbarere Menge (crowd) verfügt ebenfalls über keine ausgeprägten Koordinationsstrukturen, zeichnet sich aber gegenüber der Masse durch elementare Formen kollektiv gerichteten Verhaltens aus. Dieses bildet sich entlang benennbarer, oft affektiv aufgeladener Ereignisse und entfaltet ein vorübergehendes aufmerksamkeitsbindendes Spannungsfeld, ohne zunächst in festere Formen überzugehen. Blumer (ebd., S. 178) unterscheidet die casual crowd, deren Teilhabende ihre Aufmerksamkeit kurzzeitig auf den gleichen Stimulus richten (etwa auf eine Street Performance), die conventionalized crowd, deren Teilnehmer aufgrund wiederkehrender Ereignisse (z. B. Fußballspiele in einer Liga) zusammenkommen, die oft religiöse expressive crowd, die sich primär durch körperliche Bewegung ausdrückt, sowie die acting crowd, deren Teilnehmer sich impulsartig entlang gemeinsamer Ziele ausrichten und, beherrscht von einem sie fesselnden Gegenstand, situativ ihre kritische Distanz aufgeben oder ihre rationalen Handlungsorientierungen zurückstellen. Punktuelle und sich selbst verstärkende Ballungen der Aufmerksamkeit einer Vielzahl individueller Onliner wie das (hundert-)tausendfache „liken“ eines Beitrags, die clicktivistische Beteiligung an Kampagnen und Crowdsourcing-Prozessen oder „shitstorms“ als emotional aufgeladene Empörungswellen – das sind Crowd-Phänomene par excellence, die sich von der Masse durch elementare Ausprägungen ereignisbezogenen kollektiven Verhaltens abhebt, das allerdings noch keine dauerhafteren und organisierteren sozialen Formen angenommen hat.

Davon unterscheidet Blumer wiederum die public, die er weder als eine allgemeine politische Öffentlichkeit im Sinne von Jürgen Habermas (1962) noch als die „following public“ eines Prominenten definiert, sondern als volatile Teilöffentlichkeit, deren Teilhabende sich aktiv in die Diskussion über ein gerade aktuelles Thema einbringen und ihre unterschiedlichen Ideen oder Lösungsvorschläge austauschen: „We refer to the public as an elementary and spontaneous collective grouping because it comes into existence not as a result of design, but as a natural response to a certain kind of situation.“ (Blumer 1939, S. 189) Insofern unterscheidet sich die sich spontan bildende und wieder verflüchtigende public von stabilisierten, durch organisatorische oder kulturelle Kernstrukturen charakterisierten Gruppierungen wie Gemeinschaften oder sozialen Bewegungen, die allerdings wiederum das Agenda-Setting in situativen Teilöffentlichkeiten wesentlich mitprägen können (Schrape 2011). Vorübergehende und in sich nicht weiter reglementierte Diskussionsfelder zu viral verdichteten beziehungsweise medial eingeführten Themenstellungen auf Twitter, auf Social-Networking-Plattformen oder in der allgemeinen Blogosphäre – das sind publics im Sinne volatiler Teilöffentlichkeiten.

Alle drei hier skizzierten Varianten kollektiven Verhaltens zeichnen sich im Gegensatz zu Phänomenen kollektiven Handelns durch ihre Volatilität und Spontanität sowie durch das Fehlen distinkter Koordinations- und Identitätsstrukturen aus, die über den konkreten Moment hinausgehen. Sie werden geprägt durch eine situative Formierung des Kollektiven, das sich nach dem Ereignis zumeist ebenso schnell wieder verflüchtigt wie es entstanden ist. Blumer hebt hervor, dass erst dann von Phänomenen sozialer Ordnung gesprochen werden kann, wenn sich diese durch ein geteiltes Set an handlungsprägenden Erwartungen und Koordinationsstrukturen auszeichnen – und diese Kriterien treffen auch im Online-Bereich weder auf masses noch auf crowds oder publics zu. Allerdings können derartige Ausprägungen elementarer Kollektivität fallweise am Beginn eines sozialen Ordnungsprozesses stehen, der in stabilere Formen einmünden kann: „As the interaction between people continues, collective behavior secures form and organization“ (Blumer 1939, S. 221).

3.2 Grundlagen kollektiven Verhaltens: Infrastrukturen des Kollektiven

Mit diesen klassischen Differenzierungen kollektiven Verhaltens lassen sich in einem ersten Anlauf auch nicht-organisierte soziale Formationen im Netz präziser ein- und voneinander abgrenzen als mit heute allgemein üblichen, aber analytisch sehr unscharfen Verweisen auf „fluid social networks“ (Bennett und Segerberg 2012, S. 748). Damit ist aber keineswegs bereits alles gesagt. Zwei Aspekte, die in unserem Zusammenhang von besonderer Relevanz sind, thematisiert Blumer nicht: die konstitutive Bedeutung von Infrastrukturen für die Entstehung, Ausrichtung und situationsübergreifende Reproduzierbarkeit kollektiven Verhaltens im Allgemeinen und die kollektives Verhalten befördernden und strukturierenden Qualitäten von Technik im Besonderen. Bei Blumer gibt es nur unmittelbare und weitgehend kontextfreie Situationen, in denen sich kollektives Verhalten spontan und voraussetzungslos entwickelt.

Urs Stäheli (2012) hat demgegenüber darauf hingewiesen, dass die skizzierten Ausprägungen kollektiven Verhaltens nur scheinbar voraussetzungsfrei entstehen und prozessieren, tatsächlich aber auf dem Vorhandensein von Infrastrukturen basieren, die gleichgerichtetes individuelles Handeln und dadurch entstehendes kollektives Verhalten oft erst ermöglichen, es koordinieren und auch kontrollieren können. Er bezeichnet sie als Infrastrukturen des Kollektiven und meint damit „materielle und virtuelle Arrangements, welche einerseits die für das Kollektiv entscheidende Versammlung erst erlauben, andererseits aber auch die Zirkulation von Gütern, Menschen und Informationen organisieren“ (ebd., S. 114).

Für die Untersuchung nicht-organisierter Kollektive und kollektiven Verhaltens im Web ist dieser Gedanke sehr wichtig. Neue Ausprägungen kollektiven Verhaltens ergeben sich hier unmittelbar aus der selektiven und eigenwilligen Aneignung bereits vorhandener technischer Möglichkeiten und Infrastrukturen durch ihre Nutzer. Die verschiedenen Spielarten nicht-organisierten kollektiven Verhaltens im Internet basieren auf den dort angebotenen digitalen Medienangeboten und technischen Infrastrukturen, insbesondere auf denen der stark frequentierten Plattformen von Social-Networking-Diensten:

  • Erstens haben sie ermöglichende Eigenheiten. Die verschiedenen Netzplattformen erweitern die Optionen der Informationsbeschaffung, erleichtern die wechselseitige Beobachtung des Verhaltens fremder Individuen, erhöhen die Interaktivität und Geschwindigkeit kollektiver Kommunikations- und Austauschformen und ermöglichen ortsungebundene kollektive Abstimmungsprozesse ohne größeren Aufwand. All dies erleichtert die situative Formierung nicht-organisierter Kollektive und erweitert deren Aktivitätsradius.

  • Zweitens entwickeln sie koordinierende und regelsetzende Eigenheiten. Mit vorgegebenen und reproduzierbaren Anwendungen, Funktionen und Nutzungsbedingungen, die wie technisch vermittelte soziale Ordnungsmuster wirken, tragen die Netzplattformen nicht nur zur Strukturierung nicht-organisierter Kollektive und kollektiven Verhaltens bei, sondern auch zu deren allmählicher Stabilisierung. Diese Strukturierungs- und Koordinationsleistungen, die jede Plattform im Internet bietet, können von Kollektiven durchaus unterschiedlich genutzt werden, werden von ihnen aber nicht selbst entwickelt.

  • Drittens eröffnen die Netzinfrastrukturen grundlegend neue Möglichkeiten sozialer Kontrolle. Die Bewegungsprofile nicht-organisierter Kollektive und die Ausprägungen kollektiven Verhaltens lassen sich mit ihnen erheblich exakter und effektiver observieren, auswerten und positiv wie negativ sanktionieren, als dies zuvor möglich war (Fuchs 2012; Smythe 2006) – sowohl durch die privatwirtschaftlichen Betreiber der Plattformen als auch durch staatliche Nachrichtendienste, die, wie mittlerweile bestätigt wurde, die Aktivitäten der Onlinenutzer nahezu lückenlos beobachten.

Ermöglichung, Koordination und Kontrolle – das sind die ambivalenten Effekte der technischen Infrastrukturen des Netzes und seiner Plattformen auf die Formierung und Bewegung nicht-organisierter Kollektive. Sie stellen nicht nur, wie eingangs erwähnt, „technological tools that fundamentally enhance connectivity among people“ (Bimber et al. 2012, S. 3) bereit, sondern bieten – dies wird gerne übersehen – zugleich verhaltensstrukturierende Leistungen an und machen kollektives Verhalten auf neue Weise observier- und auswertbar. Die technischen Infrastrukturen des Internets wirken damit wie soziale Institutionen, da sie ähnlich wie Gesetze, Vorschriften, Verhaltensnormen oder Werte individuelles Handeln und kollektives Verhalten nicht nur ermöglichen, sondern auch strukturieren und kontrollieren und von den Nutzern nicht einfach ignoriert oder hintergangen werden können, sofern sie mitspielen wollen (Dolata und Werle 2007, S. 21 f.; Orwat et al. 2010).

Wie weit reichen die Strukturierungs- und Koordinationsleistungen technologischer Infrastrukturen im Web? Können nicht-organisierte Kollektive ohne die Herausbildung organisierender Kernstrukturen und eigener sozialer Organisationsleistungen – einzig durch die Zwischenschaltung verhaltensstrukturierender kommunikationstechnischer Plattformen – über die reine Aggregation individuellen Handelns hinauswachsen und kollektiv handlungsfähig werden? Die Arbeiten von W. Lance Bennett, Alexandra Segerberg und Bruce Bimber legen genau das nahe (Bennett und Segerberg 2013, 2012; Bimber et al. 2012). Sie argumentieren in Abgrenzung zu Mancur Olsons (1965) logic of collective action, der die konstitutive Bedeutung von anreizsetzenden und koordinierenden Organisationen für die Herausbildung kollektiven Handelns betont hat, dass die traditionelle Rolle von formalen Organisationen nun fallweise durch „digital media as organizing agents“ (Bennett und Segerberg 2012, S. 752) übernommen werden könne, und nennen das logic of connective action: „Connective action networks are typically far more individualized and technologically organized sets of processes that result in action without the requirement of collective identity framing or the levels of organizational resources required to respond effectively to opportunities.“ (ebd., S. 750)

Obgleich damit ziemlich exakt das beschrieben wird, was wir unter nicht-organisiertem kollektivem Verhalten fassen, überzeugt uns die Argumentation in zweierlei Hinsicht nicht. Erstens sind die allgemein verfügbaren technischen Infrastrukturen, auf denen der Großteil individuellen Handelns und kollektiven Verhaltens im Internet basiert, nicht einfach da. Es handelt sich bei ihnen vielmehr – dies wird ebenfalls gerne übersehen – um hochkomplexe, organisations- und kostenintensive technische Systeme, die von wenigen klassischen Organisationen, insbesondere von den Kernunternehmen des Netzes, konzipiert, angeboten, betrieben und gewartet werden. Diese kanalisieren durch zum Teil deutlich über rein technische Merkmale hinausgehende und in die Technik eingeschriebene soziale Regelsetzungen kollektives Verhalten, setzen im Sinne des incentive engineering Anreize für bestimmte Verhaltensweisen und fördern spezifische Spielarten der Kommunikation, während sie andere erschweren (Dickel 2013; Gerlitz 2011). Die Technik selbst übernimmt also nur vorderhand jene Koordinations- und Strukturierungsleistungen, die kollektives Verhalten im Internet ermöglichen. Tatsächlich sind es vor allem Unternehmen und damit wiederum klassische Organisationen, die gewissermaßen hinter dem Rücken der Kollektive jene Leistungen erbringen, auf deren Grundlage sich nicht-organisiertes kollektives Verhalten im Web überhaupt entfalten oder stabilere Formen annehmen kann – sie übernehmen damit technisch vermittelte soziale Ordnungsfunktionen. Ginge beispielsweise Facebook vom Netz, würde dies schlagartig deutlich werden.

Zweitens erscheint es uns empirisch evident, dass der Übergang von nicht-organisierten und flüchtigen Kollektiven zu handlungsfähigen kollektiven Akteuren auch im Internet regelmäßig mit eigenständigen sozialen Strukturbildungs- und Ausdifferenzierungsprozessen und der Herausbildung distinkter organisatorischer Absicherungen des Handelns einhergeht. Gerade die von Bennett und Segerberg (2012, S. 752) angeführten Beispiele für connective action – Open-Source-Software-Communities, Wikipedia oder WikiLeaks – zeichnen sich nicht durch allein technisch vermittelte und ansonsten organisationslose Strukturen aus, sondern verfügen über das, was Dobusch und Quack (2011) als organisierte Informalität beschrieben haben: über nicht einfach nur auf allgemein verfügbare technische Infrastrukturen zurückgreifende soziale Kerne, die kollektives Handeln im Rahmen einer identitätsstiftenden und geteilten Regeln folgenden Gemeinschaft oder Bewegung sowohl technisch als auch sozial eigenständig organisieren und strukturieren (Berdou 2011; Stegbauer 2009).

4 Präzisierung II: Kollektive Akteure und kollektives Handeln

4.1 E-Communities und E-Movements – Varianten kollektiven Handelns im Netz

Dies wird deutlich, wenn der Blick auf situationsübergreifend stabilisierte soziale Formationen wie Interessengemeinschaften (Communities of Interest) und soziale Bewegungen (Social Movements) gerichtet wird. Auch derartige Formationen gab es bereits vor dem Internet, und auch sie stehen seit Langem unter sozialwissenschaftlicher Beobachtung.

Eine erste Fassung von Communities jenseits von verwandtschaftlich oder lokal verankerten klassischen Gemeinschaften (Tönnies 2005) wurde durch George Hillery (1955) erarbeitet und in den nachfolgenden Jahrzehnten zu der Vorstellung der Communities of Interest verdichtet, die sich nicht mehr zwangsläufig durch räumliche oder freundschaftliche Bindungen, sondern durch bewusst geteilte und auf ein spezifisches Thema fokussierte Wirklichkeitssichten und Zielsetzungen auszeichnen (Gläser 2006; Adler 1992). Solche Interessengemeinschaften basieren zwar auf keiner expliziten hierarchischen Ordnung, wie sie durch Organisationen repräsentiert wird, und sie verfügen auch nicht über formalisierte Mitgliedschaften oder bindende Regelungen der Zusammenarbeit. Gleichwohl bilden sich im Laufe ihrer Entwicklung regelmäßig institutionelle Elemente wie Konventionen, Werte, Normen oder Wissensstrukturen heraus, die das Verhalten ihrer Mitglieder prägen, in der Selbst- bzw. Fremdbeobachtung die Grenzen der Community markieren und identitätsstiftend wirken. Überdies schälen sich mit der Zeit spezifische Koordinationsmuster und Hierarchisierungen heraus, die das gemeinsame Handeln stabilisieren (Cross 2013; Knorr Cetina 1999).

Das Internet bietet eine ideale Spielfläche für derartige Interessengemeinschaften, da die ortsungebundene Koordination bzw. Kollaboration durch die erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten, die es bietet, deutlich vereinfacht wird. Insofern haben sich nicht zuletzt im Open-Source- und Open-Content-Bereich vielfältige Varianten von Online-Communities herausgebildet. Das sind zum Beispiel epistemische Gemeinschaften, die Peter M. Haas (1992) als „network of professionals with recognized expertise and competence in a particular domain“ beschreibt, und Communities of Practice, deren Teilnehmer mit ähnlichen (beruflichen) Aufgaben befasst sind (Wenger 1998). Das können aber auch Brand Communities sein, die durch ein markenbezogenes Zusammengehörigkeitsgefühl geprägt sind (Fournier und Lee 2009), oder subversive Communities (Flowers 2008), die technologische Infrastrukturen in ideologischer oder kommerzieller Absicht abseits legaler Kontexte nutzen und weiterentwickeln. Ihre übergreifenden Kennzeichen bestehen in einer über Ad-hoc-Aktivitäten deutlich hinausgehenden thematischen Fokussierung sowie der sukzessiven Institutionalisierung einer Gruppenidentität mit geteilten Grundsätzen, Konventionen und Regeln unter den aktiven Gemeinschaftsteilnehmern, die ohne den Unterbau ausgeprägter formal-hierarchischer Organisationsstrukturen Projekte verschiedenster Art betreiben (Mayntz 2010).

Ähnlich wie Interessengemeinschaften, die sich auf kollaborative Arbeits- und Produktionszusammenhänge konzentrieren, zeichnen sich auch soziale Bewegungen, deren wesentliches Kennzeichen kollektiver Protest ist, nicht durch trennscharfe Grenzziehungen aus. Sie werden nicht durch formelle Mitgliedschaft zusammengehalten, verfügen nicht über verbindliche und einklagbare Regeln und sind auf permanente Abstimmungsprozesse zwischen den Teilnehmern angewiesen (DellaPorta und Diani 2006; McAdam und Scott 2005). Ähnlich wie Gemeinschaften agieren aber auch soziale Bewegungen nicht struktur- und organisationslos. Charles Tilly und James Rule (1965) haben sich schon früh dafür interessiert, wie aus geteilten Wert- und Veränderungsvorstellungen zielgerichtetes kollektives Handeln erwachsen kann, und haben dabei neben politischen Opportunitätsstrukturen die organisierenden Kerne sozialer Bewegungen in den Blick gerückt, da diese in der Mobilisierung von Ressourcen, in der Genese von Identitätsbildern, in der Steuerung des Protests und in der Akquisition von Teilnehmern ihres Erachtens eine zentrale Rolle spielen. Auch Dieter Rucht (1994, S. 87) hat betont, dass soziale Bewegungen auf Organisation angewiesen sind, und die Spezifika des dortigen Organisierens präzisiert: „Organisation heißt in diesem Fall, Planungs- und Entscheidungsstrukturen aufzubauen, Kommunikationswege zu etablieren und informelle, motivationale, materielle und kulturelle Ressourcen zu sammeln, die insbesondere im Konflikt mit externen Gruppen benötigt werden.“ Wie in Gemeinschaften geht im Falle sozialer Bewegungen zunehmende Organisiertheit in aller Regel mit interner Ausdifferenzierung einher – mit meinungsbildenden Aktivisten und koordinierenden Kernstrukturen auf der einen und einem weiten Umfeld aus mobilisierungsfähigen Sympathisanten auf der anderen Seite (Eder 1990, 1993).

Mit Blick auf Veränderungen, die das Internet auf die Organisierungs- und Mobilisierungsmuster sozialer Bewegungen ausüben könnte, wurden zunächst recht unterschiedliche Perspektiven skizziert: Am einen Ende des Spektrums entwickelte sich die Vorstellung, dass die neuen Medien die Koordinationsstrukturen sozialer Bewegungen fundamental verändern, da sie die Transaktionskosten für gemeinsames Engagement verringern, diese daher nicht mehr als Teilnahmehemmnis wahrgenommen werden und sich dadurch die Notwendigkeit eines organisierenden Kerns zur Massenmobilisierung auflöst (Bimber et al. 2005). Am anderen Ende wurde dagegen die deutlich zurückhaltendere Einschätzung vertreten, dass sich durch die effizienteren Kommunikationsmöglichkeiten nicht die Qualität, sondern vornehmlich der Aufwand für die Organisierung von klassischen Protestformen verringern würde (Rucht 2005). Jennifer Earl und Katrin Kimport (2011, S. 12) haben demgegenüber hervorgehoben, dass je nach Kontext beide Effekte eintreten können, und zwischen drei Formen onlinegestützter Bewegungen unterschieden: In e-mobilizations wird das Netz vornehmlich als Instrument genutzt, um die Koordination von Offline-Protesten zu vereinfachen (z. B. Demonstrationen); in e-movements erfolgen sowohl die Organisation des Protests als auch der Protest selbst online (z. B. Website-Blockaden); e-tactics schließlich kombinieren Online- und Offlinekomponenten (z. B. im Kontext von Petitionen). In der Realität lassen sich diese idealtypischen Ausprägungen jedoch nicht immer eindeutig voneinander unterscheiden, da Online- und Offline-Proteste häufig ineinander übergehen, wie es beispielsweise im Kontext der Occupy-Bewegung oder den spanischen Indignados der Fall war (Bennett und Segerberg 2012).

4.2 Grundlagen kollektiven Handelns: Institutionalisierung des Kollektiven

Bei aller Heterogenität und Unterschiedlichkeit lassen sich für Interessengemeinschaften wie für soziale Bewegungen drei wesentliche Merkmale identifizieren, die sie von volatilen nicht-organisierten Kollektiven unterscheiden und in den Rang handlungsfähiger kollektiver Akteure heben: (1) Institutionalisierungsdynamiken, die kollektives Handeln auf der Basis eigener, vornehmlich informeller Regeln, Normen und Organisierungsmuster ermöglichen, strukturieren und stabilisieren; (2) die Herausbildung einer eigenen kollektiven Identität, die als Programmatik oder Leitorientierung handlungsorientierend wirkt und die Aktivitäten nach außen abgrenzt; (3) interne Differenzierungsprozesse, in denen sich mit der Zeit organisierende Kerne und meinungsführende Aktivisten mit umliegenden Peripherien aus unterstützenden Teilnehmern herauskristallisieren. Während sich nicht-organisiertes kollektives Verhalten auf der Grundlage von allgemein verfügbaren Infrastrukturen des Kollektiven entwickelt, ist für kollektive Akteure und kollektives Handeln also eine sukzessive Institutionalisierung des Kollektiven typisch, die in eigenständigen Organisierungs- und Strukturierungsleistungen der Gemeinschaft oder der Bewegung ihren Ausdruck findet.

Derartige Institutionalisierungsdynamiken, die mit der Entstehung, Verstetigung und Etablierung jeder Gemeinschaft und Bewegung einhergehen, sind traditionell als rein oder vornehmlich soziale Prozesse konzipiert und analysiert worden – als Herausbildung sozialer Regeln, sozialer Identitäten, sozialer Organisationsmuster und sozialer Differenzierungen. Die Rolle und Bedeutung technischer Infrastrukturen für die Institutionalisierung kollektiver Akteure und kollektiven Handelns ist dagegen bis vor wenigen Jahren allenfalls am Rande wahrgenommen worden (Hess et al. 2007; Davis et al. 2005). Das ist der damit befassten Forschung auch gar nicht vorzuwerfen: Es war lange Zeit einfach nicht notwendig, sich mit solchen Dingen auseinanderzusetzen.

Mit dem Internet hat sich das signifikant geändert. Vieles, was Bewegungen und Gemeinschaften auszeichnet, hat sich mittlerweile dorthin verschoben: kollektive Meinungsbildung und Abstimmung, politische Kampagnen und Mobilisierung, Organisierung und Koordination der Aktivitäten, fachlicher Austausch und gemeinschaftliche Produktion. Die genannten sozialen Merkmale der Institutionalisierung kollektiver Akteure werden dadurch zwar nicht außer Kraft gesetzt. Sie werden allerdings substanziell erweitert um neue Organisierungs- und Strukturierungsleistungen von Kommunikation, Produktion und Protest, die das Internet und seine Plattformen als technologische Infrastrukturen bieten. Dementsprechend lässt sich die Institutionalisierung des Kollektiven heute nicht mehr als rein sozialer, sondern nur noch als soziotechnischer Prozess auf angemessene Weise abbilden: als systematische Verschränkung von sozialen und technischen Organisierungs- und Strukturierungsleistungen, deren Zusammenspiel allerdings von Fall zu Fall erheblich variiert.

Auch heute gibt es soziale Bewegungen im eher klassischen Sinne, die nun in der Mobilisierung von Teilnehmern und in der Koordination ihrer Aktivitäten auch auf Kommunikationsplattformen im Internet zurückgreifen, aber in ihren grundsätzlichen Organisationsmodi und Strukturen signifikante Ähnlichkeiten zu ihren Offline-Pendants aufweisen. Sie werden getragen von einer Reihe als eigenständige Akteure identifizierbarer und kampagnenbezogen kooperierender Aktivisten, Vereine, Nichtregierungsorganisationen und Parteien, die thematisch fokussiert Protestaktionen planen und diese nun offline wie auch online durchführen. In der Regel übernehmen dabei einige der beteiligten Akteure federführend die Organisation und Koordination der Aktivitäten (Earl und Kimport 2011, S. 147 ff.). Die Massenproteste gegen das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) beispielsweise wurden durch eine breite Koalition aus etablierten linken und grünen Parteien, Nichtregierungsorganisationen wie Attac oder Campact, Vereinen wie dem Chaos Computer Club und bekannten Netzaktivisten aus den jeweiligen Ländern koordiniert und öffentlichkeitswirksam vertreten (Herweg 2013). Auch die deutschen Proteste gegen das Leistungsschutzrecht oder für Netzneutralität gehören in diese Kategorie. Sie wurden entlang einiger eng ineinander verwobener Bezugsorganisationen des politischen Social Webs – z. B. netzpolitik.org, Digitale Gesellschaft e. V., re:publica – koordiniert und verfügen mittlerweile über ein stabiles Repertoire an Protagonisten, die als Konsultationsstellen für Politik und Wirtschaft, als Ansprechpartner für die Massenmedien oder als netzpolitische Mobilisierer auftreten (Wendelin und Löblich 2012).

Davon unterscheiden sich onlineaffine und lose vernetzte Bewegungen wie Occupy, die unter einem sehr allgemein gehaltenen identitätsstiftenden Dach Protestaktionen planen und durchführen und zu deren Koordination und Organisierung primär auf bestehende Internetplattformen zurückgreifen, darunter insbesondere auf diejenigen der großen Anbieter wie Facebook, Tumblr oder Twitter (Caren und Gaby 2012; Gerbaudo 2012). Obgleich Social-Web-Dienste hier in weit stärkerem Maße zu zentralen Bezugspunkten der Formierung, Kommunikation und Mobilisierung geworden sind, organisieren sich aber auch solche kollektiven Formationen nicht einfach über die Infrastrukturen des Webs selbst. Auch sie sind, sobald sie sich situationsübergreifend stabilisieren, auf die mobilisierenden und organisierenden Leistungen von meinungsführenden Aktivisten und sozialen Gruppierungen angewiesen, die die konkreten Proteste koordinieren und auf die Straße bringen. Hier wie in anderen vergleichbaren Fällen gilt: „It is combination of local grassroots organizing and web-based information diffusion that has done the trick“ (Della Porta und Diani 2006, S. 155). In solchen Fällen bilden sich, wie sich auch anhand der netzpolitischen Proteste im deutschsprachigen Raum zeigen lässt (Haunss 2013), in durchaus stark technisch vermittelten sozialen Prozessen verstreute, lokal verteilte, informelle und von Aktivisten getragene organisierende Kerne heraus, welche die umliegenden Peripherien mitlaufender Teilnehmer durch die Ausbildung von übergreifenden Koordinationspfaden und Dachidentitäten situationsübergreifend stabilisieren. Technik allein kann das nicht leisten.

Darüber hinaus finden sich im Internet elitär strukturierte und klar fokussierte Gruppierungen im Zwischenfeld von Bewegung und Gemeinschaft, die sich durch subversive oder illegale Aktivitäten auszeichnen, dazu eigene technologische Plattformen aufgebaut haben und über kleine, zum Teil hermetisch abgeschottete Kernstrukturen und Kernakteure mit umliegenden Unterstützernetzwerken verfügen. WikiLeaks beispielsweise kann als eine solche überaus personenzentrierte Gemeinschaft beschrieben werden, die sich um eine demokratischer Einflussnahme kaum zugängliche nichtkommerzielle Organisation gebildet hat, die geheime Dokumente aufbereitet und öffentlich zugänglich macht. Sie wird von Julian Assange als Führungsperson repräsentiert, beschäftigt ein sehr kleines Team von Mitarbeitern, verfügt über einen größeren Pool an Aktivisten und eine Peripherie von Sympathisanten, die in die Entscheidungsprozesse jedoch nicht aktiv eingebunden werden (Roberts 2012; Davis und Meckel 2012). Demgegenüber lässt sich das international agierende Hacktivisten-Kollektiv Anonymous als eine eher dezentral strukturierte Online-Bewegung charakterisieren, unter deren Dach illegale Cyberattacken unterschiedlichster Art durchgeführt werden. Anonymous verfügt zwar, anders als WikiLeaks, über keinen von allen Beteiligten akzeptierten organisierenden Kern, dafür aber über kleine, für sich jeweils gut organisierte und nicht unbedingt untereinander bekannte Gruppen, die Hackerangriffe durchführen und dann unter dem Label Anonymous öffentlich machen. Sie bilden in diesem Fall verschiedene dezentral organisierende Kerne der Bewegung. Internen Zusammenhalt bieten neben öffentlichen Kanälen wie Twitter vor allem eigene Internetplattformen, auf denen Anonymous-Projekte diskutiert werden. Das ist ebenfalls keine egalitäre Veranstaltung: Auch hier haben sich meritokratische Ordnungsmuster und mit ihnen Meinungsführer herauskristallisiert, welche die Kommunikation dominieren und strukturieren (Dobusch und Schoeneborn 2013; Coleman 2013).

Schließlich lassen sich mittlerweile sehr gefestigte und infrastrukturell eigenständige produktionsorientierte Gemeinschaften im Open-Content- und Open-Source-Bereich identifizieren, die nicht nur eigene und offene technologische Plattformen entwickelt haben, auf denen sie arbeiten und kommunizieren. Sie haben überdies eine klar umrissene kollektive Identität ausgebildet und verfügen – inzwischen deutlich oberhalb dessen, was als organisierte Informalität beschrieben worden ist – über eindeutig geregelte und ausdifferenzierte Partizipations-, Arbeits- und Organisationsstrukturen, die durch die Etablierung von assoziierten Organisationen wie der Wikimedia Foundation, der Creative Commons oder der Open Source Initiative gestützt werden. Diese formalen Organisationen sind zwar weit entfernt davon, die Aktivitäten der Beitragenden einer Gemeinschaft direkt steuern zu können. Sie garantieren jedoch die Rahmenbedingungen, unter denen die selbstorganisierten Produktionsprozesse in der Community stattfinden, und repräsentieren diese nach außen (Herb 2012; Ahrne und Brunsson 2011). Derartige Produktionsgemeinschaften zeichnen sich, wie sich am Beispiel der Wikipedia zeigen lässt, durch übergreifend koordinierende Kernstrukturen aus, die sich in der Gründung einer eigenen Dachorganisation niedergeschlagen haben, und bilden mit der Zeit überaus strukturierte Formen der Selbstorganisation auf der Arbeitsebene aus – mit klaren Qualitätsnormen, Arbeitsregeln, Kontrollstrukturen und eindeutigen Rollenverteilungen unter den aktiv Beitragenden (König 2013; Stegbauer 2009).

Zweierlei fällt nach dieser Skizze soziotechnischer Institutionalisierungsvarianten kollektiver Akteure im Web auf. Erstens sind die technischen Infrastrukturen des Internets bei allen Unterschieden im Einzelnen zu einem handlungsorientierenden und -strukturierenden Bezugspunkt sozialer Bewegungen und Gemeinschaften geworden. Die Entstehung und Formierung neuer kollektiver Akteure findet zunehmend über onlinebasierte Kommunikationszusammenhänge statt – ausgehend von zunächst oft kaum mehr als unstrukturierten kollektiven Verhaltensäußerungen, die mit der Zeit in organisiertere Formen kollektiven Handelns übergehen. Das Web ist mittlerweile der zentrale Ausgangspunkt und Ort, an dem neue und oft ortlos agierende soziale Formationen entstehen.

Auch die Binnenstrukturen sozialer Bewegungen und Gemeinschaften werden zunehmend von den technischen Möglichkeiten im Online-Bereich mitgeprägt. Durch sie eröffnen sich nicht nur niedrigschwellige Möglichkeiten der Beteiligung an kollektiven Aktivitäten und deren Vernetzung, die es zuvor nicht gab. Sie ermöglichen auch eine intensivere wechselseitige Beobachtung der Teilnehmer und erweitern deren Interaktions- und Partizipationsradius. Sie können überdies zur Transparenz und Kontrolle der Bewegungsaktivitäten beitragen, die in den organisierenden Kernen zusammenlaufen und von ihnen gegenüber den Sympathisanten in kurzem Takt immer wieder neu legitimiert werden müssen. Und sie bilden die zentrale Grundlage und Strukturierung gemeinschaftlicher Arbeits- und Produktionsprozesse, die ohne das Web gar nicht möglich wären. Schließlich eröffnet das Internet auch neue Formen der Außenwirkung kollektiver Akteure. Es erweitert die Möglichkeiten der Skandalisierung von empfundenen Missständen und der Einflussnahme auf die öffentliche Meinungsbildung, erhöht die Sichtbarkeit von Protest und erleichtert dessen Mobilisierung und Vernetzung.

Die Online-Techniken setzen damit aber nicht – das ist der zweite Punkt, den wir herausstellen möchten – klassische Formen sozialen Organisierens und Strukturierens außer Kraft. Siobhán O’Mahony und Fabrizio Ferraro (2007, S. 1100) haben mit Blick auf Open-Source-Communities festgestellt, „that although technology may have changed the ability of groups […] to coordinate efforts over space and time, even the most savvy online communities are not immune to well-known general principles of organizing“. Diese Überlegung lässt sich durchaus verallgemeinern. Auch onlinezentrierte soziale Bewegungen oder Gemeinschaften durchlaufen im Zuge ihrer situationsübergreifenden Stabilisierung regelmäßig Prozesse der sozialen Institutionalisierung ihrer kollektiven Aktivitäten und greifen dabei auf bekannte Muster zurück – und dies auf mehreren ineinander verschränkten Ebenen:

  • Erstens bilden sich mit der Zeit kollektiv akzeptierte soziale Regeln, Normen und Werte heraus, die handlungsorientierend wirken und nun oft über Austauschprozesse im Web konkretisiert werden – seien es die Editier- und Exklusionsregeln für Wikipedia-Beiträge oder die kollaborativen Arbeits- und Produktionspraktiken in Open-Source-Communities.

  • Zweitens zeichnen sich auch onlinezentrierte Communities und Bewegungen durch die allmähliche Ausformung einer kollektiven Identität aus, die sich in einer spezifischen Programmatik, Ideologie oder Leitorientierung niederschlägt, häufig weit über ihren aktivistischen Kern hinausreicht, den motivationalen Bezugspunkt für mitlaufende Teilnehmer bildet, mobilisierend wirkt, kollektives Handeln verstetigt, eine Sinngrenze nach außen konstituiert – und übrigens auch eine Antwort auf die Frage liefert, was individuelle Akteure jenseits nutzenmaximierender Kalküle dazu bringt, ihre „partikularen Interessen im Dienste der Erlangung kollektiver Vorteile […] zu relativieren“ (Offe 2008, S. 70).

  • Drittens entwickeln sich zwar sehr verschieden ausgeprägte, aber überall aufspürbare organisatorische Verstrebungen und Kernstrukturen, welche die Aktivitäten in onlineaffinen sozialen Bewegungen oder Gemeinschaften anleiten, koordinieren und zum Teil auch kontrollieren. Sie werden im Falle gefestigter kollektiver Akteure im Netz oft über eigenständig betriebene technische Plattformen zusammengehalten, auf denen der Großteil der Kommunikation, Meinungsbildung und konkreten Arbeit stattfindet.

  • Viertens bilden sich damit einhergehend regelmäßig mehr oder minder ausgeprägte soziale Einfluss- und Machtasymmetrien heraus, die sich aus internen Ausdifferenzierungsprozessen ergeben. Auch onlinezentrierte Bewegungen und Gemeinschaften zeichnen sich durch aktivistische Kerne aus, die für den Großteil der Strukturierungsleistungen und des Outputs verantwortlich sind, sowie eine zahlenmäßig weit größere Peripherie an Teilnehmern und Sympathisanten, welche die Zielsetzungen der Formation unterstützen und themen- bzw. projektbezogen mobilisierungsfähig sind (Pentzold 2011; Gamson 2004; Oliver et al. 1985).

Das Internet führt also keineswegs zu einer Disintermediation genuin sozialer Organisierungs- und Strukturierungsleistungen, wie dies bisweilen vermutet wird (z. B. bei Bennett und Segerberg 2012, S. 742). Stattdessen vermischen sich klassische soziale Organisierungsmuster und Institutionalisierungsdynamiken von kollektiven Akteuren mit technischen Strukturierungsleistungen auf neuartige Weise. Die Genese überindividueller Intentionalität, die Herausbildung einer kollektiven Identität sowie die Entwicklung von informell abgestimmten Regeln und Koordinationsstrukturen, die situatives und spontanes kollektives Verhalten in situationsübergreifend verstetigtes kollektives Handeln überführen, bleibt ein genuin sozialer Prozess, der durch die technischen Eigenheiten des Netzes unterstützt werden kann, allerdings weit mehr als nur handlungsfördernde technologische Infrastrukturen benötigt, die andernorts bereitgestellt werden.

5 Fazit: Die soziotechnische Formierung und Institutionalisierung des Kollektiven

Die hier thematisierten Swarms, Crowds, Teilöffentlichkeiten, Gemeinschaften und Bewegungen zeichnen sich nicht nur durch signifikant verschiedene Aktivitätsgrade und Einflussmöglichkeiten, Handlungsorientierungen und -ressourcen, Organisationsformen und Kommunikationsweisen aus. Auch die Rolle und Bedeutung der technologischen Infrastrukturen des Netzes für ihre Formierung und Bewegung variieren beträchtlich – sie reichen von der schlichten Nutzung andernorts entwickelter und angebotener Plattformen bis zur Herausbildung eigenständiger technisch vermittelter Kommunikations- und Produktionszusammenhänge durch spezifische Gemeinschaften oder Bewegungen. Das führt zu den eingangs gestellten Fragen zurück: Wie lassen sich die unterschiedlichen kollektiven Formationen im Internet akteur- bzw. handlungstheoretisch einordnen bzw. voneinander abgrenzen und welchen Einfluss haben die technologischen Infrastrukturen, in denen sie sich bewegen, auf ihre Entstehung, Strukturierung und Aktivität? Was ist das Außergewöhnliche und tatsächlich Neue an ihnen?

Mit Blick auf ihren Akteurstatus lassen sich zwei basale Varianten sozialer Kollektive voneinander abgrenzen, die auch für das Internet konstitutiv sind (Abb. 1):

Abb. 1
figure 1

Formierung und Institutionalisierung des Kollektiven im Netz

  • Zum einen sind dies nicht-organisierte Kollektive wie Swarms oder Crowds, deren Aktivität durch situative Spontaneität und eine entsprechend hohe Volatilität gekennzeichnet ist. Sie verfügen über keine eigenen situationsübergreifenden Organisations-, Koordinations- und Entscheidungsstrukturen und lassen sich nicht als eigenständige soziale Akteure fassen, sondern zeichnen sich durch spontane und flüchtige Formen kollektiven Verhaltens aus.

  • Zum anderen sind dies strategiefähige kollektive Akteure wie Gemeinschaften und soziale Bewegungen, die demgegenüber durch situationsübergreifende Institutionalisierungsprozesse geprägt werden, in deren Verlauf sich distinkte Gruppenidentitäten, geteilte Regeln und Ziele sowie koordinierende und organisierende Kernstrukturen herausbilden, auf deren Basis kollektives Handeln möglich wird.

Mit dem Rückgriff auf etablierte Akteurkonzepte werden zunächst natürlich vornehmlich die konservativen Aspekte kollektiver Formationen erfasst, die es auch vor dem Internet bereits gab. Das ist allerdings nicht per se schlecht, denn erst durch die Auseinandersetzung mit bestehenden Konzepten lässt sich die zum Teil grenzenlose Faszination für das bunte Treiben im Netz überwinden und das tatsächlich Neue erfassen, das die dortigen Formationen kennzeichnet.

Dieses Neue besteht, kurz gesagt, in der signifikant aufgewerteten Rolle, die Technik – oder konkreter: technologische Infrastrukturen – hinsichtlich der Prägung, Formierung, Bewegung und Organisierung kollektiven Verhaltens bzw. kollektiven Handelns im Internet spielen. Sowohl nicht-organisierte Kollektive als auch kollektive Akteure im Web lassen sich nicht mehr, wie das zuvor üblich und auch sinnvoll war, vorrangig mit sozialen Kategorien beschreiben und auf den Punkt bringen, sondern zeichnen sich durch eine enge und neuartige Verschränkung sozialer und technischer Einflussfaktoren aus.

Als Infrastrukturen des Kollektiven, die es so zuvor nicht gab, erleichtern die technischen Systeme und Plattformen im Netz nicht nur die situative Formierung des Kollektiven, also die spontane Entstehung und Bewegung nicht-organisierter Formationen, und erweitern durch die mit ihnen einhergehende Verringerung der Transaktionskosten und die Steigerung der Austauschgeschwindigkeiten deren Aktionsradius. Durch ihre regelsetzenden Eigenschaften tragen die Kommunikationsdienste im Social Web außerdem erheblich zur Strukturierung und situationsübergreifenden Stabilisierung sowohl des kollektiven Verhaltens als auch kollektiven Handelns bei, ermöglichen aber auch ein bislang ungekanntes Maß an Observierbarkeit und sozialer Kontrolle, das durch die zumeist privatwirtschaftlichen Betreiber der Plattformen und die staatlichen Nachrichtendienste intensiv ausgeschöpft wird.

Als handlungsordnender und -orientierender Bezugspunkt leisten die technischen Infrastrukturen im Online-Bereich in Form allgemein verfügbarer oder formationsspezifischer Plattformen zudem einen wesentlichen Beitrag zur situationsübergreifenden Institutionalisierung des Kollektiven. Die durch sie erhöhte Visibilität kollektiver Verhaltens- und Handlungsäußerungen bietet nicht nur einen idealen Nährboden für die Formierung neuer kollektiver Akteure mit niedrigschwelligen Beteiligungsmöglichkeiten. Sie erweitern überdies auch die Interaktionsmuster zwischen den Teilnehmern, tragen zur Konsolidierung, Organisierung und internen Kontrolle der Aktivitäten von Communities und Bewegungen bei und erleichtern ihre Außenkommunikation sowohl mit Blick auf die Skandalisierung von Missständen als auch auf die Einflussnahme auf die öffentliche Meinungsbildung sowie die Sichtbarkeit und Mobilisierung von Protest.

So unzureichend es einerseits ist, kollektive Formationen im Netz noch in rein sozialen Zusammenhängen zu verorten und mit rein sozialen Kategorien zu analysieren, so problematisch wäre es umgekehrt auch, die Technik bzw. die technologischen Infrastrukturen als determinierende und als alles Soziale aus dem Feld schlagende Einflussgröße kollektiven Verhaltens und Handelns zu überhöhen. Schon die technischen Grundlagen selbst, unter denen kollektiv agiert wird, schälen sich in genuin sozialen Prozessen heraus – sei es als neue allgemeine Angebote und Infrastrukturen, die von den großen Internetkonzernen entwickelt werden, sei es als eigenständig betriebene Plattformen, die im Kontext von Gemeinschaften oder sozialen Bewegungen entstehen und dort weiterentwickelt werden.

Keine dieser Netzplattformen, auf denen kommuniziert, organisiert, gearbeitet und mobilisiert wird, ist zudem einfach ein technisches Angebot, das die Nutzer mit ihren Inhalten ausgestalten und umdefinieren können, wie es ihnen beliebt, sondern weist zugleich in die Technik eingeschriebene soziale Strukturierungsmuster auf. In die technischen Spezifikationen werden immer – nicht nur von kommerziellen Betreibern, sondern auch von Gemeinschaften oder Bewegungen mit eigenen Plattformen – Regeln, Normen und Handlungsorientierungen eingebaut, die auf die dortigen Aktivitäten wie soziale Institutionen wirken und das Handeln ihrer Nutzer in zum Teil sehr rigider Weise (mit-)strukturieren. Schon die Einbettung eines anklickbaren „Like“-Buttons (und der Verzicht auf einen technisch ebenso problemlos umsetzbaren „Dislike“-Button) ist nicht einfach eine technische Spielerei, sondern ein in die Technik eingeschriebenes regelsetzendes und handlungsorientierendes soziales Strukturelement.

Darüber hinaus können Prozesse der Formierung und Institutionalisierung kollektiver Akteure, die in der Regel als sukzessive Überführung situativen kollektiven Verhaltens in verstetigtes kollektives Handeln Gestalt annehmen, im Netz zwar durch die dortigen kommunikationstechnischen Möglichkeiten nachhaltig unterstützt und mitstrukturiert, aber nicht an die koordinations- und kommunikationsfördernden Eigenheiten der Technik selbst übergeben werden. Die Herausbildung überindividueller Identität und Intentionalität, die Entwicklung kollektiv akzeptierter Normen und Werte, die Erarbeitung informeller Regeln und Koordinationsmuster sowie die Etablierung organisatorischer Strukturen und Rollendifferenzierungen, die sich dann durchaus auch in den Spezifikationen der verwendeten technischen Systeme niederschlagen können, bleiben auch in onlineaffinen Formationen sozial voraussetzungsreiche Prozesse, die durch Technik unterstützt und mitgeprägt, aber nicht durch sie substituiert werden können.