1 Einleitung

Am 8. Juli 2011 berichtete die Financial Times über einen schwelenden Konflikt zwischen Italiens Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und Finanzminister Gulio Tremonti. Die Redakteure sahen Berlusconis in einem Interview geäußerte Kritik an Tremonti als Auslöser für die darauf folgende „nervöse“ Reaktion der Finanzmärkte – die Sekundärmarktzinsen auf italienische Staatsanleihen und Preise für Ausfallversicherungen waren in die Höhe geschnellt. Die Berichterstattung der Financial Times zeigt ein im Zusammenhang mit der europäischen Schuldenkrise wiedererkennbares Moment: Ähnliche Berichte, die Aussagen von Politikern in den Zusammenhang von Preisentwicklungen auf Finanzmärkten stellen, lassen sich ohne Schwierigkeiten finden. Allerdings haben solche Expertisen darüber, wie politische Ereignisse im Spiegel der Märkte zu bewerten sind, ihren primären epistemischen Ort nicht in Zeitungsredaktionen. Diese popularisieren vielmehr ein vor allem auf Finanzmärkten und von Finanzexperten produziertes Bewertungswissen. Ihre Expertise fungiert einerseits als Dienstleistung für Marktteilnehmer: Bewertungen sollen helfen, Risiken und Chancen von Investitionen abzuschätzen. Politik wird bewertet, weil es für den Wert und die Risiken von Staatsschuldentiteln ein entscheidender Faktor ist. Andererseits deuten gerade massenmediale Popularisierungen finanziellen Wissens darauf hin, dass es eine kulturelle Signifikanz besitzt (Vogl2010): Es existiert als gesellschaftlich verfügbare diskursive Struktur, die heterogene Ereignisse, die von makroökonomischen Statistiken über die Ankündigung staatlicher Maßnahmen bis hin zu verstreuten Äußerungen von Politikern reichen, unter Aktivierung bestimmter Begriffe und Konstellationen deutbar macht (Vollmer2011a). Finanzielles Bewertungswissen ist ein, wenn nichtdas hegemoniale Register, in dem über Schuldenkrisen gesprochen wird.

Auch wenn die politischen und ökonomischen Folgen von Bewertungen, die vor allem unter dem Begriff der „Finanzialisierung“ (Davis2009; Krippner2005) verhandelt werden, von großem soziologischem Interesse sind, konzentriert sich der vorliegende Artikel zunächst auf die Herstellung und den Inhalt von finanziellen Bewertungen. Er knüpft damit an Forschungen der neueren Finanzmarktsoziologie an (Kalthoff2009; Knorr Cetina und Preda2005; MacKenzie2009). Patrik Aspers (2007) hat den Begriff des Bewertungswissens für die allgemeine Wirtschaftssoziologie prominent gemacht. Seine marktsoziologische Ausgangsfrage ist, wie Teilnehmer Entscheidungsprobleme in einem Marktkontext lösen. Märkte, so die Antwort, verfügen über geteilte soziale Konstrukte zur Bestimmung der Werte von Produkten (Beckert2009). Aspers nennt zwei Varianten solcher sozialen Konstrukte: Produktstandards und Statusordnungen unter den Marktteilnehmern. Während Produktstandards, wie etwa Klassifikationen von Materialien, Zertifizierungen etc., personenunabhängige Bewertungen ermöglichen, orientieren sich Bewertungen in Statusmärkten an den relationalen Positionen der Produzenten und Konsumenten. So sinnvoll diese Differenzierung unterschiedlicher Marktordnungen und Bewertungstypen ist, so unzulänglich ist sie allerdings für Finanzmärkte. Zunächst einmal fällt bei Finanzmärkten die Vielzahl und Diversität von Experten auf, die spezialisierte Bewertungsarbeit leisten. Zudem scheinen zwei Aspekte finanzieller Bewertungen besonders relevant und spezifisch: Preise auf dem Finanzmarkt sind nicht nur Ausdruck von Bewertungen, sondern werden selbst wiederum als Bewertungen beobachtet, die dann Bewertungsrevisionen provozieren. Diese Reflexivität verhindert, dass Standards zur Einordnung der Qualität einer Investition, etwa Ratings, von Statuszuschreibungen durch die Marktteilnehmer zu trennen sind (Langenohl2011). Wichtiger noch ist, dass Finanzmärkte ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu Bewertungen aufweisen, weil ihre Bewertungen nicht allein marktinterne Koordinationsfunktionen erfüllen, sondern oftmals als die wesentliche Leistung dieser Märkte für Volkswirtschaften betrachtet werden (Levinson2006, S. 2).

Die neuere Finanzmarktsoziologie hat bislang finanzielles Bewertungswissen als spezifische Wissenskultur rekonstruiert sowie seine performativen Effekte in Bezug auf Märkte und ihre Umwelten zu eruieren versucht. MacKenzie (2011) führt beispielsweise den Begriff der „clusters of evaluation practices“ ein, um die Arbeit von Analysten in Banken und Rating-Agenturen bei der Bewertung von komplexen Derivaten (Collaterized Debt Obligations von Asset Backed Securities – ABS CDOs) vor der US-Immobilienkrise zu beschreiben. MacKenzie macht evident, dass es zur Analyse von Bewertungspraktiken nicht ausreicht, von einem mehr oder weniger akuten Handlungs- bzw. Entscheidungsproblem der Teilnehmer auf einem Markt auszugehen, sondern dass zumindest zwei Problemkomplexe beachtet werden müssen: Erstens wird Bewertungswissen zumeist von Experten und Spezialisten erzeugt, deren Arbeit getrennt von direkten Markthandlungen institutionalisiert ist. Diese Experten und Spezialisten verfügen über eigene Ontologien, Wissenspraktiken und organisationale Routinen. Zweitens verfügt das über isolierte Erfahrungen und spezifische Entscheidungsprobleme hinausgehende, sich um Bewertungszusammenhänge spannende Wissen über eigene Strukturen und Pfadabhängigkeiten. MacKenzie spricht z. B. von Kreditratings als „governance“ (ebd., S. 10). Der Begriff deutet an, dass diese Bewertungen nicht allein Einschätzungen von Ausfallwahrscheinlichkeiten für handelnde Marktteilnehmer, sondern strukturell verankerte Steuerungsmechanismen sind (Strulik2004).

Der vorliegende Aufsatz wendet sich der Wissenspraktik von Analysten und der von Analysten erzeugten sozio-kognitiven Infrastruktur zu (Beunza und Garud2005,2007; Knorr Cetina2011; Mars1998; Preda2007; Wansleben2011b; Zuckerman1999). Analysten sind auf bestimmte Märkte, Instrumente oder Sektoren spezialisierte Finanzexperten; sie werden von Organisationen (Banken, Investmentfonds etc.) beschäftigt, die zumeist direkte Teilnehmer auf Finanzmärkten sind. Die Produkte der Analysten bestehen in täglichen Berichten und ausführlichen Analysen sowie mündlichen Beratungen, die sich an Kunden,peers und die mediale Öffentlichkeit richten. Um die Wissenspraxis der Analysten und ihre Erzeugnisse zu fassen, wird von dem Begriff der „kalkulativen Rahmung“ ausgegangen. Beunza und Garud (2005,2007) haben dieses Konzept in Bezug auf die Aktienanalyse entwickelt. Ihr Ansatz verortet Analysten in einem epistemischen Raum zwischen willkürlichen Einschätzungen („undercalculative view“) und selbstevidenten Kalkulationen („overcalculative view“). Kalkulative Rahmung wird also nicht im engen Sinne einer rein numerischen Rechnung verstanden, sondern schließt all jene zum Teil sprachlichen, zum Teil numerischen Operationen ein, die das „In-Erwartung-Stellen“ eines finanziellen Objekts (Firma, Staat etc.) möglich machen (Kalthoff2005). Der Rahmungsbegriff impliziert außerdem, dass Analystenberichte nicht primär Vorhersagen beinhalten, sondern Wissensstrukturen darstellen, die Investoren, aber auch anderen Akteuren ermöglichen, einen Strom heterogener Informationen über ein finanzielles Objekt in Kategorien finanzieller Bewertung zu übersetzen. Theoretisch wird der Ansatz von Beunza und Garud erweitert, indem neben der innovativ-kognitiven die legitimierende und stabilisierende Funktion kalkulativer Rahmungen betont wird.

Empirisch betritt der Artikel Neuland, weil er die kalkulativen Rahmungen von Staatsschulden untersucht. Dieses neue Untersuchungsfeld einer wissenssoziologischen Finanzmarktforschung kann erhebliche Relevanz beanspruchen.Footnote 1 Denn beim Markt für Staatsschulden handelt es sich einerseits um einen wachsenden, globalen MarktFootnote 2, der sich aufgrund der ansteigenden Schuldenlast entwickelter Ökonomien (z. B. Japan, USA, Europa) in einem Veränderungsprozess befindet: Die Schulden dieser Länder sind heutzutage nicht mehr risikofrei, sondern differenziert bewertete Zahlungsversprechen. Andererseits kann man Finanzmarktprozesse nicht als Spiegel makroökonomischer Veränderungen beschreiben. Die ökonomische Theorie etwa geht davon aus, dass Schuldenkrisen unter anderem aus selbsterfüllenden Prophezeiungen der Marktakteure resultieren (Cole und Kehoe2000). Es stellt sich im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes die Frage, welche Rolle Analystenberichte und die darin entwickelten kalkulativen Rahmungen für solche Krisenprozesse spielen. Es wird von der These ausgegangen, dass die Funktion kalkulativer Rahmungen nicht in der Erzeugung von Krisen, sondern in ihrer Stabilisierung liegt. Krisendynamiken werden in legitime Modellierungen und Bewertungskategorien übersetzt und damit sowohl für Marktteilnehmer als auch weitere Akteure zu kalkulierbaren, gerahmten Ereignissen. Diese Sichtweise betrachtet Analysten als von unmittelbaren Marktteilnehmern unterscheidbare Experten und hebt ihre spezifische Rolle in Krisensituationen hervor (Vollmer2011b, S. 4 ff.). Als Fallbeispiel wird die griechische Staatsschuldenkrise ausgewählt, weil hier die Produktion kalkulativer Rahmungen im Kontext eines dramatischen Krisenverlaufs beobachtet werden kann. Die Zinsen auf griechische Staatsschulden waren lange Zeit innerhalb einer sehr engen Spanne an die Zinsen anderer Eurostaaten gebunden. Seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise stiegen sie deutlich an. Mit Beginn des Jahres 2010 kam es dann zu einer Schuldenkrise: Der Staat legte nach und nach das eigentliche Ausmaß von Verschuldungen und Defiziten offen, und die vom Markt verlangten Zinsen auf griechische Titel stiegen so weit an, dass eine Refinanzierung Griechenlands am Markt unmöglich wurde. Der griechische Finanzbedarf wird seit Mitte 2010 durch die Europäische Union und den Internationalen Währungsfonds gedeckt. Im Zeitraum von Anfang 2010 bis Mitte 2011 lässt sich beobachten, wie für Griechenland Krisenrahmungen entwickelt werden und wie sie sich sukzessive zu einer Sichtweise verdichten, der zufolge Griechenland de facto insolvent ist – eine Sichtweise, die sich bis dahin weder unter politischen Akteuren durchgesetzt hat noch in Kreditratings reflektiert ist. Diese Bewertungen erfüllen verschiedene Funktionen: Zum einen werden nach wie vor auf dem Sekundärmarkt Preise generiert, wodurch sich bewertbare Profitchancen und -risiken für Marktteilnehmer ergeben. Unabhängig von dieser konkreten Bewertungsproblematik kann man jedoch auch das Entstehen kalkulativer Rahmungen beobachten, die weit über die Artikulation von Marktpreiserwartungen hinausgehen. So rahmen Analysten staatliche Hilfsmaßnahmen, die griechische Konsolidierungspolitik etc. Sie nehmen also als beobachtende Experten am Krisenmanagement selbst teil.

Abschnitt 2 geht auf den Begriff der kalkulativen Rahmung ein, erweitert ihn theoretisch und stellt erste Bezüge zu Schuldenmärkten und Schuldenkrisen her. Abschnitt 3 führt die Methodik aus, wie die kalkulativen Rahmungen von Staatsschulden identifiziert wurden. Abschnitt 4 führt eine Analyse von Analystenberichten durch, die während der griechischen Schuldenkrise veröffentlicht wurden. Der Beitrag schließt mit einer Rückbindung der empirischen Ergebnisse an das Konzept der kalkulativen Rahmung als finanzielles Bewertungswissen. Der Schwerpunkt liegt auf einer Diskussion der Implikationen für zukünftige wissens- und diskurssoziologische Forschungen.

2 Bewertung als kalkulative Rahmung: Theoretische Erweiterungen und empirische Spezifikationen

Der folgende Abschnitt führt den Begriff der kalkulativen Rahmung von Beunza und Garud (2005,2007) ein, erweitert ihn konzeptuell und fragt danach, wie er auf Bewertungsprozesse von Staatsschuldenkrisen angewendet werden kann.

Beunza und Garud (2005,2007) konzeptualisieren mit dem Begriff der kalkulativen Rahmung die Arbeit von Aktienanalysten als intermediäre Experten auf Finanzmärkten. Sie betrachten Rahmung in einem ersten Schritt als spezialisierte Wissensarbeit der Analysten, die sich dem Problem des Kalkulierbarmachens unter Unsicherheit widmet. Die Autoren zeigen, dass Analysten Berechenbarkeit erzeugen, indem sie Firmen mit anderen Firmen analogisieren, sie nach Branchen klassifizieren und nach bestimmten Kennzahlen schätzen: „We denote by calculative frame the internally consistent network of associations, including (among others) categories, metrics, analogies, that produce the necessary estimates which go into the valuation of a company“ (Beunza und Garud2005, S. 26). Anhand der „coverage“ von Amazon.com durch verschiedene Internetanalysten in den Jahren 1999 bis 2000 wird die Entscheidungsgeladenheit kalkulativer Praktiken sichtbar (vgl. auch Mars1998). Die Entscheidungen der Analysten beziehen sich dabei nicht primär auf Modellierungen (diese werden meist konventionell verwendet), sondern auf die Schätzungen, die in die Berechnungsmodelle eingehen. Schätzungen treffen die Analysten nicht willkürlich, sondern durch die Wahl von Analogien und Kategorisierungen. So beruhte die Bewertung der Firma Amazon.com durch den Internetanalysten Henri Blodget im Dezember 1998 (geschätzter Wert pro Aktie: 400 $) auf einer Schätzung der zukünftigen Einkünfte im Vergleich zu anderen Internetfirmen; die Umsatzrendite schätzte Blodget auf Basis eines Vergleichs mit Dell Computers. Blodgets Kollege Jonathan Cohen kam zu einer gänzlich anderen Bewertung (50 $ pro Aktie), weil er sowohl die Einkünfte als auch die Umsatzrendite von Amazon.com mit anderen Buchhändlern verglich. Kalkulative Rahmungen sind also komplexe Wissenskonstrukte, die sprachliche mit numerischen Operationen verbinden und auf diese Weise Bewertungen ermöglichen. Der von Beunza und Garud diskutierte Fall Amazon.com ist auch deshalb so interessant, weil die Konstruktivität dieser Operationen anhand der Disparität der daraus resultierenden Bewertungen besonders offensichtlich ist: Die unterschiedlichen Bewertungen von Blodget, Cohen und anderen Analysten blieben über einen Zeitraum von mehreren Jahren bestehen.

In einem zweiten Schritt betrachten Beunza und Garud dann die Frage, wie kalkulative Rahmungen als sozio-kognitive Infrastrukturen, also als Instrumente zur „cooperation in maintaining expectations“ (Goffman1983, S. 5) fungieren. Beunza und Garud (2005,2007) interpretieren Märkte als Wettbewerbe zwischen konkurrierenden Rahmungen. Rahmungen beeinflussen also Marktentscheidungen, indem sie Aufmerksamkeiten und Deutungsmuster für Unternehmen regulieren (s. auch Zuckerman1999,2000,2004). Die Autoren betonen insbesondere die Funktion von Rahmungen in der Verarbeitung neuer Informationen (regelmäßige Firmenberichte, konjunkturelle Entwicklungen etc.).Footnote 3 Investoren deuten diese Informationen, indem sie hegemoniale Rahmungen mobilisieren und bestätigen oder zugunsten alternativer Rahmungen verwerfen.Footnote 4 Zugespitzt formuliert gehen Beunza und Garud davon aus, dass Rahmungen Preise „performieren“ (MacKenzie und Millo2003). Das Problem dieser Sichtweise ist allerdings, dass sie die Bedeutung konsistenter Kalkulation und damit auch die Bedeutung von Analysen für Investoren tendenziell überschätzt. Meine eigene Forschung zur epistemischen Praxis von Analysten zeigt jedenfalls, dass es empirisch plausibler ist, von einer relativ losen Kopplung zwischen Analystenwesen und Marktentscheidungen auszugehen und die stabilisierenden und legitimierenden Funktionen kalkulativer Rahmungen in den Vordergrund zu rücken. So äußerte ein Analyst während eines Interviews:

„Wir haben den Auftrag, eine Prognose zu liefern, diefundamental basiert ist. Und ein einzelner Indikator […], der vielleicht nicht erwartungsgemäß rauskommt und der vielleicht sehr, sehr negativ ist, der kann eigentlich nicht die längerfristige Prognose ändern. Also, wir haben ja auch den Auftrag irgendwie, wie soll ich sagen,robuste Ergebnisse zu liefern. Und wir können nicht sagen heute, wir erwarten 2009 ein brasilianisches Wirtschaftswachstum bei fünf Prozent, und dann kommt ein Indikator raus, der vielleicht den Anfang von einer Trendumkehr bedeutet, aber wir können da nicht sagen, jetzt erwarten wir eine Rezession in Brasilien. Also, das geht nicht. Wir brauchen schonmehr als ein Datenpunkt, um nachhaltig unsere Prognose zu ändern. Und der Markt ist aber so, dass er bei einem negativen Datenpunkt anfängt, die Situation schlechter einzupreisen, und bei jedem weiteren deutlich schneller, und dann ist man als Analyst auch in gewisser Weise oftmals, wie man dann so sagt, ‚behind the curve‘, alsodem Markt hinterher. Das ist leider so.“ (Hervorhebungen L.W.)

In der Darstellung des Analysten ist die zeitliche Abfolge von Analyse und Entscheidung umgekehrt: Die Bewertungen der Analysten schreiben Investoren keine Rahmungen vor, sondern rennen oftmals den in Preisen sich ausdrückenden Bewertungen des Marktes hinterher, weil sie „fundamental basiert“, „robust“ und auf Daten gestützt sein sollen.Footnote 5 Der Fall Griechenland scheint dies zu bestätigen: Erst nachdem die Marktzinsen für griechische Schulden angestiegen sind, beginnt sich die „coverage“ der Analysten zur griechischen Schuldenproblematik zu intensivieren. Damit rückt die stabilisierende und legitimierende Funktion kalkulativer Rahmungen in den Vordergrund: Diese stellen ökonomische Entwicklungen (makroökonomische Daten) und Marktprozesse (Preisverläufe) in einen durch legitimes Wissen nachvollziehbaren Zusammenhang, der zunächst fiktiv ist. Als Generator solcher Fiktionen dienen Hintergrundannahmen und Bewertungskonventionen der Ökonomik, aber auch analystenspezifische Wissensformen wie beispielsweise „stories“ (Mars1998). Im Marktkontext haben diese Kalkulationsfiktionen stabilisierende Funktionen, weil sie Markterwartungen eine öffentliche, konsistente und plausible Form geben. Legitimation erlangen sie durch ihre „gameworthiness“ (Goffman1969), also dadurch, dass sie sich in Kommunikationen zwischen Analysten und Kunden oder in Gesprächen unter Händlern als marktrelevante Positionierungen Geltung verschaffen (Bourdieu2001; Wansleben2011a). In Richtung medialer oder politischer Öffentlichkeiten erzeugen kalkulative Rahmungen insofern Legitimation, als sie die Hegemonie nachvollziehbarer finanzieller Kalkulationen inszenieren, denen sowohl die Spekulation auf dem Markt als auch die finanziellen Handlungsmöglichkeiten der bewerteten Objekte (Firmen ebenso wie Staaten) mittelfristig unterworfen sind (Boltanski und Thévenot2007). So äußerte ein Währungsanalyst zu Beginn der Eurokrise im Mai 2010:

„Natürlich, solch ein Run (oder akademischer ausgedrückt: eine rationale Blase) hat immer ein spekulatives Element. Weil Unterstützungen gebrochen sind, verkaufen weitere Marktteilnehmer und lassen so weitere Unterstützungsniveaus brechen; weil der Trend nach unten zeigt, verkaufen Trendfolgemodelle und verstärken so den Trend. Aber: Das heißt weder, dass Verschwörungstheorien über bösartige spekulative Attacken auf den Euro Sinn machen […], noch, dass die Euro-Schwäche eine Himmelsplage wie Pest und Cholera ist oder dass sie aufgrund massiver Positionierungen schnell zusammenbrechen muss. Die Euro-Schwäche wäre ohne gute Gründe nicht möglich. Schließlich braucht jeder Marktteilnehmer, der EUR verkauft, eine gute fundamentale Story. Daran herrscht kein Mangel.“Footnote 6

In Erweiterung von Beunza und Garud setze ich also den Begriff der kalkulativen Rahmung so an, dass er einerseits die Entscheidungsgeladenheit finanzieller Bewertungen erfasst und andererseits kalkulative Rahmungen als stabilisierende und legitimierende Bezugspunkte von Finanzdiskursen begreift.

Wie kann dieser Begriff nun für den Fall staatlicher Schuldenmärkte empirisch fruchtbar gemacht werden? In einem Konferenzbeitrag geht Beunza (2011) davon aus, dass auch in diesem Fall Analogien, Klassifikationen und Metriken Kalkulierbarkeit für Investoren herstellen. So wurde im Frühjahr 2010 erstmals ein Krisenrahmen um Spanien gespannt, der die spanische Situation mit Griechenland verglich und sie durch eine neu erfundene Kategorie („PIGS“: Portugal, Italien, Griechenland, Spanien) klassifizierte; Investoren begannen sich verstärkt auf die Entwicklung des Haushaltsdefizits als primäre Bewertungsmetrik zu fokussieren (s. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Kalkulativer Rahmen für Spanien während der Schuldenkrise. Quelle: Beunza2011

Diesen Vorschlag Beunzas aufnehmend besteht deshalb eine erste Herausforderung darin, empirisch herauszuarbeiten, wie das spezifische Phänomen staatlicher Schulden durch Analysten gerahmt wird. Schulden sind Zahlungsversprechen eines Schuldners an einen Gläubiger: Einer Serie zukünftig zu leistender Zahlungen eines Schuldners stehen gegenwärtige oder bereits geleistete Zahlungen eines Gläubigers gegenüber (Baecker1991). Wesentlich für Schulden ist, dass Schuldtitel zwar unter Gläubigern auf einem Sekundärmarkt gehandelt werden könnenFootnote 7, dass die „Quelle“ der Zahlungsversprechen selbst aber fixiert bleibt: Rückzahlungen werden im Normalfall nur vom Schuldner geleistet. Diese Bindung des Schuldners an seine eigenen Zahlungsversprechen ist ein wesentlicher Gegenstand der Bewertungen der Analysten. Sie hat ein rechtliches Fundament in einem Vertrag, der „indenture“ genannt wird (Fabozzi2007, S. 2). Allerdings behandeln die finanziellen Bewertungen der Analysten vermutlich primär finanzielle und politische Aspekte staatlicher Zahlungsversprechen. Das finanzielle Bewertungsproblem besteht darin zu bestimmen, wie weit sich ein Staat verschulden kann, ohne dass seine zukünftige Solvenz gefährdet wird. Die ökonomische Literatur weist darauf hin, dass es keine eindeutigen Kriterien gibt, mit deren Hilfe ein „acceptable level of debt“ (Niehans1985, S. 73) festgestellt werden kann: „In fact, with unenforceable claims there are no established criteria for optimal debt levels“ (ebd.); „[t]here is no magic formula that can determine, even roughly, which nation is solvent today and which is not“ (Boone und Johnson2011, S. 4). Es ist also zu vermuten, dass Analysten bei der Bewertung von Solvenz oder Insolvenz mit Unsicherheit konfrontiert sind. Doch die finanzielle Bewertung von Staatsschulden muss auch Politik berücksichtigen, denn die Zahlungsversprechen erfolgen schließlich durch einen politischen, keinen ökonomischen Akteur. Dies stellt die Analysten vor ganz spezifische Probleme. So liegt bei staatlichen Schuldnern z. B. die spezielle Situation vor, dass sie selbst rechtliche Souveräne sind. Verschiedenste ökonomische (Niehans1985; Wright2005) und politökonomische Forschungen (Tomz2007) haben deshalb darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei Staatsschulden zumeist um „unenforceable claims“, um undurchsetzbare Forderungen handelt. Folglich werden politische Maßnahmen vermutlich mit der bewertungsrelevanten Frage gerahmt, inwiefern ein Staat zur Einhaltung der eigenen Zahlungsversprechen gewillt ist. Wichtig ist, dass sowohl Rahmungen der finanziellen Situation als auch des staatlichen Akteurs, der die Zahlungsversprechen ausgesprochen hat, vergleichend erfolgen. Schuldner werden, ähnlich wie z. B. Amazon.com, in Gruppen klassifiziert und verschiedene Schuldensituationen, etwa Krisen, analogisiert.

Neben der Spezifikation von kalkulativen Rahmungen für Staatsschulden sollen Krisen als besondere Bewertungssituationen, in denen möglicherweise spezifische Rahmungen zur Anwendung kommen, begriffen werden. Schuldenkrisen treten ein, wenn Staaten nicht willens oder fähig sind, fällig werdende Schulden zu bedienen; es kommt in diesem Fall entweder zu einem vollständigen oder partiellen Zahlungsausfall (Reinhart und Rogoff2008,2010) oder zu internationalen Finanzhilfen, die dem Schuldner die Bedienung der Schulden ermöglichen. Deutliche Steigerungen der Haushaltsdefizite und der Gesamtverschuldung gehen gewöhnlich einem Zahlungsausfall oder internationaler Hilfe voraus. Allerdings kann man auch dann von einer Schuldenkrise sprechen, wenn die bloße Gefahr eines Zahlungsausfalls dadurch entsteht, dass durch dramatisch gestiegene Zinsen im Sekundärmarkt eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für den betroffenen Staat eintritt, keine neuen Schulden im Primärmarkt aufnehmen zu können. Auch in diesem Fall können internationale Organisationen intervenieren, um das Marktvertrauen in die fortgesetzte Bedienung der Schulden wiederherzustellen. Seit dem Zahlungsausfall Deutschlands im Jahr 1948 hat es keine Schuldenkrisen entwickelter Ökonomien gegeben. Die Bankenkrise der 1980er Jahre und die „Emerging Market“-Krisen der 1990er Jahre prägten die Wahrnehmung, dass solche Krisen allein historische Phänomene oder Probleme von Entwicklungsökonomien seien. Diese Wahrnehmung scheint sich erst seit 2010 zu korrigieren und an Analysten die Herausforderung der Rahmung entsprechender Krisenphänomene zu stellen. Einen Ansatzpunkt dafür, wie solche Rahmungen aussehen könnten, gibt Mosley (2003): Sie unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Rahmungen, durch die Investoren Staatsschulden bewerten. Bewertungen der Staatsschulden von entwickelten Ökonomien charakterisiert sie als „strong and narrow“. Investoren konzentrieren sich hier auf wenige, wichtige Indikatoren (vor allem Fiskal- und Geldpolitik) und unterstellen grundsätzlich eine sehr geringe Ausfallwahrscheinlichkeit. Mosley (2004) zeigt, dass der Markt eine „strong and narrow“-Rahmung auf die Mitglieder der europäischen Währungsunion vor der Schuldenkrise angewendet hat, wodurch sich die Zinsen der unterschiedlichen Schuldner, unter anderem auch Griechenlands, anglichen.Footnote 8 Jedoch wenden Investoren die „strong and narrow“-Rahmung Mosley zufolge nicht auf alle Schuldner an. Für Entwicklungsökonomien verfügen sie über eine „strong and broad“-Rahmung, bei der neben der Fiskal- und Geldpolitik andere sozial- und wirtschaftspolitische Felder im Hinblick auf ihre Implikationen für die Bewertung von Zahlungsversprechen analysiert werden: „Given the wide range of investment risks that financial market participants face in emerging markets and investors’ great uncertainty regarding the salience of these risks in particular nations, investors must rely on a broad set of indicators.“ (2003, S. 38) Die exponentiell gestiegenen Zinsen für eine Vielzahl entwickelter Ökonomien deuten nun auf eine Neubewertung der Solvenz dieser Staaten hin. Zunächst können diese Neubewertungen durch einzelne Krisensituationen, partikulare Informationen oder Paniken im Markt ausgelöst werden. Sie provozieren jedoch eine grundlegende Reklassifikation durch Analysten: Diese betrachten Staatsschulden entwickelter Ökonomien nun unter der Perspektive hoher Ausfallrisiken und machen diese Risiken mit einer „strong and broad“-Rahmung kalkulierbar: Nicht nur die unmittelbar in Haushaltsplänen dokumentierte Fiskalpolitik, sondern auch die Stabilität der Regierung, der Wille zu Reformen etc. unterliegen nun finanziellen Bewertungen. Damit stabilisieren Analysten gewandelte Markterwartungen, durch die möglicherweise auch die politischen Spielräume der betroffenen Staaten konditioniert werden.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der potenziell Krisenrahmungen kennzeichnet: Vor allem soziologische Forschungen haben darauf hingewiesen, dass Finanzkrisen unter anderem Vertrauenskrisen sind, die dadurch eintreten, dass Hintergrunderwartungen (Garfinkel2008, S. 36) der Marktteilnehmer infrage gestellt werden. Swedberg (2010) analysiert beispielsweise die Lehman-Insolvenz unter dieser Perspektive und entdeckt zwei Formen von Vertrauensverlust: Die erste Form entsteht dadurch, dass man nach Bekanntgabe versteckter Verluste den Informationen nicht mehr traut, auf deren Grundlage man traditionell Bewertungen vorgenommen hat (Knorr Cetina2011). Es steht dann die Hintergrunderwartung infrage, dass man sich weiterhin auf die durch den Schuldner zur Verfügung gestellten Informationen verlassen kann. Tatsächlich sind das Auftauchen versteckter Schulden und ein darauf folgender Vertrauensverlust in Informationen und Bewertungen ein typisches Merkmal von Staatsschuldenkrisen.Footnote 9 Die zweite Form der Vertrauenskrise betrifft Hintergrunderwartungen über Handlungsrationalitäten der Schuldner und/oder dritter Parteien. Auch wenn es sich bei Staatsschulden um „unenforceable claims“ handelt, kann man vermuten, dass Gläubiger Staaten den Willen zur Einhaltung der Zahlungsversprechen gewöhnlicherweise unterstellen. So haben historische Forschungen gezeigt, dass Finanzmärkte dann im England des 18. Jahrhunderts florieren konnten, als sich eine von Interaktionsbeziehungen abstrahierte „culture of credit“ (Muldrew1998) durchsetzte. Zudem gehen Gläubiger möglicherweise davon aus, dass in Krisensituationen dritte Parteien bereit stehen, etwa der Internationale Währungsfonds, um als „lender of last resort“ zu fungieren. Ein Vertrauensverlust tritt ein, wenn solche grundlegenden Annahmen über Handlungsrationalitäten infrage gestellt werden.Footnote 10 Es liegt deshalb die Vermutung nahe, dass Analysten in Krisensituationen sensibiliert sind für die Frage, ob Maßnahmen staatlicher Schuldner oder dritter Parteien Marktvertrauen wiederherstellen oder weiterhin unterminieren. Sie transformieren Krisen auf diese Weise in beobachtbare Zustände.

Zuletzt stellt sich in staatlichen Schuldenkrisen die Frage nach der sozio-kognitiven Funktion kalkulativer Rahmungen in besonderer Form. Wie oben dargelegt, gehen Beunza und Garud davon aus, dass Rahmungen marktinterne Erwartungen organisieren und strukturieren. Eine empirische Frage in Bezug auf Krisen wäre dann, wie lange in solchen Situationen konkurrierende Rahmungen aufrechterhalten werden, denen im Markt zumindest potenziell „long“- und „short“-Positionen entsprechen können, bzw. wann diese differenzielle Struktur artikulierter Erwartungen zusammenfällt. Allerdings gibt Beunza (2011) in einer Analyse der spanischen Krise auch Anhaltspunkte für stabilisierende und legitimierende Funktionen von Rahmungen, die über eine marktinterne Erwartungskoordination hinausgehen. So zeigt er etwa anhand von Interviews mit Investoren, dass diese von der spanischen Regierung zu Beginn der Krise Ankündigungen bestimmter Reformen erwarteten. Diese Ankündigungen sollten nicht nur das Schuldenproblem an sich adressieren; sie sollten auch signalisieren, dass die Regierung mit den Markterwartungen als bewertender Instanz der Krisensituation „rechnet“. Bei einem Treffen zwischen Regierung und Investoren in London forderten Letztere eine „roadmap“, die bestimmte Reformschritte zu definierten Zeitpunkten („milestones“) verspräche. Damit versuchten sie, die Regierung mit einem Bewertungsrahmen zu koordinieren, der auf die wiederhergestellte Glaubwürdigkeit von Zahlungsversprechen abzielte. Ein Investor äußerte im Interview: „If you don’t deliver by the time the milestone comes up, you lose your credibility. Because investors know that you [the sovereign] know this, they are willing to believe you in the first place“ (ebd.). Auch in Analystenberichten zu Griechenland finden sich Kommentare, in denen Analysten die notwendige Aufmerksamkeit der Politik für ihre Expertise anmahnen.Footnote 11 Diese Beispiele zeigen, dass Experten aus der Finanzbranche mithilfe kalkulativen Wissens beratend an dem Management einer Krise zu partizipieren versuchen. Die von Beunza angesprochene „roadmap“ ist wahrscheinlich eine kalkulative Rahmung, über die die Erwartungen des Marktes mit den Reformversprechen der Schuldner synchronisiert und für beide Parteien sichtbaren Überprüfungen ausgesetzt werden. Wie oben angedeutet, kann in diesem Artikel kein Zusammenhang zwischen den Beratungen von Analysten und konkreten politischen Entscheidungen nachgewiesen werden. Allerdings soll nachfolgend gefragt werden, inwiefern und wie Analysten eine „finanzialisierte“ Politik fingieren, die ihre Entscheidungsrationalitäten kalkulativen Rahmungen entlehnt.

Im Folgenden soll also der Begriff der kalkulativen Rahmung, der in Erweiterung von Beunza und Garud stabilisierende und legitimierende Funktionen finanziellen Bewertungswissens betont, auf die Staatsschuldenkrise Griechenlands angewendet werden.

3 Methodische Überlegungen

Zur Analyse kalkulativer Rahmungen wurden Analystenberichte herangezogen. Analystenberichte haben den methodischen Vorteil, dass sie für Marktteilnehmer und andere Akteure relevante Erzeugnisse spezialisierter Bewertungsarbeit sind und zugleich Rahmungen schriftlich fixieren. Wie oben dargelegt, geht der Beitrag von der These aus, dass Analystenberichte einen Referenzdiskurs des Marktes erzeugen, der die Bewertung eines finanziellen Objektes, die zunächst in Form von Marktpreisen erfolgt, rationalisiert, stabilisiert und für andere Diskurse anschlussfähig macht.Footnote 12 Die Wirkmächtigkeit von Analystenberichten liegt demnach nicht primär in ihrem Einfluss auf Preisbildungen, sondern in der Inszenierung finanzieller Bewertungen als legitimen Expertenwissens. Es wurde versucht, ein systematisches Sample von Analystenberichten internationaler Großbanken im Zeitraum Ende 2009 bis Mitte 2011 zu erhalten. Dieser Zeitraum schien geeignet, weil er die erste dramatische Eskalation der Zinsen auf griechische Staatstitel einschließt und mit einer Phase endet, da eine Insolvenz Griechenlands in den Sekundärmarktzinsen eingepreist war. In der Durchführung ergaben sich jedoch erhebliche Schwierigkeiten, weil die entsprechenden Datenbanken (etwa Investext von Thomson Reuters) primär kommerziellen Zwecken dienen und Berichte deshalb nur zu hohen Preisen weitergeben (die Gesamtkosten des angefragten, keinesfalls vollständigen Investext-Samples betrugen 22.482 $ plus Bearbeitungsgebühr; ein einzelner, 34-seitiger Bericht in diesem Sample wurde mit 1.500 $ bepreist). Deshalb wurde alternativ per Internet-Recherche und Nachfrage bei den Banken ein Schneeball-Sample zusammengestellt. Kriterien für die Auswahl waren, dass es sich um Analysen internationaler Banken handelt, die die griechischen Staatsschulden im Zeitraum von Dezember 2009 bis Juli 2011 bewerteten und für diese Bewertungen explizite Strategien (Argumentationen, Modellierungen etc.) entwickelten. Das sich aus dieser Recherche ergebende Sample umfasst Berichte der Citigroup (vier Berichte), der Deutschen Bank (ein Bericht), Goldman Sachs (ein Bericht), HSBC (zwei Berichte) und Morgan Stanley (sechs Berichte).Footnote 13 Die Berichte wurden zumeist von den volkswirtschaftlichen Abteilungen der Banken („Economics“) publiziert, die sämtlich in London sitzen, und variieren im Umfang zwischen 10 und 70 Seiten. Zusätzlich wurden Interviews im Rahmen von Forschungen zu Währungsanalysten, Zeitungsartikel, vor allem aus der Financial Times, und öffentliche Interviews mit den Autoren der Berichte gesichtet. Im Vergleich zur Analyse von Beunza und Garud (2005) scheint die Materialbasis damit zumindest ausreichend.

In der Auswertung der Analystenberichte wurde, ähnlich wie bei Beunza und Garud (2005,2007), auf Verfahren zurückgegriffen, die die Analystenberichte anhand induktiv ermittelter Codes aufeinander beziehen (Glaser und Strauss1967) sowie die narrativen Elemente der Berichte berücksichtigen (Franzosi1998). Es wurden zunächst alle Analystenberichte im Hinblick auf wiederkehrende Rahmungen ausgewertet. Hier ging es primär darum zu identifizieren, ob sich eine Etablierung von Schuldenkrisenrahmungen in den Analystenberichten identifizieren lässt und welche grundlegenden Merkmale diese aufweisen. Den obigen Überlegungen entsprechend wurden darüber hinaus die differenziellen Positionierungen einzelner Analystenteams und ihre jeweiligen Rahmungen beachtet. Konkurrierende Rahmungen sollten über den gesamten hier betrachteten Zeitraum von ca. eineinhalb Jahren verfolgt werden. Zu diesem Zweck wurden Publikationen von Citigroup und Morgan Stanley ausgewählt. Bei der Citigroup wurden die Publikationen des Chefökonomen Willem Buiter und bei Morgan Stanley die Publikationen des „European Economics“-Teams (v. a. Elga Bartsch und Daniele Antonucci) analysiert. Diese Autoren sind im Sample mit den meisten Publikationen vertreten. Hinzu kommt, dass die Analysten der beiden Banken sich zu Beginn der untersuchten Zeitspanne unterschiedlich positionierten: Die Citigroup bewertete mit Beginn der Krise einen teilweisen Zahlungsausfall Griechenlands bereits als unvermeidlich,Footnote 14 während Morgan Stanley bis zum Sommer 2011 die Einhaltung der Zahlungsversprechen für möglich hielt (vgl. Abb. 2). Ab diesem Zeitpunkt verdichteten sich jedoch die kalkulativen Rahmungen beider Analystenteams zu der Bewertung einer faktischen Insolvenz.

Abb. 2
figure 2

Ausgewählte Berichte von Morgan Stanley und Citi,2010/01–2011/07

4 Kalkulative Rahmungen der griechischen Schuldenkrise

Die Zinsen und Kreditausfallversicherungen auf griechische Staatsschulden steigen seit etwa Mitte 2009 deutlich an. In einem Morgan-Stanley-Bericht von Januar 2010 werden das Haushaltsdefizit und die steigende Staatsschuld als Ursachen für den Anstieg identifiziert.Footnote 15 Sie werden jedoch als aus der Vergangenheit bekannte Phänomene behandelt, die durch nachhaltige Sparmaßnahmen beseitigt werden können. Die Rahmung, innerhalb derer die Morgan-Stanley-Analysten diese Probleme behandeln, wird mit folgendem Satz deutlich: „Apart from extreme cases of a breakdown of public order, default tends to be a remote risk for anindustrial country“ (Morgan Stanley2010/01, S. 7, Hervorhebung L.W.). Morgan Stanley behält also Mosleys „Entwickelte-Ökonomie“-Rahmung bei, die trotz der hohen Defizite und Schulden von relativ geringen Ausfallrisiken ausgeht. In einem Bericht von Citi-Chefökonom Willem Buiter im April 2010 wird dann diese Rahmung infrage gestellt. Er zeigt anhand einer Grafik die höheren und anwachsenden Schuldenstände in entwickelten Ökonomien im Vergleich zu Entwicklungsökonomien und schlussfolgert: „[W]e are getting close to the position where there may no longer be a riskfree security […] anywhere in the world“ (Citi2010/04, S. 10). Dies trifft nach Buiter insbesondere für Griechenland zu, dessen Ausfallrisiken aufgrund eines „misplaced faith“ (ebd., S. 35) in den europäischen Stabilitätspakt in der Vergangenheit unterschätzt wurden.Footnote 16 Die Analysten von Citi wechseln also explizit ihre Klassifikationen und die damit implizierten Rahmungen: „We believe the common practice among financial analysts of treating the term structure of interest rates on the sovereign debt of most advanced industrial countries as being free of default risk is no longer appropriate, if it ever was“ (Citi2010/09, S. 4). Durch ein „reframing“ der Schulden von entwickelten Ökonomien wird also die grundsätzliche Einschätzung von Ausfallwahrscheinlichkeiten verändert. Vergleiche von Griechenland mit Krisenstaaten aus der Kategorie „Entwicklungsökonomie“, etwa Russland, Argentinien, Korea, Mexiko und Uruguay, in verschiedenen Analystenberichten (Morgan Stanley2010/11,2011/07), deuten darauf hin, dass sich dieses „reframing“ tatsächlich durchsetzt.

Während das Spektrum der möglichen Länder für die Anwendung einer Krisenrahmung – die „crisis zone“ (Cole und Kehoe2000, S. 98) – erweitert wurde, betrifft eine engere Rahmung die konkrete Krisensituation. Wie wird diese abgegrenzt? Mosleys Bezeichnung „strong and broad“ entsprechend kombinieren alle Analystenberichte bei Krisenrahmungen einen primären Fokus auf Defizite und Schulden mit Bewertungen politischer Risiken und Vertrauensverlusten. So sehen Deutsche-Bank-Ökonomen drei Probleme, die auf Griechenland zutreffen: „liquidity, credibility, debt sustainability“ (Deutsche Bank2010/04, S. 8). Die Citi-Ökonomen beschreiben eine Schuldenkrise wie folgt: „high government debt and deficit, […] polity and society at large […] most polarized, with the weakest political institutions and leadership, the highest interest rates and the lowest growth rates“ (Citi2010/09, S. 14). Schulden und Defizite stehen im Zentrum der Krisenrahmung; sie werden kalkulativ gerahmt mithilfe von Prognosen derSchuldennachhaltigkeit bzw. der Tragfähigkeit der Schuldenlast („debt sustainability“). Die Citi-Ökonomen gehen in einem ihrer Berichte explizit auf die entsprechende Berechnungsformel ein: Sie stellt der jährlichen Veränderung des Schuldenstandes eines Landes (in Prozent des BIP) das Primärsaldo (Einnahmen und Ausgaben ohne Zinszahlungen) des staatlichen Haushalts (in Prozent des BIP) gegenüber. Damit sich der Schuldenstand eines Landes stabilisiert (also nachhaltig ist), muss das Primärsaldo größer oder gleich dem anwachsenden Schuldenstand sein (Citi2010/04, S. 17).Footnote 17 Analog zum Fallbeispiel der Aktienbewertung bei Beunza und Garud besteht die Rahmungsarbeit der Analysten allerdings nicht in der Entwicklung der Formel an sich, sondern in dem Einsetzen entsprechender quantitativer Annahmen über das Primärsaldo und die Schuldenentwicklung in Abhängigkeit von Wachstumsraten und der Entwicklung der Zinsen auf Staatsschulden. Die Analysten simulieren, ausgehend von einem „base scenario“, in Verhältnis zu einer Variation der Annahmen entsprechende Verläufe der Schuldenkurve (s. Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Simulation der Entwicklung der Gesamtverschuldung Griechenlands. Quelle: Deutsche Bank2010/04, S. 7

Die Analysten reflektieren die Unsicherheit, unter der die Annahmen für eine Simulation getroffen werden: „Debt sustainability is a multi-faceted issue, encompassing economic and political factors“ (Morgan Stanley2011/07, S. 11). Darüber hinaus ist keinesfalls sicher, welches Niveau von Gesamtschulden nicht überschritten werden darf oder in welchem Zeitraum sich ein Schuldenstand stabilisieren muss, damit Solvenz erhalten bleibt. Die Europäische Union legte im Stabilitätspakt die Grenze bei 60 % des BIP fest; doch obwohl dieses Niveau lange Zeit als Orientierung diente,Footnote 18 wird es heute weder auf realistischen Annahmen beruhendFootnote 19 noch als einhaltbar gewertet. Die Morgan-Stanley-Ökonomen schreiben: „From a market perspective, we believe that a level of debt/GDP above 100 % would expose Greece to periods of market uncertainty“ (Morgan Stanley2011/07, S. 5). Über das Treffen von Annahmen bezüglich der Primärbilanz, beeinflusst durch staatliche Einkünfte und Einsparungen auf der einen Seite sowie das Zinsniveau und Wirtschaftswachstum auf der anderen Seite, können die Analysten zu einem positiven oder negativen Szenario kommen. So gehen die Citi-Ökonomen Anfang 2011 von einem notwendigen Primärbilanzüberschuss von sechs Prozent aus, vergleichen dies mit ihrem projektierten Primärbilanzdefizit für 2010 von vier Prozent und schließen, dass die Situation Griechenlands nicht nachhaltig sei,Footnote 20 während die Morgan-Stanley-Ökonomen (den Ökonomen des IWF folgend) in einem Bericht im August 2010 noch von der Möglichkeit ausgehen, dass Griechenland im Laufe von zwei Jahren einen Primärbilanzüberschuss erzielen, den Schuldenstand auf einem Niveau von 150 % des BIP stabilisieren und anschließend reduzieren kann. Ab Mitte 2011 kommt allerdings auch Morgan Stanley zu der Bewertung, dass Griechenlands Schulden nicht tragfähig sind und deshalb eine teilweise Insolvenz unvermeidbar ist: „a principal reduction might still be needed at some point“ (Morgan Stanley2011/07, S. 11).

Diese Revision der Bewertung ist zunächst begründet durch enttäuschende Zahlen (vor allem beim BIP) im Verhältnis zu den getroffenen Annahmen für die Simulationen. Allerdings schließt die Analyse der Schuldentragfähigkeit immer die Zukunft mit ein und bleibt deshalb auf unter Unsicherheit getroffene Annahmen angewiesen. Entscheidend ist deshalb, dass auch Morgan Stanley sukzessive zu einer veränderten Rahmung des Schuldners im Hinblick auf die erwartbare Haushaltsdisziplin und die Fähigkeit zur Wiederherstellung von Marktvertrauen kommt. Hier geht es also einerseits um das Problem, dass staatliche Zahlungsversprechen nur dann vom Markt angenommen werden, wenn der Wille beim Schuldner unterstellt wird, die notwendigen politischen Maßnahmen zur Sicherstellung von Nachhaltigkeit innerhalb eines gegebenen Zeitraums vorzunehmen sowie Zahlungsversprechen einzuhalten. Dieser „political will“ steht in Krisenzeiten infrage:

„The question of sovereign debt sustainability contains a significant political dimension. Most of the countries that are currently at the center of the debt crisis are advanced economies [AE] – economies that are rich enough to shoulder the burden of repaying the liabilities of their sovereign in full without imposing costs on their citizens that would endanger local/national minimum standards of material and physical wellbeing […]. This is why we call sovereign debt problems in AEs ‚won’t pay, not can’t pay‘ issues.“ (Citi2011/01, S. 20)

Dieses Zitat zeigt, dass „politischer Wille“ nicht bloß eine deskriptive Formel, sondern eine primäre Rahmung für die Bewertung staatlicher Schulden ist: Das Recht zur Erlassung von Zwangsabgaben ermöglicht es Staaten, im Prinzip immer die eigene Schuldenlast zu bedienen, denn die ökonomischen Leistungen und das Vermögen, auf die sich dieses Recht bezieht, sind größer als die zu leistenden Zahlungen. Der „politische Wille“ erfordert jedoch in einer Demokratie die Unterstützung durch die Wähler, die zugleich Steuerzahler und damit Kostenträger sind (Citi2010/09, S. 18). Wie wird dieser „politische Wille“ bewertbar?

In ihrer ersten großen Analyse der griechischen Schuldenproblematik im Januar 2010 fokussieren sich die Morgan-Stanley-Ökonomen vor allem auf das seit Herbst 2009 regierende Kabinett Papandreous und dessen angekündigte Reformmaßnahmen: „We are constructive on the government’sdetermination to deliver on its pledged reform package despite the inevitable reactions“ (Morgan Stanley2010/01, S. 6, Hervorhebung L.W.). Wille wird hier also wörtlich als Entschlusskraft einer Regierung zur Wiederherstellung von Schuldennachhaltigkeit verstanden. Diese Entschlusskraft ist in der Analyse von Morgan Stanley zukunftsorientiert und in der Lage, Vergangenheitslasten zu beseitigen. In einem nächsten Bericht im August 2010 bestätigen sie noch ihre positive Evaluation: „developments on the political front are so far as encouraging as those on the economic front“ (Morgan Stanley2010/08, S. 8). Als Argumente nennen sie die stabile Mehrheit der Regierung, geringe soziale Unruhen und die anhaltende Popularität des Premiers in der Bevölkerung. Citi kommt von Anbeginn der Krise an zu einer anderen Bewertung und betrachtet Griechenland als „primary example of a country with a high degree of political and social polarization and with ineffective and corrupt political institutions“ (Citi2010/04, S. 24). Griechenland ist also nicht nur finanziell, sondern zusätzlich noch belastet mit „economic, social and political institutions that are not conducive to sustained fiscal burden sharing“ (Citi2010/09, S. 22). Diese Spezifikation zielt nicht auf die Entschlusskraft von Akteuren, sondern behandelt politischen Willen als Funktion institutioneller Strukturen und als Ergebnis der Aushandlungen unter den Kostenträgern der Sanierungsprogramme.

Der Bewertungsrahmen „Schuldenkrise“ umfasst andererseits den Vertrauensentzug durch den Markt. Dieser entzieht Vertrauen aber nicht als Handelnder, sondern als bewertendes PublikumFootnote 21: „It all comes down to market confidence in the sovereign’s ability to meet its future debt servicing costs“ (Morgan Stanley2011/07, S. 11). Dieses Marktvertrauen wird insbesondere im Zustand des Entzugs zum Thema: „Greece can’t fund in the public debt markets until market participants are convinced it has regained some fiscal creditability“ (HSBC2011/06, S. 2); „Greece has to deal with a significant credibility gap, which goes over and beyond its current public finance difficulties“ (Morgan Stanley2010/08, S. 8); es herrscht „scepticism“ (Citi2011/01, S. 12) und „doubt“ (Morgan Stanley2010/11, S. 7) in den Märkten. Diese Vertrauenslücke wurde den Analysten zufolge wesentlich dadurch erzeugt, dass der Staat „unreported liabilities“ (Morgan Stanley2010/11, S. 3) versteckt und offizielle Statistiken beschönigt habe. Vertrauensarbeit besteht deshalb unter anderem auch in der Erhöhung von „Transparenz“, das heißt der erweiterten Offenlegung von Haushaltsdaten, die von dritten Autoritäten (vor allem der Europäischen Kommission) autorisiert werden. Allerdings kommen die Analysten trotz einer generellen Rahmung von Vertrauen als Beziehung zwischen dem Staat als „Commitment-Geber“ und dem Markt als bewertendem Publikum zu unterschiedlichen Bewertungen über die Angemessenheit des Vertrauensentzugs. Verschiedene Analysten (von Morgan Stanley und HSBC) halten die in Sekundärmarktzinsen ausgedrückten Markteinschätzungen von Ausfallwahrscheinlichkeiten zeitweilig für Übertreibungen. Die Morgan-Stanley-Ökonomen gehen in ihrem Bericht vom August 2010 davon aus, dass dies mit hoher Unsicherheit zusammenhängt und dass das Marktvertrauen bei Einhaltung von bereits angekündigten Sanierungsmaßnahmen zurückkehren kann. Die Citi-Ökonomen hingegen kommen zu einer entgegengesetzten Bewertung: „the market probabilities […] are likely to underestimate the sovereign default risk, at least at horizons longer than 3 years“ (Citi2010/09, S. 13). Aus diesen unterschiedlichen Bewertungen folgen unterschiedliche Empfehlungen für Investitionsstrategien: Morgan Stanley (2010/08) hält beispielsweise Investitionen in kurzfristige Fälligkeiten für attraktiv, weil der Markt in diesem Zeitraum die Ausfallwahrscheinlichkeit überschätze; Citi hingegen geht von signifikanten Bewertungsabschlägen („haircuts“) aus. Hinzu kommt, dass seit April 2010 Griechenland nicht mehr als isolierter Schuldner betrachtet werden kann. Vielmehr müssen die finanziellen und politischen Interventionen von EU, EZB und IWF („Troika“) von den Analysten berücksichtigt werden. Dies liegt zunächst daran, dass der direkte Refinanzierungsbedarf von den offiziellen Gläubigern gedeckt wird. Die „Troika“ hat ihre Kredite mit Konditionen verbunden, die verbindliche Maßnahmen der griechischen Regierung für den Zeitraum der Unterstützung (ursprünglich 2010–2013) festschreiben („Memorandum of Understanding“). Die Umsetzung der Maßnahmen wird quartalsweise durch die „Troika“ überprüft und vom IWF in sogenannten „Reviews Under the Stand-By Arrangement“ dokumentiert. Diese Dokumente dienen dem Exekutivkomitee des IWF als Grundlage für Entscheidungen über die Ausschüttung der Hilfsgelder. Dies ist für die Analystenbewertungen relevant, weil das Ausmaß und die Verzinsung der finanziellen Hilfen entscheidend dafür sind, inwiefern dem griechischen Staat die Möglichkeit zur Wiederherstellung von Schuldennachhaltigkeit gegeben wird. Staatliche Hilfen werden damit selbst zum Gegenstand finanzieller Bewertungen. Die Analysten fokussieren jedoch außerdem die quartalsmäßigen „reviews“, weil diese über die direkten Konsequenzen für die Entscheidungen der Hilfsgeber hinaus einen Bewertungsrahmen bereitstellen: Der Schuldner „verspricht“ präzise definierte Maßnahmen, deren Erfüllung den Überprüfungen durch externe Experten standhalten muss. Es wird auf diese Weise eine „roadmap“ erzeugt (s. Abb. 4), an die sich Markterwartungen über die Vertrauenswürdigkeit des Schuldners sowie die Herstellung von Schuldennachhaltigkeit über einen definierten Zeitraum knüpfen können: „the key is to boost investor confidence by sounding fiscally credible, in order to attract private investors’ capital on top of the financial aid package“ (Morgan Stanley2010/05). „Hence, investors will still look at the programme conditionality and on compliance with the demands of the official lenders“ (Morgan Stanley2011/07). Analysten definieren ihre Aufgabe dahingehend, die Versprechen des Schuldners in der „roadmap“ selbst im Hinblick auf ihre mögliche und tatsächliche Umsetzung zu bewerten: „we’ll be watching whether and how support for the spirit, goals and targets of Greece’s adjustment programme eventually change over time“ (Morgan Stanley2011/06). Entscheidend ist, dass diese Bewertungen der Analysten nicht isoliert erfolgen, sondern mit den Selbstverpflichtungen der Schuldner koordiniert sind. Der Bewertungsrahmen, den die „roadmap“ bereitstellt, bindet Maßnahmen und ihre Beobachtung sowie Bewertung zusammen. Hier nehmen Analysten die Position der adressierten Beobachter ein („we’ll be watching“), die die Sekundärversprechen des Schuldners (politische Maßnahmen) dahingehend bewerten, ob sie zur Wiederherstellung der Primärversprechen (Zahlungen) dienen. Darüber hinaus geben die Analysten selbst Empfehlungen darüber ab, welche Maßnahmen auf Seiten Griechenlands (etwa zusätzliche Sparmaßnahmen oder Ausmaß an Schuldenrestrukturierung,) und der Troika notwendig wären, um eine Tragfähigkeit der Schuldenlast wiederherzustellen. Zunächst divergieren die verschiedenen Analysten in ihren Einschätzungen der „roadmap“: So analysieren Morgan-Stanley-Ökonomen Reformen des griechischen Staates kurze Zeit vor der Veröffentlichung des IWF-Review im September 2010 und kommen zu dem Schluss: „Greece is broadly on track to meet its fiscal consolidation targets this year, and possibly ahead“ (Morgan Stanley2010/08, S. 1). Skeptiker rahmen dagegen mit den Begriffen „adjustment“ oder „consolidation fatigue“ die Einhaltung der ersten Reformversprechen anders: Aus ihrer Sicht ist es ein bekanntes Phänomen, dass die ersten Reformschritte zunächst umgesetzt werden, während dann im Laufe der Zeit der notwendige politische Wille abnimmt: „Consolidation fatigue is likely to be even more prominent in the future and has the potential to derail the adjustment process“ (Citi2011/01, S. 57). Die IWF-Reviews bieten dann „milestones“, anhand derer die tatsächliche Maßnahmenumsetzung des Schuldners unter öffentlicher Beobachtung bewertet wird und die unterschiedlichen Einschätzungen der Analysten revidiert werden können. Die Morgan-Stanley-Ökonomen ändern deshalb im Juni 2011 ihre positiven Einschätzungen vom August 2010 und sehen einen „slippage“ in Griechenlands Konsolidierung: „progress is perhaps too limited relative to expectations“ (Morgan Stanley2011/06). In Kombination mit nach unten revidierten Wachstumsprognosen etabliert sich damit ab Mitte 2011 der Konsens unter den untersuchten Analysten, dass ein teilweiser Zahlungsausfall Griechenlands unvermeidlich sein wird. Zu einer ähnlich pessimistischen Bewertung kommen die offiziellen Geldgeber ca. drei Monate später.Footnote 22

Abb. 4
figure 4

Eine „roadmap“ für Griechenland. Quelle: Morgan Stanley2010/11, S. 6

5 Schlussfolgerungen

Empirisch zeigt die Analyse von Analystenberichten zu Griechenland, dass sich multiple Rahmungen um Griechenland legen, die die Schuldenkrise sukzessive berechenbar und einschätzbar machen. Während noch zu Beginn des Jahres 2010 Analystenberichte zirkulieren, die Griechenlands Situation in der Kontinuität vergangener Schuldenprobleme rahmen, so beginnt spätestens ab Frühjahr 2010 eine Rekonfiguration der grundlegenden Rahmungen, mit denen die Möglichkeit von Zahlungsausfällen in entwickelten Ökonomien bewertet wird. Nun werden unterschiedliche Staaten „strong and broad“ gerahmt und unter diesen Staaten Griechenland als besonders schwach identifiziert: Hohe Verschuldung, hohes Defizit, politische Unsicherheit und Verlust des Marktvertrauens kulminieren. Das wesentliche kalkulative Element der Krisenrahmung ist die Simulation von Schuldennachhaltigkeit oder -tragfähigkeit in Abhängigkeit von verschiedenen Schätzungen des Wachstums, der Zinsentwicklung etc. Durch die Diversität der Annahmen und Einschätzungen der Analysten wird deutlich, dass es sich bei dem Begriff der Insolvenz um ein komplexes Wissenskonstrukt handelt, in das unter Unsicherheit getroffene Prognosen sowie sozial definierte Akzeptabilitätsniveaus eingehen. Wesentlich für die über einen längeren Zeitraum divergierenden Schätzungen der Schuldennachhaltigkeit sind unterschiedliche Rahmungen des politischen Willens des Souveräns sowohl zur Rückzahlung von Schulden als auch zur Durchführung von Konsolidierungsmaßnahmen, die die zukünftige Rückzahlung ermöglichen. Hier entsteht eine Rahmungskontroverse: Eine Gruppe von Analysten rückt die diversen Reformen als Signal der Willenskraft der Regierung ins Zentrum; eine andere Gruppe kontextualisiert diese Maßnahmen mit einer sich über die Zeit einschleichenden „adjustment fatigue“. Die Rahmung Letzterer scheint sich, soweit das Material dokumentiert, sukzessive durchzusetzen. Die Krise wird zudem als Zustand des Entzugs von Marktvertrauen gerahmt. Über die Schritte zur Wiederherstellung von Schuldennachhaltigkeit hinaus wird Griechenland deshalb dahingehend beobachtet, ob es Vertrauensarbeit leistet; wesentliche Komponente dieser Arbeit ist das Veröffentlichen verlässlicher Daten. Zuletzt wird das Hilfspaket der „Troika“ und die damit verbundene „roadmap“ als Phase gerahmt, in der es um die Wiederherstellung von Schuldennachhaltigkeit geht. Analysten schreiben sich nun selbst die Rolle von Bewertern zu, die als relevante Öffentlichkeit die von der Troika geforderten Reformschritte anhand einer „roadmap“ überprüfen sowie Empfehlungen abgeben. Analysten nehmen damit eine mit der Signatur des Markts versehene Bewertungsposition ein, die Griechenland mit Evaluationen darüber versorgt, ob politische Maßnahmen Erfolg bei der Wiederherstellung von Marktbeziehungen versprechen. Folgt man den kalkulativen Rahmungen der Analysten, wird sich diese Wiederherstellung in absehbarer Zeit nicht einstellen können.

Theoretisch zeigt sich: Die Vorstellung, dass Finanzmärkte Bewertungsinstanzen für diverse ökonomische und politische Ereignisse sind, dokumentiert sich im massenmedialen Alltagswissen, wie die Italien-Anekdote zu Beginn dieses Aufsatzes verdeutlicht. Kritiken dieser Vorstellung zielen zumeist darauf ab, Interessen, Psychologien etc. aufseiten der Marktteilnehmer einzuführen, um die Legitimität ihrer Bewertungen infrage zu stellen. Die Analyse eines finanziellen Referenzdiskurses, der wesentlich von Experten der Finanzbranche betrieben wird, eröffnet eine andere analytische Option: Sie klammert Preise als scheinbar objektive Bewertungen ein und fragt danach, wie sie überhauptals legitime Bewertungen konstruiert werden, das heißt, wie erst durch kalkulative Rahmungsarbeit finanzielle Bewertungen „detectable, countable, recordable, reportable, tell-a-story-aboutable, analyzable – in short accountable“ (Garfinkel2008, S. 33) werden. Die Frage nach den Bewertungen wird damit wissenssoziologisch und diskursanalytisch gewendet. Der Begriff der kalkulativen Rahmung ist hierfür ein geeignetes Instrumentarium, weil er deutlich macht, dass finanzielle Bewertungen anspruchsvolle und zugleich fragile Wissensoperationen sind: Sie erfordern den Umgang mit Formeln und das Treffen von Annahmen unter erheblichen Unsicherheiten. Innerhalb der Finanzindustrie haben wir es mit einem Wettbewerb unter Experten zu tun, der dazu führt, dass Bewertungsunsicherheiten zum Zwecke der Positionierung ausgenutzt werden. Doch trotz der Unsicherheiten und der Uneindeutigkeiten von konkurrierenden Expertenmeinungen strukturieren ihre Expertisen Krisensituationen und werden möglicherweise zu Referenzpunkten folgenreicher Entscheidungen. Mit Schuldennachhaltigkeit, politischem Willen und Marktvertrauen – zunächst äußerst unscharfen Konzepten – kann nun „gerechnet“ werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der Bruchstücke dieser Konzepte im Interdiskurs der Massenmedien verwendet werden, deutet die Wirkmächtigkeit des von Experten erzeugten finanziellen Referenzdiskurses an.

Der Ansatz, für den in diesem Aufsatz geworben wurde, ließe sich durch eine vertiefende Untersuchung des Bewertungswissens weiterentwickeln. Neue Erkenntnisse ergäben sich, wenn man Vergleiche mit Bewertungsrahmen anderer Krisenländer durchführen würde und die über die schriftlichen Erzeugnisse hinausgehenden Rahmungsprozesse (etwa in Beratungen von Ökonomen, Analysten und Investoren von Regierungen etc.) in den Blick nähme. Interaktionssoziologische Untersuchungen könnten womöglich auch genauere Auskunft darüber geben, wie spezifische Rahmungen emergieren und handlungsleitend wirken. Es würde sich darüber hinaus anbieten, die Rolle weiterer Bewertungsakteure wie beispielsweise Rating-Agenturen zu berücksichtigen. Mit dem hier vorgeschlagenen wissenssoziologischen Programm würde man zwar nicht das Zustandekommen der Schuldenkrisen erklären, aber zeigen, wie legitimes Expertenwissen diese Situationen stabilisiert und möglicherweise auch „regierbar“ macht.