1 Einleitung

Mit Blick auf die tarifpolitischen Kerninstitutionen machen die Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte die Annahme einer flächendeckenden Erfassung der Beschäftigten durch das branchenbezogene Zusammenspiel der Tarifpartner fraglich. Während Mitte der 1990er Jahre noch knapp über 70 % der westdeutschen und über die Hälfte der ostdeutschen Beschäftigten von einem Tarifvertrag erfasst wurden, unterlagen im Jahr 2011 nur noch 54 % der Beschäftigten in West- und 37 % der in Ostdeutschland einem Branchen- oder Flächentarifvertrag (Ellguth und Kohaut 2010, 2012). Insbesondere im Dienstleistungssektor sowie bei kleinen und mittleren Unternehmen wird die 50-Prozent-Marke des Anteils tarifgebundener Beschäftigter regelmäßig unterschritten. Blickt man zugleich auf den Kernbereich der gesetzlichen Grundlagen der Tarifpolitik, stellt sich jedoch heraus, dass die Formalregelungen des Tarifvertragsgesetzes nahezu unverändert seit Bestehen der (westdeutschen) Republik gelten.

Ausgehend von dieser Beobachtung einer paradoxen Gleichzeitigkeit von Stabilität der rechtlich-formalen Grundlagen und einer faktisch erheblichen Abnahme der Reichweite der branchenbezogenen Tarifpolitik (Holst 2011a; dazu auch bereits Streeck 2001) wird in dem Artikel – anknüpfend an die Beiträge von Hajo Holst (2011a) sowie Markus Tünte et al. (2011) – eine organisationsbezogene Interpretation des institutionellen Wandels in der deutschen Tarifpolitik entwickelt. Auf diese Weise möchten wir die Debatte über die Entwicklung einer Kerninstitution der deutschen Arbeitsgesellschaft fortführen, indem wir unter dem Begriff der „tarifpolitischen Parallelwelt“ (Helfen 2011) eine theoretische Neuinterpretation der empirischen Befundlage zum schwindenden Geltungsbereich tarifpolitischer Institutionen anbieten.

Der Begriff der „Parallelwelt“ wird im öffentlichen, aber auch im soziologischen Diskurs oftmals auf die alltagsweltliche Segregation unterschiedlicher – zumeist ethnisch oder religiös definierter – Bevölkerungsgruppen bezogen (Belwe 2006). Im Folgenden wird der Begriff jedoch auf die Arbeitswelt übertragen, um Situationen zu erfassen, in der Beschäftigte zwar im gleichen Arbeitskontext tätig werden, jedoch bloß aufgrund von Unterschieden in ihrem vertraglichen Beschäftigungsstatus unterschiedlich entlohnt werden. Im Gegensatz zu etablierten Vergütungsunterschieden, etwa zwischen Branchen (zum Beispiel zwischen Einzelhandel und Chemie) oder Qualifikationsniveaus (zum Beispiel Geselle und Meister), ist das Merkmal der hier aufgezeigten tarifpolitischen Parallelwelten die Konkurrenz von Vergütungsstandards bei Tätigkeiten, die im Verantwortungsbereich eines Kundenunternehmens erbracht, jedoch von separaten Dienstleistungsunternehmen organisiert werden. Eines von vielen exponierten Beispielen ist der jüngst öffentlich diskutierte Fall von Werkvertragsnehmern bei Amazon Deutschland (Löbl und Onneken 2013). Anders als in der Diskussion um die ethnischen Parallelwelten vermeintlich Integrationsunwilliger ist bei arbeitsbezogener Segregation allerdings eher von einer unfreiwilligen Separierung der betroffenen Beschäftigten auszugehen. Und anders als die Sorge um die Gefährdung gesellschaftlicher Integrationsfähigkeit durch übersteigerte Selbstabgrenzung verweisen die hier betrachteten tarifpolitischen Parallelwelten auch auf die besonderen sozio-ökonomischen Ursachen alltagsweltlicher Exklusion (Castel 2008). Gerade die kollektivvertragliche Regelung der Tarifpolitik stellt einen institutionalisierten Inklusionsmechanismus dar, der für die Beschäftigten den Erwerb sozialer Anerkennung und materieller Teilhabemöglichkeiten über den Arbeitsalltag hinaus sichert (Holst 2011a). Wird dieser Mechanismus sozio-ökonomischer Inklusion durch eine Fragmentierung unterminiert, steht eben auch eine zentrale Säule sozialer Kohäsion zur Disposition.

Ausgehend von dieser Auffassung von Parallelwelt möchte der vorliegende Beitrag vor allem das Augenmerk darauf richten, dass eine Fragmentierung in (tarifpolitische) Parallelwelten auch als ein besonderer Prozess institutionellen Wandels verstanden werden kann, in dem fortlaufend Situationen von Regelambiguität, Regelkonkurrenz und Regellosigkeit entstehen, sodass die formale Regelsetzung und die Durchsetzung der Regelbefolgung auseinanderfallen. Unser Fall ist der Wandel in der Tarifpolitik: Ausgehend vom betrieblichen Flexibilisierungsgeschehen im Sinne von „hybriden Beschäftigungsstrategien“ (Tünte et al. 2011) stellen wir die These auf, dass eine auf Unternehmensnetzwerken beruhende Wertschöpfung eine Ausdehnung tarifpolitischer Parallelwelten bis hin zur Tariflosigkeit bewirkt. Eine netzwerkförmige Reorganisation machen wir vor allem an den vielfältigen Formen fest, mit denen Unternehmen durch Aufspaltung, Zergliederung und Auslagerung von Unternehmensaktivitäten bzw. ihrer Beschaffung im Netzwerk eine Verringerung der Wertschöpfungstiefe bewirken. Diese netzwerkförmige Reorganisation kann als eine Option zur Anpassung von Unternehmen an die Anforderungen von Unsicherheit und Dynamik gedeutet werden, bei der die Unternehmen die Anpassungskosten auf die Beschäftigten mit prekärem Vertragsstatus überwälzen (Streeck 1987; Müller-Jentsch 1998; Sydow und Wirth 1999; Kalleberg 2000, 2001; Nienhüser 2007; Kädtler 2009; Windeler und Wirth 2010; Flecker und Meil 2010). Ihre institutionelle Wirkung ist ein Wandel der herkömmlichen Tarifpolitik, bei dem diese dadurch de-institutionalisiert wird, dass sie substanziell ausgehöhlt wird, obgleich sie formal fortbesteht.

Nachfolgend leiten wir aus den Überlegungen von Kathleen Thelen (2009) zum inkrementellen institutionellen Wandel einen Zugang zu dem von uns betrachteten Wandel tariflicher Regelsetzung her, der hier unter Bezugnahme auf Hajo Holst als „institutionelle Fragmentierung“ (2011a, S. 384, 2011b) bezeichnet wird. Zugleich argumentieren wir, dass diese Fragmentierung der tarifpolitischen Regelsetzung in ihrer Qualität und Reichweite besser erfasst wird, wenn sie vor dem Hintergrund einer interorganisationalen Fragmentierung der Wertschöpfung in Unternehmensnetzwerken betrachtet wird (Marchington et al. 2005). Wurde diese netzwerkförmige Reorganisation bislang auf ihre Folgen für die Mitbestimmung untersucht (Windeler und Wirth 2010; Doellgast und Greer 2007), sind ihre Effekte für eine branchenbezogene Tarifpolitik hingegen nur spärlich diskutiert worden (Doellgast 2012). Empirisch betrachten wir am Beispiel der industrienahen Dienstleistungen die Praktiken, die Tarifpolitik unter Fragmentierung kennzeichnen. Dienstleistungen wie Facility Services, technische Dienste (beispielsweise die Instandhaltung und Wartung von Anlagen und Maschinen) und Leiharbeit bieten in besonderem Maße die Möglichkeit, die tarifpolitischen Folgewirkungen einer netzwerkförmigen Reorganisation der Wertschöpfung zu erkunden. Es zeigt sich, dass die netzwerkförmige Reorganisation mit einer Heterogenisierung der Akteurskonstellationen in der Tarifpolitik einhergeht. Im Zusammenspiel von Reorganisation und gewandelten Akteurskonstellationen kommt es dann nicht nur zu einer abnehmenden Verbindlichkeit von ausgehandelten Tarifstandards und einem verringerten Vergütungsniveau der betroffenen Beschäftigtengruppen; hinzu kommt eine Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Tarifparteien sowie eine Entsolidarisierung zwischen unterschiedlichen Beschäftigungsgruppen. In der Summe deutet sich an, dass eine netzwerkförmige Reorganisation tarifpolitische Parallelwelten hervorruft, die in Widerspruch zu den etablierten, überwiegend branchenbezogen aufgebauten Institutionen der Tarifpolitik stehen, da sie die organisations- und branchenbezogene Eindeutigkeit tarifpolitischer Regelsetzung bis hin zur Tariflosigkeit auflösen.

2 Institutioneller Wandel in der Tarifpolitik

Je nach Deutung der anfangs skizzierten Befunde bewegen sich die Einschätzungen in Bezug auf den Wandel der Tarifpolitik zwischen der Erwartung eines Betriebsunitarismus (Streeck und Hassel 2003; Hassel 1999) – etwa vergleichbar der angelsächsischen Tarifpolitik – und einem Fortbestand der unternehmensübergreifenden Tarifinstitutionen trotz widriger Umstände (Silvia und Schroeder 2007). Vernachlässigt wird in beiden Perspektiven unserer Ansicht nach aber, dass eine netzwerkförmige Reorganisation der Wertschöpfung sowohl die Art als auch die Folgen des institutionellen Wandels in der Tarifpolitik beeinflusst. Kurz: Die netzwerkförmige Reorganisation der Wertschöpfung führt zu einer institutionellen Fragmentierung, die weder als radikaler Wandel noch als adaptive Kontinuität anzusehen ist. Mit Bezugnahme auf Thelen (2009) kann das Auftreten von Zwischenformen jenseits einer Dichotomie von (relativer) Persistenz und radikalem Wandel erhellt werden.

2.1 Inkrementeller Wandel von Institutionen

Kathleen Thelen (2004, 2009) verweist mit Blick auf die Diskussion um den „Varieties of Capitalism“-Ansatz (Hall und Gingerich 2009) auf Prozesse inkrementellen Wandels, die sich zwischen den Extrempunkten einer institutionellen Kontinuität und einer vollständigen De-Institutionalisierung bewegen (Palier und Thelen 2010; Thelen 2009; Streeck und Thelen 2005). Sie geht davon aus, dass Institutionen einer politischen Dynamik unterliegen, die ihre Veränderung im Zeitablauf ermöglicht (Thelen 2009). Bereits geformte Institutionen werden von einer dominanten Koalition von Akteuren gestützt; diese Koalitionen sind jedoch ihrerseits „(Re-)Formationen“ (Streeck 2009) ausgesetzt, da Interessenkonflikte fortbestehen und Akteure ihrerseits wieder an Einfluss gewinnen können, die zuvor der dominanten Koalition unterlegen waren. Aufgrund dieser politischen Dynamik ist institutioneller Wandel häufig eher inkrementell, verläuft in Zwischenformen und wirkt erst in der Kumulation verschiedener Auseinandersetzungen transformativ (Streeck und Thelen 2005).

Um die Zwischenformen institutionellen Wandels voneinander abzugrenzen, schlägt Thelen (2009) im Wesentlichen zwei Kriterien vor: erstens die Fähigkeit der dominanten Akteure, eine Veränderung der etablierten Institutionen zu verhindern (Vetoposition), und zweitens Interpretationsspielräume in Bezug auf die Anwendung der Institutionen bzw. die Durchsetzung der mit ihnen verbundenen Regelsetzung. Sind starke Vetopositionen der dominanten Akteure vorhanden und ist zugleich auch der Interpretationsspielraum in der Regelauslegung der Akteure hoch, ist eher „institutional drift“ zu erwarten, d. h. die Institutionen bleiben formal intakt, ihre Reichweite nimmt jedoch ab. Gibt es starke Vetopositionen und ist der Interpretationsspielraum gering, kommt es zu „institutional layering“, d. h. es entstehen neue Regeln neben den bereits bestehenden, die in Bezug auf Reichweite und Gültigkeit konkurrieren. Schwache Vetopositionen führen in Verbindung mit einem hohen Interpretationsspielraum zu einer „institutional conversion“, d. h. die bestehenden Institutionen werden in ihrer Gestalt modifiziert. Ist der Interpretationsspielraum bei schwachen Vetopositionen gering, kommt es zu einem „institutional replacement“, d. h. die Institution wird vollständig durch eine andere Regelung ersetzt.

In Anwendung auf die deutsche Tarifpolitik können mindestens drei Möglichkeiten des Wandels unterschieden werden: (1) im Sinne von „institutional drift“ eine adaptive Kontinuität, bei der durch Ausnutzung von Spielräumen in der Regelauslegung und -durchsetzung der Fortbestand der etablierten tarifpolitischen Institutionen erreicht wird (etwa Öffnungsklauseln in branchenweiten Tarifverträgen, die eine unternehmensbezogene Anpassung erlauben), (2) ein radikaler Wandel („institutional replacement“), bei dem im Zuge eines Zerfalls der dominanten Koalition eine einzelvertragliche Regelung der Vergütung an die Stelle der kollektiven Tarifregelung tritt (etwa Tarifflucht von Unternehmen), und (3) „institutional layering“, bei dem tariflich geregelte und tariflose Bereiche parallel existieren. Thelen (ebd., S. 482) kommt zu der Einschätzung, dass es sich beim Wandel der deutschen Tarifpolitik um „institutional drift“ in Form der Dualisierung handelt, da die gesetzlich verankerten Vetopositionen der Tarifparteien mit einem größer werdenden Interpretationsspielraum bei der Regeldurchsetzung einhergehen, wodurch sukzessive Teilbereiche aus dem Anwendungsbereich der Tarifverträge fallen, so etwa die Folge der gesetzlichen Einführung eines Niedriglohnsektors im Zuge der sogenannten Hartz-Reformen.

2.2 Ein organisationsbezogener Ansatz institutioneller (Dis-)Kontinuität

Wir halten diese Einordnung des tarifpolitischen Wandels aus einer Binnensicht der deutschen Tarifpolitik letztlich für nicht treffend genug, da sie vernachlässigt, dass die netzwerkförmige Reorganisation der Wertschöpfung interorganisationale Unternehmensstrategien hervorgebracht hat, welche eine institutionelle Fragmentierung in verschiedene tarifpolitische Parallelwelten bewirken, d. h. ein Nebeneinander unterschiedlichster Tarifregelungen. Wir unterbreiten deshalb demgegenüber den Vorschlag, die Kriterien der Vetoposition und des Interpretationsspielraumes aus einer (inter-)organisationalen Perspektive heraus zu untermauern. Denn nicht allein der unbestimmte Charakter der Institution in Bezug auf eingebaute Interpretationsspielräume und die Vetoposition der Akteure führen zu einem institutionellen Wandel. Hinzu kommt auch, dass eine mangelnde Passung zwischen einer Institution und ihren organisationalen Grundlagen Strategien der Akteure hervorruft, bestehende Regeln zu ändern oder zu umgehen (North 1990; Knight 1992). Mithin ist davon auszugehen, dass unterhalb der formalisierten Regulierung im Sinne der Gesetzeslage und darauf aufbauender Kollektivverträge die Akteure versucht sind, von den Regeln informell abzuweichen oder die Verfahren der Regelsetzung zu beeinflussen (Ortmann und Sydow 2001; Ortmann 2003).

In der Literatur zum organisationalen Institutionalismus hat sich hierfür die Rede von einer „institutional work“ eingebürgert (Lawrence und Suddaby 2006), womit die verschiedenen Praktiken gemeint sind, mit denen (kollektive) Akteure danach trachten, Institutionen zu schaffen, zu verändern, zu umgehen oder zu verhindern. Welche Strategien und Praktiken etwa die tarifpolitischen Akteure einsetzen können, hängt aber nicht zuletzt von ihren organisationsbezogenen Machtpotenzialen ab, d. h. den Unsicherheitszonen im Wertschöpfungsprozess, die von der jeweiligen Gruppe kontrolliert werden (Jürgens 1984; Crozier und Friedberg 1977). Die Arbeitnehmer verfügen beispielsweise gegenüber dem Management über erfolgskritisches Wissen oder können die Störanfälligkeit einer unternehmensübergreifenden Wertschöpfung ausnutzen (Jürgens 1984). Aus Managementsicht ist davon auszugehen, dass strategische Entscheidungen in Bezug auf die Produktionsverfahren, die Arbeitsorganisation oder die organisatorische Konfiguration der Wertschöpfung die Primärmachtpotenziale der Beschäftigten dahingehend berücksichtigen, welche Form der Arbeitskraftnutzung für das Unternehmen die höchste Stabilität der Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen bietet (ebd.) oder – und das ist ein zentraler Aspekt netzwerkförmiger Reorganisation – auf welche Weise eine Störanfälligkeit durch Delegation von Risiken reduziert werden kann (Wirth 1999, 2010).

Eine solche Erweiterung erhellt, auf welchen organisationsbezogenen Voraussetzungen tarifpolitische Vetopositionen und Interpretationsspielräume beruhen, aber auch inwieweit beide Veränderungen unterliegen. Soweit mithin organisationale Prozesse auch Prozesse institutionellen Wandels vermitteln, kommen in Bezug auf die Tarifpolitik vor allem die Unternehmensorganisation und die kollektiven Akteure (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) als Analyseeinheiten infrage. Im Hinblick auf unternehmensbezogene Prozesse kommen unter Bezugnahme auf Tünte et al. (2011) die Flexibilisierungsstrategien des Arbeitseinsatzes in Betracht, die auch jenseits von bloßer „Vermarktlichung“ tarifpolitische Parallelwelten bewirken können. Zudem ist die Ebene der überbetrieblichen Arbeitsbeziehungen in den Blick zu nehmen, und zwar die Prozesse, die die verbandsbezogene Integrationsfähigkeit der Kollektivakteure betreffen (Traxler 1995, 2007; Schmitter und Streeck 1999), welche durch ihre Weichenstellungen die tarifpolitischen Institutionen tragen, anpassen oder schwächen.

3 Tarifpolitische Parallelwelten: Industrienahe Dienstleistungen als prototypischer Fall

Wir gehen davon aus, dass sich die tarifpolitische Fragmentierung prototypisch bei industrienahen, unternehmensbezogenen Dienstleistungen wie den Facility Services, der Instandhaltung und Wartung von Anlagen und Maschinen bis hin zu sogenannten Betreiberdiensten, (Sub-)Contracting und Leiharbeit erkunden lässt. Der prototypische Charakter industrienaher Dienstleistungen ergibt sich daraus, dass sie als Ergebnis einer Herauslösung einzelner Prozessschritte aus einem vormals organisatorisch integrierten Wertschöpfungsverbund entstehen und sich zugleich in ein interorganisationales Beziehungsgeflecht einfügen, das klassische Organisations- und Branchengrenzen überschreitet (Rubery 2005; Artus 2008; Kalmbach et al. 2005). So sind die Übergänge zwischen einer leiharbeitsmäßig erbrachten industrienahen Dienstleistung, einer internen Erbringung durch eine ausgegründete Dienstleistungssparte oder einer direkten Auslagerung im Sinne eines Dienstleistungsfremdbezugs fließend und werden regelmäßig auch innerhalb desselben Unternehmens kombiniert. Spiegelbildlich stellt sich die Varietät der Geschäftsmodelle der Dienstleistungsunternehmen dar, die von rechtlich selbstständigen Dienstleistungseinheiten innerhalb von Unternehmen (sogenannten Shared Services) über spezialisierte Anbieter einzelner Dienstleistungen bis hin zu integrierten Dienstleistungsanbietern reicht.

3.1 Vorgehen, Datengrundlage und Auswertung

Um die tarifpolitische Fragmentierung empirisch zu untersuchen, nutzen wir 39 qualitativ-explorative Interviews mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern, die wir im Bereich industrienaher Dienstleistungen sowohl auf betrieblicher als auch auf überbetrieblicher (Verbands-)Ebene geführt haben (vgl. Tab. 1). Mit dem qualitativ explorativen Vorgehen sind den Befragten bewusst Freiräume geboten worden, um jeweils eigene Schwerpunktsetzungen vorzunehmen.

Tab. 1 Interviewübersicht

Im Zentrum der Interviews standen Unternehmen bzw. Unternehmenseinheiten aus den Bereichen Facility Services (FS), Arbeitnehmerüberlassung (AÜ) und Technische Dienstleistungen (TD), wobei jeweils zwei exemplarische Unternehmen einer Betrachtung unterzogen werden konnten. Für diese sechs Unternehmen wurden überwiegend die Personalverantwortlichen der Unternehmen sowie die vorhandenen Betriebsräte bzw. die zuständigen Gewerkschaftsbetreuer befragt. Zudem wurden ausgehend von den Dienstleistungsunternehmen Managementvertreter sowie Betriebsräte und Gewerkschaftsbetreuer von insgesamt sieben typischen Kundenunternehmen aus der Metall- und Chemieindustrie interviewt. Die Befragung aus der Perspektive der Kundenunternehmen zielte darauf, tarifpolitische Folgen des Fremdbezugs entsprechender Dienstleistungen zu erfassen. Dazu zählen auch Beurteilungen von Betriebsvereinbarungen zum Fremdbezug von industrienahen Dienstleistungen, von tariflichen Abkommen über den Einsatz von Leiharbeit oder von Tarifstandards für intern erbrachte Dienstleistungen. Auf der überbetrieblichen Ebene wurden pro Dienstleistungs- und Kundenbranche die vorhandenen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften befragt, um die unternehmensübergreifenden Aspekte der Tarifpolitik zu beleuchten.

Tab. 2 Auswertungsschema und Beispielzitate

Die folgende Zusammenfassung unserer Auswertung mittels der qualitativen Analysesoftware atlas.ti folgt dem skizzierten organisationsbezogenen Ansatz des institutionellen Wandels, mit dem in den Gesprächen sowohl unternehmensbezogene als auch verbandsbezogene Prozesse und deren tarifpolitische Folgen in den Mittelpunkt gerückt wurden (siehe Tab. 2 für Beispielzitate). Im Zentrum der Analyse stehen die Einschätzungen der befragten Akteure zur (Re-)Organisation der Wertschöpfung einschließlich der damit verbundenen typischen Beschäftigungsverhältnisse, zur verbandlichen (Des-)Integration im Hinblick auf die Ausbildung kollektiver Identitäten und Organisationen sowie zu den tarifpolitischen Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Tarifparteien, das Entgeltniveau und die Verbindlichkeit von Tarifregelungen.

3.2 (Re-)Organisation der Wertschöpfung: Von der integrierten zur mehrfach gespaltenen Belegschaft

Unseres Erachtens ist die netzwerkförmige Reorganisation der Wertschöpfung der auffälligste unternehmensbezogene Prozess. Als ausschlaggebend für die netzwerkförmige Reorganisation beschreibt ein Gewerkschafter (Facility Services) die strategische Ausrichtung der (Kunden-)Unternehmen, welche sich „im Prinzip […] ja über Jahre – auch gesellschaftlich gewollt – de facto auf die Kerngeschäfte zurückgezogen [haben]; deswegen ist ja der ganze Dienstleistungssektor entstanden“ (GewerkschaftFS3), der bis heute „ohne Frage ein wachsender Bereich“ (ArbeitgeberverbandTD1) sei. In dieser Einschätzung stellt sich die zunehmende Bedeutung von industrienahen Dienstleistungen als eine Folge der (Re-)Organisation der Wertschöpfung durch die Kundenunternehmen dar, was auch von den Dienstleistungsunternehmen bestätigt wird: „Die produktionsnahen Dienstleistungen [sind] ja nichts anderes als die verlängerte Werkbank, die dann Prozesse [übernehmen], die auch relativ nah am Produkt sind […]. Und wir [können] immer gleich ‚Rundum‘-Pakete für den Kunden anbieten und sagen: ‚Du konzentrierst dich auf deine Produktion, und alles was um die Produktion läuft, das kannst du uns geben‘“ (ManagementTD1). Das beobachtete Beschäftigungswachstum des industriellen Dienstleistungsbereichs ist zu großen Teilen dadurch begünstigt, dass vormals im eigenen Organisationszusammenhang erbrachte Leistungen an formal unabhängige Unternehmen vergeben werden, womit „heute viele Bereiche ‚Dienstleistungen‘ sind, die früher ein originärer, eigener Bereich eines klassischen Unternehmens waren“ (ArbeitgeberverbandTD1). Der Gesamtumfang dieser Unterauftragsvergabe an Dienstleistungsunternehmen kann bei den Kundenunternehmen bis zu 30 % der Gesamtbelegschaft ausmachen (GewerkschaftKU2).

Der Auslagerung der Dienstleistungstätigkeiten aus den Kundenunternehmen entspricht mithin eine netzwerkförmige personalpolitische Flexibilisierung, deren Gründe von einem Betriebsrat eines Kundenunternehmens wie folgt zusammengefasst wird: Die Fremdvergabe hätte „einmal einen ökonomischen Grund, um die Kernbelegschaften abzusichern – und daran sind ja auch Gewerkschaften und die Betriebsräte interessiert – und dass man solche ‚nicht-wertschöpfenden‘ Tätigkeiten fremdvergibt, auslagert, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite [gibt es] auch Arbeiten, bei denen viele Beschäftigte der Kernbelegschaft sagen: ‚Also da sind wir zu gut dafür, das wollen wir nicht machen.‘ […] Und der dritte Aspekt, der sehr eng mit Leiharbeit verbunden ist, betrifft die Absicherungen […], um Krisen, um konjunkturelle Zyklen abzupuffern. Und da nimmt man eben dann diese industriellen Reservearmeen“ (BetriebsratKU1).

Aus Gewerkschaftssicht stellt sich die bei der netzwerkförmigen Reorganisation typischerweise entstehende Drei-Parteien-Beziehung aus Dienstleistungsunternehmen, Beschäftigten und Kundenunternehmen im Arbeitskontext als problematisch heraus, da die vorhandene Identifikation der Dienstleistungsbeschäftigten mit dem Kundenunternehmen nicht von einer entsprechenden sozialen Inklusion in die Belegschaft des Kundenunternehmens begleitet ist. Die Identifikation der Dienstleistungsmitarbeiter mit dem Kundenunternehmen wird so beschrieben: „Die Menschen, die zwar bei Dienstleistungsunternehmen A beschäftigt sind, aber bei Kundenunternehmen B arbeiten, fühlen sich eher zu Unternehmen B zugehörig“ (GewerkschaftFS3). Aus Sicht des Managements wird eine solche Identifikation mit dem Kundenunternehmen sogar eingefordert, leisten die Dienstleistungsbeschäftigten, die vor Ort beim Kunden tätig sind, doch einen wichtigen Beitrag zum Unternehmenserfolg. So führt ein Managementvertreter aus, dass „der Objektleiter, der auch beim Kunden einen festen Ansprechpartner hat […], auf dieser Vor-Ort-Ebene durchaus schon einiges auch regeln [kann und darf]“ (ManagementFS1). Es spiele „oft eine große Rolle im Einsatzbetrieb, wenn da der Meister oder der Ingenieur oder der Vorarbeiter – wer auch immer da der Ansprechpartner für den Kunden ist – eine gute Beziehung zum Kunden hat, dann sind die Folgeaufträge in trockenen Tüchern“ (ArbeitgeberverbandTD1).

Obwohl also eine netzwerkförmige (Re-)Organisation Tätigkeiten aus dem vormals hierarchisch integrierten Unternehmen entlässt, bleiben diese Tätigkeiten zugleich aufeinander bezogen, indem eine ständige Interaktion zwischen den Beschäftigten der Dienstleistungsunternehmen und der Belegschaft der Kundenunternehmen stattfindet. Diese Janusköpfigkeit aus Separierung und Verbundenheit stellt eine Quelle potenzieller Lohnkonflikte dar, die sich aus dem Vergleich der Vergütungs- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten mit ähnlicher Tätigkeit, aber je unterschiedlichem Vertragsstatus speist (BetriebsratTD4; BetriebsratKU3). Die Dienstleistungsbeschäftigten sehen sich insbesondere dann als Teil der Belegschaft, wenn der Übergang zwischen einer „externen“ Dienstleistungserbringung und der Beschäftigung beim Kundenunternehmen unvermittelt vollzogen wird: „[Die Kollegen] – nun beim Dienstleistungsunternehmen – gingen durchs gleiche Tor wie am Tag zuvor, als sie noch beim Kundenunternehmen waren; und sie haben mit den gleichen Ex-Kollegen gearbeitet“ (Management FS1). Zusätzlich wird die Unzufriedenheit dadurch genährt, dass die vertraglichen Statusunterschiede der Beschäftigtengruppen in manchen Fällen auch durch eine andere Arbeitskleidung (BetriebsratKU2) oder die Separierung der Parkmöglichkeiten (BetriebsratFS3) markiert werden. Die Separierung setzt sich zudem zwischen den Beschäftigten verschiedener Dienstleistungsunternehmen fort. So hält ein Betriebsrat eines technischen Dienstleisters fest: „Wir verstehen uns immer ein bisschen als die besseren Leiharbeiter, Leiharbeiter ‚deluxe‘, weil wir tarifmäßig besser gestellt sind“ (BetriebsratTD1).

Für die Arbeitnehmervertretungen der Kundenunternehmen ist die Dienstleistungsbeschäftigung ein Dilemma, da sie die Übernahme einer Zuständigkeit für die Dienstleistungsbeschäftigten erstreiten müssen, ohne dafür im Einzelnen ein unmittelbares Mandat zu haben. Teilweise wird diese Zuständigkeit aber auch schlicht weitergereicht, ohne dass ein Adressat der Delegation zur Verfügung steht: „Also im Erstberatungsgespräch reden wir natürlich schon mit den Leuten. Am Ende des Tages muss ich sie natürlich auf ihre eigenen Betriebsräte – falls vorhanden – oder an die eigene Organisation verweisen“ (BetriebsratKU2). In anderen Fällen werden hingegen sogar gewerkschaftliche Organisationserfolge bei den Dienstleistungsbeschäftigten erzielt, weil „es dem Betriebsrat gelingt, den Eindruck zu vermitteln, dass er sich für diese Kollegen interessiert [, d. h.] sich im Rahmen seiner Möglichkeiten für sie einsetzt […] [und] nicht sagt: ‚Für dich sind wir nicht zuständig‘“ (BetriebsratKU3). Insgesamt wird deutlich, dass der Trend zur Ab- bzw. Ausgrenzung bis hin zu einer Spaltung der Belegschaft entlang einer „Hackordnung“ führt, die eine Inklusion der Dienstleistungsbeschäftigten empfindlich stören kann.

3.3 Verbandliche (Des-)Integration: Vom Vertretungsmonopol zur Konkurrenz

Mit Blick auf die überbetriebliche Ebene der Tarifpolitik ist im Feld der industrienahen Dienstleistungen zunächst von einer Vielzahl von Akteuren und Koalitionen auf beiden Seiten auszugehen, die an einer tarifpolitischen Regelsetzung beteiligt sind. Wir fassen diese Pluralisierung hier unter dem Begriff einer Heterogenisierung der Akteurskonstellation (Fligstein und McAdam 2012). In der Tarifpolitik für industrienahe Dienstleistungen zeigt sich jedoch – zumindest im Vergleich zu traditionellen Tarifbeziehungen – kein festgefügtes Feld aus Akteuren mit klar umrissenen Organisationsdomänen. Auf beiden Seiten (Verbände und Gewerkschaften) handelt es sich um einen Institutionalisierungsprozess mit ungewissem Ausgang. In diesem Prozess kommt es regelmäßig zu einer fehlenden Zuordnung der beiden Parteien, da insbesondere auf der Arbeitgeberseite nicht unbedingt ein tarifwilliger Gegenpart für die Gewerkschaften vorhanden ist, obgleich sich durchaus neue Verbände mit einer entsprechenden Branchenzuständigkeit bilden (GewerkschaftTD2).

Aus Arbeitgebersicht stellt sich die Verbändelandschaft je nach Zweig der industriellen Dienstleistungen unterschiedlich dar. Während es im Bereich Facility Services (derzeit) keinen Verband gibt, der die Aufgaben eines branchenweit agierenden Arbeitgeberverbandes wahrnimmt, sind es im Bereich der Leiharbeit (derzeit) zwei große Verbände, die sich die Vertretung aufteilen. Allerdings stellen teilweise auch etablierte Verbände Ansprüche auf eine – wenn auch partielle und zumeist unternehmensbezogene – tarifpolitische Interessenvertretung, etwa wenn im Bereich der technischen Industriedienstleistungen „die Metallindustrie das Thema industrielle Dienstleistungen auch für sich als Gesprächsklausel aufnimmt“ (ArbeitgeberverbandTD1). Jedenfalls erreicht der einzige explizite Arbeitgeberverband in diesem Segment bei weitem nicht die gesamte Branche, wenn es darum geht, ein gemeinsames, einheitliches Handeln zu organisieren: „Wir versuchen über den Arbeitgeberverband immer was zu initiieren. Das ist relativ schwierig, weil, sie müssen ja den Wettbewerber davon überzeugen: ‚Lass uns doch mal was gemeinsam machen.‘ Und wenn sie aber einen Wettbewerbsvorteil haben, da sie nicht unseren Tarif haben, dann ist es immer schwierig“ (ManagementTD1). Ein weiterer Grund für eine fehlende Integrationskraft der Verbände ist in der Pluralität der Geschäftsmodelle der einzelnen Dienstleistungsunternehmen zu erkennen, die teilweise in allen (Teil-)Branchen industrienaher Dienstleistungen operieren. Beispielsweise gibt es bei den Personaldienstleistern nicht nur die reinen Leiharbeitsfirmen, sondern auch Personalvermittler, Personalberatungen und Outsourcing- und Outplacement-Agenturen (ManagementAÜ1). Gleichzeitig bieten auch Facility-Dienstleistungsunternehmen und technische Industriedienstleister neben ihrem Hauptzweck auch einzelne Dienstleistungen in Form von Arbeitnehmerüberlassung an. Diese Varietät erschwert die tarifpolitische Interessenaggregation nach innen, aber auch die Interessenkommunikation nach außen.

Auf Gewerkschaftsseite entstehen ebenfalls Komplikationen, die sich einerseits auf Streitigkeiten über Kompetenzbereiche, andererseits auf eine organisatorische Schwäche im Sinne von (sehr) niedrigen Organisationsgraden erstrecken. Hinsichtlich der Gewerkschaftskonkurrenz zeigt sich, dass „je nachdem, aus welcher Ursprungsbranche [die Dienstleistungsunternehmen] kommen, dann auf einmal auch Gewerkschaften mit den unterschiedlichsten Stoßrichtungen aufeinandertreffen“ (GewerkschaftFS1). So zeigen sich in allen Branchen organisationspolitische Schwierigkeiten, die richtige Wahl zwischen kooperativen und konfrontativen Strategien im Umgang mit den anderen (DGB-)Gewerkschaften zu finden. In einzelnen Bereichen besteht durchaus eine Art „gesunde Konkurrenz, wo man sagt: ‚Kommt, wir schauen mal, wie kann man dieses Feld denn gemeinschaftlich bearbeiten und Strategien entwickeln‘“ (GewerkschaftFS1). Aber es gibt auch konfrontative Ansätze, bei der die „Gewerkschaften natürlich zunächst mal gucken, was [ist] mit meinen Mitgliedern, sodass man keine geschlossene gewerkschaftliche Antwort hat“ (GewerkschaftFS1). Hinzu kommt, dass sich die Gewerkschaften in solchen Konstellationen mit Organisations- und Mobilisierungsproblemen konfrontiert sehen. Aufgrund der Tatsache, dass viele dieser Dienstleistungen überwiegend einen arbeitsintensiven Charakter auf niedrigem bis mittlerem Qualifikationsniveau mit hoher Fluktuation aufweisen, fallen die Primärmachtpotenziale als Ansatzpunkte einer organisatorischen Mobilisierung gering bzw. außerordentlich heterogen aus. Diese Heterogenität erschwert es den Gewerkschaften, eine tarifpolitische Identität und Einheitlichkeit in Bezug auf die Dienstleistung selbst zu begründen.

3.4 Tarifpolitische Auswirkungen: Von der Tarifeinheit zu Parallelwelten

Mit Blick auf die Beziehungsqualität zwischen den Tarifparteien im Bereich der industrienahen Dienstleistungen kann mithin nicht überraschen, dass die Akteure überwiegend ein Spektrum der Ambivalenz beschreiben, das von „fehlenden Umgangsformen“ (GewerkschaftFS1) und „unterentwickeltem Bewusstsein“ (GewerkschaftTD2) bis hin zum „Über-Bord-Werfen jeglicher Mitbestimmungstradition“ (GewerkschaftFS3) und einem „ruppigen Umgang“ (GewerkschaftFS1) reicht. Generell müsse man in diesen Bereichen „durchaus Spaß an der Konfrontation haben [und] auch nicht […] die Auseinandersetzung mit vielen Gruppen [scheuen]“ (ManagementAÜ3). „Traditionell gewachsene Strukturen“ (BertriebsratTD2) der Aushandlung kommen nur als Ausnahmeerscheinung vor. So sind Tarifbeziehungen im Gegensatz zu den eingespielten Verhandlungsmustern eher von einem wiederholten Wechsel zwischen Konflikt und vorübergehender Einigung geprägt. Beredtes Beispiel ist hierfür die Personaldienstleistung, wo sich die DGB-Gewerkschaften zur tarifvertraglichen Regelung einer in der Mitgliedschaft nur wenig akzeptierten Form der Arbeitserbringung gezwungen sehen, solange sie keine (Re-)Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung durch den Gesetzgeber erreichen können.

Das Tarifniveau ist im Bereich industrienaher Dienstleistungen grundsätzlich niedriger als in den Ursprungsbranchen der Dienstleistungen bzw. im Vergleich zu den Kundenunternehmen. Aus Gewerkschaftssicht ist dieses Gefälle nur schwer zu überwinden, da „die Kunden in der Dienstleistungsbranche immer erwarten, dass sie die ausgelagerten Dienstleistungen […] am Ende billiger bekommen, weil das letztendlich Teil der gesamten Outsourcing-Strategie ist. Und deshalb [unterliegen] die Einkommen in der Dienstleistungsbranche einem ganz anderen Druck als in einem produzierenden Unternehmen“ (GewerkschaftTD2). Zugleich verbinden die Gewerkschaften der Kundenbranchen mit der Unterauftragsvergabe an Dienstleistungsunternehmen ein „Downsizing von Tarifbedingungen“ (GewerkschaftFS2). Es entsteht die Situation, „dass die gleichen Leute, die früher im Automobil[bereich] waren, dann diese Tätigkeiten weiter machen, aber zu anderen Bedingungen beim Logistiker“ (GewerkschaftAÜ2). Von Management- und Verbandsseite wird demgegenüber die Höhe der Tarife in den Ursprungsbranchen dafür verantwortlich gemacht, dass die Dienstleistungsarbeit „wegtarifiert“ wurde und speziell Einfachtätigkeiten nicht mehr in den Tarifstrukturen der Ursprungsbranchen gehalten werden können: „Man kann […] jetzt Halle fegen nicht mit dem Metalltarif entlohnen. Geht nicht. Ich brauche also eine andere Lohnstruktur. Aber das führt dazu, dass relativ viele Dienstleistungen und Tätigkeiten unter das Niveau des Metalltarifs fallen“ (ManagementAÜ2).

Jenseits des Problems des Niveaus der Vergütung entsteht aber unter dem Regime der netzwerkförmigen Reorganisation vor allem eine Situation der Regelambiguität, in der ähnliche Arbeiten und Tätigkeiten ganz unterschiedlich tarifiert werden. In den tarifpolitischen Parallelwelten der industrienahen Dienstleistungen erodiert aber auch die Verbindlichkeit der traditionellen Regelsetzung über branchenweite Tarifverträge. Dazu ein Beispiel aus der Leiharbeit: Die jüngst zwischen den Gewerkschaften einzelner Kundenbranchen und den Zeitarbeitgebern ausgehandelten Zuschlagstarifverträge (bislang Chemie-, Metall- und Elektroindustrie, Kunststoffe, Textil, Papierverarbeitung, Druck, Schienenverkehr), in denen nach einem Stufen-Modell entlang von Einsatzzeiten eine schrittweise Annäherung der Vergütung der Leiharbeiter an die Entgelte der Stammbelegschaften geregelt wird (BAP/IGZ 2013), treten neben die Regelungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG), die Verträge der Tarifgemeinschaft des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) mit der Verhandlungsgemeinschaft Zeitarbeit (VGZ) sowie die gesonderten Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen in einigen Ursprungsbranchen. Das ist eine Komplexität, die in dieser Form in traditionellen branchenmäßigen Tarifwerken nicht vorkommt. Die Folge ist eine mangelnde bzw. unklare Verbindlichkeit von Tarifstandards, da sich keine brancheneinheitlichen Tarifverträge durchsetzen. Im Bereich der technischen Dienstleistungen führt ein Arbeitgebervertreter hierzu aus: „Wir haben relativ schnell festgestellt, dass […] mit einem einheitlichen Tarifwerk, was flächendeckend für die gesamte Bundesrepublik gilt, […] wir relativ schlecht zurechtkommen. [Im Prinzip müssen] wir [uns] bei jedem Mitglied […] die Besonderheiten des Unternehmens ansehen. Und insofern dann auch tarifrechtliche, tarifvertragliche Abweichungen vereinbaren“ (ArbeitgeberverbandTD1).

Aus Gewerkschaftssicht stellt sich die unter diesen Bedingungen typische Fragmentierung tarifpolitischer Regelsetzung so dar: „Es ist eigentlich eine Atomisierung im Prinzip, weil, die Unternehmen […] kommen ja aus Ursprungsbranchen, die sehr gefesselt sind in der Tarifpolitik, […] und mit dem Rausbrechen ist das auf einmal alles weg. Ganz wenige Unternehmen setzen bei Outsourcing-Projekten die Tarifbindung fort, in der Regel [ist] bei einem Betriebsübergang […] die Tarifbindung gekappt. Der Betriebsübergang führt dazu, dass die Leute zwar ihre Bedingungen mitnehmen, aber statisch. Und eine Verbandsbindung gibt es nicht mehr und auch nicht die Kopplung an Firmentarifverträge“ (GewerkschaftFS1). Die Folge ist, dass ein Teil der Beschäftigten dann „nicht nach dem Tarifvertrag der [Ursprungsbranchen arbeitet]. Daneben arbeitet aber ein Logistiker, der baut vielleicht irgendwelche anderen Teile zusammen, der nach dem Logistiktarifvertrag bezahlt [wird], und dann noch ein Zulieferer, der nicht einmal nach einem Tarifvertrag [zahlt]“ (GewerkschaftFS2). Hinzu kommt die Nutzung von Werkverträgen, die „immer mehr in diesen Niedriglohnbereichen [auftauchen], und das ist das große Problem, weil da dann sozusagen wilde Tarifflucht herrscht und man das nicht eingefangen bekommt“ (GewerkschafterKU2). Zusätzlich zu dieser „wilden Tarifflucht“ kommt eine geordnete Variante hinzu, da es „irgendwann einen Hype gegeben [hat], dass die Unternehmerverbände angefangen haben, ihre Satzung zu ändern, oder neue Verbände gegründet haben, wo man Mitglied werden konnte, ohne in der Tarifbindung zu sein“ (GewerkschaftTD2). Insgesamt kommt es regelmäßig dazu, dass in einem Wertschöpfungszusammenhang eine Vielzahl von Tarifregelungen bis hin zu freien Vereinbarungen und vollkommen tariflosen Bereichen existieren (BetriebsratFS1). Einige Unternehmen versuchen zwar, zumindest für sich einheitliche Tarifstrukturen mit den Gewerkschaften zu definieren, um eine „beliebig komplexe“ Tariflandschaft zu vermeiden (ManagementFS1). Andere Unternehmen versuchen hingegen, in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Tarifniveaus zu etablieren (BetriebsratTD1).

4 Quo vadis Tarifpolitik?

Aus theoretischer Perspektive erweist es sich unseres Erachtens als sehr fruchtbar, den institutionellen Wandel auf einer Makroebene mit Veränderungen auf der Mikroebene dadurch in Verbindung zu bringen, dass die organisationsbezogenen Prozesse auf einer Mesoebene betrachtet werden. Auf diese Weise werden jüngste Fortentwicklungen institutioneller Theoriebildung bestätigt, die den wechselseitigen Einfluss des strategischen Handelns in verschiedenen Arenen auf die Veränderung von Institutionen betonen (Flig­stein und McAdam 2012). Hinsichtlich der Entwicklung der deutschen Tarifpolitik kann auf dieser theoretischen Grundlage der institutionelle Wandel als Fragmentierung in tarifpolitische Paralellwelten eingeordnet werden, der zugleich von einem formalen Fortbestehen der tarifpolitischen Kerninstitutionen auf der Makroebene staatlicher Regulation und einer starken Regelkonkurrenz auf der Mikroebene des Arbeitskontextes gekennzeichnet ist. Die qualitativ-explorative Untersuchung der industrienahen Dienstleistungen erhellt in diesem Zusammenhang, auf welche Weise mit einer netzwerkförmigen Reorganisation der Wertschöpfung vormals tarifvertraglich einheitlich geregelte Tätigkeiten in ein tarifpolitisches Niemandsland verschoben werden, in dem verschiedene Vergütungsstandards bis hin zur Tariflosigkeit für vormals organisational integrierte Belegschaften gelten. Es wird zudem erkennbar, dass sich diese Vergütungsstandards gleichzeitig traditionellen branchenmäßigen oder unternehmensbezogenen Geltungsbereichen entziehen und dennoch mit ihnen überschneiden. Auf diese Weise unterminiert die tarifpolitische Fragmentierung die Herstellung von Verbindlichkeit bei der tarifpolitischen Regelsetzung, und zwar über die Uneindeutigkeit hinaus, die Regeln ohnehin innewohnt (Ortmann 2003). Darüber hinaus wirkt sich eine tarifpolitische Fragmentierung der Belegschaft auch auf die Statusordnung der Belegschaften aus, da sie formale Statusbarrieren zwischen verschiedenen Beschäftigungsgruppen errichtet, obwohl sich deren Tätigkeitsschwerpunkte im Arbeitskontext wenig ändern.

Unserer Ansicht nach deuten diese Befunde darauf hin, dass wir es im Falle der deutschen Tarifpolitik mit einem besonderen Typus institutionellen Wandels zu tun haben, der sich anhand der organisationsbezogenen Prozesse, aber auch hinsichtlich der tarifpolitischen Auswirkungen von den bisher in der Literatur diskutierten anderen Typen des tarifpolitischen Wandels abgrenzen lässt (vgl. zusammenfassend Tab. 3). Ein radikaler Wandel, in dem die kollektiven Institutionen komplett durch eine unitaristische Betriebspartnerschaft verdrängt werden, ist aus unserer Sicht nicht zu erwarten. Zwar werden die verbandlichen Voraussetzungen einer branchenbezogenen Tarifpolitik in Mitleidenschaft gezogen, wenn die Kollektivakteure eine abnehmende Integrationskraft und eine mangelnde tarifpolitische Identitätsbildung vorweisen können. Es kommt aber eben nicht zu einer reinen Unternehmensindividualisierung der Tarifpolitik, was seinerseits insbesondere die Gewerkschaften vor das Dilemma stellt, dass sie einen Rückgang ihrer tarifpolitischen Durchsetzungskraft erfahren, aber keinen eindeutigen Strategieschwenk in Richtung des sogenannten betrieblichen und unternehmensbezogenen „Häuserkampfes“ einleiten können.

Tab. 3 Institutionelle Fragmentierung im Vergleich

Zugleich unterscheidet sich eine institutionelle Fragmentierung auch von einer adaptiven Kontinuität, da sie ein größeres transformatives Potenzial aufweist, welches sich aus verschiedenen organisationsbezogenen Prozessen auf Unternehmens- und Verbandsebene speist, die tarifpolitische Parallelwelten befördern. Auch wenn sich die Verbände transformieren, indem sie der janusköpfigen Gestalt der netzwerkförmigen Wertschöpfung dadurch Rechnung tragen, dass sie eine programmatische Reorientierung in tariflose und tariflich gebundene Teilsegmente ihrer Mitgliedschaft vornehmen (Behrens 2011), um den verbandlichen Zusammenhalt vor Auflösung zu schützen, hat die damit bewirkte Heterogenisierung der Akteurskonstellation auf beiden Seiten einen Preis: eine wechselhafte Verhandlungsbeziehung zwischen Konflikt und bloß vorübergehender Einigung, die mit einer mangelnden Verbindlichkeit von Tarifstandards einhergeht.

Anhand unseres Beispiels der industrienahen Dienstleistungen argumentieren wir, dass die mittelfristige Folge einer netzwerkartig strukturierten Wertschöpfung hauptsächlich die ist, dass mehrere Welten von tariflichen Standards nebeneinander bestehen, d. h. Branchentarifverträge der Dienstleistungsunternehmen und Kundenunternehmen, einzelne Haustarifverträge oder keine Tarifvertragsbindung, wo zuvor ein branchen- oder unternehmensbezogenes Tarifwerk Anwendung gefunden hätte. Zentral hinsichtlich des institutionellen Wandels ist dabei die Beobachtung, dass es zu einer oberflächlichen Kontinuität formaler Institutionen kommt, obgleich die Regeldurchsetzung auf der Mikroebene nicht gelingt. Diese Fragmentierung in tariflose Parallelwelten schließt mithin Segmente der Unternehmenslandschaft ein, in denen die traditionelle Tarifpolitik – wenn auch in flexiblen Formen – noch überwiegt. Das unterscheidet Fragmentierung deutlich von der Erwartung einer vollständigen De-Institutionalisierung. Die Fragmentierung bewirkt aber auch, dass etablierte Regeln, die als normative Grundlagen einer branchenmäßigen Tarifpolitik gelten – etwa „Ein Unternehmen, ein Verband“, „Verbandsmitglied = Tarifbindung“, „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ –, bei netzwerkförmig organisierter Wertschöpfung nur eingeschränkt greifen. Auf diese Weise wird Fragmentierung dort von Regelungskonkurrenz begleitet, wo vorher klar abgegrenzte Verbandsmonopole auf die Regelung der Tarifbedingungen gegolten haben. Bei Wegfall klar umrissener Verbandsdomänen, fehlenden oder unausgereiften Branchenidentitäten, verstärkt durch das Fehlen komplementärer, identitätsstiftender Institutionen (wie etwa formaler Qualifikationen) und durch eine partielle Entsolidarisierung der Beschäftigten, schwinden die Verhandlungsgrundlagen für die Definition einheitlicher Standards; deren Verbindlichkeit wird in eine Regelambiguität und Regelkonkurrenz aufgelöst.

So lässt die mit einer netzwerkförmigen Reorganisation verbundene Grenzüberschreitung tarifpolitischen Raum für ein komplexes Gemisch aus vielfältigen Konfliktlinien und Kompromissen der beteiligten Akteure, die in mitunter variablen Akteurskonstellationen in unterschiedlichen Aushandlungsprozessen zu heterogenen Zwischenlösungen gelangen. Mit Blick auf den institutionellen Wandel schließt dies Zwischenlösungen ein, wie sie in Öffnungsklauseln in Flächentarifen, Betriebsvereinbarungen, betrieblichen Bündnissen sowie Haustarifverträgen (Massa-Wirth und Seifert 2004; Rehder 2003; Oechsler und Reichmann 2002; Bispinck 1997) zum Ausdruck kommen. Diese Zwischenlösungen werden von wechselnden, instabilen und konkurrierenden Koalitionen getragen, die über Branchen- und Unternehmensgrenzen hinweg reichen. Zugleich werden zusehends die Rechtsprechung und der Staat in die Festsetzung von Lohnuntergrenzen involviert, was die bislang als elementar erachtete privatautonome Regelsetzung der Sozialpartner erschwert. Die Aufwertung staatlicher Regulation liegt auch darin begründet, dass sich bislang im Umgang mit dieser Fragmentierung noch keine einheitlichen Strategien der Tarifparteien durchgesetzt haben, zumal die fortgesetzte Auslagerung einzelner Tätigkeiten immer neue Spielräume für eine Fragmentierung schafft, da jedes Mal die Frage auftaucht, wie sich die entstehenden Unternehmen tarifpolitisch aufstellen.

Die tarifpolitische Fragmentierung kann mittel- bis langfristig eine erhebliche Einschränkung der Wirksamkeit des übergeordneten tarifpolitischen Institutionengefüges bewirken, das als „Tarifautonomie“ durch Tarifvertragsgesetz, praktische Übung und Richterrecht etabliert worden ist, obgleich ein schrumpfender Kernbereich durch vordergründige Stabilität gekennzeichnet ist. Zudem ist die Gefahr, dass sich tariflose Zustände in den industrienahen Dienstleistungsbranchen verfestigen und dadurch auch die schrumpfenden Kernbereiche einer traditionellen Tarifpolitik in den Kundenbranchen in Mitleidenschaft gezogen werden, nicht von der Hand zu weisen. Unseres Erachtens ist diese Fragmentierung nicht bloß vorübergehender Natur, sondern verweist auf die zahlreichen ungelösten Herausforderungen, die eine netzwerkförmige Reorganisation für die tarifpolitischen Akteure bereithält. Allerdings bedeutet eine netzwerkförmige Organisation der Wertschöpfung auch nicht das Ende einer politischen Gestaltung von Arbeitsbedingungen (dazu schon Sydow und Wirth 1999). Die Frage ist allerdings, ob und wie es den Akteuren einer traditionellen Tarifpolitik – Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und dem Gesetzgeber – auf dem Verhandlungswege gelingt, die tarifpolitischen Institutionen auf eine netzwerkförmige Reorganisation auszurichten, um in die Entstehung von tarifpolitischen Parallelwelten zu intervenieren, und zwar nicht zuletzt auch mit dem Ziel, die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten der betroffenen Beschäftigten wiederherzustellen.

Danksagung

Einen besonderen Dank möchten wir unseren Interviewpartnerinnen und -partnern für ihre Gesprächsbereitschaft sowie der Hans-Böckler-Stiftung für die finanzielle Förderung des Projektes „Tariflosigkeit auf dem Weg zum Normalzustand?“ (Fördernummer 2011-466-2) aussprechen.