1. Einleitung

Zum Thema „Europa“ und vor allem zur europäischen Integration entstehen gegenwärtig Diskurs- und Forschungszusammenhänge, die sich als eigenständiges Teilgebiet der Soziologie konsolidieren. Es entwickelt sich eine Europasoziologie. Dass Europa in der Soziologie im Vergleich zu anderen Sozialwissenschaften relativ spät zum Thema wurde, liegt am Gegenstand und seiner Entwicklung selbst: Die EU war die längste Zeit ihrer Geschichte ein ökonomisches und politisches Elitenprojekt. Es erschöpfte sich in market building und einer Institutionenentwicklung, deren Einfluss auf die Lebensbedingungen gering warFootnote 1 und die darum von den Bevölkerungen jahrzehntelang ignoriert werden konnte. Markt- und Institutionenentwicklung boten primär den auf ein Naheverhältnis zu ihrem Gegenstand besonders bedachten Disziplinen Ökonomie und Policy-Forschung Anknüpfungsmöglichkeiten. Der historische Erfolg dieses Elitenprojekts manifestiert sich jedoch schließlich darin, dass in seinem Rahmen der europäische Integrationsprozess so weit fortschritt, dass Lebensverhältnisse und soziale Beziehungen der Leute involviert wurden. Dies wiederum hat zur Folge, dass Europa zunehmend als praktischer Interpretationshorizont von Vorgängen in der Gesellschaft infrage kommt, dass praktische Fragen nach dem Verhältnis von europäischen Institutionen und individuellen Lebenslagen gestellt werden und dass insbesondere die Ungleichzeitigkeit von institutioneller Integration und Sozialintegration erfahrbar wird (vgl. Bach 2006). Die Europasoziologie wird also möglich, indem Europa zum institutionellen Rahmen sozialer Verhältnisse wird und somit die Möglichkeit entsteht, dass entsprechende Interpretationen daran angeschlossen werden (vgl. Lepsius 1999, 2006), und zwar sowohl durch professionelle Medien als auch durch die Leute (vgl. Gerhards 2000; Eder 2006). Die Europasoziologie knüpft daran an und verhält sich in diesem Sinn zu ihrem Gegenstand so parasitär wie die Soziologie insgesamt (Giddens 1990: 15).

Es ist das zentrale Merkmal der gegenwärtigen europäischen Konstellation, dass die Entwicklung einer europäischen Gesellschaft dem institutionellen Wandel der Europäischen Union weit hinterher hinkt. Der institutionelle Rahmen der Gesellschaft wird zunehmend europäisiert, während für die soziale Integration der Gesellschaft immer noch der nationalstaatliche Rahmen am wichtigsten ist. Dies ist der Grund, dass die Europasoziologie von der Differenz national/europäisch aus entwickelt werden muss. Das Spannungsverhältnis in dieser Differenz ergibt das spezifische soziale Substrat für europasoziologische Fragen. Denn die Ungleichzeitigkeit von institutioneller Integration und Sozialintegration Europas führt zur Ausbildung der rivalisierenden Raumbezüge „national“ und „europäisch“ als Interpretationsrahmen – „Raumrahmen“ – für soziale Sachverhalte. Das hat praktische Konsequenzen. Je nachdem, ob Personen und soziale Gruppen Sachverhalte national oder europäisch rahmen, ergeben sich unterschiedliche Realitätsdeutungen, und es entwickeln sich unterschiedliche Motivlagen und Interessenprofile, die zu unterschiedlichen Handlungsstrategien führen. Im Zentrum der Europasoziologie müssen also die unterschiedlichen Raumrahmen der Gesellschaftsinterpretationen unterschiedlicher Akteursgruppen stehen. Daran anschließend kann gefragt werden, wodurch diese Unterschiede der Raumbezüge entstehen, also: wer aus welchen Gründen soziale Sachverhalte eher national oder eher europäisch interpretiert und was aus diesen unterschiedlichen Raumrahmen folgt.

Ausgangspunkt der Europasoziologie ist also die in der Praxis auftretende Differenz national/europäisch. Deren Interpretationen sind keineswegs willkürlich, sondern gründen in einer Bedeutungsgeschichte. Ich werde zuerst kurz den Bedeutungsgehalt von „national“ und „europäisch“ in Erinnerung rufen. Grundlegend ist, dass beide Begriffe einen dominanten Territorialbezug ausbilden. Denn erst diese Gemeinsamkeit macht sie zu rivalisierenden Raumrahmen sozialer Sachverhalte. Daran anknüpfend lässt sich dann fragen, welche sozialen Gruppen die Begriffe und die Differenz zwischen ihnen wie besetzen und wie sie ihre Interessen und Handlungen damit verknüpfen. Im zweiten Schritt werde ich darum die Perspektiven unterschiedlicher Akteursgruppen untersuchen, für welche die praktische Differenz national/europäisch relevant ist. Ich kann hier nicht anders vorgehen, als diese Akteursgruppen nach dem Grundsatz informierter Willkür festzulegen. Es kommen infrage: europäische politische Eliten, nationale politische Eliten, Bevölkerungen (von nun an: „die Leute“Footnote 2). Ich werde für die Untersuchung der Akteursinterpretationen der Differenz national/europäisch auf ausgewählte Ergebnisse der theoretischen Diskussionen und empirischen Untersuchungen der Europasoziologie zurückgreifen. Die Frage ist: Wie unterscheiden sich die unterschiedlichen praktischen Perspektiven, in denen die Differenz national/europäisch beobachtet wird, wie wirken sie zusammen und was folgt daraus? Es kann also nicht um eine möglichst eindeutige soziologische Beschreibung der Differenz national/europäisch gehen. Denn als solche gibt es die Differenz nicht. Entscheidend für die Europasoziologie ist vielmehr, in welcher Weise die relevanten Akteure die Differenz interpretieren und welche Konsequenzen sie daran knüpfen. Schließlich werde ich diskutieren, in welcher Weise der soziologische Begriffsapparat darauf neu eingestellt werden muss.

2. Stichworte zu den Begriffen

Die Begriffe „national“ und „europäisch“ bezeichnen unterschiedliche Deutungen des territorialen Zuschnitts von Gesellschaft, beziehen sich auf unterschiedliche Institutionenkomplexe und ziehen unterschiedliche politische und soziale Konsequenzen nach sich.

National

Der Begriff „Nation“ entwickelte sich aus dem lateinischen „nasci“ (geboren werden), trat als Oppositionsbegriff zu „civitas“ auf (vgl. Habermas 1998: 128 ff.) und hat traditionell keine territoriale, sondern eine genealogische Konnotation. Er bezeichnet Personengruppen mit gemeinsamen Merkmalen, denen eine hohe sozialintegrative Relevanz zugeschrieben wird. Die moderne Bedeutung des Begriffs „Nation“ entwickelte sich erst mit der historischen Durchsetzung des modernen Flächenstaats. Der Begriff „besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig gebrauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei“ (Weber 1972: 528). Webers Annäherung an den Begriff „Nation“ weist zwei bemerkenswerte Aspekte auf. Zum einen nimmt sie eine soziologische Perspektive ein, in welcher der praktische Gebrauch des Begriffs „Nation“ beobachtet wird. Sie nimmt also Akteursdeutungen auf. Und zum anderen macht sie Handlungskonsequenzen, nämlich Solidaritätszumutungen, die mit dem Gebrauch des Begriffs in der Praxis verknüpft werden, zum Definitionskriterium von „Nation“. Im Anschluss an seine Beispiele für damalige Reste von Deckungsungleichheiten von Nation und „Staatsvolk“ (am Beispiel Österreichs vor 1918) verweist Weber auf den Fluchtpunkt der nationalstaatlichen Entwicklung: „In der Tat ist heute ‚Nationalstaat‘ mit ‚Staat‘ auf der Basis der Spracheinheitlichkeit begrifflich identisch geworden“ (ebd.: 242).

Die Entwicklung des modernen Nationalstaats wird durch die Durchsetzung des Gewalt- und Steuermonopols vorbereitet (vgl. Elias 1976, Bd. 2: 123 ff.) und führt über die Territorialisierung von Staatsgewalt zum modernen Flächenstaat. Damit wird „Bevölkerung“ begrifflich und herrschaftstechnisch territorial erfasst. Indem der Nationalstaat die „zwei Ordnungsideen der Moderne, den Staat und die Nation“ (Lepsius 1990: 256), verknüpft, werden national gefasste kulturelle Gemeinsamkeiten und Solidaritätszumutungen territorial konnotiert und institutionell gefestigt. So kommt es zu einer wechselseitigen Bedeutungsaufladung von Nationalstaat und Territorialprinzip. Shmuel Eisenstadt hat die Entwicklung des Territorialbezugs des modernen Nationalstaats speziell in der europäischen Moderne hervorgehoben: „Die Konzeption des Nationalstaats brachte die Kongruenz zwischen der kulturellen und der politischen Identität der Gebietsbevölkerung“ (Eisenstadt 2000: 42). Simultan mit der Fusion der Begriffe „Staat“ und „Nation“ entwickeln sich also die territorialen Konnotationen des Nationalstaats (vgl. Bielefeld 2003: 86). Der Nationalstaat definiert seine territoriale Dimension durch die ihn umgebenden Grenzen (vgl. Medick 2006); er etabliert sein Gewaltmonopol und erstreckt seinen Herrschaftsanspruch prinzipiell auf alle auf seinem Territorium Lebenden; er überzieht das Territorium mit einer einheitlichen Administration; er fördert die Ausbildung eines „Wir“-Bewusstseins. Dies alles zieht die Konsequenz nach sich, dass an die Staatsbürgerschaft anknüpfende Rechte einen territorialen Bezug haben, der mit der Zeit einen solchen Grad an Selbstverständlichkeit erlangt, dass er kaum noch erwähnt wird. So bezieht T. H. Marshall die Trias von Bürgerrechten, politischen Rechten und sozialen Rechten zwar auf die Struktur sozialer Ungleichheit der Gesellschaft, setzt aber deren nationalstaatliche Rahmung als selbstverständlich voraus (vgl. Marshall 1950). Der territoriale Bezug ist für diese Rechte tatsächlich konstitutiv: Die Bürgerrechte umfassen die Freiheitsrechte der Bürger vor willkürlichen Staatseingriffen auf seinem Territorium. Die politischen Rechte betreffen die Partizipation an der politischen Willensbildung, wobei sich die (idealiter gegebene) Deckungsgleichheit zwischen den an der Willensbildung Beteiligten und den davon Betroffenen durch die Referenz auf das gemeinsame Territorium des Nationalstaats herstellt. Und schließlich wird auch die Inklusion in die sozialen Rechte territorial angelegt. Der Nationalstaat war und ist der exklusive territoriale Rahmen für die Mittelaufbringung und -verausgabung der Sozialpolitik (vgl. Wagner/Zimmermann 2003).

Im Laufe der Entwicklung moderner Territorialstaaten wird also eine zunehmende Zahl an Beschreibungen und Regulierungen gesellschaftlich relevanter Sachverhalte territorial, und das heißt: nationalstaatlich, gerahmt. Umgekehrt gewinnt das nationalstaatliche Format von Territorialität durch die sukzessive Anreicherung mit sozial und politisch folgenreichen Bedeutungen ein solches Maß an Selbstverständlichkeit, dass schließlich die nationalstaatlich verfasste Gesellschaft mit der Gesellschaft insgesamt implizit gleichgesetzt wird: in der administrativen Gesellschaftsbeobachtung (amtliche Statistik) und im Vollzug von Politik (klassische Trennung von Innen- und Außenpolitik), in den Alltagsdeutungen der Leute und auch in den Basiskategorien der Sozialwissenschaften:Footnote 3 „Der Nationalstaat bildet die gängige nominale Rechnungseinheit der Sozialforschung“ (Bach 2000: 19).

Europäisch

„Europa ist ein ungenauer Begriff“ (Morin 1991: 33). Das Wort Europa ist „probably Semitic in origin and a distant relative of the Arabic ‚Maghreb‘ “ (Brague 2001: 127). Es beschrieb ursprünglich bei den Phöniziern eine Richtung: West. Durch die gesamte Antike blieb die Bedeutung des Begriffs Europa amorph. Der Begriff wurde in den antiken Hochkulturen zur Bezeichnung eines „gestaltlosen Jenseits im Norden“ (Morin 1991: 35) verwendet. Entsprechend der minderen Bedeutung, welche jene Territorien in der Perspektive der Angehörigen der antiken Hochkulturen hatten, war auch der Begriff Europa randständig. Der Aufstieg des Begriffs Europa begann erst im Mittelalter, um kulturelle und religiöse Differenzen zum Islam zu markieren. Aber zur Bezeichnung des nicht-islamischen Territoriums wurde eher der Begriff „Christenheit“ als „Europa“ verwendet (vgl. Jordan 2002: 7).

Die Entstehung der modernen Staatenwelt wurde bereits von ersten Ansätzen einer Europaidee mit territorialem und politischem Bezug begleitet. Europa wurde als idealer friedlicher Ort und als Gegenentwurf zur kriegerischen Realität, insbesondere zum Dreißigjährigen Krieg, auf europäischem Territorium gedacht. „Die Verbreitung des Wortes ‚Europa‘, das den Begriff der ‚Christenheit‘ verdrängt, erfolgt genau zu der Zeit, in der die nationalen Staaten uneingeschränkte Souveränität erlangen“ (Morin 1991: 50).

Die Entwicklung des Europabegriffs mit territorial-politischer Konnotation war im 19. Jahrhundert abgeschlossen. Die meisten Europaprojekte des 20. Jahrhunderts wurden als Pazifizierungsprojekte entworfen (vgl. Coudenhove-Kalergi 1923), reagierten also auf Konflikte um Territorien. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veränderten sie ihre Dimension und Qualität. Zum einen wurde die Europaidee nach 1945 vom Ost-West-Konflikt präokkupiert und der Begriff Europa auf seinen Teil westlich des Eisernen Vorhangs verkürzt.Footnote 4 Zum anderen entwickelten sich mit dem Beginn der europäischen Integration historisch zum ersten Mal Ansätze der politischen Institutionalisierung auf europäischer Ebene.

Der Begriff „europäisch“ hat also schon lange eine territoriale Konnotation, aber einerseits war und ist unklar, wie weit diese reicht. Und andererseits ging der Gehalt des Begriffs immer über die territoriale Konnotation hinaus und bezeichnete spezifische kulturelle und soziale Qualitäten. Die politisch-institutionelle Aufladung des Begriffs Europa dagegen ist sehr neu; sie setzt erst mit der europäischen Integration seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein.

Damit wird eine terminologische Präzisierung möglich und erforderlich: Europäisierung bedeutet institutionell, dass sich „europäisch“ auf die Europäische Union bezieht. Die Differenz national/europäisch impliziert also einen politisch-institutionell zugespitzten und darum auf die EU verkürzten Europabegriff. Dies führt unmittelbar zum nächsten Schritt, zur Untersuchung unterschiedlicher Beobachtungsperspektiven, in denen die Differenz national/europäisch von Bedeutung ist.

Ich fasse vorläufig zusammen: Die Begriffe „national“ und „europäisch“ erfassen territoriale Bezüge von Gesellschaft. Beide Begriffe bezeichnen territoriale Rahmen für Institutionenentwicklungen und für praktische Gesellschaftsinterpretationen. Ebenso definieren beide Begriffe Rahmen für die Konstituierung eines „Wir“-Bewusstseins und die sich daraus ergebenden Anforderungen – „Solidaritätszumutungen“ im Sinne Max Webers. Allerdings bezeichnen „national“ und „europäisch“ unterschiedliche Grenzziehungen, unterschiedliche territoriale Bezüge, Institutionenentwicklungen und Gesellschaftsinterpretationen (Bös 2000). Daraus ergibt sich die Differenz national/europäisch, daraus ergeben sich rivalisierende Interpretationen und daran anschließende Interessenkonflikte. Diese speisen die Spannung im Verhältnis national/europäisch, die im Zentrum der Europasoziologie steht.

Um dies konzeptionell in den Griff zu bekommen, muss man untersuchen, wie sich unterschiedliche Gruppen von relevanten Akteuren in der Differenz national/europäisch verorten und in welcher Weise sie von der Differenz Gebrauch machen. Dabei steht man vor der Schwierigkeit, dass sich die Gruppen selbst anhand der Unterscheidung erst konstituieren. Dieser Zirkel ist nur im Wege einer historischen Rekonstruktion der Wechselwirkungen von Gruppenkonstitution, Institutionenwandel und Deutungswandel aufzubrechen. Das ist hier nicht zu leisten. Ich sehe im Moment keine andere Möglichkeit, als Gruppen und damit Interpretations- und Handlungsperspektiven anzunehmen, deren Relevanz schlicht plausibel ist, also, wie eingangs erwähnt, nach dem Prinzip informierter Willkür zu verfahren. Die europasoziologisch primär relevanten Gruppen sind: die europäische Elite, die nationalen politischen Eliten sowie die Bevölkerungen der Mitgliedsländer, also die Leute.

3. Die Perspektive der europäischen Elite

Die Entstehung einer europäischen politischen Elite verdankt sich der Entwicklung europäischer Institutionen. Zugleich hat die Elite die Entwicklung dieser Institutionen angestoßen und vorangetrieben.

Die Idee eines geeinten Europas war bis nach dem Ersten Weltkrieg ein „intellektuelles Luftgebilde“ (Brunn 2002: 21). Erst in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine intellektuelle Europaelite, die sich um politische Resonanz für ihre Ideen bemühte. Allerdings blieben diese Versuche trotz erheblicher Anstrengungen, insbesondere der von Richard Coudenhove-Kalergi gegründeten „Paneuropäischen Union“, ohne greifbare institutionelle Resultate. Die Konstellation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dagegen war für die Institutionalisierung der Europaidee günstiger. Nun traf die intellektuelle Europaelite auf europäisch eingestellte Teile der nationalen politischen Eliten. Ihre Aktivitäten aus der Zwischenkriegszeit fortsetzend, bemühten sich die intellektuellen Europäer darum, Partner für die politische Realisierung ihrer Ideen zu finden, und zugleich waren die nationalen politischen Eliten aus national-politischen Erwägungen europäischen Integrationsideen eher zugänglich als in der Zwischenkriegszeit. Diese Konstellation war den ersten Institutionalisierungen auf der Europaebene, der Gründung des Europarats (1948) und der Montanunion (1952), stark förderlich. Mit der politischen Normalisierung in der auslaufenden Nachkriegszeit kühlte sich das intellektuelle und zum Teil schwärmerische Engagement für Europa dann ab, und die europäische Integration wurde Gegenstand der Berufsdiplomatie und -politik. Zugleich fungierten die ersten europäischen Institutionen als das Soziotop, in dem sich die professionelle politische Europaelite entwickeln konnte, welche das Anliegen der europäischen Integration übernahm.

Die Anfänge der europäische Institutionenbildung entstanden also aus dem Zusammenwirken von intellektuellen Europaidealisten und politischen Entrepreneuren mit starkem historischem Sendungsbewusstsein, gingen in die Entwicklung und Verdichtung eines Systems europäischer Institutionenbildung über und führten zu europazentrierten Karriere- und Lebensmöglichkeiten und damit zur Ausbildung eines Europamilieus und zur Entwicklung einer starken Identifikation der politischen Europaeliten mit dem „Projekt Europa“ (Münch 1993; Wagner 2005).

Die historische Konstellation, aus der die politische Europaelite entstand, hat dazu geführt, in ihrer Perspektive die Differenz national/europäisch mit der spezifischen Bedeutung zu versehen, die nationalstaatlich-territoriale Organisation der Gesellschaft als historisch überkommen, die europäische dagegen als zukunftsweisend anzusehen.

Dies wird aus den Ansätzen ersichtlich, in denen nach Anzeichen für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit als tragendes Element einer europäischen Gesellschaft gesucht wird. Ansätze einer europäischen Öffentlichkeit (Eder 2000, 2006) lassen sich bisher nur als transnationale Zusammenhänge der Medienkommunikationen von Eliten nachweisen, in denen ein „progressiver Europäismus“ (Trenz 2005) vorgetragen wird, der Länder und politische Richtungen übergreift und über die Einstellungen der Leute hinweggeht. Ebensowenig gelingt es, eigenständige intellektuelle Positionen zwischen europäischer Integration und nationalstaatlich gerahmten Interessen zu entwickeln (Vobruba 2007).

Europäischen politischen und intellektuellen Eliten gilt die europäische politische Organisation der Gesellschaft insbesondere angesichts der Vergangenheit des Kontinents als alternativenloses Pazifizierungs- und Prosperitätsprojekt und die europäische Integration als umfassendes Positivsummenspiel (vgl. Vobruba 2005). Das hat zweierlei Konsequenzen. Einerseits wird die Qualität des sozialen Lebens (vgl. Beck/van der Maesen/Walker 1997; Beck et al. 2001) ein konstitutives Kriterium für die Elitenbeschreibung einer europäischen Organisation der Gesellschaft. Da die europäische Integration von der überwiegenden Mehrheit der politischen EU-Elite als umfassendes Positivsummenspiel aufgefasst wird, vertritt sie die Auffassung, Integrationspolitik sei im Interesse aller und darum legitimatorisch unproblematisch, als gleichsam unwiderlegbare Vermutung. Andererseits verliert die Organisation des Politischen, sobald sie an Europa gekoppelt wird, ihren eindeutigen territorialen Bezug. Dies zeigt vor allem die offene Frage nach den Grenzen Europas (Bös/Zimmer 2006). Die neue europäische politische Organisationsform der Gesellschaft ist in der Perspektive der Europaelite eindeutig besser, aber territorial nicht mehr eindeutig.

Was sind die charakteristischen Merkmale der Verwendung der Differenz national/europäisch durch die europäischen Eliten? Die Europaebene wird vor allem bezüglich des politischen Outputs als der nationalen Ebene überlegen angesehen und gegenüber den Bevölkerungen so dargestellt. Warum? Die unvollständige Institutionalisierung demokratischer Willensbildung auf der EU-Ebene (vgl. Andersen/Eliassen 1996; Schäfer 2006) begrenzt ihr Spektrum an Legitimationsmöglichkeiten. Schon aus diesem Grund lässt sich bei den EU-Eliten eine starke Tendenz zu Versuchen beobachten, die EU per Output zu legitimieren (vgl. Scharpf 1999: 21). Vor allem bis zur Osterweiterung 2004 haben vielfältige Versuche, die EU als umfassendes Positivsummenspiel zu interpretieren, die öffentliche Darstellung der EU dominiert. Erstens: Die europäische Integration ist ein historisch einmaliges und einmalig erfolgreiches Pazifizierungsprojekt. Zweitens: Die Integration Europas sichert den materiellen Wohlstand. Und insbesondere die Osterweiterung der EU ist – in der Perspektive der politischen Europaelite – im Interesse aller: „Das Zusammmenwachsen Europas zu einem Wirtschaftsraum dieser Größe und dieser Stärke wird eine ungeheure wirtschaftliche Dynamik freisetzen“ (Verheugen 1999: 8). Daraus folgt in dieser Perspektive: „Es gibt überhaupt keine Erweiterungsverlierer“ (Verheugen 2004: 8). Auch nach der Osterweiterung hat sich die Output-Orientierung der legitimatorischen Darstellungen erhalten, der Themenschwerpunkt aber hat sich verschoben. In jüngster Zeit wird verstärkt mit den spezifischen Exklusionsleistungen geworben, welche die EU für die EU-Bürger erbringt: Schutz vor dem Druck ökonomischer Globalisierung durch regionale Wirtschaftsstärke, Schutz vor Immigration durch ein einheitliches und effizientes EU-Grenzregime (vgl. Eigmüller 2007). Bei ihren Versuchen, eine genuin europäische Politik zu entwickeln, geraten die EU-Eliten freilich in Rivalität zu den nationalen Eliten. Es waren die nationalen Regierungen, die im Vorfeld der Osterweiterung 2004 gegen die EU-Ebene zahlreiche ÜbergangsregelungenFootnote 5 zugunsten ihrer Bevölkerungen durchgesetzt haben. Ebenso gerieten EU- und nationale Eliten in der Frage der Prolongierung der Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die zum 1.5.2006 zur Entscheidung anstand, mit einigen nationalen Regierungen in Konflikt. Etwa zur selben Zeit scheiterte zum Beispiel der Versuch, die energiepolitische Kompetenz auf die EU-Ebene zu verlagern (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 24.3.2006, S. 1) und eine einheitliche europäische Energiepolitik zu formulieren, am Widerstand der nationalen Regierungen.

4. Die Perspektive der nationalen politischen Eliten

Durch die gegenwärtige institutionelle Verfassung der EU sind nationale Eliten einerseits in EU-Institutionen entscheidend eingebunden, andererseits aber stehen sie zu ihnen und ihren Repräsentanten in einer gewissen Konkurrenz. Zum einen treffen die nationalen Eliten im Rat maßgebliche europapolitische Entscheidungen. Zum anderen aber sind die nationalen Eliten mit politischen Handlungsrestriktionen durch Regulierungen der Kommission, Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EUGH) und Vetorechte des EU-Parlaments konfrontiert. Es lassen sich darum bei den nationalen Eliten ambivalente Positionierungen zur Differenz national/europäisch beobachten: Einerseits leisten nationale Eliten Arbeit an der Entspannung der Differenz, denn die Regierungen als Herren der Verträge bringen das EU-Projekt voran. Andererseits aber sind sie an ihre Wählerschaften rückgebunden, diesen zur Legitimation verpflichtet und genötigt, (wahl)strategisch relevante nationalstaatliche Kompetenzen gegen die Europäisierung zu verteidigen. Und schließlich neigen sie dazu, die Verantwortung für unpopuläre Entscheidungen und Versäumnisse auf die EU abzuschieben.

Der Umstand, dass der EU eine Vielzahl an nationalstaatlichen Mitgliedern gegenübersteht, bringt es mit sich, dass die Differenz national/europäisch von unterschiedlichen nationalen politischen Eliten unterschiedlich behandelt wird. Dies betrifft vor allem die grundsätzliche Positionierung zum „Projekt Europa“, zur weiteren Vertiefung der Zusammenarbeit und zu weiteren Erweiterungen der EU. Und es betrifft die Sonderpositionen einzelner Länder gegenüber umfassenden Integrationsprojekten und -vorhaben, wie den gemeinsamen Außengrenzen (Schengen), der Währungsunion, der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Erhebung einer direkten EU-Steuer, gemeinsamen Mindestsozialstandards etc. Solche Sonderpositionen ergeben sich (vor allem) aus unterschiedlichen geografischen Lagen einzelner Mitglieder in der EU, aus unterschiedlicher ökonomischer Leistungsfähigkeit und unterschiedlichen politischen Kulturen.

Ein Beispiel dafür sind jene Mitgliedsländer, deren Staatsgrenze zugleich EU-Außengrenze ist. Sie haben bezüglich der Grenzsicherung andere Interessen als Länder im Inneren der EU. Italien und Spanien kämpfen um eine Kostenbeteiligung aller Mitgliedsländer an ihrer Grenzsicherungspolitik; insbesondere Spanien hat, anders als die Mitglieder im Kern der EU, Interesse an einer gewissen Durchlässigkeit seiner Grenzen für Illegale (vgl. Eigmüller 2007). Deutsche Regierungen sehen in den Maastricht-Vorgaben – je nach den jeweiligen finanzpolitischen Präferenzen – eine Einmischung in nationale Belange oder einen Vorwand, Maßnahmen zu realisieren, deren legitimatorische Kosten man auf die EU-Ebene abwälzen kann. Österreich, ein Land mit bisher weitgehend freiem Hochschulzugang für Staatsangehörige, perzipiert die durch ein Urteil des EUGH erzwungene Öffnung seiner Hochschulen für Studierende aus allen Mitgliedsländern der EU als illegitime Einmischung in seine nationale Politik. Die Recht-sprechung des EUGH zur Liberalisierung der Arzt- und Krankenhauswahl im EU-Rahme (vgl. Mau 2008) wird für die Länder mit gut entwickelten Gesundheitssystemen und entsprechend kurzen Wartezeiten für Patienten analoge Folgen haben.

Solche Beispiele sind der Policy-Ausdruck der Institutionenkonkurrenz zwischen der EU und den Mitgliedsländern. Die territorial gefasste Definition des institutionellen Machtanspruchs der Nationalstaaten und die ebenso gefassten institutionellen Zuständigkeiten der EU führen zwingend dazu, dass die Differenz national/europäisch aus der Perspektive beider – nationaler und europäischer politischer Eliten – als Institutionenkonkurrenz wahrgenommen wird.

Nimmt man Aussagen in den Programmen der nationalen Parteien zur Europäischen Union (und zu ihren Vorformen) als Ausdruck von Positionierungen nationaler politischer Eliten, so ergeben sich im Längsschnitt (1950-2005) die folgenden Tendenzen (vgl. Volkens 2006): Quer durch alle Parteien in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU 25) nimmt die Thematisierung europäischer Angelegenheiten auf insgesamt niedrigem Niveau langsam zu. Dabei nehmen langfristig die zustimmenden Programmstatements in allen Parteienfamilien leicht ab, und zwar sowohl weil in den Parteien der Altmitglieder die Zustimmung sinkt als auch weil durch die Erweiterungen kritischer eingestellte Parteien hinzukommen. Diese Abnahme erfolgt in Schüben, die in der Regel auf Erweiterungsrunden folgen. So findet man in den Parteiprogrammen das generelle Muster der Entwicklung der EU wieder: europäische Entwicklungsschübe, gefolgt von Phasen der Stagnation und mühsamer Krisenüberwindung (vgl. Brunn 2002: 228 ff.; Vobruba 2005: 14). Man kann den Zusammenhang zwischen Erweiterungsrunden der EU und dem Zuwachs an kritischen Programmstatements zugleich als empirischen Hinweis darauf sehen, dass nationale politische Eliten neue Mitglieder als Beschränkungen ihres politischen Handlungsspielraums perzipieren. Der Befund, dass kleine Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums eher europakritisch eingestellt sind als große (vgl. Volkens 2006: 268), könnte – neben der Konzentration auf Integrationsverlierer als ihre spezifischen Klientelen – auch daran liegen, dass ihre Chancen, in Regierungspositionen zu kommen und derart via Rat der EU auch als europäische politische Akteure auftreten zu müssen, vergleichsweise gering sind.

Insgesamt finden wir bei nationalen politischen Eliten einen langsamen Bedeutungszuwachs der Differenz national/europäisch und im Rahmen dieser Differenz eine zunehmend kritische Perspektive auf Europa. Bemerkenswerterweise hat ausgerechnet die Osterweiterung 2004 zu keiner sinkenden Zustimmung in den Programmstatements der Parteien geführt. Die nationalen Eliten haben in diesem Fall offensichtlich die Positivsummendarstellungen der EU-Elite übernommen. „Die Parteien haben sich damit einseitig auf die Vorzüge der europäischen Integration konzentriert, ohne die Nachteile und Probleme der Osterweiterung zu diskutieren. Rückläufige Zustimmungsraten in der Bevölkerung der Mitgliedsländer bekräftigen, dass diese Strategie von den Bürgern nicht goutiert wurde“ (ebd.: 275). Dies verweist unmittelbar auf die Perspektive der Leute auf die Differenz national/europäisch.

5. Die Perspektive der Leute

Hier nehme ich zuerst den Ansatz von Jan Delhey (2004a) auf, den Entwicklungsstand der sozialen Integration der europäischen Gesellschaft als Grad des Vertrauens zwischen den Bevölkerungen unterschiedlicher Mitgliedsländer der EU zu operationalisieren. Als nächstes erörtere ich am Beispiel der Arbeitnehmerfreizügigkeit, ob und wie die politisch-institutionelle Herstellung transnationaler Arbeitsmärkte zu neuen Konkurrenz- und Konfliktbeziehungen führt und ob die Leute den freien Arbeitsmarktzugang als national oder europäisch gerahmtes Recht interpretieren. Daran schließt dann die Frage nach den Raumrahmen sozialer Ungleichheit und nach der Zurechnung der Verantwortung für ihre politische Bearbeitung an.

Gibt es empirische Hinweise auf die Entwicklung einer europäischen sozialen Integration? Dies wäre dann der Fall, „when mutual relevance is high and of a cohesive nature“ (Delhey 2004b: 16). Nimmt man die Bekundung von Vertrauen zu anderen Nationen dafür als empirischen Indikator, so zeigt sich eine generelle Zunahme des Vertrauens zwischen den Angehörigen der Mitgliedsländer der EU 15 – etwa analog dem Zusammenhang zwischen der Dauer der EU-Mitgliedschaft und dem Grad der Identifikation mit der EU (vgl. Nissen 2004, 2006: 166). Zugleich aber findet man deutliche Präferenzen für nördliche und kleine Länder und vertrauensverstärkende Effekte von Nachbarschaft (Delhey 2004b: 26, 28). Zudem deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die mit der Osterweiterung 2004 beigetretenen Neumitglieder von diesen Vertrauensbeziehungen weitgehend ausgeschlossen sind und in diesen Fällen Nachbarschaft eher Misstrauen zwischen Alt- und Neumitgliedern fördert (vgl. Delhey 2005b).

Die Besonderheiten im Verhältnis zwischen Alt- und Neumitgliedern der EU sprechen zugleich dafür, nicht ungeprüft davon auszugehen, dass es stets eine Verstärkung des sozialen Zusammenhalts bedeutet, wenn ehedem nationalstaatlich separierte Akteure füreinander zunehmend relevant werden. Auch der Kontrastfall ist zu berücksichtigen. Das kategoriale Schema möglicher Zusammenhänge zwischen „mutual relevance“ and „social cohesion“ ist also so zu erweitern, dass auch die Möglichkeit hoher wechselseitiger Relevanz mit sozialdesintegrativen Effekten ins Auge gefasst werden kann. Dies ist immer dann der Fall, wenn institutionelle Integrationsschübe zu umfassenderen und intensiveren Konkurrenzbeziehungen führen. Dabei geht es in der Perspektive der Leute in allererster Linie um den Arbeitsmarkt.

Die politischen Konflikte um die Einbeziehung der neuen Mitgliedsländer in die Arbeitnehmerfreizügigkeit sind ein Textbuchbeispiel für gesteigerte wechselseitige Relevanz über Staatsgrenzen hinweg mit potenziell sozial desintegrativen Folgen: Die politische Entscheidung für die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit stellt einen institutionellen Wandel dar, der zu intensivierten transnationalen Konkurrenzbeziehungen und zu politischen Forderungen nach Schutz vor transnationaler Arbeitsmarktkonkurrenz im nationalstaatlichen Rahmen führt. Im Einzelnen: Da die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Anschluss an das ökonomische System über den Arbeitsmarkt findet, ist die Entstehung und Intensivierung von Konkurrenzbeziehungen in der Folge von Transnationalisierungen des Arbeitsmarkts für sie von existenzieller Bedeutung. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit räumt den Bürgerinnen und Bürgern jedes Mitgliedslandes der EU prinzipiell das Recht ein, in der gesamten EU einer abhängigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit tritt an die Stelle national abgeschotteter Arbeitsmärkte also ein europaweiter Arbeitsmarkt und damit eine von nationalen administrativen ZugehörigkeitsregelungenFootnote 6 unverzerrte Form europäisch gerahmter Chancengleichheit. In der Perspektive und nach dem Willen der europäischen politischen Eliten wird die nationale Rahmung des Arbeitsmarkts also eindeutig von einer europäischen Rahmung abgelöst. Wie aber stellt sich dies in der Perspektive der Leute dar? Jürgen Gerhards (2006) kann anhand von Daten aus dem „European Value Survey“ zeigen, dass das europäische „Gleichheitsskript“ bezüglich des Arbeitsmarkts von der Mehrheit der Bevölkerung der Mitgliedsländer der EU nicht akzeptiert wird. Sind Arbeitsmöglichkeiten knapp, so werden nationalstaatliche Barrieren befürwortet, um national nicht zugehörige Arbeitskräfte fernzuhalten. Die Zustimmung variiert zwar nach Ländergruppen und nach individuellen Merkmalen (vgl. ebd.: 260 ff.). Insgesamt aber ist das Ergebnis eindeutig: In der Perspektive der Leute soll die Gleichheit der Chancen des Zugangs zum Arbeitsmarkt nationalstaatlich gerahmt sein.

Wie sieht der Raumrahmen sozialer UngleichheitFootnote 7 aus? Dies ist eine eng verwandte Frage, da es auch hier um grundlegende Probleme der Partizipation am Wohlstand geht: Wird soziale Ungleichheit im nationalen oder im europäischen Rahmen wahrgenommen? Jan Delhey und Ulrich Kohler (2006) kommen zu dem Ergebnis, dass die Leute Vergleiche mit den Lebensbedingungen in anderen, insbesondere als reicher wahrgenommenen Ländern anstellen und dass diese Vergleiche durchaus auch die individuelle Lebenszufriedenheit beeinflussen. Aber dieses Ergebnis verweist nur bedingt auf eine Europäisierung von Ungleichheitsbewusstsein. Denn zum einen transzendieren die Leute bei ihren praktischen Vergleichen zwar ihren eigenen nationalstaatlichen Rahmen, bleiben dabei aber in einer nationalstaatlich geordneten gesellschaftlichen Vorstellungswelt. Denn sie rekurrieren bei ihren Vergleichen ja doch wieder auf nationale Einheiten. Und zum anderen sagt der Befund eines Transzendierens des eigenen nationalstaatlichen Rahmens bei der Wahrnehmung sozialer Ungleichheit weder etwas über die kausale Zurechnung dieser Ungleichheiten zur Europaebene noch über Handlungskonsequenzen. Wird die Zuständigkeit für die politische Bearbeitung von Ungleichheitsproblemen eher auf der nationalstaatlichen oder auf der Europaebene verortet? Wo werden die Adressaten politischer Regulierungs- und Kompensationsforderungen gesehen (vgl. ebd.: 355)? Hinweise darauf, dass die (um)verteilungspolitische Verantwortung nach wie vor primär der nationalstaatlichen Ebene zugerechnet wird, ergeben sich aus einer Untersuchung von Christian Lahusen (2006). Er zeigt auf der Basis von Tageszeitungen in sechs LändernFootnote 8, dass die Berichterstattung über Arbeitslosigkeit ganz überwiegend im nationalstaatlichen Rahmen bleibt, insbesondere auch was die Zuschreibung von politischer Verantwortlichkeit betrifft. Daran lässt sich unmittelbar die Frage anschließen, ob die Leute einen Transfer von institutionellen sozialpolitischen Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene wünschen. Wird der Nationalstaat oder wird Europa als zuständiger Akteur und als geeigneter Umverteilungsrahmen der auf Ungleichheit bezogenen Politik angesehen? Soll die Kompetenz für Sozialpolitik auf der nationalen oder auf der europäischen Ebene angesiedelt sein? Trotz der institutionell weit fortgeschrittenen Integration Europas ist Sozialpolitik bisher eine Domäne nationaler Politik. Würde ein „wohlfahrtspolitischer Verantwortungstransfer“ (Mau 2003) auf die EU-Ebene bei den Leuten Unterstützung finden? Die Frage stellt sich um so dringlicher, je intensiver man der weitverbreiteten These anhängt, dass der Nationalstaat einer schleichenden Erosion seiner Handlungsfähigkeit ausgesetzt ist und sich Sozialpolitik auf der nationalstaatlichen Ebene auf Dauer ohnehin nicht halten lässt.

Grundlegende Stabilitätsvoraussetzung eines Sozialstaats ist die Balance zwischen den an ihn herangetragenen Ansprüchen und den ihm zugestandenen finanziellen Mitteln. Für die Leute manifestiert sich dies als Anspruchsberechtigungen und Zahlungsverpflichtungen. Es ist also plausibel, davon auszugehen, dass die Zustimmung zu einer sozialpolitischen Kompetenzverschiebung auf die EU-Ebene von Kalkülen der Leute abhängt, welche sowohl die Auszahlungs- als auch die Einzahlungsseite des Sozialstaats einbeziehen. Also: Erwartet man von einer Kompetenzverschiebung einnahmen- oder ausgabenseitig einen individuellen Nutzen? Dieses Kalkül läuft auf einen Vergleich zwischen dem Status quo der nationalstaatlich verfassten Sozialpolitik und der – vermuteten – Ausgestaltung einer europäischen, möglicherweise harmonisierten Sozialpolitik hinaus. Und gäbe es für die Finanzierung einer europäischen Sozialpolitik eine ausreichende Zahlungswilligkeit, basierend auf einer umverteilungsfesten europäischen Identität (vgl. Vobruba 2001: 126 ff.)?

Die Ergebnisse(Datenbasis: Eurobarometer) zeigen eine überwiegend utilitaristische Einstellung der Leute zur EU (vgl. Nissen 2004). Angehörige von Ländern mit generösen nationalen Wohlfahrtsstaaten (Skandinavien) zeigen weniger Zahlungsbereitschaft als Angehörige schwächer ausgebauter nationaler Wohlfahrtsstaaten (Südeuropa). Universalistische Wohlfahrtsstaaten mit relativ höherem interpersonellem Umverteilungspotenzial führen zu weniger Zustimmung zu einer europäischen Lösung als lohnarbeitszentrierte, in denen der Zugang zu Sozialtransfers restriktiver geregelt und der Zusammenhang zwischen individueller Ein- und Auszahlung enger ist (vgl. Mau 2003: 319). Insgesamt zeigt sich, dass die Zustimmung zu einem wohlfahrtsstaatlichen Kompetenztransfer auf die EU-Ebene umso schwächer ausfällt, je höher die individuelle Einzahlung und je unbestimmter der Zusammenhang zwischen Einzahlung und Auszahlung im jeweiligen nationalen System sozialer Sicherung ist. Es gibt also kaum einen genuinen Wunsch nach einer Europäisierung der Sozialpolitik. Vielmehr hängt er von der sozialpolitischen Situation im jeweiligen Mitgliedsland und von den daran orientierten Nutzenkalkülen ab.

Insgesamt sieht man, dass im Zuge der europäischen Integration die Raumrahmen sozialer Sachverhalte uneinheitlich geworden sind. Unterschiedliche Gruppen rahmen Probleme, die für sie von entscheidender Bedeutung sind, unterschiedlich und bilden entsprechend unterschiedliche Handlungsdispositionen aus. Das macht die soziale Spannung in der Differenz national/europäisch aus. Wie lässt sich dies theoriekonstruktiv fassen?

6. Zur Neuformatierung des sozialwissenschaftlichen Kategorienapparats

Die Entwicklung von sozialen Verhältnissen, die sich aus Gemengelagen von national, europäisch und global zurechenbaren Faktoren ergeben, hat erhebliche Probleme der sozialwissenschaftlichen Kategorienbildung aufgeworfen (vgl. Leibfried 2000). In den Sozialwissenschaften gibt es darum zur Zeit Bemühungen, auf die sich abzeichnende institutionelle und mentale Reorganisation der territorialen Bezüge der Gesellschaft mit einer Neuformatierung ihres Kategorienapparats zu reagieren.

Durch die Erfahrung mit praktischen Transnationalisierungsprozessen der Gesellschaft wurde die Selbstverständlichkeit der nationalstaatlich präokkupierten Kategorien der Sozialwissenschaften aufgebrochen. In der Folge kam es zu einer Steigerung des sozialwissenschaftlichen Reflexionsniveaus so weit, dass sich zumindest die Schwierigkeiten, mit den geläufigen Kategorien die Gesellschaft zu erfassen, selbst kategorial fassen lassen: Das Ergebnis ist die Kritik am „methodologischen Nationalismus“ (Smith 1983). Eine solche Steigerung des Reflexionsniveaus bedeutet aber noch lange nicht, dass man auf eine transnationale Gesellschaft bereits kategorial eingestellt ist. Die sozialwissenschaftliche Textproduktion reagiert in dieser Zwischenlage in bezeichnender Weise: Das Neue wird mit Differenzbezug zum bewährten begrifflichen Fixpunkt „Nation“ erfasst, selbst aber noch nicht inhaltlich beschrieben: als „Transnationalisierung“, als „postnationale Konstellation“ (Habermas 1998), als Hoffnung auf ein „Regieren jenseits des Nationalstaats“ (Zürn 1998). Einigkeit besteht über den Bedeutungsverlust des Nationalen. In einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, die sich die Sache der Transnationalisierung der Gesellschaft einfach zu eigen macht, mag das eine gute Nachricht sein: „The owl of Minerva which brings wisdom, said Hegel, flies out at dusk. It is a good sign that it is now circling round nations and nationalism“ (Hobsbawm 1990: 181). Aber schon nationale Eliten sehen das etwas anders. Und erst recht in der Beobachtungsperspektive der Leute, die vor allem durch die Transnationalisierung der Arbeitsmärkte in immer intensivere Konkurrenzzusammenhänge geraten, sind solche Entwicklungen reale, existenzielle Herausforderungen. Aufgabe der Europasoziologie ist es nicht, für eine dieser Seiten Partei zu ergreifen, sondern das Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen Interpretationen der Differenz national/europäisch durch unterschiedliche Akteursgruppen zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu machen. Die Aufladung der Differenz national/europäisch mit Spannungen zwischen den Leuten, die sich an ihrem Nationalstaat orientieren, und den europäisch orientierten Eliten, die sich das Integrationsprojekt zu eigen machen, ist die Voraussetzung für „dialectics of trans-national integration and national disintegration“ (Münch 2006: 93). Das heuristische Potenzial einer solchen These für das Verhältnis zwischen Nation und Europa lässt sich nur erschließen, wenn man Asymmetrien zwischen dem Abbau nationalstaatlicher Handlungsfähigkeit und dem Aufbau europäischer Institutionen untersucht, um systematische empirische Informationen darüber zu gewinnen, welche Folgen die unzureichende europäische Kompensation des Leistungsabfalls nationalstaatlicher Institutionen nach sich zieht und wie die Leute dies beobachten und darauf reagieren.

Versucht die Europasoziologie, die Beobachtungen der Leute mit in die sozialwissenschaftliche Beobachtung einzubeziehen, also Soziologie als Beobachtung zweiter Ordnung zu betreiben, kann sie sich weder mit nationalstaatlich präokkupierten Kategorien zufrieden geben noch diese einfach über Bord werfen. Die nationalstaatlich formatierte Gesellschaftsanalyse muss für Transnationalisierungstendenzen der Gesellschaft blind bleiben. Insofern ist die Kritik am „methodologischen Nationalismus“ berechtigt. Aber so lange Gesellschaft in der Praxis nationalstaatlich gerahmt verstanden wird, ist es ebenso unangemessen, die Gesellschaftsanalyse auf europäische oder gar „Welt“-Kategorien einfach umzustellen (vgl. Luhmann 1997: 145 ff.) und die im nationalstaatlichen Rahmen befangenen Kategorien einfach abzuschaffen. Vielmehr muss die Europasoziologie den praktischen Gebrauch solcher Kategorien als empirischen Sachverhalt nehmen und mit zu ihrem Thema machen. Die sozialwissenschaftliche Kategorienbildung muss sich selbst also aus ihrer nationalstaatlichen Formatierung befreien, darf aber deren praktische Wirksamkeit weder ignorieren noch appellativ überspielen.

Letzterem kommen Ulrich Beck und Edgar Grande (2004) immer wieder nahe. Ihre Beobachtung, dass „die Europäische Union verkannt (wird) – und zwar, weil sie politisch und wissenschaftlich noch immer im veralteten nationalen Begriffshorizont wahrgenommen wird“ (ebd.: 10), ist kaum bestreitbar. Ob aber Vorschläge zur Neuformulierung grundlegender Kategorien sinnvoll sind oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, an wen sie adressiert sind: Als Aufforderungen an die Leute, die (europäische) Welt durch eine andere Brille zu sehen, müssen solche begrifflichen Innovationen an den Interessenlagen ihrer Adressaten scheitern. Als Vorschläge zur sozialwissenschaftlichen Kategorienbildung dagegen sind sie dringend erforderlich. Die Grundanforderung dabei lautet, keine kategorialen Präjudize zu schaffen, um offene Beobachtungen zweiter Ordnung zu ermöglichen. Das bedeutet, das soziologische Beobachtungsinstrumentarium so zu konstruieren, dass es für die Erfassung der unterschiedlichsten empirisch möglichen praktischen Beobachtungen offen ist. Für die Europasoziologie heißt das: Die Überwindung nationalstaatlich präokkupierter sozialwissenschaftlicher Kategorien darf keinesfalls nur in einer territorialen Umformatierung der Kategorien etwa auf „europäisch“ resultieren. Es geht vielmehr darum, jegliche implizite territoriale Präokkupation des sozialwissenschaftlichen Kategorienapparats aufzulösen, um genau auf diese Weise in der Praxis vorhandene territoriale Konnotationen von Gesellschaft als empirische Phänomene fassbar zu machen. Das schließt auch die Möglichkeit ein, dass in einer sich institutionell europäisierenden Gesellschaft die Deutungen unterschiedlicher relevanter Gruppen national gerahmt bleiben. Dieses Phänomen ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nicht zu kritisieren, sondern als empirisches Datum zu erheben, um nach seinen Ursachen und Konsequenzen zu fragen. Dagegen ist es sinnlos, den praktischen Beobachtern, den Leuten, Vorschläge zu „angemesseneren“ Kategorien zu machen. Das bedeutet nichts anderes, als dass man die persistent national gerahmten praktischen Gesellschaftsbeobachtungen ausblendet – spiegelbildlich zum methodologischen Nationalismus, der für die praktische Transnationalisierung der Gesellschaft blind gemacht hat.

7. Schluss

Welche Verknüpfungen und Interaktionen der unterschiedlichen Beobachtungsperspektiven auf die Differenz national/europäisch gibt es? Und was folgt aus ihnen für die Europasoziologie?

Europäische politische Eliten stellen Integration als Positivsummenspiel, also: als im Interesse aller, dar. Dies erscheint angesichts der überwiegend utilitaristischen Einstellung der Leute zur EU zwar naheliegend, bloß steht es im Widerspruch zu den praktischen Erfahrungen, die mit der Integration und Erweiterung der EU gemacht werden. Der europäische Integrationsprozess erzeugt Gewinner und Verlierer, und ein Teil der Gewinne fällt erst längerfristig an (vgl. Vobruba 2005). Jedenfalls wird dies von den Leuten so wahrgenommen. Unabhängig davon, ob sie sich selbst realistisch – das heißt den Daten entsprechend – verorten oder nicht, beeinflussen diese Selbstverortungen ihre Einstellung zur Europäischen Integration. Dazu kommt, dass durch die ständigen Hinweise auf den materiellen Nutzen der EU-Integration durch die EU-Eliten zwei wichtige politische Ressourcen auf der Ebene der Leute gefährdet werden: erstens die Indifferenz der Mehrheit der Bürger zur EU (vgl. Mau 2005: 306) und zweitens die Ansätze affektiver Bindungen an die EU (vgl. Nissen 2006: 170 f.). Im Ergebnis dieser Verknüpfung der Beobachtungsperspektiven der EU-Eliten und der Leute zeichnet sich ein Trend zu zunehmender Euroskepsis ab. Schon die einfache Gegenüberstellung der Beobachtungsperspektiven der EU-Eliten und der Leute zeigt (und führt auch den Beteiligten selbst vor Augen): „Europa ist eine Sache der Führungseliten, die Nation eine Sache der gefährdeten, an den Rand gedrängten Schichten“ (Münch 2001: 294). In der Interaktion der Beobachtungsperspektiven ist angelegt, dass die in der Differenz national/europäisch liegende Spannung durch zwei Faktoren noch verstärkt wird. Erstens ist in das Verhältnis zwischen EU-Eliten und Leuten selbst die Möglichkeit eines Verstärkungsmechanismus der Spannung national/europäisch eingebaut. Die EU-Eliten reagieren auf die von ihnen wahrgenommenen Präferenzen der Leute für die nationale Ebene in der Logik des „mehr vom Selben“. Sie versuchen, durch „Aufklärung“ über die EU – worunter verstärktes Kommunizieren der (angeblichen oder realen) Vorteile der europäischen Integration gemeint ist – Legitimationsdefizite der EU abzubauen. Aber genau damit laufen die EU-Eliten Gefahr, mit den Adressaten ihrer Aufklärungsversuche in eine paradoxe Kommunikationskonstellation (vgl. Watzlawik et al. 1968) zu geraten. Denn hat sich erst einmal bei den Leuten die Auffassung etabliert, dass die eigenen Erfahrungen mit der Europäischen Union mit der Elitendarstellung umfassender Vorteile prinzipiell nicht deckungsgleich sind, gilt: Je mehr Überzeugungsarbeit die EU leistet, um so weniger lassen sich die Leute von der EU überzeugen.

Zweitens entsteht ein Potenzial zur Verstärkung der Spannung national/europäisch, wenn das Verhältnis zwischen den nationalen politischen Eliten und den Leuten mit ins Spiel kommt. Denn nationale Eliten beziehen sich zwar generell-programmatisch positiv, in ihren Darstellungen konkreter Politiken aber überwiegend polemisch auf die EU-Ebene: Man erzielt Erfolge gegen die EU; man setzt sich in Brüssel durch; man erörtert die Relation zwischen Aufwand und Ertrag der EU-Mitgliedschaft seines Landes öffentlich; man baut die EU in Durchsetzungsstrategien für nationale Policies im Sinne von blame avoidance ein. Solche Deutungen nationaler Eliten können die weitverbreiteten indifferenten Einstellungen zur EU (Mau 2005: 308) ins Negative drehen und die vorhandenen Tendenzen zu Europaskepsis verstärken.

Die Europasoziologie nimmt die unterschiedlichen Beobachtungsperspektiven auf die Spannungen in der Differenz national/europäisch auf und bezieht sie auf die Institutionenbildung. Die Domäne der Europasoziologie erweitert sich in dem Maße, in dem das Spannungsverhältnis zwischen der europäischen Institutionenentwicklung und den rivalisierenden Interpretationen und Interessen der relevanten Akteure praktische Konsequenzen hat.