1. Einführung

Gegenwärtig werden heftige Debatten über den inneren Zusammenhalt von Gemeinwesen und über die Kosten der vielfältigen aus Haus und Familie ausgelagerten Sorgetätigkeiten, insbesondere der Pflege, geführt. Damit kommt die Frage, welche gesellschaftlichen Implikationen damit verbunden sind, wenn die bisher in unbezahlte Frauenzuständigkeit eingekapselte fürsorgliche Praxis zu marktförmigen Dienstleistungen transformiert wird, jetzt auch auf die politische Agenda der Bundesrepublik. Fürsorgliche Praxis antwortet auf Situationen der Bedürftigkeit, in denen der Mensch – von den ersten Lebensphasen über den Krankheitsfall bis hin zur Phase schwindenden Lebens – existenziell auf Hilfe und Zuwendung angewiesen ist. Diese Situationen sind unausweichlich durch eine Asymmetrie in der Beziehung zwischen Sorgenden und Umsorgten gekennzeichnet. Die sensible Beachtung dieser Asymmetrie in der konkreten Arbeit gehört zum Ethos fürsorglicher Praxis. Denn es geht um Berührung im doppelten Wortsinn, als körperliche und als seelische.

Dem Moralphilosophen und Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre Adam Smith galt die existenzielle Angewiesenheit als anthropologische Basis für das seelische Vermögen der „Sympathie“, die den unabdingbar notwendigen sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft herstellt, aber auch als Grundlage für Arbeitsteilung und Wohlstandsbildung. In seinem ersten großen Werk Theorie der ethischen Gefühle von 1759 betonte er: „Alle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft bedürfen des gegenseitigen Beistandes“ (Smith 1977: 127) und argumentierte, dass „doch offenbar gewisse Prinzipien in (der) Natur (des Menschen) liegen, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer teilzunehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein“ (ebd.: 1). Aber auch dort, wo weder Liebe noch wechselseitige Verpflichtungen bestünden, könnte „die Gesellschaft doch noch durch eine Art kaufmännischen Austausches guter Dienste aufrecht erhalten werden“ (ebd.: 128). In seinem späteren Werk Der Wohlstand der Nationen von 1776 ergänzte Smith diesen Gedanken des kaufmännischen Austausches durch seinen neuen Grundgedanken eines Produktivitätsgewinns durch Arbeitsteilung. In diesem Zusammenhang argumentiert er, dass wir nicht vom „Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten (...), was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen“ (Smith 1978: 17).

Beides, die gefühlsmäßige Sympathie – wir würden heute von Empathie und sozialer Integration sprechen – und die Arbeitsteilung und Marktbeziehungen halten die Gesellschaft auf Basis der existenziellen Angewiesenheit zusammen. Adam Smith hatte bei seinen Überlegungen die Situation der früh-neuzeitlichen Ständegesellschaft mit ihrem nicht entmischten moralisch-ökonomischen Raum vor Augen und nicht die gesellschaftlich tiefgreifenden Veränderungen durch die Ausdehnung des Marktprinzips auf Arbeitskräfte, Produktionsmittel und Boden, die Karl Polanyi (1977) als „große Transformation“ bezeichnete. Smith hielt die von ihm als naturgegeben betrachtete Haltung der Anteilnahme auch in einer von der Durchsetzung von Interessen geprägten Tauschgesellschaft für unverletzlich. Dementsprechend thematisierte er weder die von ihm vorgefundene Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und Zuweisung körpernaher Sorgetätigkeiten in die Zuständigkeit von Frauen noch die Auseinanderentwicklung bürgerlicher Rechte für Männer und Frauen (zur Rechtsgeschichte siehe Gerhard 1997).

Seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gelang es Frauen, Menschen- und Bürgerrechte auch für sich in Anspruch zu nehmen (Feministische Studien 1991), wozu auch eine freie Erwerbs- oder Berufstätigkeit unabhängig vom Familienstatus gehört. In den Lebensentwürfen junger Frauen ist die prinzipielle Möglichkeit zu einer individuellen ökonomischen Existenzsicherung seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Westdeutschland zu einer Selbstverständlichkeit geworden (siehe Geissler/Maier/Pfau-Effinger 1998). In der DDR war dies schon länger der Fall (Helwig/Nickel 1993). Damit ist Erwerbsarbeit gleicherweise für Männer und für Frauen zu der subjektiv zentralen Erfahrungsquelle geworden, am gesellschaftlichen Leistungstausch (Kambartel 1993) in öffentlich anerkannter Weise teilzuhaben. Denn nur die Arbeitskraft, die auf dem Tauschmarkt erscheint, bekommt einen Wert, einen Tauschwert zugewiesen.Footnote 1 Diese Entwicklung ist mit der Entwicklung der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft verbunden. Dabei stellt sich die Frage, welche Implikationen es für das Ethos fürsorglicher (Pflege-)Praxis hat, wenn diese Praxis zunehmend in Marktprozesse integriert wird.

Im Folgenden werden zunächst verschiedene Entwicklungspfade in die Dienstleistungsgesellschaft aufgezeigt (2) und die Frage der Rationalisierbarkeit von Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Proprium von Care diskutiert (3). Vor diesem Hintergrund werden dann empirische Befunde aus der beruflichen Pflegepraxis, gelingende Konstellationen und Dilemmata dargestellt, die sich aus der Binnensicht von Pflegekräften für ihr Ethos fürsorglicher Praxis ergeben (4). Im Ausblick (5) geht es noch einmal um das Verhältnis von Fürsorge/Care-Arbeit als berufsförmiger Dienstleistung zur Fürsorge/Care-Arbeit als nichtberufsförmiger Zuwendung und Anteilnahme.

2. Entwicklung moderner Dienstleistungsgesellschaften

Die in allen reifen Industrieländern beobachtbare Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit ist mit dem allgemeinen Zuwachs von Dienstleistungen verbunden. Die gesellschaftliche Bedeutung von Dienstleistungen wurde erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts in den Evolutionstheorien gesellschaftlicher Entwicklung formuliert (Clark 1951; Fourastié 1969). Nach einer primären Phase, in der die Tätigkeit des „Gewinnens“ in Landwirtschaft und Bergbau zentrale Bedeutung hatte, und dem sekundären Entwicklungsstadium, in dem die Industrie als gewerblich-produzierender Wirtschaftssektor dominant war, wurde nun den diversen Dienstleistungen als tertiärer Sektor die Zukunft und tragende Rolle im Wirtschaftsgeschehen entwickelter Länder zugesprochen. Dabei standen im Mittelpunkt der Debatte Fragen nach den Beschäftigungspotenzialen und monetären Wohlstandsgewinnen. Sehr viel seltener wurde gefragt, ob und unter welchen Bedingungen Beschäftigung im Dienstleistungsbereich auch zur gesellschaftlichen Wohlfahrt in dem Sinn beiträgt, dass ebenso die Lebensqualität jener, die Dienstleistungen ausüben, wie jener, die sie empfangen, durch monetarisierte Tätigkeiten gesteigert oder doch wenigstens erhalten wird. Diese Frage ist aber mit Blick auf die bisher meist unsichtbar gehaltenen, weil informell von Frauen ausgeübten und damit im Leistungstausch unbewerteten bzw. abgewerteten Tätigkeiten der fürsorglichen Praxis unumgänglich.

Für Adam Smith war die in der leibseelischen Bedürftigkeit gegründete tägliche Sorgetätigkeit – sei es durch Familienangehörige, sei es durch Dienstboten – nicht Gegenstand seiner Untersuchungen über Arbeitsteilung und Wohlstandsvermehrung. Wohlstandsvermehrung war im Rahmen seiner Theorie produktiver Arbeit allein auf Produktion und Tausch von Gegenständen konzentriert. „Es gibt eine Art Arbeit, die den Wert eines Gegenstandes, auf den sie verwandt wird, erhöht, und es gibt eine andere, die diese Wirkung nicht hat. Jene kann als produktiv bezeichnet werden, da sie einen Wert hervorbringt, diese hingegen als unproduktiv. So vermehrt ein Fabrikarbeiter den Wert des Rohmaterials, das er bearbeitet, im Allgemeinen um den Wert des eigenen Lebensunterhalts und um den Gewinn seines Unternehmers. (...) Umgekehrt wird die Arbeit eines Dienstboten nirgends sichtbar, weder in einem Werkstück noch in einem käuflichen Gut. Im Allgemeinen geht seine Leistung im selben Augenblick unter, in dem er sie vollbringt, ohne eine Spur oder einen Wert zu hinterlassen, mit dem man später wieder eine entsprechende Leistung kaufen könnte“ (Smith 1978: 272).Footnote 2

An dieser Tauschtheorie „der englischen Schule“ hat zwar der deutsche Nationalökonom Friedrich List Mitte des 19. Jahrhunderts eine scharfe Kritik geübt: „Wer Schweine erzieht, ist nach ihr ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft“ (List 1959: 151). Denn List wusste, dass wohlstandsschaffende Arbeitsteilung und Tausch institutioneller Voraussetzungen und Ressourcen bedürfen und rückte dementsprechend geeignete Institutionen zur Förderung von gesellschaftlicher Entwicklung, z. B. Bildung und Ausbildung, gute Verwaltung und gute Infrastrukturen, in den Vordergrund seines Denkens (Senghaas 1989). Aber die spezifische Problematik personennaher Dienstleistungen wurde auch von ihm nicht thematisiert.

Das breite Spektrum sehr unterschiedlicher Dienstleistungstätigkeiten wird heute gemäß dem statistischen Klassifikationsschema der EU in fünf Dienstleistungsgruppen unterschieden: distributive Dienstleistungen (z. B. Handel und Verkehr), gesellschaftsorientierte/soziale Dienstleistungen (z. B. öffentliche Verwaltung, Erziehung, Gesundheits- und Sozialwesen), produktionsorientierte Dienstleistungen (Kredit- und Versicherungsgewerbe, Forschung und Entwicklung), konsumorientierte Dienstleistungen (z. B. Gastgewerbe und private Haushalte) und sonstige Dienstleistungen (z. B. exterritoriale Organisationen und Körperschaften). Rein quantitativ ist es relevant, dass die Beschäftigung in Dienstleistungstätigkeiten generell diejenige anderer Bereiche übertrifft, sowohl in einer Betrachtung, in welcher der Anteil von Dienstleistungsbeschäftigung anhand der Beschäftigtenquote in bestimmten, als Dienstleistungsbranchen ausgewiesenen Wirtschaftssektoren gemessen wird, als auch in einer Betrachtung aller Beschäftigten, die – egal in welchem Wirtschaftssektor – Dienstleistungsarbeiten ausüben (Wagner 2003).

Für unseren Zusammenhang ist es besonders bedeutsam, dass – vergleicht man alle Mitgliedsstaaten der EU bis 2004 – die Mehrheit aller Dienstleistungsbeschäftigten wiederum in gesellschaftsorientierten und sozialen Dienstleistungen tätig ist.Footnote 3 Pflegetätigkeiten als vermarktlichte Tätigkeiten der fürsorglichen Praxis, d. h. Tätigkeiten, die in offizieller, bezahlter Beschäftigung stattfinden, sind im Bereich der sozialen Dienstleistungen verortet, dort insbesondere im Bereich der öffentlich unterstützten Erziehungs- und Gesundheitsdienstleistungen. Sie sind aber auch als konsumorientierte Dienstleistungen in privaten Haushalten denkbar. In beiden Fällen geht es vor allem um Beschäftigung für Frauen.

Dabei zeigt sich ein Zusammenhang: Zunehmende Frauenerwerbstätigkeit erhöht mit der Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen zugleich auch die Frauenbeschäftigung. Denn Frauen sind, wie sich auch im Ländervergleich (Bosch/Lehndorff 2005) zeigt, zugleich Nachfragende und Anbietende dieser Dienstleistungen. Mit der „Defamilialisierung“ der Frauentätigkeiten, also dem Abbau unbezahlter Familientätigkeiten in den Zeitbudgets von Frauen, wurden in der Tat die Grundlagen für eine vermehrte „Merkantilisierung“ (Supiot) oder „Kommodifizierung“ (Esping-Andersen) auch der Fürsorgetätigkeiten gelegt. Von Bedeutung ist, auf welcher sozialstrukturellen Basis die gesellschaftliche Nachfrage für die angebotenen Dienstleistungen im Bereich fürsorglicher Praxis generiert wird. Holzschnittartig zeigen sich zwei gegensätzliche Wege, auf denen es zu einer Verknüpfung von zunehmender Frauenerwerbstätigkeit mit personennahen Dienstleistungen kommt: Die skandinavischen Länder begehen einen gesellschaftspolitisch anspruchsvollen Pfad („High Road“), während vor allem in Großbritannien und den USA ein Entwicklungspfad beschritten wird, der in kritischer Absicht als „Low Road“ bezeichnet wird (Lehndorff 2006).

Der „Low Road“-Pfad bildet sich im Rahmen einer Gesellschaftspolitik heraus, in der hohe soziale Ungleichheit eher toleriert wird und sich wohlhabende Familien bzw. gut verdienende berufstätige Frauen die erwünschte Fürsorge in Gestalt von Hausangestellten oder informellen Hilfen in den Haushalt holen. Im Hintergrund steht eine Politik, die sich um eine möglichst niedrige Staatsquote, also auch geringe öffentliche Sozialausgaben bemüht. In diesem Kontext entwickeln sich gegenwärtig die „care-chains“, internationale Sorgeketten, in denen Migrantinnen in den Haushalten der Besserverdienenden gegen Lohn Sorgetätigkeiten ausüben. Für Italien als Aufnahmeland wird dieser aktuelle Trend eindrucksvoll von Sarti (2006) beschrieben und analysiert. Der „High Road“-Pfad setzt demgegenüber voraus, dass soziale Ungleichheit relativ gering ist, was vor allem durch eine hohe Beschäftigtenzahl im öffentlichen Sektor gelingt, in dem wiederum besonders viele Frauen im Bereich der sozialen Dienstleistungen tätig sind. „Deutschland“ – so urteilt Lehndorff (2006: 265) – „befindet sich unschlüssig an der Weggabelung.“

Die Strategie des „High Road“-Pfades ist allerdings aufgrund der Dominanz neoliberaler Politik und – damit zusammenhängend – aufgrund der Krise der öffentlichen Haushalte unter Druck geraten. Wie hängt die Qualität der Beschäftigungsbedingungen in der Pflege mit der Qualität der Pflegedienstleistung zusammen? Lässt sich Care-Arbeit in der gleichen Weise wie alle anderen Tätigkeiten rationalisieren? Was wäre zu beachten, damit geschlechtergerechte Wohlstandsgewinne und allgemeine Wohlfahrtsgewinne entstehen können? Diese Fragen haben zutiefst mit den besonderen Eigenschaften und Anforderungen der Tätigkeiten fürsorglicher Praxis zu tun, die hier am Beispiel von Pflegetätigkeiten untersucht werden sollen.

3. Zum Selbstverständnis von Care-Arbeit bzw. fürsorglicher Praxis

In Deutschland wurden Pflegeberufe traditionell nicht als Berufe wie andere auch betrachtet. Vielmehr war Pflege (besonders seit dem 19. Jahrhundert) mit der Aura einer besonderen Berufung und Lebensform verbunden, für die sich Frauen aus einem besonderen Geist heraus entschieden hatten. In der Bezeichnung „Schwester“ finden sich die Vorstellungen eines nicht mit dem üblichen Berufsleben vergleichbaren „Liebesdienstes“ in verdichteter Gestalt. Diese galten für Frauen, die sich Orden und Gemeinschaften anschlossen und seit dem 19. Jahrhundert in christlicher Diakonie und Caritas (Scharffenorth et al. 1984; Cordes/Hyper/Lorbers 1995; Schmidt 2005; Kumbruck 2008) tätig waren, aber auch für Frauen, die als Mitglieder freier Schwesternschaften in der Krankenpflege arbeiteten (Kreutzer 2005). Mit dem später verworfenen Begriff des „weiblichen Arbeitsvermögens“ hatte Ilona Ostner schon 1978 versucht, eine von ihr sehr genau beschriebene besondere Fähigkeit in die soziologische Arbeitsforschung einzuführen, nämlich diejenige, sich bei den Arbeiten in Haushalt und Familie geduldig und einfühlsam auf die Gegebenheiten leibseelischer Existenz einzustellen (Ostner 1978). Ostner hat auf die Anforderungen hingewiesen, die sich aus der Anerkennung eigensinniger Entwicklungsprozesse bei Kindern und Pflegedürftigen ergeben – Anforderungen, die ein nicht-instrumentelles Verständnis von Zeitnutzung verlangen und in der Regel von (Familien-)Frauen erfüllt werden. Wir werden diese Haltung im nächsten Abschnitt bei den Selbstbeschreibungen der heute beruflich Pflegenden wiederfinden, wenn sie von ihrem Ethos sprechen, also von dem, was sie heute normativ in ihrer Praxis bewegt.

Für die beruflichen Pflegetätigkeiten wurden im Zuge ihrer Professionalisierung explizit Qualitätsmaßstäbe formuliert und – analog zu industriellen Tätigkeiten – sich wandelnde Pflegearbeit-Organisationskonzepte entwickelt. Inzwischen geraten die sozialen Dienstleistungen, in denen Fürsorgetätigkeiten verberuflicht und damit monetarisiert wurden, immer stärker unter ökonomischen Druck. So bildet sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Streben nach Professionalisierung von Pflegetätigkeiten (und anderen sozialen Dienstleistungen) auf der einen Seite und dem Ruf nach Kostensenkungen durch Rationalisierung auf der anderen Seite heraus. Dazwischen stehen berufliche Pflegekräfte mit ihren individuellen Bewältigungsstrategien.

In der historischen Debatte über den Weg der Evolution von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft ging es immer auch um die Frage, inwiefern Dienstleistungstätigkeiten vergleichbar den Tätigkeiten in Landwirtschaft und Industrie rationalisierbar seien. Häußermann und Siebel haben schon 1995 die Annahme zurückgewiesen, dass Dienstleistungen durch charakteristische Merkmale systematisch von industriellen Gütern abgegrenzt werden könnten und rationalisierungsresistent seien. Ihre Gegenthese lautet, dass Dienstleistungen ebenso wie materielle Produkte einen „Lebenszyklus“ durchlaufen: Zu Beginn finde sich im Rahmen von Handarbeit eine geringe Produktivität, diese könne jedoch zunächst durch „organisatorische Rationalisierung gesteigert“ werden, und am Ende könne daraus ein technisches Produkt entstehen, das zum Massenprodukt wird. So kann beispielsweise ein Gericht zu Hause zubereitet, im Schnellrestaurant standardisiert hergestellt oder schließlich zu einem Fertiggericht werden. „Alle Dienstleistungen“ – so Häußermann und Siebel (1995: 145) – „können im Prinzip diesen Lebenszyklus durchlaufen – es gibt nur kulturelle Grenzen oder Grenzen des ‚guten Geschmacks’ (...), selbst die intimsten Bedürfnisse unterliegen potenziell diesem Prozess. (...) Kulturelle Grenzen verlangsamen zur Zeit z. B. noch die Technisierung der Krankenpflege.“

Es ist offenkundig, dass Technisierung und Rationalisierung längst auch den Wirtschaftssektor Gesundheit prägen. Man denke an Clinical Pathways, Fallpauschalen und EDV-gestützte Patientendaten-Managementsysteme in Krankenhäusern (Büssing/Glaser 2003). Wie fest oder wie gefährdet sind also die kulturellen Grenzen und worauf beruht ihre mögliche Festigkeit? Dies ist die Frage nach Stabilität und Wandel im Ethos fürsorglicher Praxis – einem Ethos, in welchem den Grundgegebenheiten der existenziellen Angewiesenheit, nämlich Asymmetrie und Mehrdimensionalität in der Pflege als Beziehungsgeschehen, entsprochen wird. Seit den 1980er Jahren entwickelte sich eine feministische Debatte zu Care und Sozialpolitik (und zu Careethik, auf die an dieser Stelle allerdings nicht weiter eingegangen werden soll; siehe dazu Gilligan 1982; Larrabee 1993; Nunner-Winkler 1995). In der sozialpolitisch orientierten Debatte zu Care ging es zwar vor allem um spezifische Geschlechterordnungen in ihrer Verbindung mit sozialpolitischen Regelungen (Ungerson 1990; Gerhard/Knijn/Weckwerth 2003; Pfau-Effinger/Geissler 2005; Hobson/Lewis/Siim 2002). In diesem Zusammenhang entwickelte sich aber auch ein Diskurs über das Proprium von Care bzw. fürsorglicher Praxis. Zwei Dimensionen wurden darin besonders hervorgehoben: eine besondere Rationalität und ein spezifisches Verständnis von Reziprozität.

Kari Waerness hat vor ihrem Erfahrungshintergrund in Norwegen den Begriff der Care- oder Fürsorgerationalität entwickelt, d. h. einer Rationalität, die sowohl auf Fachkenntnissen und Fertigkeiten als auch auf Lebenserfahrung und der Fähigkeit aufbaut, „sich in die Situation des Einzelnen hineinzuversetzen“ (Waerness 2000: 60). Mit dem Begriff der Fürsorgerationalität versucht Waerness den von ihr seit den 1970er Jahren untersuchten und in der gewerkschaftlichen Debatte stark kritisierten Sachverhalt neu zu bewerten, dass berufliche Pflegerinnen offenbar „wesentlich mehr Arbeit für ihre Klienten verrichten, als die, für die sie bezahlt werden“ (ebd.: 59). Während der beobachtete Sachverhalt aus einer Perspektive, die Pflegerinnen nur als Arbeitnehmerinnen wahrnimmt, als „dumme Handlungsweise“ bewertet wurde, ist Waerness gerade daran interessiert, daraus ein angemessenes Verständnis für die Pflegeprofession zu gewinnen, die neben Fachkenntnissen und Fertigkeiten notwendigerweise auch der Fähigkeit zur Empathie bedarf. Mit dem Begriff der Fürsorgerationalität macht sie den Versuch, Empathie als eine auch für professionelle, bezahlte Pflege angemessene und anzuerkennende Haltung zu begründen und zu stärken.

Schon in den 1990er Jahren sah Waerness eine solche Haltung und deren Förderung durch berufspolitische Strategien bedroht, denen es in erster Linie darum ging, den gering bewerteten Fürsorgearbeiten durch Professionalisierung zu einer Aufwertung und besseren Entlohnung zu verhelfen. Waerness beklagt, dass dadurch ein Typ von Arbeit, der in erster Linie „an Resultaten“ orientiert ist, gegenüber einem Tätigkeitstyp, in dem es in besonderer Weise auf den Prozess ankommt, der etwas zulässt oder „gedeihen lässt“, systematisch dominant gemacht wird (ebd.: 62). Sie möchte demgegenüber die Prozess- und Beziehungsanteile der Care-Arbeit sichtbar machen und ihnen zur Wertschätzung verhelfen.Footnote 4 Christel Eckart hat – daran anknüpfend – in den Mittelpunkt ihrer theoretischen Arbeit zu Care ein besonderes Verständnis von Reziprozität gestellt, in dem die Gegebenheit asymmetrischer Beziehungen anerkannt ist. „Reziprozität in der Fürsorge ist nicht wie im Vertragsmodell die Folge einer eingegangenen Verpflichtung, kein Versprechen auf Gegenseitigkeit. Sie entsteht durch die Akzeptanz der Beziehung“ (Eckart 2000: 19).

Im Kern beschreiben beide Konzepte qualitative Elemente von Interaktionen in der Pflegetätigkeit, die allein um der Menschenwürde willen zum Ethos fürsorglicher Praxis und Care-Arbeit gehören. Wann immer die leibseelische Angewiesenheit der Menschen auf die Hilfe und Sorge durch andere in den Blick kommt, geht es um die Anerkennung unvermeidbarer Abhängigkeiten und asymmetrischer Beziehungen und die Frage, wie dennoch der Würde des bedürftigen Individuums entsprochen werden kann. Dass Individuen einen verletzlichen Körper, Gefühle und ambivalente Bedürfnisse haben, sind die Grundgegebenheiten, mit denen Empfangende und Gebende von Fürsorge in ihren Interaktionen zu tun haben. Diese Interaktionen sind unausweichlich mit starken Gefühlen und Bewertungen auf beiden Seiten verbunden. In der noch seltenen empirischen Arbeitsforschung zu Care werden diese Unausweichlichkeit und die damit notwendige Reflexionsanforderung aufseiten der beruflichen Care-worker hervorgehoben. Die Reflexionsanforderungen an die beruflichen (und die informell) Pflegenden sind aber nur die eine Seite. Die andere besteht in den organisatorischen und technischen Rahmenbedingungen für Pflegende. Footnote 5

4. Das Ethos fürsorglicher Pflegepraxis unter den Bedingungen neuer kostensenkender Managementstrategien

Gegenwärtig werden in den staatlichen und privaten Einrichtungen, die Pflegeleistungen erbringen, Rationalisierungs- und Kostensenkungsprogramme durchgesetzt, die nicht ohne Weiteres mit den gleichzeitig erhobenen gesellschaftlichen Ansprüchen nach Professionalisierung und verbessertem Qualitätsniveau vereinbar sind. Trotz Zertifizierung, Technisierung und neuer pflegebezogener Organisationskonzepte (wie beispielsweise der „Primärpflege“ oder der „Gruppen- bzw. Bereichspflege“ statt der an tayloristischen Prinzipien orientierten „Funktionspflege“) haben in jüngster Zeit Hinweise auf hochproblematische Praktiken in der Kranken- und Altenpflege zugenommen. Thematisiert werden Mängel in der elementaren Versorgung mit Blick auf körperliche Bedürftigkeit (für Flüssigkeitszufuhr, Verhinderung von Wundliegen u. a. m.). Auch mit Blick auf seelische Bedürfnisse werden Defizite benannt. Wenn zum Reden keine Zeit mehr bleibt (FAZ v. 13.10.2007) – so oder ähnlich lauten Überschriften von Berichten aus der Praxis.

Eine Studie des Deutschen Instituts für Pflegeforschung (Isfort/Weidner 2007) weist aus, dass zwischen 1995 und 2005 rund 50.000 Pflegestellen (gerechnet in Ganztagsstellen) abgebaut wurden, während gleichzeitig eine Million Patienten mehr versorgt werden müssen (u. a. aufgrund verkürzter „Liegezeiten“ und neuer Abrechnungsmodalitäten). Diese Entwicklung trifft im Großen und Ganzen auch auf Einrichtungen der Diakonie zu, in denen früher vor allem Schwestern arbeiteten, die in besonderen Lebensgemeinschaften als Diakonissen oder Diakonieschwestern zusammengeschlossen waren und mit ihrem quasi-genossenschaftlichen Lebensmodell nicht im Rahmen des regulären Arbeitsmarkts tätig waren. Dem entsprachen lange Arbeitszeiten, die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein eine 60-Stundenwoche (zuzüglich der Bereitschaftsdienste) vorsahen, die im Übrigen auch bei freien Schwestern notorisch waren (Kreutzer 2005: 184). Seitdem aber die Pflegeausbildung an andere berufliche Ausbildungsgänge angepasst wurde und den Schwestern neben ihrem Beruf ein Familienleben zugestanden wurde, ohne die Schwesternschaft verlassen zu müssen, ist auch für Schwestern in diakonischen Einrichtungen die früher exklusive Berufung zu einem Beruf geworden, der die Vereinbarkeit mit einer Familie erlauben soll. Er ist jetzt Mittel zum individuellen Erwerb, zugleich aber weiterhin mit dem Ideal eines Ethos fürsorglicher Praxis verbunden, an dem die Alltagspraxis in der eigenen beruflichen Pflege gemessen wird. Welche Probleme und Dilemmata dabei erlebt werden, wurde in einer empirischen Studie untersucht, in der es um Praxiserfahrungen und Bewältigungsformen von Diakonissen (die im Rückblick auf ihre Praxis sprachen) sowie von gegenwärtig aktiven Diakonieschwestern und anderen weiblichen und männlichen Pflegekräften in stationären und ambulanten Einrichtungen der Diakonie ging.Footnote 6 An drei Problemkomplexen soll im Folgenden gezeigt werden, wie das Ethos fürsorglicher Praxis durch neue Managementkonzepte, die flächendeckend im Gesundheitssektor Einzug gehalten haben, herausgefordert wird: Zunächst geht es um das Verständnis der Pflegebedürftigen im Rahmen von Marktbeziehungen. Sind sie Kunden oder Patienten?Footnote 7 Der nächste Problemkomplex handelt vom Widerstreit zwischen instrumenteller Rationalität und Fürsorgerationalität. Der dritte Themenkreis bezieht sich auf die Bedingungen, unter denen berufliche Pflegekräfte von einer gelingenden Pflegepraxis sprechen.

4.1 Pflegebedürftige als Kunden oder Patienten?

Das Leitbild vom Patienten als Kunden wurde von Gesundheitsmanagern in der erklärten Absicht propagiert, aufseiten der Hilfeempfänger Entmündigung zu überwinden (Böhle/Weishaupt 2003). Von unseren Gesprächspartnerinnen in der ambulanten Diakonie wird der Kundenbegriff teilweise übernommen. Allein die Tatsache von Vertragsabschlüssen – in der ambulanten Pflege – brächte den Kundenstatus zum Ausdruck. Auf der anderen Seite zeige allerdings der Gesundheitszustand dieser Menschen, dass es sich tatsächlich um hilfsbedürftige Menschen, also Patienten handelt.Footnote 8 Im stationären Bereich und im Hospizbereich wird demgegenüber der Kundenbegriff von den Schwestern als abwegig betrachtet. Sie bezeichnen die im Hospiz lebenden Menschen als Bewohner oder Patienten: „Wir sagen Bewohner, die leben ja auch bei uns. Die erleben ihren letzten Lebensabschnitt bewusst bei uns“ (Kumbruck/Senghaas-Knobloch 2006: 33).

Die Zurückweisung des Kundenbegriffs hat mit der Anerkennung der realen Asymmetrie in konkreten Pflegesituationen zu tun. Es kommt ein besonderes Pflegeverständnis zur Sprache, das der geäußerten Kritik von Karin Waerness an einer dominant werdenden Marktorientierung und Technokratisierung zustimmt. Dieses Pflegeverständnis wendet sich auch gegen die Entmischung pflegerischer Aufgaben in professionelle und nichtprofessionelle und kommt beispielsweise in dem Begriff „ganzheitliche Pflege“ und dem Plädoyer für eine besondere Art des „Sehens“ sowie für eine Balance von Fachlichkeit und Mitmenschlichkeit zum Ausdruck (ähnlich die Befunde bei Büssing/Glaser 2003). Demzufolge soll der Patient als ganzer Mensch und nicht nur funktionalistisch mit Blick auf zu reparierende Teile oder gar als Lieferant für medizinische Daten gesehen werden. Eine in der Pflegeausbildung leitende Schwester äußert dementsprechend: „Und diese Ganzheitlichkeit, die ja in der Medizin oder in der Pflege auch getrennt ist, da gibt es ja Patienten nur als Organ und nicht in der Einheit von Körper, Geist und Seele. Und wir versuchen, das wieder hinzubekommen, also ein Gefühl der Solidarität auch herzustellen zu Kranken“ (Kumbruck/Senghaas-Knobloch 2006: 28).

Ein besonderes „Sehen“ wird als die richtige Art beschrieben, aus einer Haltung der „Solidarität“ heraus mit möglichst vielen Sinnen den Zustand der Pflegebedürftigen zu erfassen. Heutige Diakonieschwestern erläutern, was ihres Erachtens Pflegeschülerinnen im Laufe ihrer Ausbildung lernen sollten: „Wie liegt der Patient im Bett? Gekrümmt vor Schmerzen oder entspannt? Geht es ihm heute besser? Ist er gelb? Ist er hochrot? Ist er blau? Was ist denn los? Oder: Hat er Wasser auf dem Nachttisch? Kann er die Klingel erreichen und all die kleinen Dinge? Das mussten sie ja sehen lernen!“ (ebd.: 28)

Gute Pflegearbeit bedeutet in dieser Sicht eine sehr intensive, professionell geschulte Wahrnehmung der Patienten,Footnote 9 eine Wahrnehmung, die auch Empathie impliziert. So wird beispielsweise bei den Schülerinnen dafür geworben, man solle sich vorstellen, was es bedeute, selbst im Bett zu liegen und zu erleben, wie sich jemand über einen beugt. Notwendig für gute Pflege sei ein „Spüren“ auf der seelischen und auf der körperlichen Ebene, beispielsweise ob es beim Kämmen ziept. Darüber hinaus bedeutet ganzheitliche Wahrnehmung auch sprachliche Kommunikation. Eine Schwester beschreibt im Rückblick aus ihrer Erfahrung, wie nützlich es ist, in quasi-natürlichen, also „gemischten“ Situationen mit den Patienten zu sprechen: „Da habe ich dann auch Staub geputzt. Eimerchen her, Nachttisch musste ja abgewischt werden, Fußboden brauchten wir nicht machen. Aber Fensterbänke und so den kleinen Bereich von den Patienten. Und dann habe ich angefangen, denen eine Geschichte dabei zu erzählen. Habe mir dann ihre Klagen angehört und dann fortlaufend mal eine Geschichte erzählt. Und dann freuten die sich schon auf den nächsten Tag, wenn ich sagte: morgen komme ich wieder“ (ebd.: 26).

Hier wird zugleich die Ambivalenz der gegenwärtigen Professionalisierungsstrategien angesprochen. In dem von der Schwester vorgetragenen Verständnis von guter Pflege ist keineswegs äußerlich ablesbar, was als qualifizierte und was als „Allerweltsarbeit“ zu bewerten ist. Entsprechend wird scharfe Kritik an einer Ausbildung geübt, in deren Folge die Auszubildenden „wie abgerichtet“ erscheinen, nur noch ökonomisch und über Dienstleistungen diskutieren, aber nicht über Haltungen, die anderen Menschen, Patienten und Sterbenden gegenüber eingenommen werden sollten. Demgegenüber wird ein eigenes Professionalitätsverständnis vertreten, das darauf gerichtet ist, Mitmenschlichkeit und Fachlichkeit zu integrieren.

Dieses besondere Verständnis von Pflegequalität und Professionalität gerät durch neue Managementkonzepte in Verbindung mit einem starken Kostensenkungsdruck in die Defensive. Die neuen Anforderungen für Qualitätsmanagement und Dokumentationen werden von den jüngeren Pflegekräften zwar allermeist anerkannt. Gleichwohl gibt es deutliche Kritik an Strategien, die das Hauptaugenmerk auf objektive medizinorientierte Handlungen richten, während die Beziehungsqualität zu kurz komme. Dazu äußert sich beispielsweise eine leitende Diakonieschwester: „Das Produkt von Pflege ist nicht nur von einer Pflegeperson abhängig, sondern auch vom Patienten, wie er das annimmt. Wenn er eine Maßnahme nicht gut findet, weil er das als Übergriff oder weil er es als seine Schamgrenze überschreitend empfindet, und er lehnt dieses in der Dienstleistung ab, dann kommt kein gutes Produkt raus. So, das ist eben die Schwierigkeit. Ja, und sagen wir mal als Produkt, die Zuwendung, lässt sich ganz schlecht messen und geht im so genannten Pflegecontrolling auch unter. Man versucht, Messinstrumente zu entwickeln, aber Zuwendung oder ein Lächeln, was oft eine Rolle spielt, kann man schlecht messen“ (ebd.: 35).

Das Ethos fürsorglicher Praxis, das hier zur Sprache gebracht wird, enthält etwas, was als unaufgebbare Dimension des beruflichen Güteanspruchs formuliert wird, aber sich schwer in Messzahlen und Kennziffern ausdrücken lässt. Beklagt wird dementsprechend das Unvermögen der eigenen Berufsgruppe, sich in den organisationalen, gesellschaftlichen und interprofessionellen Auseinandersetzungen mit ihrem spezifischen Ethos Gehör zu verschaffenFootnote 10. Die durch Abrechnungsmodalitäten vorgegebenen Kontingente an Pflegezeit stellen eine starke Zumutung und Herausforderung für all diejenigen in Pflegeberufen dar, die vom Gedanken der Ganzheitlichkeit, des Sehens und der Integration fachlicher und mitmenschlicher Aspekte erfüllt sind.

4.2 Instrumentelle Rationalität und Fürsorgerationalität im Widerstreit

Im Ethos beruflicher fürsorglicher Pflegepraxis spielt eine besondere Rolle, die Pflegebedürftigen in ihrer Individualität und Persönlichkeit zu würdigen. Beispiele vielfältiger Art haben wir dafür in unseren Gesprächen gefunden. Es wird als gute Pflege angesehen, auf die Einzelnen einzugehen, „abzuwägen, wann fühlt der (bestimmte Patient) sich wohl?“ Was braucht er oder sie? Diese Tätigkeiten stehen unter dem Gesichtspunkt einer Fürsorgerationalität. Sie steht durchaus sperrig gegen eine an instrumenteller Rationalität orientierte Zeitstruktur, die nach dem Prinzip „Zeit ist Geld“ funktioniert und in den Einrichtungen in jüngerer Zeit immer stärker dominiert.

Gemäß der aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Pflegeforschung glaubt ein Drittel der befragten Pflegedirektoren, dass die Möglichkeiten, eine gute Pflege anzubieten, in den vergangenen Jahren gesunken seien, und rechnet aufgrund des Kostendrucks allgemein mit weiterem Stellenabbau. Mit den veränderten Vorgaben an Stellen und zu Pflegenden haben auch unsere Gesprächspartner zu tun. Besonders von Männern wird dies als drohender, schon eingetretener Verlust dessen gesehen, was sie selbst am Pflegeberuf schätzen, so ein PflegerFootnote 11: „Also es wird auch so gelehrt, (...) die vier Punkte, die dazu gehören, eben Körper, Geist, Seele, soziales Umfeld. ... Den Patienten auch in den Mittelpunkt rücken (…), was ja auch ganz richtig und ganz wichtig ist, aber die Rahmenbedingungen lassen es einfach gar nicht so zu.“

Angesichts der drohenden Aussicht, die einzelne pflegebedürftige Person – entgegen dem eigenen Ethos – aus dem Auge zu verlieren, finden sich sowohl auf der Ebene verantwortlicher Führungskräfte in stationären Einrichtungen und Ambulanzen als auch auf der Ebene der direkten Pflegepersonen diverse Umgangs- und Bewältigungsstrategien.

4.3 Umgangsstrategien in Führungspositionen

Eine Pflegedienstleiterin in einem Krankenhaus hält es für selbstverständlich, dass die Pflegekräfte einerseits viele Dinge tun, für die es keinen Abrechnungskatalog gibt, dass aber andererseits diese gerade deshalb auch oft wegfallen: „Da kann ich nicht sagen, das kostet 3,50. Ich könnte höchstens sagen: ein Gespräch mit dem Patienten ist unbezahlbar. (...) Für diese Gespräche, so wie ich es auch noch kenne aus meiner Stationsarbeit, ist überhaupt kein Raum mehr.“

Angesichts des Personalabbaus („Sie haben ja teilweise, sage ich mal, auch auf einer 30–35-Bettenstation haben Sie als Mindestbesetzung in einer Schicht drei Examinierte. Wird Ihnen davon eine krank, bricht der Laden schon fast zusammen, dann funktionieren Sie nur noch wie ein Uhrwerk.“) wird nur noch im Kontext der sogenannten Zimmer- oder Bereichspflege (s.o.) eine Chance gesehen, während der Pflegetätigkeit auch mit den Patienten zu sprechen: „Während der Tätigkeiten, die ich am Patienten mache, habe ich Zeit, mit ihm zu reden. Aber darüber hinaus eben auch nicht mehr.“

Die persönliche Strategie dieser Führungskraft im Umgang mit Managementvorgaben von höchster Ebene ist es, den Controllern im eigenen Hause die schon jetzt sehr schwierige Lage vor Augen zu führen und die Umsetzung weiterer Kürzungen an diese zurückzudelegieren, in der Hoffnung, sie dadurch vielleicht faktisch abzuwenden: „Ich diskutiere das inzwischen gar nicht mehr. Ich stelle mich dann immer nur hin und sage: Ihr seid die Geschäftsführer. Wenn Ihr meint, das machen zu müssen, leitet das ein. Ich tu es nicht. So, und dann geben sie klein bei. Bei genauerer Betrachtungsweise sehen sie dann auch, dass wir schon unter Limit sind und gar nicht mehr darunter können.“

In dieser Verarbeitungsform wird angesichts einer schon als unzureichend begriffenen Situation die Übernahme der Verantwortung für weitere Personalkürzungen offiziell abgelehnt. Eine solche offizielle Ablehnung der Umsetzung von Rationalisierungsvorgaben ist allerdings sehr selten.

Bei den Führungskräften in Einrichtungen ambulanter Pflege findet sich zwar eine ganz entsprechende Beurteilung der zeitökonomischen Vorgaben, aber statt offener Ab- und Gegenwehr wird hier u. a. der Versuch gemacht, den Pflegekräften die nicht abrechenbare Dimension ihrer Aufträge in den Vordergrund zu stellen, also informell die formal vorgegebene Aufgabe im Sinne guter Pflege umzudefinieren: Bei gegebenen fünf Minuten, die z. B. für eine Injektion veranschlagt werden, soll – ähnlich wie es oben mit Blick auf Zimmerpflege ausgeführt wurde – nicht die Injektion als fachlich-technische Handlung, sondern die persönliche Begegnung in den Mittelpunkt gerückt werden: „Ich versuche meinen Mitarbeitern oder meinen Schülern (...) zu vermitteln, immer eine Möglichkeit anzubieten, die Zeit, wenn es auch nur eine ganz kurze Zeit ist, die sie haben, zur Pflege oder zur Versorgung zur Verfügung haben, die zu nutzen für Beziehung. (...) Wenn ich jetzt zu einem Patienten hinfahre, um ihm eine Injektion zu geben, dann dauert das nicht länger als fünf Minuten mit Dokumentation, aber ich versuche immer das Gewicht zu verlagern, dass ich sage: Diese fünf Minuten, die Ihr habt, die habt Ihr Zeit zur Begegnung, und diese Injektion, Mensch, die geht von selbst. Da brauche ich mich nicht auf irgendetwas zu konzentrieren, die läuft nebenbei. Die Crux ist, dass es meistens so ist, dass die Injektion der Hauptpunkt ist.“

Während die abrechenbare Zeit diejenige für eine Injektion ist, soll sie von den Pflegekräften als Zeit für die Beziehungsaufnahme aufgefasst werden, und die Injektion soll nebenbei gemacht werden. Die Erfahrung und Routine, die für eine solche Handhabung gebraucht werden, sind allerdings höchst voraussetzungsvoll und können, wie von der Führungsperson selbst eingeräumt wird, in der Regel nicht realisiert werden. In dieser Bewältigungsstrategie wird das Problem zeitökonomischer Vorgaben, die der Pflegesituation unangemessen sind, an die Pflegekräfte weitergegeben.

Als eine weitere Strategie des Umgangs mit ökonomischen Vorgaben auf der Führungsebene im ambulanten Bereich wird der Versuch geschildert, den Patienten die Marktsituation zu erklären und so den eigenen Druck an die Klienten weiterzugeben: „Also Patienten sagen dann durchaus: Ihr habt ja immer so wenig Zeit. Und dann sagen wir, wir haben nicht zu wenig Zeit. Wir haben eine ‚definierte Zeit’, die wir bei Ihnen verwenden dürfen. Wir können mehr Zeit verwenden, aber das ist dann auch mit Kosten verbunden – wir versuchen, das zu regeln, wenn Bedürfnisse da sind, die wir eben auch nicht befriedigen können, dass wir dann eben versuchen, im Sinne von Netzwerkarbeit (...) diese Bedürfnisse sind schon anerkannt.“

In der letztgenannten Umgangsweise wird angesichts offenbar unbefriedigt bleibender Bedürfnisse versucht, diesen durch die Kooperation mit nicht-professionellen Kräften, z. B. durch Netzwerke mit Ehrenamtlichen, Rechnung zu tragen. Als Antwort auf ökonomische Zwänge findet sich hier gewissermaßen das Delegieren unerledigter Aufgaben an andere gesellschaftliche „Kostenstellen“. Entscheidend für die Tragfähigkeit solcher Lösungsansätze wäre allerdings die verbindliche Verknüpfung der verschiedenen Tätigkeitsformen, also der Tätigkeiten auf beruflicher Basis mit denen auf ehrenamtlicher Basis und denen auf Grundlage emotionaler Verbundenheit oder eines persönlichen Verpflichtungsgefühls.

Die Diagnose hinter den verschiedenen dargelegten Umgangsweisen, mit dem Problem nicht anrechnungsfähiger Zeiten umzugehen, ist gleich. Die Umgangsweisen sind verschieden. Doch scheinen Anpassungsstrategien aufseiten der Führungskräfte zu überwiegen.

4.4 Bewältigungsstrategien auf der Ebene der Pflegekräfte

Wie wird die Situation der ökonomischen Zeitknappheit von den Pflegekräften unmittelbar vor Ort der beruflichen Pflegesituation bewältigt? Auf der Seite der Pflegekräfte findet sich das Gefühl, dass dem eigenen Anspruch nicht mehr Genüge getan werden kann. Auf diese Weise kommt – nach unseren Befunden – vor allem bei männlichen Pflegekräften eine Spirale der Unzufriedenheit und des Motivationsverlusts in Gang, wie sich aus den folgenden Äußerungen verschiedener Pflegekräfte ergibt: „Was (...) nicht mehr ist, ist die Beziehung zwischen Pflege und Patient. Die ist nicht mehr wirklich da. (...) Es war durchaus so, dass man früher auch viel arbeiten musste, aber es hat kaum einer etwas dagegen gesagt, wenn man in einem Zimmer eine halbe Stunde verschwunden war. Heute kommt nach 10 Minuten jemand rein und fragt: ‚Was machst du hier solange?’“ „Weil die Patienten eben pflegeintensiver sind, kommt die wirklich direkte Zuwendung, was auch ein Gespräch oder so anbelangt, absolut zu kurz. (...) Das ist überhaupt nicht mehr möglich. (...) Dass wir manchmal das Gefühl haben, derjenige, der gerade vor uns steht und irgendein Anliegen hat, dem geht es gerade sowieso besser als uns (die wir gejagt werden), (...) verstehen Sie? (...) Man kann manchmal sich gar nicht mehr so auf den Einzelnen so einstellen, was eigentlich ganz wichtig eigentlich wäre.“ „Wenn ich wirklich jedem die Aufmerksamkeit geben würde, wie ich es mir vorstelle oder wie es die Patienten auch gebrauchen könnten, dann würde die eine Schicht definitiv nicht ausreichen.“ „Ich habe mich gefreut, zur Arbeit zu kommen, heute ist das anders.“

Es wird auch von neuerlich hohen Krankenständen gesprochen, die in der eigenen Einrichtung früher nicht üblich gewesen seien, von Stationen, denen man von außen ansehen könnte, dass es ihnen nicht gut gehe, sowie vom eigenen Gefühl des Ausgebranntseins. Zwei Strategien haben wir bei unseren Gesprächspartnern gefunden, mit denen nicht für verantwortbar gehaltene Pflegeumstände persönlich bewältigt wurden: das Verlassen des Feldes und die eigene informelle Prioritätensetzung im Pflegealltag.

Das Verlassen des Feldes wird von einer Schwester geschildert, die heute in einer diakonischen Einrichtung der Altenpflege tätig ist, da sie es an ihrem früheren Arbeitsplatz nicht aushalten konnte: „Ich konnte es psychisch nicht verkraften, wie da mit den Menschen umgegangen wurde. Da musste man (...). Wir waren morgens mit 32 schwerstkranken Bewohnern, waren wir mit drei Pflegekräften. Die Strukturierung war da auch jeden Tag so: jeden Tag musste jeder geduscht werden. (...) Aber Sie können sich das ja vorstellen: Wenn man in zwei Stunden zehn Bewohner duschen soll, wie man die duscht. Das heißt, die werden von oben bis unten abgeseift, man hat das Handtuch genommen: von oben bis unten runter, hat die dann angezogen, hatte Schwierigkeiten, die Kleidung anzukriegen, weil ja die Haut noch viel zu nass war. Ja, und essen auch: Da herrschten wirklich noch Sachen wie Nase zuhalten, damit der Mund aufgeht. Dass man was zu trinken reinkriegt. Und nach einer gewissen Zeit habe ich gedacht, das kann ich psychisch nicht durchhalten.“

Und sie beschreibt, wie unter harten, offenbar falschen Auflagen für die Pflegekräfte diese auch selbst hart wurden: „Zigarettenpausen waren da das wichtigste. Es fing um halb sieben an, der Dienst, um sieben musste die erste Zigarettenpause gemacht werden. Wenn man dann gesagt hat: ‚nein, ich bin noch nicht so weit’, dann wurde man da schon als Kollegenschwein, sag ich mal, hingestellt. Ja, ‚Streber’ und ‚willst Du nichts mit uns zu tun haben’. Also hat man sich dem erst mal angepasst.“

Unmenschliche Behandlung der ihr Anvertrauten konnte diese Schwester nicht verkraften; aber um ihre Sichtweise durchzusetzen, vor allem beim Management, und bei ihren Kollegen Gehör zu finden, sah sie keine Chance. Sie suchte sich ein Haus, in dem – wie sie sagt – ein anderer Geist weht.

Eine offensivere Bewältigungsstrategie zeigt der Versuch eines Pflegers, die herrschende Zeitrationalität des Betriebs auf einer Krankenhausstation informell zu unterlaufen: „Es ist halt so, dass die Prioritäten so aussehen: erst Dokumentation, dann Patient. Es ist wichtiger, das Häkchen gemacht zu haben als die Tätigkeit ausgeführt zu haben. (...) Leider sind meine Kollegen ängstlicher als ich. Und für mich bedeutet das, sollte die Zeit nicht ausreichen, dann geht die Zeit zu 100 % für die Patienten und zu null Prozent in die Dokumentation. Ich lasse die Zettel liegen. Die sterben nicht, die Patienten schon.“

Die Zettel „sterben nicht, die Patienten schon“: Mit diesem provokativen Satz wird der Versuch gemacht, auf den drohenden Verfall des Ethos fürsorglicher Praxis hinzuweisen, demzufolge Pflegekräfte unter bestimmten Umständen die immer stärker komprimierte Zeit auf die von ihnen verlangte Dokumentation von Handlungen konzentrieren und dabei unter Umständen die dokumentierten Handlungen selbst versäumen.

Weder die eine Umgangsweise (ein problematisches Feld zu verlassen) noch die andere persönliche Strategie (die Prioritäten gemäß dem eigenen Ethos informell anders zu setzen) ändern allerdings etwas an der kritisierten allgemeinen Praxis. Sie zeigen aber, dass das Ethos fürsorglicher Praxis durch unangemessene zeitökonomische Vorgaben hochgradig gefährdet ist, auch wenn Einzelne das Ethos bewahren wollen. Wer in der Pflege beruflich tätig ist, hat tagtäglich mit Rahmenbedingungen zu tun, in denen die primär sachbezogene, rein äußerliche, formale Leistungserbringung im Vordergrund steht und die humanen Inhalte pflegerischen Handelns schwer integrierbar sind. Wenn der Entwurf pflegebezogener Organisationskonzepte vom Ziel der Rationalisierung und Kosteneinsparung angetrieben wird, besteht die Gefahr, dass Leistungserbringung auf gut beschreibbare und dokumentierte Tätigkeiten reduziert wird. Aktuelle Lehrbücher über Ethik in der Pflege, wie beispielsweise das Lehrbuch von Reinhard Lay (2004), kommen entsprechend zu dem Schluss, dass professionelle Pflegekonzepte auch philosophisch-ethisch und nicht nur pragmatisch oder ökonomisch begründet werden müssten.Footnote 12

4.5 Selbstreflexion, Selbstpflege und gelingende Pflegebeziehungen

Die Schilderung inhumaner Behandlung alter, kranker Menschen macht deutlich, dass Qualität in der Care-Arbeit als Pflegedienstleistung nicht ohne ein eigenes Ethos möglich ist. Gute Pflege als Bestandteil fürsorglicher Praxis ist ohne eine Haltung der Menschenliebe, der Anteilnahme und Zuneigung zu den Menschen, die von den Pflegenden unmittelbar abhängig sind, nicht denkbar. Zugleich wird deutlich, dass gute Pflege schwerlich möglich ist in einer Situation, die den Pflegenden, seien sie bezahlt oder unbezahlt, keinen Raum für eigene Bedürfnisse lässt.

Dementsprechend wollen die heute aktiven Diakonieschwestern, dass – ohne die früher eingeforderte Aufopferung – neue Formen gefunden werden, um Potenziale für gute Pflege freizusetzen. Sie verstehen Pflege als einen Beruf mit einer in der Tat ganz besonderen Arbeitstätigkeit, die sich unmittelbar auf Menschen bezieht. Die notwendige Empathie, das Vermögen, Bedürfnisse des Anderen spüren zu können, und die ganzheitliche Wahrnehmung des Anderen haben ihres Erachtens auch zur Voraussetzung, sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein. Unsere Gesprächspartnerinnen formulieren dazu verschiedene konkrete Regeln: auf die eigenen körperlichen und emotionalen Schwachpunkte achten und diese nicht ignorieren, sich nicht zum Umgang mit Menschen zwingen, mit denen man zumindest zeitweilig emotional nicht zurechtkommt und Selbstpflege als integralen Bestandteil von guter Pflege zu betrachten. Eine Diakonieschwester begründet diese Regeln in dem Bild einer aufzufüllenden Energiequelle: „Ich habe zwar, wie gesagt, dieses Verständnis einer großen Menschenliebe, die mich auch motiviert, diese Dinge zu tun. Aber Selbstpflege ist für mich ein ganz wichtiger Aspekt. (...) Weil ich glaube, dass dadurch richtig gute Pflege resultiert. (...) Ja, ich finde es auch wunderbar, gepflegt zu werden. Das tut der Seele wahnsinnig gut und auch dem Körper, und ich glaube, nur wer selber empfängt, kann auch geben. Also, auch wenn man nur gibt, ist man irgendwann oder ich kenne selber so eine Situation, wo man einfach leer wird, weil ja, es muss wieder aufgefüllt werden. Ich habe kein Depot, das unendlich sprudelt, damit ich, irgendwo muss ich das wieder auffüllen“ (Kumbruck/Senghaas-Knobloch 2006: 28).

In dieser Reflexion gehört zum Ethos fürsorglicher Praxis, dass Qualität der Pflege durch persönlich verbindliche Professionalitätsansprüche und den reflektierten, richtigen Bezug zu den eigenen Emotionen und inneren Energien als Gesundheitsressourcen bestimmt wird.

Über die Aufgaben des Umgangs mit Emotionen als besonderen Beziehungsaspekten beruflicher TätigkeitenFootnote 13 im Gesundheitswesen hat Anselm Strauss mit seinem Forscherteam schon 1980 Untersuchungen angestellt und dafür den Begriff der Gefühlsarbeit (sentimental work) geprägt. Er erkannte, dass die medizinisch indizierten Tätigkeiten einer geeigneten emotionalen Verfassung der Patienten und einer entsprechenden Umgebung bedürfen, damit sie überhaupt erst erfolgreich durchgeführt werden können (Strauss et al. 1980): Ein Kind, das vor Angst außer sich ist, kann nicht untersucht werden; ein ängstlicher älterer Patient bedarf des Zuspruchs. In dieser Perspektive sind die medizinisch-technischen Aufgaben allerdings die Hauptaufgaben, die der Hilfe durch „sentimental work“ an den Patienten bedürfen, um sie zu erfüllen. In zweiter Instanz ist dazu wiederum auch ein geeigneter Umgang des Pflegepersonals mit den eigenen Gefühlen (z. B. überbordendes Mitleid) nötig (emotional work).

Nach Ansicht unserer Gesprächspartnerinnen, die sich in besonderer Weise einem Ethos guter Pflege verschreiben, hat die emotionale Dimension in der Pflegepraxis allerdings in jedem Fall eine eigenständige Bedeutung, u. a. weil Pflegetätigkeiten notwendigerweise Tätigkeiten sind, in welcher die kulturell gesetzten Distanzen zwischen Menschen außer Kraft gesetzt werden und darüber unausweichlich auf beiden Seiten Gefühle entstehen. Die notwendigen Pflegetätigkeiten sind in einem vielfältigen Sinn berührungsintensiv, wenn nicht gar invasiv. Der Abstand, den Menschen zwischen sich als angemessen und angenehm empfinden, ist je nach Situation verschieden und doch kulturell festgelegt und tief einsozialisiert. Eine pflegebedürftige, kranke Person ist auf Hilfeleistungen angewiesen, die den gewohnten Abstand verletzen. Gerade wenn und weil die im gesunden Zustand bewahrte Distanz aufgegeben werden muss, bedarf diese Person seitens der Pflegenden einer besonderen Empathie, die die Distanzverletzung begleitet, erträglich macht und Würde respektiert. Das angemessene Balancieren von Nähe und Distanz in der Pflegetätigkeit ist also eine besondere Anforderung, die für das Ethos fürsorglicher Pflege im modernen Kontext einen hohen Stellenwert hat (Duppel 2005)Footnote 14.

Dort allerdings, wo Pflegende in eine Beziehung zu den Pflegenden treten können und wollen, die ihnen selbst eine hohe Zufriedenheit, positive Gefühle, sogar ein Glückserleben verschafft, gibt es auch eine Chance für positives Erleben und Glücksmomente im Leben der Gepflegten: Das zeigt sich, wenn Schwestern von Situationen erzählen, in denen sie in hohem Maße positive Emotionen erleben. Die folgende Darstellung wurde von einer Schwester gegeben, die in einer Abteilung für Demenzkranke tätig ist: „Schöne Sachen sind für mich immer, wenn man sieht, so kleine Erfolgserlebnisse – mögen sie auch noch so klein sein. Dass jemand, ich sag mal, der gar nichts mehr essen kann, auf einmal selber zum Teller greift und sich ein Stück Brot nimmt. Ja, oder selbst mal zur Tasse greift. (...) Oder wir hatten am Mittwoch als Beispiel hier Freimarktsfeier (...), decken dann unten in dem Raum schön die Tische, also machen meistens dann eine lange Kaffeetafel mit weißer Tischdecke und schönem Geschirr. Haben diesmal Waffeln gebacken, weil wir gesagt haben, über den Geruchssinn kommt so ein bisschen was vom Freimarkt. Und hatten dann auch jemand, der Quetschkommode gespielt hat und die Bewohner richtig wieder mitgingen. Ein paar standen auf und wollten mit uns tanzen. Das sind dann wieder so ganz schöne Momente, wo man sagt: oh, toll, nicht, und so, ich sag mal als Beispiel, diesen Tisch decken und wir schleppen die Stühle hin und her, die Tische hin und her, ist eine Zusatzarbeit. Aber, wenn man dann wieder sieht, welcher Erfolg dabei rüberkommt, wie die Gesichter strahlen, dann sagt man wieder, toll, nächstes Mal wieder“ (Kumbruck/Senghaas-Knobloch 2006: 28).

Das Ethos fürsorglicher Pflege kann sich entfalten, wenn Raum und Zeit für das Erleben des Gelingens der eigenen vieldimensionalen Pflegetätigkeiten und für die Interaktionen gegeben werden, in denen die Pflegenden die ihnen entgegengebrachten positiven Gefühle der Gepflegten entgegennehmen und positive Beziehungen aufbauen können. Von besonderer Bedeutung für das positive Erleben anspruchsvoller, schwerer Pflegearbeit ist die Chance auf ein gutes Feedback (dazu Bornheim 2008).

Die berufliche Pflegetätigkeit wie auch die fürsorgliche Praxis in der eigenen Familie haben gemeinsam, dass es sich um eine Aufgabe von tendenziell 24 Stunden am Tag handelt. Die Zeit, in der ein Mensch gepflegt wird, ist seine Lebenszeit; dabei geht es nicht um gesparte, sondern um erfüllte Zeit, nicht um instrumentelle, sondern um Fürsorgerationalität. Die jüngeren Schwestern bestehen auf der Möglichkeit, sowohl ihre Wünsche und Ansprüche an die persönliche Lebenszeit und das Familienleben als auch ihre Wünsche und Ansprüche an eine vom Ethos fürsorglicher Praxis getragene berufliche Pflegetätigkeit zu verwirklichen. Anders als Diakonissen verstehen sie ihre Tätigkeit nicht in erster Linie als Dienst, sondern artikulieren persönliche Ziele und Bedürfnisse, deren Erfüllung in eine Balance mit den Bedürfnissen derer gebracht werden soll, die gepflegt werden.

Wenn berufliche und außerberufliche fürsorgliche Praxis gelingen soll, bedarf es nach Ansicht unserer Gesprächspartnerinnen geeigneter Arbeitszeiten und einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung in der Familie (die nach unseren Befunden interessanterweise hier eher als in anderen Berufen angetroffen zu werden scheint, siehe Senghaas-Knobloch 2008a). Es bedarf auch der Partizipation bzw. Mitbestimmung der Beschäftigten bei der Erarbeitung von Dienstplänen, weil es nur so gelingt, den verschiedenen Rollenanforderungen entsprechen zu können. Während ältere Schwestern in der Diakonie und Diakonissen in einer Teilzeitbeschäftigung nur eine Notlösung sehen, der sie bei anderen notgedrungen zustimmen müssen, beschreibt eine jüngere Diakonieschwester auf Teilzeitbasis die sie zufriedenstellende Situation in einem Hospiz: „Das klappt gut. Ja, es gibt so eine Art Wunschdienstplan, wo sich jeder eintragen kann, und ich kann nur bestätigen, dass Teilzeitkräfte supergut liiert sind, total flexibel. (...) Wir können nicht – wie im Krankenhaus – auf den anderen Stationen anrufen und aushelfen lassen. (...) Wir sind auf uns selbst angewiesen (...) und es ist eine hohe Bereitschaft, auch mal einzuspringen, auch mal über das Maß hinaus Stunden abzuleisten“ (Kumbruck/Senghaas-Knobloch 2006: 41).

5. Ausblick

Das Ethos fürsorglicher Praxis als eine Haltung der Verantwortlichkeit, Zuwendung und Empathie galt einmal als wesensmäßig weiblich; Frauen wurden als Verkörperungen dieser Praxis angesehen und die spezifischen Kompetenzen wurden als weibliche Wesensmerkmale naturalisiert. So notwendig die Ideologiekritik dieser Sichtweise ist, sollte damit nicht unbedacht auch das Wünschenswerte an der Haltung verworfen, sondern umgekehrt ihre Verallgemeinerung unterstützt werden. Das ist aber ohne eine explizite Anerkennung des bisher für selbstverständlich Gehaltenen schwerlich möglich. Es bedarf einer gesellschaftlichen und organisationalen Wertschätzung für jene beziehungsbezogenen und bisher unsichtbar gehaltenen Anteile der Pflege, die oft nur vermischt mit technisch-fachlichen Anteilen zum Ausdruck kommen können, darin aber in ihrem Eigenwert anerkannt werden müssen, weil sie unabdingbar sind und der Menschenwürde der Gepflegten entsprechen.

Gefährdungen und Brüche des Ethos fürsorglicher Praxis fanden sich auch in der traditionellen Pflegekonfiguration der exklusiven Schwesternschaft – besonders im Syndrom der Entmündigung, die bei der hierarchischen Unterstellung der Schwester und ihrer Selbstaufopferung begann und bis zur Missachtung von Autonomiebestrebungen der Patienten reichte. Die neuen Entwicklungen in der Dienstleistungsgesellschaft scheinen alte Probleme in dieser Hinsicht überwinden zu können, bringen aber neue Dilemmata mit sich. Professionalisierung der Pflege trägt zwar zur Explizierung von Qualitätskriterien und Fachlichkeit bei. Sie trägt aber auch zur Illusion bei, dass fürsorgliche Praxis wie jede andere Dienstleistung auch mit all ihren Gütekriterien gekauft werden könne (allgemein zu Dienstleistungen Lehndorff/Voss-Dahm 2006). Professionalisierung trägt ohne Zweifel zur Verbesserung der Position der Pflegenden und oft der Gepflegten bei. Sie kann unter Umständen auch reinen Kostensenkungsmaßnahmen eigene Qualitätsmaßstäbe entgegensetzen. Von entscheidender Bedeutung ist es allerdings, die bisher als weiblich konnotierten Empathieanteile fürsorglicher Praxis zu verallgemeinern, also aus ihrer geschlechtsspezifischen Zuordnung heraus- und allgemeiner, auch monetärer Wertschätzung zuzuführen.

Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Frage zu, wie die unauflösliche Verbindung sowohl der eigenen Lebenszeit als auch derjenigen anderer Menschen mit Tätigkeiten innerhalb und außerhalb beruflicher Praxis begriffen wird. Offenbar ist in jedem Gemeinwesen der Bedarf an fürsorglicher Praxis immer größer als der Teil, der von vermarktlichten und professionalisierten Formen fürsorglicher Praxis abgedeckt werden kann. Wie weit soll Vermarktlichung getrieben werden? Welche Bedingungen sollten für Angehörige pflegebedürftiger Personen und für beruflich Pflegende gelten? (Rumpf 2007) In welche Richtungen driften die postindustriellen Gesellschaften, in denen sich die hierarchisch-arbeitsteiligen Genderstrukturen auflösen, in denen bisher das Problem der existenziellen Angewiesenheit auf Fürsorge auf Kosten der Frauen geregelt war? (Senghaas-Knobloch 2000, 2008b) Den modernen Dienstleistungsgesellschaften muss es gelingen, Normen und Institutionen gesellschaftlicher Achtsamkeit für die umfassenden Anforderungen fürsorglicher Praxis herauszubilden, die gleicherweise für Männer und Frauen gelten. Fürsorgliche Praxis ist eine gesellschaftliche Aufgabe, für deren Erfüllung Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, die weder die Angehörigen der Pflegebedürftigen noch die Beschäftigten in professionellen Einrichtungen überfordern.