1 Einleitung

Wohlfahrtsstaaten westlichen Typs haben sich in der Vergangenheit dadurch ausgezeichnet, dass organisierten, unter professioneller Regie vollzogenen Interventionen in die private Lebenssphäre – gleichsam von der Wiege bis zur Bahre – eine stetig wachsende Bedeutung zukam. Von diesen Interventionen wurde und wird noch immer die zielgenaue Lösung jener sozialen Probleme erwartet, die mit typischen gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen verbunden sind und sich nicht zuletzt in diversen Phänomenen abweichenden Verhaltens manifestieren. Ein besonders schillerndes Beispiel sind problematische Sozialisationsepisoden bei Kindern, die in der Privatsphäre von Familien auftreten und in vielen, aber nicht allen Fällen Interventionen der oben genannten Art hervorrufen. Im sozialrechtlichen sowie sozialpädagogischen Diskurs wird hier vom Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung gesprochen.

In den letzten Jahren haben die Interventionen, die auf eine (vermeintliche, so wahrgenommene) Gefährdung des Kindeswohls reagieren, eine zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, insbesondere im Hinblick auf Beobachtungen bzw. Vermutungen, die kommunalen Jugendämter seien der ihr gesellschaftlich zugewiesenen Interventionsverantwortung nicht hinreichend gerecht geworden. Im Gefolge einiger dramatischer Fälle von Kindesmisshandlung (bis hin zur Tötung, wie im sogenannten Bremer „Fall Kevin“) hat es nicht nur eine „mediale Skandalisierung“ (Fegert et al. 2010) des Interventionssystems, sondern auch verschiedene gesetzliche Maßnahmen und konzeptionelle Innovationen gegeben, die Interventionsprozesse optimieren und den wahrgenommenen Problemdruck entschärfen sollten. Allerdings herrscht in der Öffentlichkeit und auch unter Experten weiterhin der Eindruck eines notorischen Institutionenversagens vor. Zumindest gibt es reichlich Streit über die Art und Weise, wie die zuständigen Akteure und Instanzen Kindeswohlgefährdung erfolgreich(er) verhüten oder wenigstens eingrenzen können.

Schon im Hinblick auf den Begriff des Kindeswohls bzw. die Definition seiner Gefährdung besteht einiges an Unklarheit. Dabei sollte man sich zunächst an jene Definitionen halten, die die praktizierenden Experten in ihren und auch durch ihre konkreten Interventionen vornehmen. Dies ist nicht einfach eine – der Vielzahl konkurrierender DefinitionenFootnote 1 geschuldete – Notlösung, sondern liegt gerade dann nahe, wenn sich – wie in diesem Beitrag – das Forschungsinteresse auf professionelle Wissensbestände und Strategien bei verschiedenen Berufsgruppen und Einrichtungen richtet, die sich mit der Aufdeckung und Lösung der jeweiligen Problemlagen befassen.

Auf dieser Grundlage argumentiert der vorliegende Beitrag, dass in der aktuellen, auf Interventionen bei Kindeswohlgefährdung bezogenen Diskussion – welche suggeriert, sachgerechte und stringente Problemlösungen würden allein an der Ignoranz der offiziell Verantwortlichen scheitern – die organisationale wie soziale Konfiguration, in denen die fraglichen Interventionen vollzogen werden, weitgehend unverstanden bleibt. Wir rekurrieren dabei auf einen durchaus umfangreichen, soziologisch aber wenig reflektierten Fundus an deskriptiven (häufig sozialpädagogisch ausgerichteten) Problem- und Systembeschreibungen sowie auf erste Ergebnisse eines als qualitative In-depth-Studie angelegten Forschungsprojekts, das problematische Sozialisationsperioden von Kleinkindern untersucht.Footnote 2

Unsere Kernthese ist, dass in der genannten Debatte sich im Interventionsgeschehen herauskristallisierende Kontingenzprobleme übersehen werden, einerseits bezüglich der ihm zugrunde liegenden, durch jüngere sozialpolitische Reformambitionen eher noch weiter strapazierten organisationalen Arrangements, andererseits im Hinblick auf den durch Privatheitsvorstellungen komplizierten interaktiven Eingriff in den familiären Raum. Kontingenz aber bedeutet: Interventionen – einschließlich von Triageprozessen, also Positiv- bzw. Negativdiagnosen sowie Entscheidungen über Maßnahmenergreifung bzw. -abbruch – können so oder so ausfallen, durchaus unabhängig von dem, was (im Nachhinein) vielleicht als dem Kindeswohl förderlichste Vorgehensweise erscheinen könnte. Dabei unterstellen wir nicht, man könne grundsätzlich (von außen) objektiv richtige Entscheidungsweisen identifizieren, von denen dann realiter mehr oder weniger abgewichen würde. Vielmehr behaupten wir, dass Interventionen bzw. Entscheidungen darüber – welche ja stets nach bestimmten Kriterien und unter Bezugnahme auf wahrgenommene Rahmenbedingungen erfolgen – (auch) von Faktoren bestimmt werden, die mit dem gegebenen Fall wenig zu tun haben und deren Einfluss gewissermaßen situationsoffen ist. Und das bedeutet auch: Die Interventionen können, müssen und werden de facto aber häufig nicht im Endeffekt die für das Kindeswohl optimalen sein – selbst dann nicht, wenn kein bestimmter normativer Begriff von Kindeswohl als Maßstab angelegt wird, sondern einer, den die beteiligten Professionellen durchaus bei ihrem Handeln im Allgemeinen als gültig erachten.

Am Beginn steht eine Bestandsaufnahme zum Problemfeld Kindeswohlgefährdung, das heißt zu den Inzidenzen bzw. Prävalenzen in Deutschland. Betont wird, dass – ungeachtet der Unterbeleuchtung des Phänomens schon auf der Ebene der statistischen Erfassung – von einer hohen zahlenmäßigen Relevanz des Phänomens sowie von einem Auseinanderklaffen von Prävalenzen und erfassten bzw. mit Hilfe versorgten Fällen ausgegangen werden kann; bereits hier deuten sich Kontingenzprobleme im Interventionssystem an. Im dritten Abschnitt geht es um die Konturen des heute bestehenden Interventionssystems, speziell die dort vorzufindenden organisationalen Arrangements. Verdeutlicht wird, dass das Interventionsgeschehen von Aktivitäten verschiedener Einrichtungen – also nicht allein von der institutionell hauptzuständigen, in diesem Beitrag stark fokussierten öffentlichen Jugendhilfe – geprägt wird und für diese Einrichtungen je eigensinnige institutionelle Regulierungen greifen, die im Zusammenspiel mit ihrerseits je hybride ausgebildeten Organisationsverhältnissen zu mehr oder weniger kontingenten Interventionsprozessen führen. Die Stoßrichtung der Analyse liegt hier auf der Rekonstruktion der spezifisch zugeschnittenen Rollen der verschiedenen Akteure unabhängig von der Frage, wie – öffentlich oder in der Fachwelt als solche betrachtete – Experten die Ausfüllung dieser Rolle im Hinblick auf ihren Beitrag zur Verhütung bzw. Behebung von Kindeswohlgefährdung bewerten würden. Gleiches gilt für unsere Ausführungen im vierten Abschnitt, die vor Augen führen, unter welchen Bedingungen bei der organisierten Bearbeitung von Kindeswohlgefährdung in die familiäre Lebenssphäre eingegriffen wird und wie sich hier ebenfalls erhebliche Kontingenzprobleme ergeben, auch weil an den privaten Raum gerichtete professionelle Ansprüche und Zugeständnisse sich in einem widersprüchlichen, wenn nicht dilemmatischen Normenhaushalt bewegen. Im Schlusskapitel führen wir die verschiedenen Analyseperspektiven zusammen und resümieren, dass organisierte soziale Interventionen in den privaten Raum sich kaum im Sinne einer Sozialgesetzbuch- oder Lehrbuchrationalität ausgestalten lassen. Dort, wo entsprechende Erwartungen artikuliert werden (z. B. in der Medienöffentlichkeit), liegt eine notorische Unterschätzung der dargelegten Kontingenzprobleme vor. Dadurch werden nicht nur Ressourcen und Motivationen des federführenden Professionspersonals angegriffen, sondern es wird auch der Blick auf die Hauptagenda für die Optimierung der Interventionen verstellt: nämlich die Etablierung von Strukturen, in welchen den bestehenden Kontingenzproblemen systematisch mehr Aufmerksamkeit zuteil wird.

2 Kindeswohlgefährdung in Deutschland

Will man sich einen Überblick über das tatsächliche Ausmaß von Kindeswohlgefährdung in der Bundesrepublik verschaffen, ergibt sich ein diffuses Bild. Trotz der starken medialen Thematisierung existiert bisher keine Systematik, geschweige denn eine Pflicht zur Erfassung von Inzidenzen bzw. Prävalenzen. Dieser Mangel an repräsentativen epidemiologischen Daten schafft eine enorme Diskrepanz zwischen Hell- und Dunkelfeld. So spricht der 13. Kinder- und Jugendbericht des Deutschen Bundestages (2009, S. 89) davon, dass „das tatsächliche Ausmaß von Vernachlässigung und Kindesmisshandlung (…) nur geschätzt werden (kann), da (…) neuere repräsentative und auf der Basis valider Erhebungsinstrumente gewonnene Ergebnisse fehlen“. Eine weitere Schwierigkeit der Vermessung des Problemfeldes besteht in der Vielfalt der Konzeptionen und Kategorisierungen, mit denen die unterschiedlichsten Phänomene erfasst werden und die untereinander nicht immer trennscharf abgegrenzt sind. Neben der körperlichen Misshandlung und dem sexuellen Missbrauch, die noch am ehesten zu sichtbaren Verletzungen des Kindeskörpers führen können, geht es um (potenziell ebenso gravierende) körperliche und emotionale Vernachlässigung bzw. Verletzung oder auch um psychische Gewalt. Entsprechend fallen Schätzungen auf der Basis von Umfragen bzw. Eigenangaben äußerst unterschiedlich aus.

Eine erste empirische Annäherung an das Phänomen erlaubt der Blick auf allgemeine familiäre Gewalterfahrungen von Kindern, die auf ein beachtliches Problempotenzial hindeuten: In einer Untersuchung von Pfeiffer et al. (1999) zum Zusammenhang von erlebter Gewalt im Kindes- bzw. Jugendalter und jugendlichem Gewaltverhalten gaben 56,6 % von Schülern der 9. und 10. Klasse an, von ihren Eltern gezüchtigt oder physisch misshandelt worden zu sein. Zwar scheinen schwere Züchtigungen von Kindern zunehmend weniger gesellschaftliche Akzeptanz zu finden, doch gaben in einer Befragung von Lamnek und Ottermann (2004) immerhin ein Drittel der befragten Eltern an, schon einmal selbst Gewalt angewendet zu haben, und 45 % der Respondenten sehen in leichteren Formen wie der „klassischen“ Ohrfeige ein Erziehungsmittel, das dem Kind nicht schade (ebd., S. 100 f.) – das heißt, dass körperliche Gewalt gegen Kinder bei anderen toleriert wird, selbst wenn die Eltern nicht gewaltförmig agieren.Footnote 3 

Was die dramatischen Fälle anbelangt, so schätzt das Innocenti Research Centre der UNICEF (2003) die Prävalenz von Misshandlungen/Vernachlässigungen mit Todesfolge für Deutschland auf 0,8 pro 100.000 Kinder zwischen 0–15 Jahren.Footnote 4 Allerdings: Das Gefährdungspotenzial geht weit darüber hinaus, wie sich vor allem zwei deutschen Datenquellen – der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS; Bundeskriminalamt 2009) sowie den Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – entnehmen lässt. In der PKS 2008 rangiert bei den Straftaten gegen Kinder (0–14 Jahre) Körperverletzung (430,1 Fälle pro 100.000) an erster Stelle, gefolgt von den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses (15,9 Fälle pro 100.000; allerdings sind hierin noch nicht die Fälle sexuellen Missbrauchs enthalten, die vom BKA als gesonderte Straftat geführt werden). In absoluten Zahlen gab es 2007 15.195 Fälle von sexuellem (Kindes-)Missbrauch sowie 44.994 Fälle von Körperverletzung bei Kindern (0–14 Jahre); dabei liegt der Anteil familialer Gewalt (in der PKS: „Misshandlung von Schutzbefohlenen“) bei 4.102 Fällen, was einem Anteil von rund 9 % entspricht.

Die Debatte über Inzidenzen bzw. Prävalenzen dreht sich nicht zuletzt um Entwicklungsdynamiken im Problemfeld. Öffentlich besteht hier häufig der Eindruck eines wachsenden Problemdrucks. Bezüglich der hier besonders interessierenden Gruppe der Kleinkinder konstatieren Fendrich und Pothmann (2009) unter Bezugnahme auf die PKS zwischen 2000 und 2006 in der Tat eine Steigerung der zur Anzeige gebrachten Körperverletzungen von 10 auf 13 pro 10.000 (bzw. 1,9/3,6 Fälle familialer Gewalt).Footnote 5 Allerdings wird der Anstieg von den Autoren nicht als Zuspitzung der Gefährdungslage, sondern als verändertes Anzeigeverhalten interpretiert – eine These, die angesichts des oben erwähnten Sensibilisierungsprozesses durchaus schlüssig erscheint.

Die Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe, die u. a. die vorläufigen Schutzmaßnahmen des Jugendamtes dokumentieren, verdeutlichen ein Auseinanderklaffen von Inzidenzen und organisierten Interventionen. Von besonderem Interesse sind hier die Inobhutnahmen, also die temporäre Unterbringung von Kindern in einer Einrichtung oder bei einer geeigneten Person entweder auf eigenen Wunsch oder bei (angenommener) „Gefahr im Verzug“.Footnote 6 2009 wurden 33.710 Fälle vorläufiger Schutzmaßnahmen verzeichnet – eine Zunahme um 8.046 Fälle (+ 31 %) seit 2005 (Statistisches Bundesamt 2010b, S. 35 f.; eigene Berechnungen).Footnote 7 Ein bemerkenswerter Anstieg findet sich insbesondere in der Gruppe der unter Dreijährigen: Machte diese Altersgruppe im Jahre 2000 noch rund 5 % aller Kriseninterventionen des Jugendamtes aus, verdoppelte sich der Anteil 2009 auf rund 10 % – 3.334 Fälle stellen hierbei einen historischen Höchstwert dar. Nimmt man die Altersgruppen der Drei- bis Sechsjährigen hinzu, so übersteigen die Fälle seit 2008 deutlich die 5.000: 2008 lagen sie bei 5.543, 2009 bei 5.575; 2007 lagen sie noch bei 4.443 (ebd., eigene Berechnungen).Footnote 8 Allerdings wird bei Kleinkindern seltener zur vorläufigen Schutzmaßnahme gegriffen als bei Jugendlichen, wobei solche Interventionen nur einen Teil des Maßnahmenkatalogs der Kinder- und Jugendhilfe darstellen: Den etwa 32.000 vorläufigen Schutzmaßnahmen standen 2008 insgesamt ca. 517.000 Fälle von gewährten Hilfen zur Erziehung gegenüber (Statistisches Bundesamt 2010a, b).

Unabhängig davon verweist die Statistik auf eine gewisse Diffusität bei der Veranlassung von Inobhutnahmen durch die behördlichen Instanzen. Die entsprechenden Entscheidungen scheinen nicht bloß Indikator für institutionelle Reaktionen auf Kindeswohlgefährdungen zu sein, sondern mitunter auch Antworten auf andere (vermutete) „Krisen“ im privaten Raum der Familie. Einen solchen Eindruck vermitteln jedenfalls die durch die Verantwortlichen vorgenommenen Etikettierungen der Interventionen, für die bezüglich des offiziellen Anlasses einerseits „Misshandlung“ bzw. „Vernachlässigung“, andererseits aber auch „Überforderung der Eltern“ angegeben wird. Im Jahre 2009 wurden 3.139 Inobhutnahmen auf Grund einer (so) wahrgenommenen Misshandlung sowie weitere 3.866 mit Verweis auf beobachtete Vernachlässigung durchgeführt. Gleichzeitig rangierte die Diagnose „Überforderung der Eltern“ mit 14.756 Fällen deutlich an erster Stelle (Statistisches Bundesamt 2010b, S. 9 f.); eine Aufschlüsselung nach Altersstruktur ergibt, dass die höheren Altersgruppen (12–18 Jahre) knapp zwei Drittel dieser Fälle ausmachen. Die Diagnose „Misshandlung“ als Anlass für Krisenintervention verteilt sich relativ gleichmäßig über alle Altersgruppen; rund 500 Fälle in der Kohorte der unter Sechsjährigen machen einen Anteil von 16 % am Gesamt aus. Bei der Diagnose „Vernachlässigung“ stellt sich das Bild jedoch ganz anders dar: Mit 1.773 und damit 46 % aller Fälle ist dieser Interventionsgrund gerade bei den 0–6-Jährigen vorherrschend (ebd., eigene Berechnungen), wiewohl dies nur eine relativ kleine Zahl von Fällen (11,5 %) betrifft.Footnote 9 Bemerkenswert ist, dass der Anteil der unter Dreijährigen an allen in Obhut genommenen Minderjährigen zwischen 2004 und 2009 um 90,4 % angewachsen ist, was in erster Linie auf den Einfluss der wachsenden öffentlichen (und behördlichen) Sensibilität für das Problem zurückzuführen sein dürfte. In der vorliegenden Empirie deutet sich an, dass Ausmaß und Art organisierter Interventionen nicht zuletzt mit „Wahrnehmungskonjunkturen“ sowie diffusen Problemetikettierungen korrespondieren; bereits auf der Ebene einer bloßen statistischen Betrachtung ergeben sich also Hinweise auf Kontingenzen.

3 Die gesellschaftliche Bearbeitung von Kindeswohlgefährdung: Institutionelle (Re-)Regulierung und organisationale Arrangements

Auf den ersten Blick scheint das, was man als gesellschaftliche Bearbeitung von Kindeswohlgefährdung bezeichnen könnte, stringent organisiert. Zentraler Bezugspunkt öffentlicher Diskurse und staatlicher Regulierungen sind die Jugendhilfe sowie die sie umgebenden Instanzen der Familienfürsorge. Diese gelten als – im doppelten Sinne des Wortes – ideale Prozessverantwortliche; von ihnen werden systematische und sachgerechte Problemlösungen erwartet. Allerdings erweist sich die „reale“ Landschaft der praktisch involvierten Akteure als erheblich pluralistischer – ein Umstand, der innerhalb der Fachöffentlichkeit erst in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erfahren hat. Wie weiter unten noch illustriert werden wird, ist es häufig die Peripherie der Jugendhilfe, die bei der Entdeckung, Prävention und Bearbeitung von Kindeswohlgefährdung wesentliche Beiträge leistet und somit den gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen eigensinnig mitgestaltet.

Generell unterliegen Interventionen bei Kindeswohlgefährdung weitreichenden institutionellen Regulierungen, die auf die organisierten Arrangements des Handlungsfeldes einwirken. Dabei zeigt sich jedoch einerseits, dass diese Regulierungen schon für eine einzelne Einrichtung uneindeutig sein können, während andererseits für die verschiedenen beteiligten Akteure je besondere, untereinander nicht zwingend kompatible Regulierungen greifen. Zugleich gibt es bei den Einrichtungen selbst interne Spannungsfelder, die oft auf den (mehr oder weniger) hybriden Organisationscharakter zurückzuführen sind, wie er sozialen (und medizinischen) personenbezogenen Dienstleistungsagenturen eigen ist (Klatetzki 2010). Organisationsübergreifend prallen also diverse Rollen und Handlungsorientierungen mitunter unvermittelt aufeinander, wodurch Kontingenz gleichsam vorprogrammiert ist.

Über die Jugendämter als Fokalorganisationen der öffentlichen Fürsorge informiert die einschlägige, meist sozialpädagogische oder sozialrechtliche Literatur (Deegener und Körner 2005; Jordan 2006; Krieger et al. 2007; Maywald 2009; Meysen et al. 2009; Ziegenhain und Fegert 2007) durchaus umfassend. Jugendämter sind hybride Organisationen, die – als professionell kodierter und zugleich bürokratisch gesteuerter wohlfahrtsstaatlicher Interventionsapparat – permanent Schwierigkeiten haben, sich zwischen ihren Dienstleistungs- und Kontrollfunktionen zu entscheiden.Footnote 10 Ein Hintergrund dafür ist die gesetzlich festgeschriebene Verpflichtung der Jugendhilfe auf die Förderung der Elternverantwortung zum einen und der Bewahrung kindlicher Entfaltungschancen zum anderen. In diesem Kontext ist die Richtung der Förderung uneindeutig; die eigentlichen Adressaten der Hilfe sind (gesetzlich) die Eltern, gleichzeitig geht es in der Sache letztlich um das Kind (im Sinne des Schutzauftrags). Wenngleich im Interventionsprozess selbst – wie unten noch ausgeführt werden wird – die Elternrechte nicht selten verpflichtender erscheinen als der Imperativ des Kindeswohls, bleibt es den näheren Umständen geschuldet, was letztlich den Ausschlag gibt.

Die von den Ämtern selbst vorgehaltene, in der Regel als „Allgemeiner Sozialer Dienst“ (ASD) bezeichnete Organisationseinheit kann Interventionsrollen wahrnehmen, agiert jedoch häufig (und zunehmend mehr) als reine Gefahrenabklärungs- und Notfallinterventionsbehörde. Im Vorfeld restriktiver Interventionen greifen zahlreiche, von den Jugendämtern veranlasste Beratungs- und Begleitmaßnahmen, so etwa die sogenannten sozialpädagogischen Familienhilfen (SPFH) sowie verschiedene Formen der Erziehungsberatung – meist in Trägerschaft nicht-staatlicher Einrichtungen (s. u.). Welche Maßnahmen eingesetzt werden, hat immer auch mit lokalen Traditionen, Anbieterlandschaften und Verfügbarkeiten zu tun.

Orientierungsstiftend für viele Interventionen sind zunächst sozialprofessionelle Kodierungen, die sich – folgt man klassischen Erkenntnissen der Professionssoziologie (für viele: Mieg und Pfadenhauer 2003) – mit drei zentralen Bezugswerten in Verbindung bringen lassen: mit operativer Autonomie, prozeduraler Offenheit und fallorientiertem Handeln. Klassischerweise wird (international) von einer Dominanz dieser Werte im Professionsalltag ausgegangen, was Abwägungsprobleme nicht ausschließt (Harrach et al. 2000).Footnote 11 In Jugendämtern können bzw. müssen Sozialprofessionelle – jenseits dieser Kodierungen – nun aber wiederholt Maßnahmen der Inobhutnahme bzw. der (Fremd-)Unterbringung initiieren; hier handeln sie dann, fallorientiert am Problem der Kindeswohlgefährdung arbeitend, gegenüber den Eltern als Inspektions- und Sanktionsinstanz. Aus Sicht der Ämter steht dies häufig in einer Spannung mit den o. g. Imperativen des Sozialprofessionalismus – wobei die ordnungsrechtliche Entscheidungsbefugnis zur elterlichen Sorge bzw. zum (temporären) Entzug der elterlichen Erziehungsverantwortung den Familiengerichten überlassen ist.Footnote 12

Mehr noch: Das (institutionell regulierte) organisationale Arrangement bewegt sich hier – wie Soziale Arbeit allgemein – nicht nur unruhig zwischen der „Endvision“ emanzipatorischer Hilfe und dem Mandat normalisierender Kontrolle, sondern beinhaltet darüber hinaus die Möglichkeit einer Bedrohung der Helfer und Kontrolleure selbst. Beruflich in das Handlungsfeld Involvierte stehen wegen der ihnen auferlegten sogenannten „Garantenpflicht“ (Heidelbach 2005, S. 437 f.) permanent unter dem Druck, zwischen beiden Orientierungen jeweils adäquat, das heißt ohne Gefahr der Strafverfolgung wegen Zielverfehlung abzuwägen. Infolge der eingangs genannten (mediengängigen) Funktionsprobleme („Fall Kevin“) scheint dabei die sozialstaatliche (Re-)Regulierung auf eine Standardisierung der Kontrollfunktion hinauszulaufen. Beobachtet wird eine Normverdichtung in den Verfahren der Risikoabschätzung oder der Entscheidungsfindung bei Inobhutnahme, was auf eine zunehmende Bürokratisierung eines traditionell durch die oben genannten (professionellen) Bezugswerte kodierten Arbeitszusammenhangs verweist. Dies folgt den international an Bedeutung gewinnenden Konzepten der „evidence-based social work“ (Webb et al. 2009), steht aber in einem Spannungsverhältnis mit der Partikularität jedes Einzelfalls, dessen Bearbeitung heute vermehrt, und vermutlich oft genug artifiziell, mit bürokratisch vorgefertigten Schablonen in Deckung gebracht werden muss.

In gewisser Weise resultiert ein solcher Bürokratisierungseffekt auch aus sozialwirtschaftlichen Re-Regulierungsprozessen. Beobachtet wird für die Jugendhilfe allgemein ein wachsender Regulierungsspagat „zwischen Qualität und Kosteneffizienz“ (Messmer 2007; vgl. auch Pluto et al. 2007), der Jugendämtern die Einnahme einer betriebswirtschaftlichen Perspektive bis hin zur Internalisierung mit Fallkosten hinterlegter Tätigkeitsprofile nahelegt. Es geht um Instrumente wie kennzahlenbasiertes Controlling, Zielvereinbarungen und Kontraktmanagement, die in den Augen vieler auf eine „Managerialisierung“ (Dahme 2008, S. 11) sozialprofessioneller Interventionen hinauslaufen. Je nach dem Grad ihrer Formalisierung verlangen solche Instrumente von Prozessverantwortlichen, eine am Einzelfall(verlauf) orientierte Praxis in feste Zeitmodule bzw. Mittelverwendungsroutinen zu pressen (Fälle pro Einheit; Fallabwicklung pro Zeitraum etc.). Dabei gilt für alle Beteiligten „das gleiche Basismotiv: Kostenreduktion“ (Krone et al. 2009, S. 182).

Im Handlungsfeld Kindeswohlgefährdung macht sich diese Umsteuerung durchaus konkret bemerkbar. So war auf lokaler Ebene der mittlerweile flächendeckend durchgesetzte „Vorrang ambulanter Hilfen“ (Krieger et al. 2007, S. 157) auch Einfallstor für sozialpolitische Rationalisierungsstrategien. Zumindest bestehen Anreize, die – vergleichsweise kostspieligen – Kapazitäten für stationäre Schutzräume zurückzufahren und in Ermangelung von Alternativen Kinder in Familien zu belassen bzw. früher in diese zurückzugeben, unabhängig davon, ob dies tatsächlich sachgerecht ist.Footnote 13 Die oben geschilderte Erhöhung der Fallzahlen befördert überdies in Kombination mit erhöhten Qualitätsmanagementverpflichtungen (Dokumentationen, Rücksprachen etc.) eine Engführung von Fallbearbeitungen sowie rigide(re) Triageprozesse, auch weil die Personalressourcen nicht im gleichen Umfang wachsen. Zudem gibt es Indizien für eine – nicht zuletzt auf Kosteneinsparungen zielende – Ausweitung der Aufgabendelegation an nicht-staatliche Träger, was erhöhte (und wahrscheinlich schwerer erfüllbare) Anforderungen an die fallbegleitende Maßnahmenkoordination stellt. Insofern erzeugt die institutionelle Re-Regulierung prekärere Operationsbedingungen für jene, die Kindeswohlgefährdungen verhüten bzw. beheben sollen.

Es scheint, als seien es auf die Mittel organisierten Handelns bezogene Opportunitätserwägungen, die vor Ort den Ausschlag dafür geben, welche Interventionen Jugendämter wie durchführen (zu können glauben). In jedem Fall gestalten die dem organisationalen Arrangement der Jugendhilfe inhärenten Spannungen, die durch Prozesse der „Managerialisierung“ noch verschärft werden, das Interventionshandeln potenziell hochgradig kontingent. Dabei sind die Jugendämter nur ein Glied in der Interventionskette: Der Akteurspluralismus im Handlungsfeld birgt das Potenzial für zusätzliche Kontingenz, weil für andere beteiligte Einrichtungen eigene Rollen und Spannungsfelder ausgebildet sind und es zudem unsystematische Prozesse der Abstimmung zwischen den beteiligten Akteuren gibt, diese mithin tendenziell anarchisch verläuft.

Bezüglich der jenseits der Jugendämter in das Interventionsgeschehen involvierten Einrichtungen muss unterschieden werden zwischen jenen Trägern, die mit Hilfemaßnahmen beauftragt werden, und solchen, die schwerpunktmäßig anderen Aufgaben nachgehen. Was Erstere anbelangt, so liegt – durch das in Deutschland traditionell vorherrschende Subsidiaritätsprinzip bedingt – ein Großteil der sozialprofessionellen Begleitmaßnahmen (Beratung, Begleitung, Therapie) in den Händen sogenannter freigemeinnütziger Träger (Wohlfahrtsverbände). Diese Träger stehen in spezifischen Vertragsbeziehungen mit der öffentlichen Jugendhilfe als ihrem wesentlichen Ressourcenlieferanten. In vielen Bereichen des Sozialsektors hat die sukzessive Veränderung der „terms of trade“ in diesen Vertragsbeziehungen (Bode 2005; Möhring-Hesse 2008) einen Wandel der betriebswirtschaftlichen Operationsbedingungen auch dieser Organisationen zur Folge. Nachdem die Träger lange Zeit auf eine an effektiven Gestehungskosten orientierte staatliche Alimentierung sowie konsensual vereinbarte, mit relativ großen Implementationsfreiräumen einhergehende Arbeitsaufträge setzen konnten, sehen sie sich heute – lokal unterschiedlich stark ausgeprägten – Versuchen einer manageriellen Kosten- und Prozesssteuerung ausgesetzt.

Auch in der Jugendhilfe gab es immer wieder Initiativen der öffentlichen Hand, freie Träger über Leistungs- bzw. „Produkt“-Beschreibungen sowie kennzifferbasierte Evaluationen unter Effizienzdruck zu setzen (Messmer 2007; Krone et al. 2009). Zwar werden bislang rechtlich mögliche, stärker marktförmige Steuerungsinstrumente wie Ausschreibungen und wechselnde Auftragsvergabe zurückhaltend eingesetztFootnote 14; sie dienen aber stets als Drohkulisse, mit der sich der oben genannte Managerialismus auch bei den freien Trägern zur Geltung bringen lässt. Die Interaktion zwischen öffentlichen Kostenträgern und nicht-staatlichen Einrichtungen nimmt hier potenziell den Charakter quasi-kommerzieller Geschäftsbeziehungen an, deren konkrete Ergebnisse nicht zuletzt durch die lokal je unterschiedlich etablierten Kräfteverhältnisse beeinflusst werden.

Für das Handlungsfeld Kindeswohlgefährdung gibt es (zerstreut) Evidenzen dafür, dass Jugendämter, wiewohl sie Beratungs- und Betreuungsleistungen vermehrt nach außen delegieren, freie Träger durch Leistungsbeschreibungen sowie Prozederevorschriften (z. B. die Aufstellung von „Schutzplänen“) stärker an die „Kandare“ nehmen und mit wirtschaftlichen Risiken belasten. Die Finanzierung besonders der niederschwelligen (präventiven) Aktivitäten erfolgt bei vielen Trägern vermehrt aus prekären Ressourcenquellen (Stiftungsmittel, Spenden, EU-Geldern etc.) sowie im Rahmen eines sich ständig verändernden Potpourris aus öffentlichen Kleinaufträgen.Footnote 15 Entsprechend wird die öffentliche Steuerung von den Trägern vielfach als restriktiv, weil unberechenbar erfahren (Blum-Maurice 2005; Krieger et al. 2007, S. 156 ff.). Wenngleich verschärfte Dokumentationspflichten von einigen Experten als überfälliger Systematisierungsimpuls betrachtet werden, erschwert auch hier der externe Zuschnitt von Handlungsspielräumen nachhaltiges und fallorientiertes Interventionshandeln. Dies wiederum begünstigt Tendenzen einer realitätsfremden Kommunikations- und Darstellungspraxis (geschönte Dokumentationen, Verschleierung von emergenten Problemen etc.) nach innen und außen bzw. hin zu öffentlichen Instanzen, also „Wissensverluste“ (Möhring-Hesse 2008, S. 156) über das gesamte Interventionssystem hinweg.

Ein ähnlich paradoxer Effekt stellt sich durch die Bestimmungen des „Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe“ (KICK; § 8a KJHG) aus dem Jahr 2005 ein. Es verpflichtet alle mit Kindeswohlgefährdungen in Berührung kommenden Träger, sich aktiv an der Gefahrenabschätzung bis hin zur Gefahrenmeldung zu beteiligen und bei formalen Diagnosen Fachkräfte (falls im eigenen Hause nicht verfügbar) auch aus fremden Einrichtungen einzusetzen. Träger, die sich auf ihre eigenen Tätigkeitsbereiche bzw. -konzepte konzentrieren (wollen), übernehmen hier neue (rechtliche) Risiken; sie fahren einen größeren Aufwand und können sich – weil der Tatbestand der Kindeswohlgefährdung auch juristisch nur vageFootnote 16 definiert ist – ihrer Sache nie sicher sein. Bestimmungen, die auf eine Optimierung von Diagnose- und Reaktionsprozessen abzielen, schaffen hier Imponderabilien, auf die freie Träger vielfach situationsopportunistisch reagieren dürften.

Unabhängig davon sind solche frei-gemeinnützigen Organisationen in besonderer Weise hybride strukturiert (Evers und Ewert 2010). Zum einen greifen auch für sie vielfach die oben für die Jugendämter dargestellten professionellen Kodierungen. Zum anderen ist Interventionshandeln hier in einen durch assoziative Governance mitbestimmten Arbeitskontext eingebettet, den Direktionsrechte ehrenamtlicher Vorstände ebenso prägen wie Einflüsse von in die Alltagspraxis involvierten Laienarbeitern (Bode 2010; Grunow 1995). Ein Ergebnis dieses Organisationscharakters dürfte sein, dass freie Träger, wie etwa die Kinderschutzzentren, sich organisationskulturell bzw. „ideologisch“ bewusst vom Jugendamt abgrenzen, etwa indem sie gegenüber ihrer Klientel eine advokatorische bzw. vertrauensbasierte Schutzrolle anstreben (Blum-Maurice 2005). Dementsprechend hat die regulatorische Verlängerung des Kinderschutzauftrags in den Verantwortungsbereich freier Träger bei Letzteren zu Befürchtungen geführt, dass „eine zu frühzeitige oder zu intensive Zusammenarbeit z. B. mit den Sozialen Diensten das Vertrauen in die Angebote oder in die Niederschwelligkeit der Angebote (…) stören könnte“ (Werner 2006, S. 141). Interessant erscheint diesbezüglich auch der Hinweis von Meysen (2007, S. 31), dass mit dem Vorwurf der Kindesvernachlässigung konfrontierte Eltern häufig „diversifizierte Vertraulichkeiten“ bzw. „Geheimnisse“ gerade mit Beschäftigten solcher Träger teilen. Die für freie Träger maßgeblichen organisationalen Kodierungen decken sich also nicht ohne Weiteres mit jenen, die in Jugendämtern dominieren.

Wie bereits angedeutet, treten im Handlungsfeld Kindeswohlgefährdung neben die bislang betrachteten Trägergruppen weitere, periphere Akteure, die wiederum ganz eigenen Regulierungen und spezifischen Formen der Arbeitsorganisation unterliegen. Eine wichtige Rolle spielen etwa Akteure des Gesundheitssystems wie Hebammen oder Ärzte. Da ihnen elementare Diagnose- und zum Teil auch Präventionsfunktionen zufallen, sind sie in den letzten Jahren (vor allem auf der Ebene von Ländergesetzen) immer mehr in den mit Kindeswohlgefährdung assoziierten Problemkontext einsortiert worden (Meysen et al. 2009). Auch hat es vermehrt Pilotprojekte gegeben, die sie unmittelbar in das Interventionssystem integrieren sollten (durch datenbankgestützte Registrierung, Trägerkonferenzen, Schulungen etc.).

Besonders Hebammen gelten mittlerweile als für das Interventionsgeschehen kritische Akteure (Krieger et al. 2007, S. 200 ff.). An vielen Orten gibt es heute sogenannte Familienhebammen, die gezielt und für einen längeren Zeitraum Problemfamilien begleiten und dafür (z. B. vom örtlichen Gesundheitsamt) gesondert vergütet werden. Im Normalbetrieb unterliegen Hebammen allerdings einer spezifischen institutionellen Regulierung. Ihre Standardrolle enthält kaum auf den Umgang mit Kindeswohlgefährdung bezogene Elemente. Vergütet werden sie von den Krankenkassen mit für einzelne „Besuchspakete“ kalkulierten Pauschalen, die eher knapp kalkuliert sind. Zumindest hat die Berufsgruppe seit einiger Zeit mit beträchtlichen Ressourcenproblemen zu kämpfen (u. a. infolge einer massiven Erhöhung von Haftpflichtversicherungsprämien). Auch bei den (Kinder-)Ärzten verhält es sich so, dass ihre Diagnose- und Präventionsleistungen eine ethisch gebotene, aber in dem für sie relevanten Vergütungs- und Regulierungssystem irrelevante Nebentätigkeit darstellen. Hinzu kommt, dass sie die mit dem Vertrauensfundament ärztlicher Tätigkeit korrespondierende Schweigepflicht an einer raschen und offenen Informationsvermittlung in Richtung Jugendamt hindert. Die organisationalen Arrangements werden hier also durch institutionelle Rahmenbedingungen strukturiert, die nicht selten Zielkonflikte mit offenem Ausgang produzieren.

Für beide genannten Berufsgruppen gelten Berufskodizes, die – etwa im Hinblick auf Vertrauensfragen oder den Fokus des diagnostischen Blicks – anders ausgerichtet sind als jene im oben betrachteten Kernfeld der Bearbeitung von Kindeswohlgefährdung. Die Kodizes ihrerseits weisen berufsspezifische Eigenheiten auf. Hebammen verpflichten sich auf alltagsbegleitende, immer gleichzeitig auf Mutter- und Kindeswohl gerichtete Unterstützungsfunktionen, während die kurative Medizin sich episodisch am einzelnen Körper orientiert. Allgemein dürfte es auch im hier betrachteten Handlungsfeld starke arbeitskonzeptionelle Differenzen zwischen Professionen sowie eine Neigung zur Abschottung von Handlungsdomänen geben, womit ein wenig junger Topos der Professionssoziologie angesprochen ist (Baxter und Brumfitt 2008). Eine Einbindung dieser Berufskodizes in bürokratische Arrangements (abhängige Beschäftigung) ändert an der Eigensinnigkeit der Akteure und den damit korrespondierenden Konfliktpotenzialen wenig.Footnote 17 Gleichzeitig greifen auch bei diesen peripheren Akteuren spezifische hybride Organisationsverhältnisse. Der freiberufliche Arbeitskontext, so wie er heute bei vielen Hebammen und Ärzten ausgebildet ist, schafft (zumindest unter Bedingungen einer Ressourcenverknappung) Spannungen zwischen professionellen und betriebswirtschaftlichen Orientierungen. Die Professionssoziologie hat die Arbeitsbedingungen von Ärzten schon von jeher als diffuses Nebeneinander von erwerbswirtschaftlicher und kollektiv-universalistischer Berufshaltung beschrieben (Freidson 2001; Rueschemeyer 1972; vgl. auch Rychner 2006), für andere Freiberufler im Interventionssystem dürfte Ähnliches gelten.

Unter den geschilderten Rahmenbedingungen sind dann auch Vernetzungen zwischen den für das Handlungsfeld relevanten Akteuren – wobei neben den genannten noch viele weitere (Bildungseinrichtungen, Polizei, andere soziale Dienste) betrachtet werden müssten – äußerst stressanfällig. Vernetzung wird von Experten aufgrund des lebensweltlich-ökologischen Charakters sowohl des Phänomens Kindeswohlgefährdung als auch seiner Bearbeitung vehement eingefordert. Viele begreifen das ungeregelte Neben-, Mit- und auch Gegeneinander der an Interventionsprozessen beteiligten Instanzen als den wesentlichen Faktor für die Inkonsistenz von Hilfeprozessen; zudem werden dort, wo Zusammenarbeit stattfindet, zahlreiche Kooperationsbarrieren diagnostiziert (Krieger et al. 2007, S. 133; Pluto et al. 2007, S. 593 ff.; Meysen et al. 2009, S. 15 f.). Bathke (2006, S. 45) spricht gar von einer „Konkurrenz zwischen den beteiligten Akteuren und Institutionen“. Quasi-institutionalisierte Kooperationsroutinen wie die sogenannten „Arbeitsgemeinschaften“, die qua Gesetz unter der Regie des Jugendamtes stehen, beziehen Vertreter von nur mittelbar mit Kindesvernachlässigung befassten Instanzen offenbar nur selten mit ein.

Anders scheint es sich bei den mittlerweile zahlreichen, akteursübergreifenden Modellprojekten zu verhalten (vgl. etwa Borris 2007; Lukascyk und Pöllen 2007; Rönnau und Fröhlich-Gildhoff 2008). Projektziele sind hier etwa die Früherkennung von Vernachlässigungsgefahren oder die (psychosoziale) Unterstützung von Risikogruppen schon während der Schwangerschaft, meist unter Beteiligung von Hebammen und Krankenpflegepersonal. Die Begleitforschung verweist indes auf Dissonanzen zwischen den verschiedenen beteiligten Berufsgruppen bzw. Professionen, z. B. bei Initiativen zur Verarbeitung von sexuellem Missbrauch (Frenzke-Kuhlbach 2003). Angesichts der geschilderten Spannungsfelder sowohl bei den beteiligten Einrichtungen bzw. Akteuren selbst als auch hinsichtlich der auf sie einwirkenden institutionellen Steuerungen können die Vernetzungsprobleme kaum überraschen. Die sich aus den geschilderten organisationalen Arrangements gleichsam strukturell ergebenen Kontingenzprobleme lassen sich nicht ohne Weiteres durch episodische – und nicht zuletzt deshalb wiederum ergebnisoffene – Abstimmungsprozesse aus der Welt schaffen.

4 Interventionen in den privaten Raum

Soziale Interventionen bei Kindeswohlgefährdung verlangen einen Eingriff in die familiäre Lebenssphäre, also einen Raum, den moderne Gesellschaften als „privat“ definieren. Mit Rössler (2001) lassen sich drei Aspekte von Privatheit unterscheiden: dezisionale Privatheit im Sinne von Handlungs- und Verhaltensweisen, die jenseits von öffentlicher Kontrolle gewählt werden können; informationelle Privatheit, zu verstehen als ein Wissen, das vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten werden kann; lokale Privatheit als die sichtbarste und materielle Dimension des Privaten, nämlich die für Außenstehende nicht zugänglichen Räume hinter Mauern und Türen. In all diesen Formen ist Privatheit ein geschütztes Recht.

Nun wurde die Vorstellung des Privaten im 18. und 19. Jahrhundert – das heißt in der Zeit, in der sie auch kodifiziert und normativ priorisiert wurde – stark an die Familie gebunden (Castan 1991; Coontz 1988; Duby 1990; Stone 1977).Footnote 18 Es ist wohl eine Folge dieser Festschreibung von Privatheit als Familie, dass mit der Abschottung eines privaten Raumes – scheinbar widersprüchlich – bestimmte Formen öffentlicher Interventionen bedeutend werden. Früh zeichnet sich die spannungsvolle Eigenart dieses Raumes ab: Öffentliche Instanzen werden in Anspruch genommen und zum Teil eigens geschaffen, um das Funktionieren des privaten Raumes – gemäß den sich dafür etablierenden Normen und Idealen – zu garantieren. Die Inanspruchnahme erfolgt zum Teil aufgrund von Klagen von Personen (vor allem Frauen) aus dem privaten Raum. Das Einschalten öffentlicher Instanzen geschieht aber auch aufgrund öffentlicher Interessen am privaten Raum, dem eine wichtige Funktion im gesellschaftlichen Ordnungsgefüge zugewiesen wird, hauptsächlich für die Sozialisation des Nachwuchses (an die wachsende Ansprüche gestellt werden). Erziehungs-, Wohnungsbau- und Sozialprogramme sowie Ärzte und paramedizinische Dienste sollen seit dem 19. Jahrhundert sicherstellen, dass auch die Familien unterer sozialer Schichten den Ansprüchen des Privaten entsprechen, also in der gewünschten Sozialisationsqualität und das heißt auch und gerade als selbsttragende, abgegrenzte häusliche Einheiten funktionieren.

Damit erhalten die für die genannten sozialen Interventionen zuständigen Instanzen und Professionen eine grundlegende Bedeutung für die Konstitution des Privaten (Badinter 1981; Bühler-Niederberger 2005; Donzelot 1980; Joseph et al. 1977). Es ergibt sich das, was schon Durkheim (1975) das Paradox der modernen Familie nannte, nämlich dass sie gleichzeitig privater und öffentlicher wird (de Singly 1995). Das staatliche und professionelle Interesse dürfte allerdings bis in die jüngste Vergangenheit nicht allein dem Anliegen geschuldet sein, gefährdete Kinder zu schützen, sondern zugleich den Schutz der Öffentlichkeit vor den Folgen mangelhafter Sozialisation – das heißt vor gefährlichen Kindern – zu bezwecken.Footnote 19 Den aktuellen Daten für Deutschland lässt sich entnehmen, dass Inobhutnahmen von Kindern mit steigendem Alter häufiger werden; das Ziel des Kinderschutzes würde eher einen umgekehrten Zusammenhang zwischen Alter und Herausnahme nahelegen (vgl. Abschn. 2).

Das, was in modernen Gesellschaften als sozial problematisch (oder auch ungerecht) gilt, erscheint im privaten Raum gleichsam potenziert: Geschlecht und Alter werden innerfamiliär als Kriterien der Verteilung von Gütern, Macht, Rechten zumeist stärker akzentuiert als im öffentlichen Raum; individuelles Aufbegehren wird auch durch physische Gewalt gebändigt, und zwar seit es diese Rückzugszone gibt (Duby 1990). Gesetzliche Regelungen stützen die asymmetrischen Beziehungen: Artikel 6 des Grundgesetzes hält das „natürliche Recht und die (…) Pflicht“ der Eltern fest, ihre Kinder zu erziehen, und verbietet Eingriffe gegen den Willen der Erziehungsberechtigten, solange diese Personen nicht versagen oder die Kinder zu verwahrlosen drohen.Footnote 20 Erst im Jahre 2000 wurde die körperliche Gewalt gegen Kinder verboten, wobei bis heute auf Kinder betreffende Gewaltprobleme in Familien mit dem Grundsatz „Hilfe vor Strafe“ reagiert wird.Footnote 21

Man kann also drei wesentliche Merkmale des privaten Raumes herausstellen, die auch die Möglichkeiten und Grenzen professioneller Interventionen strukturieren bzw. die Widersprüchlichkeiten erklären können, die diese Interventionen auszeichnen: (1) die prinzipielle Beschränkung des Zugangs zum Privaten, die für alle Außenstehende gilt, (2) das (dennoch) vorhandene normierende Interesse öffentlicher und professioneller Instanzen am privaten Raum, das vor allem auf soziale Ordnung zielt, (3) die Asymmetrie der Beziehungen im privaten Raum. Die Handlungskonstellation im privaten Raum ist dadurch dilemmatisch und grundsätzlich ergebnisoffen. Mit anderen Worten: Für Professionelle, die bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung in die private Familiensphäre eingreifen (müssen), gibt es keine klaren Lösungen, sondern die real getroffenen Entscheidungen sind im eingangs erläuterten Sinne kontingent.

Empirische Beobachtungen zu real vollzogenen Interventionen illustrieren die Paradoxien, die sich bei der Bewältigung der Interaktion vor Ort ergeben.Footnote 22 Zwei Beispiele von Lösungen, die von Intervenierenden wiederholt gewählt respektive als empfehlenswert geschildert werden, sollen dies verdeutlichen. Ein erstes im Feld zu beobachtendes Lösungsmuster lässt sich bezeichnen als: „Sich Zutritt verschaffen, indem man draußen bleibt“. Professionelle betrachten es als geeignete Strategien, möglichst wenig in den privaten Raum einzudringen, entweder dadurch, dass das Ausmaß der Intervention beschränkt wird, oder in der Weise, dass Interventionen an andere (weniger private) Orte verlegt werden. Gerade dadurch soll der Zugang zu den Familien erreicht bzw. erhalten werden.Footnote 23 Das Beispiel führt vor Augen, dass die geschützten Grenzen des Privaten und die ebenso geschützte Position der Erwachsenen in der Familie einen diffizilen Verhandlungsprozess verlangen, wenn die Professionellen Zugang erhalten sollen oder etwas innerhalb der Familie verändern möchten. In diesem Prozess haben die Professionellen oft nicht viel mehr an Verhandlungsmacht geltend zu machen als ihre deutlich erkennbare Bereitschaft zur äußersten Zurückhaltung.Footnote 24

Im Extremfall kann dies dazu führen, dass eine von den Professionellen erkannte Misshandlung nicht angesprochen oder gar zur Anzeige gebracht wird, weil es gelungen ist, eine Vertrauensbeziehung zu den Eltern aufzubauen. Das Mittel – die Vertrauensbeziehung zu den Eltern und damit also der gelungene Eintritt in den privaten Raum – steht dann gänzlich vor dem eigentlichen Ziel: dem Schutz des Kindes. Von einer solchen Konstellation berichtet Mallén (2010) in einer Untersuchung über Angestellte eines Rehabilitationszentrums für behinderte Kinder mit dem Titel „We are too close“, womit gemeint ist, dass die Vertrauensbeziehung zu groß ist, um sie nun durch eine unbeliebte Aktion aufs Spiel zu setzen.

Ein zweites, die bei sozialen Interventionen in den privaten Raum auftretenden Kontingenzprobleme illustrierendes (paradoxes) Lösungsmuster lässt sie wie folgt paraphrasieren: „Den Zustand des Kindes diagnostizieren durch die Beurteilung der Eltern“. Damit ist gemeint, dass intervenierende Akteure stärker auf eine Beurteilung der Eltern zurückgreifen als auf diagnostische Aussagen zum Kind, seinem physischen und psychischen Zustand, seiner bisherigen Entwicklung, den weiteren Entwicklungsschritten und -bedingungen, die sie für dieses Kind für wichtig erachten, etc.Footnote 25 Im Handlungsfeld finden sich normativ aufgeladene Aussagen zu den Eltern und deren Verhalten; sie betreffen den Zustand der Wohnung, den häufigen Partnerwechsel der Mutter, den Geruch der Eltern (nach Alkohol), den (harschen oder liebevollen) Ton der Mutter im Ungang mit dem Kind, den Augenkontakt der Mutter mit dem Kind, die Wachsamkeit der Eltern (im Gegensatz etwa zu „schlafen bis am Mittag“), die Kooperationsbereitschaft und Einsicht der Eltern. Umgekehrt gibt es vergleichsweise spärliche Aussagen zu den Kindern; sie betreffen vor allem die Gewichtsabnahme und die Distanzlosigkeit des Kindes zum Professionellen, welche offenbar als Alarmzeichen gelten.Footnote 26

Ungeachtet der etwaigen Angemessenheit elternbezogener Kriterien ist die Priorisierung des elterlichen Verhaltens bei der Diagnose durchaus bemerkenswert, zumal Erwachsenenverhalten ja auch Teil eines Eindrucksmanagements (im Sinne Goffmans) sein kann. Im Übrigen scheinen die im Interventionsprozess herangezogenen Kriterien zur Beurteilung der Eltern nicht sämtlich deren Qualität als Erziehungspersonen zu betreffen, sondern teilweise normative Urteile über die moralische Qualität der Eltern zu reflektieren. Es drängt sich der Eindruck auf, dass mit diesen Beurteilungen letztlich ein anderes Problem als das der Diagnose der Kindeswohlgefährdung gelöst werden soll, nämlich das Problem der Rechtfertigung eines Eingriffs, der sowohl dem Machtverhältnis der Generationen zuwiderläuft wie auch dem Schutz des privaten Raums und der den Professionellen dann zumutbarer erscheint, wenn die Eltern diese Rechte gewissermaßen moralisch verwirkt haben.

5 Schluss: Doppelte Kontingenz(probleme) und was aus ihnen folgt

Der organisierte Eingriff in den privaten Raum bei vermuteter oder wahrgenommener Kindeswohlgefährdung ist ein gutes Anschauungsbeispiel für die erheblichen Kontingenzprobleme, die sich in Gegenwartsgesellschaften für durch Professionelle (und andere Akteure) moderierte soziale Interventionen ausmachen lassen. Die Erwartungen hinsichtlich solcher Interventionen scheinen höher denn je und werden durch neue Regulierungen und organisationale Arrangements gewissermaßen auf die Spitze getrieben. Demgegenüber fehlt es an einem Bewusstsein für Spannungen, Paradoxien und Wirkungsgrenzen, die dem Handlungsfeld aufgrund seiner spezifischen Konstitution inhärent sind, gerade im Bereich der Kindeswohlgefährdung. Unser durch erste empirische Befunde informierter Beitrag hatte zum Ziel, für die komplexen Voraussetzungen des Interventionshandelns auf den Ebenen institutioneller Regulierungen, organisationaler Arrangements und beruflicher Praxis zu sensibilisieren, um genau dieses Bewusstsein zu stärken. Obwohl tiefenschärfere Beschreibungen und empirische Fundierungen weiteren Analysen vorbehalten bleiben müssen, können auf der Basis der vorangegangenen Darlegungen drei plausible Annahmen über feldtypische Probleme, die einem stringenten „Durchgriff“ seitens der intervenierenden Akteure entgegenstehen, getroffen werden.

(1) Zunächst ist unverkennbar, dass die pluralistische Struktur des Handlungsfeldes – welches über die im Vorhergehenden behandelten Jugendämter, freien Träger und Gesundheitsberufe hinaus noch andere untersuchungsrelevante Akteure (Kindergärten, Polizei, Gerichte etc.) umfasst – mit einer Vielzahl unterschiedlicher institutioneller Regulierungen und organisationaler Arrangements einhergeht, die (im wahrsten Sinne) eigenen Gesetzen folgen und in ihren Effekten sowie in ihrem Zusammenwirken näher analysiert werden müssen. Mit anderen Worten: Der organisierte Zugriff auf den privaten Raum ist ein im Extremfall anarchisch erzeugtes Gemeinschafts- und somit vielfach auch ein Zufallsprodukt.

Betrachtet man ferner die einzelnen beteiligten Organisationen bzw. Berufsgruppen und die bei ihnen ausgebildeten Orientierungsmuster, so zeigen sich (2) Spannungen, durch die konkret vollzogene Interventionen (leicht) in verschiedene Richtungen gelenkt werden (können). Die Akteure beziehen sich auf verschiedene Rollen, Regeln und Organisationserwartungen auch vonseiten ihrer eigenen Einrichtung und müssen zudem externe Regulierungen mit der – durch klassische Professionskodierungen geforderten – Einzelfallorientierung ihrer Berufspraxis irgendwie in Einklang bringen. Dabei dürften sich die jüngeren Entwicklungen bei der institutionellen Regulierung des Feldes und daraus resultierende Umstellungen in den organisationalen Arrangements, die auf eine „Managerialisierung“ des Interventionsgeschehens hinauslaufen, häufig als spannungsverschärfend erweisen, obwohl sie eigentlich auf eine Erhöhung der Stringenz der Interventionen abzielen.

Nimmt man darüber hinaus (3) den Interaktionsprozess im privaten Raum näher in den Blick, so kommen weitere Momente der Kontingenz hinzu. Die spezifische Normierung des familiären Raums bildet einen Handlungsrahmen, in dem es den Professionellen – jedenfalls gelegentlich – schwer fällt, tatsächlich orientiert am Kind und seinem Zustand zu handeln, weil andere Zwänge den Interaktionsprozess und damit die Triage, z. B. qua Entscheidungen über Inobhutnahme, Weiterbeobachtung oder Aktenschluss, prägen. Eindeutige Problemlösungsmuster sind nicht ohne Weiteres verfügbar, vielmehr muss widersprüchlichen Anforderungen – z. B. der Herstellung von Vertrauen zu Eltern, die potenziell Misstrauen verdienen – entsprochen werden.

Vieles spricht also dafür, dass Interventionsprozesse bei Kindeswohlgefährdung einerseits aus einer ergebnisoffenen Spannungsbearbeitung in den verschiedenen Organisationen sowie aus deren mehr oder weniger anarchischem Zusammenspiel heraus emergieren sowie andererseits den je eigenwilligen Umgangsformen derjenigen folgen, die mit den Widersprüchlichkeiten des Eingriffes in den privaten Familienraum fertig werden müssen. Aus alledem erwächst gewissermaßen eine doppelte Kontingenzproblematik: die Kontingenz, die in die (institutionell regulierten) organisationalen Arrangements eingelagert ist, und jene Kontingenz, die in den Interaktionen vor Ort zu Tage tritt. Es dürfte im Weiteren interessant sein, dem Zusammenwirken dieser Kontingenzprobleme ebenenübergreifend auf den Grund zu gehen und hier eine ganz eigene Form von doppelter Kontingenz (im Sinne von Parsons und Shils 1951, S. 16) zu beobachten. Beispielsweise könnte sich zeigen, dass die spezifischen Unberechenbarkeiten der Intervention in den privaten Raum im Zusammenspiel mit den auf zunehmende Berechenbarkeit getrimmten, bei den verschiedenen Einrichtungen aber je besonders ausgeprägten organisationalen Arrangements für erratische Fallbearbeitungsabläufe sorgen. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn Manager bei Jugendämtern oder freien Trägern kontingenzreduzierende Standards durchzusetzen versuchen, denen sich die privat Intervenierenden (nicht zuletzt außerhalb der Jugendhilfe) auf eine – möglicherweise auch für sie – unkontrollierbare Weise entziehen, was wiederum beiderseitig Erwartungsunsicherheit stiftet und eine stringente Koordination des Interventionsgeschehens vereitelt.

An dieser Stelle (und beim jetzigen Forschungsstand) lassen sich aus unseren (ersten) Befunden indes nur sehr allgemeine praktische Konsequenzen ziehen: Erstens ist unverkennbar, dass sich angesichts der Vielfalt der de facto involvierten (Organisations-)Akteure Interventionsprozesse von Fokalorganisationen wie den Jugendämtern lediglich moderieren, aber nicht beherrschen lassen, wobei die zunehmende „Managerialisierung“ diesen Moderationsprozess letztlich eher erschweren dürfte, weil sie Kontingenz künstlich unterdrückt. Zweitens muss es bei der Weiterentwicklung des Interventionsprozesses darum gehen, Orte der Reflexion zu schaffen, an denen die strukturell bedingte Ambiguität von organisierten Eingriffen in den privaten Familienraum systematisch berücksichtigt wird; dabei ist eine größere Sensibilität für den Umstand angezeigt, dass es, auch aufgrund notwendigerweise diffuser Problemdiagnosen und selektiver Problemwahrnehmungen, seitens der intervenierenden Akteure immer wieder zu willkürlichen Fallselektionen bzw. Triageprozessen kommen kann. Eine realistische Form des Umgangs mit dem Phänomen Kindeswohlgefährdung könnte darin bestehen, Prozeduren für netzwerkförmige, tentative Lösungssuchprozesse zu entwickeln, bei denen managerielle Programme und Standards nicht überbewertet werden – eine Marschroute, die vielleicht auch für andere Bereiche sozialer Interventionen geboten ist.