Das starke staatliche Engagement in der Wirtschaftskrise und die Diskussionen über wirksamere Regulationen des Finanzsektors haben die Debatten um die Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft erneut entfacht (Mayntz 2010; Streeck 2010). Ungeachtet der in diesem Zusammenhang diskutierten diagnostischen und prognostischen Frage, inwieweit staatliche Intervention unsere Welt prägen kann (und soll), rückt der Staat als analytische Kategorie in der Diagnose bedeutender Gegenwartstrends (Schuppert 2008; Zürn 2008) wie auch in der Erklärung wirtschaftlicher und sozialer Gegebenheiten (wieder stärker?) ins Zentrum des sozialwissenschaftlichen Interesses.

Auch in der vergleichenden Sozialpolitikforschung wird die staatliche Einflussnahme auf gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen neuerdings häufiger thematisiert. Einige der Sozialreformen des letzten Jahrzehnts erklären ein zunehmendes Interesse an der Rolle des Staates in der Entwicklung der Sozialpolitik. Die den neueren Arbeitsmarktreformen zugrunde liegende Konzeption des „Förderns und Forderns“ wirft unmittelbar die Frage auf, wer denn da fordert, und aus welchen Motiven. Der Wandel der gesellschaftspolitischen Leitbilder, wie er derzeit in der Familienpolitik zum Ausdruck kommt, lässt sich schwer einzig als Antwort auf gesellschaftliche Interessen und ihre Mobilisierung verstehen. Zu undeutlich treten die konkreten Probleme niedriger Geburtenraten (bislang) in Erscheinung, zu diffus die gesellschaftlichen Interessenlagen im Politikfeld Familie, und zu unklar auch die parteipolitische Zuordnung Geburten fördernder und Müttererwerbstätigkeit unterstützender Maßnahmen (Winter 1988). Viele der arbeitsmarkt- und familienpolitischen Neuerungen der letzten Jahre sind nur schwer eindeutig auf gesellschaftliche Interessenlagen zu beziehen. Politische Entscheidungsträger handelten nicht so sehr im Sinne- oder gar im Auftrag von einflussreichen Gruppen in der Gesellschaft, als vielmehr über weite Strecken in eigener Regie.Footnote 1 Zugespitzt kann man sagen, es handelt sich hierbei gewissermaßen um „Politik ohne Mandat“.

In historiografischen Studien über die Geschichte der Sozialpolitik ist diese Eigenständigkeit der politischen Akteure wohlbekannt, und die sozialreformerische Eigenmächtigkeit verwundert nicht weiter (stellvertretend für viele: Hockerts 1980; Tennstedt 1997). In dem dort gezeichneten Bild spielen Spitzenpolitiker als an der Gesetzgebung direkt Beteiligte jeweils eine entscheidende Rolle. Nur durch das Nadelöhr ihrer Entscheidungen können gesellschaftliche Gruppen und Machtkonstellationen die Sozialpolitik beeinflussen. In theoretischen Erklärungen der Sozialpolitik fristen diese staatlichen Akteure jedoch ein Schattendasein. Staatszentrierte Ansätze im Gefolge der einflussreichen programmatischen Aussagen von Heclo (1974) und Skocpol (1985) hatten in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung den Zenit ihrer öffentlichen Wirkung schon überschritten, bevor sie historisch und vergleichend richtig zum Einsatz gekommen waren. Reflexartig fragen Sozialwissenschaftler seither sehr schnell, wer oder was hinter den Entscheidungen der staatlichen Akteure steht, und sehen in deren Verhalten letztlich nichts anderes als einen Umschlagplatz für den Einfluss von Interessenkonstellationen in der Gesellschaft.Footnote 2

Es ist eine bestimmte Rezeption von Marshalls (1950) Konzeption sozialer Staatsbürgerrechte, die diesen langen Schatten auf die Analyse der Rolle staatlicher Akteure im Wohlfahrtsstaat geworfen hat. Diese betrachtet sozialpolitische Maßnahmen in erster Linie als subjektive Rechtsansprüche, die Individuen gegenüber ihrem Staat haben. Staatlich organisierte Daseinsvorsorge ist aus Marshalls Perspektive der Versuch, soziale Staatsbürgerrechte zu verwirklichen, und seither stehen im Zentrum vieler Erklärungsansätze die gesellschaftlichen Gruppen, die vom Wohlfahrtsstaat in unterschiedlicher Weise profitieren, und die Mobilisierung und Machtressourcen, mit denen sie ihren Wünschen in der Politik Nachdruck verleihen können. Die analytische Strategie in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ist in der Mehrzahl der Ansätze somit in ihrem Kern gesellschaftszentriert: Sie analysiert Präferenzen, Forderungen und politische Mobilisierung gesellschaftlicher Akteure, und sie versteht Sozialpolitik als Antwort auf gesellschaftliche Impulse.

Dieser Beitrag möchte eine ergänzende Perspektive vorschlagen, die den eigenmächtigen sozialreformerischen Ambitionen politischer Eliten konzeptionell mehr Platz einräumt. Er fasst das Verhalten und die Politikziele staatlicher Akteure nicht als grundsätzlich (nur) auf dahinter stehende gesellschaftliche Interessen reduzierbar auf, sondern fasst die Möglichkeit ins Auge, dass staatliche Akteure im eigenen Interesse handeln, nicht subjektiv verstanden, sondern wie Claus Offe es formuliert hat, im „Interesse des Staates an sich selbst“ (Offe 2006 [1975], S. 130). Aus dieser Perspektive staatlicher Spitzenpolitiker sind die Einwohner eines Landes nicht in erster Linie Staatsbürger und damit Träger sozialer Rechte, sondern sie sind Steuerzahler, Arbeitskräfte, „Soldaten und Mütter“ (Skocpol 1992), sie sind Pflegepersonen und ehrenamtlich Tätige, und sie sind auch Wähler und Käufer und das Innovationspotenzial der Ökonomie. Von ihnen hängen politische Stabilität und materielle Existenzgrundlagen des Gemeinwesens – mithin auch der staatlichen Tätigkeit – wesentlich ab; ihr Verhalten hat aus Sicht der staatlichen Entscheidungsträger den Charakter einer Ressource.

Eine derartige Ressourcenperspektive hat in der vergleichenden Forschung durchaus Vorbilder. Für Tilly (1985) ist das Motiv der Ressourcenextraktion das zentrale Motiv in der Entstehung moderner Staaten. Auch für Margaret Levi sind Staaten grundsätzlich ausbeuterisch („predatory“), und an ihren Staatsbürgern in erster Linie als Quelle der Staatseinnahmen (Levi 1988, S. 3) oder als potenzielle Soldaten (Levi 1998) interessiert. Die besondere sozialpolitische Aufmerksamkeit des amerikanischen Staates an Soldaten und Müttern hat Skocpol (1992) betont. Viele zeitgenössische, alarmistische Kommentare zum demografischen Wandel fragen sich zuerst, wer die Kinder erziehen wird und wer die Sozialversicherung finanzieren soll und nicht, wer welche Rechtsansprüche an den Staat hat. Die Ressourcenperspektive verspricht somit, Phänomene in der Entwicklung der Sozialpolitik analytisch in den Griff zu bekommen, auf die das Verständnis der Sozialpolitik als Umsetzung sozialer Rechte den Blick eher verstellt: die in der älteren Sozialpolitik-Entwicklung allgegenwärtigen sozial-disziplinierenden Züge, (Sachße und Tennstedt 1986)Footnote 3 sowie wie auch die in den jüngeren Sozialreformen enthaltenen Elemente sozialpolitischer Anreize und „Forderungen“ (Mätzke 2011).

Um die Ressourcenperspektive zu begründen und ihren Beitrag zum besseren Verständnis der Sozialpolitik-Entwicklung genauer zu erläutern, wird zunächst (Abschn. 1) die These von der Schwäche staatszentrierter Zugänge in der vergleichenden Sozialpolitikforschung belegt. Abschnitt 2 klärt dann die Kernkonzepte der Ressourcenperspektive und verdeutlicht ihren argumentativen Zusammenhang. Abschnitt 3 zeigt das Potenzial der alternativen Perspektive, indem es den Wandel in Formen und Leitbildern der deutschen Sozialpolitik auf mögliche Ziele staatlicher Entscheidungsträger bezieht, deren Herkunft beleuchtet und die Plausibilität der sozialpolitischen Innovationen im Licht der mit ihnen verfolgten Ressourcenziele verdeutlicht. Der Schlussteil fasst die Ergebnisse des historischen Überblicks zusammen und hält die Implikationen des Perspektivenwechsels für unser Verständnis der aktuellen sozialpolitischen Veränderungen fest.

1 Staatliche Akteure in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung

„Gesellschaftszentrierter Reduktionismus“ stand Mitte der 1980er Jahre schon im Zentrum der Kritik einer Gruppe amerikanischer Komparativisten an der Sozialwissenschaft ihrer Zeit. Unter der Agenda „Bringing the state back in“ kündigten sie die Rückkehr des Staates in die historisch vergleichende Theoriebildung an (Evans et al. 1985) und versprachen, den organisatorischen Aspekten und administrativen Kapazitäten moderner Staaten mehr Aufmerksamkeit zu widmen (Skocpol 1985, S. 7). Staatlichen Akteuren wurde von dieser Gruppe eine gewisse Autonomie gegenüber gesellschaftlichen Forderungen zugeschrieben, und staatlichen Aktivitäten und Organisationsstrukturen wiederum Rückwirkungen auf die Mobilisierung gesellschaftlicher Interessen (Orloff 1993, S. 13; Skocpol 1985, S. 22–25). Heclo (1974) lieferte dabei den grundlegenden Text zur Erforschung der Sozialpolitik, in der, so seine These, relativ autonom, also von Einflüssen gesellschaftlicher Gruppen unabhängig handelnde Experten in der Ministerialverwaltung die entscheidende Rolle in der Gestaltung der Sozialpolitik spielen. Nur in der Bürokratie, so Heclos Argument, gebe es hinreichend Expertise und stetigen Einfluss auf konkrete sozialpolitische Reformvorhaben (Heclo 1974, S. 301). Gesellschaftliche Interessen könnten dagegen allenfalls die Grobrichtung, nicht aber ihre konkreten Politikinhalte vorgeben (Heclo 1974, S. 287).

Staatliche Autonomie von den Forderungen gesellschaftlicher Akteure (State Autonomy) und administrative Kapazitäten des Staates (State Capacity) sind die analytischen Schlüsselkategorien des staatszentrierten Forschungsprogramms. Arbeiten zur Sozialpolitik wurden v. a. von Theda Skocpol und ihren Ko-Autorinnen vorgelegt (vgl. Weir et al. 1988). Diese Arbeiten haben das Verständnis der amerikanischen Sozialpolitik in international vergleichender Perspektive sehr stark geprägt (Amenta et al. 2001). Allerdings wurde in der Sozialpolitikforschung der staatszentrierte Analyserahmen seinerseits stark durch den amerikanischen Fall bestimmt. Die administrativen und organisatorischen Kapazitäten des amerikanischen (Zentral-)Staates waren in dieser Phase der Sozialpolitik ihrerseits erst im Entstehen begriffen. State Capacity (oder besser: den Mangel daran) zur dominanten analytischen Kategorie zu erklären, mag die Besonderheiten der US-amerikanischen Sozialpolitik gut erklären (Orloff 1988; Skocpol 1994). Doch es macht den Ansatz weniger gut geeignet für die Analyse der Sozialpolitik in den europäischen Ländern mit ihren während der sozialpolitischen Gründungsgesetzgebung weitgehend konsolidierten staatlichen Kapazitäten.

Zudem, und wichtiger noch, spielt diese Variante staatszentrierter Analyse den Ball zurück ins Feld der gesellschaftlichen Interessen und Interessenvermittlung. Bei genauer Betrachtung – und weil das Argument eben gerade auf den Mangel an State Capacity abstellt – ist der Staat in diesem Ansatz nicht in erster Linie in seiner Fähigkeit zum autonomen Handeln interessant, sondern vor allem als Arena, in der gesellschaftliche Gruppen ihre Konflikte austragen und zu einer Einigung über die Gestaltung des Wohlfahrtsstaates gelangen können.Footnote 4 In gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen – im Parteiensystem der USA, den großstädtischen Patronage-Strukturen (Orloff 1988) und in den frühen sozialen Aktivitäten bürgerlicher, damalsFootnote 5 noch nicht wahlberechtigter Frauen (Skocpol 1992) – liegen die inhaltlichen Impulse und Konfliktlinien zur Ausgestaltung der Sozialpolitik. Die Ziele staatlicher Akteure in der Sozialpolitik tauchen in diesem Ansatz kaum auf. Das gleiche gilt für die vielen Spielarten institutionalistischer Komparatistik, die seit den 1980er Jahren aufgetreten sind: Staaten geben einen institutionellen Rahmen, sie können auch Machtpositionen zuweisen und selektiven Zugang zu den Entscheidungszentren gewähren und auf diesem Weg die Sozialpolitik beeinflussen, doch sie treten als Strukturen in Erscheinung, nicht als Akteure, und inhaltliche Impulse auf die Sozialpolitik-Entwicklung gehen aus dieser Sicht von ihnen nicht aus.Footnote 6

Staaten wurden also schneller, als es der schwungvolle, Auftakt der „Bringing the state back in“ - Agenda vermuten ließ, zu einer blassen Strukturkategorie in einer im Kern institutionalistischen Erklärungsarchitektur.Footnote 7 Das ist weniger, als der anfängliche Verweis auf die staatliche Fähigkeit zur autonomen Politikformulierung durch staatliche Akteure ver-sprach. Während also die amerikanische Adaption des staatszentrierten Institutionalismus durch ihren Fokus auf State Capacity ihr theoretisches Potenzial teilweise untergräbt, hatte Claus Offe bereits zehn Jahre zuvor die Autonomie der staatlichen Akteure sehr deutlich hervorgehoben. Ausgehend vom neomarxistischen Theorierahmen einer grundsätzlichen Krisenhaftigkeit politischer Ordnung im Spätkapitalismus, fragt Offe nach dem „Interesse des Staates an sich selbst“ (Offe 2006 [1975]) in sozialpolitischen Initiativen. Hierbei bildet ein staatliches Bestandsinteresse die zentrale Kategorie. Dieses Bestandsinteresse äußert sich in dem Bestreben staatlicher Akteure, „überhaupt ein System von Organisationsmitteln des gesellschaftlichen Lebens zu finden und zu erhalten, das widerspruchsfrei und beständig ist“ (Offe 2006 [1975], S. 130). Die Grundidee ist vielversprechend, lässt sich doch mit ihr zeigen, dass die Ziele staatlicher Akteure sich nicht gänzlich auf gesellschaftliche Handlungsimpulse zurückführen lassen, sondern auf Organisationsinteressen, die sich aus ihren täglichen beruflichen Handlungskontexten als politische Entscheidungsträger herleiten.

Allerdings wird wie beim „Bringing the state back in“-Forschungsprogramm auch hier eine inhaltliche Definition der staatlichen Ziele vermieden. Geschah dies bei jenem durch Rückzug auf State Capacity als eigentlich interessierende Zentralkategorie, so liegt hier bei Offe ein theoretisches Argument zugrunde: Staatliche Politik ist „nicht von den Wertvorstellungen des Staatspersonals usw. in Bewegung gesetzt, sondern verfolgt ein höchst abstraktes, von jeder inhaltlichen Bestimmung entleertes ‚Konsistenzinteresse‛ des Staates an sich selbst – an der Einheit und Vereinbarkeit seiner Organisationsmittel“ (Offe 2006 [1975], S. 144). Die Autonomie des Staates gegenüber gesellschaftlichen Gruppen beruht eben gerade darauf, dass dieses „allgemein, ohne Bezug auf bestimmte Zwecke, Interessen, oder Zustände…“ (S. 129; Hervorhebung Verf.) formuliert wird. Inhaltliche Zielbestimmungen, die für die Erklärung konkreter (sozial-)politischer Initiativen unerlässlich wären, kommen also auch hier wieder nur über gesellschaftliche Interessen ins Spiel, während staatliche Aktivitäten diese nur strukturieren: Der Staat unterhält die Gleisanlagen des gesellschaftlichen Verkehrs, doch das präjudiziert nichts über die Art der transportierten Güter und den Fahrplan (S. 128). Diese theoretisch selbst verordnete Abstinenz in Bezug auf die inhaltlichen Ziele staatlicher Akteure ist also Offes Überlegungen gleichermaßen eigen wie der „Bringing the state back in“-Sicht auf den Staat. Durch sie verlieren beide Ansätze viel von ihrem theoretischen Potenzial. Es lohnt sich jedoch, einen genaueren Blick auf die Rolle des Staates in der Sozialpolitik zu werfen und dabei die staatlichen Akteure und ihre (sozialpolitischen) Ziele stärker zu konkretisieren. In dem Maße, in dem dies gelingt, wird die staatszentrierte Perspektive einer (Länder oder Zeitperioden) vergleichenden empirischen Analyse besser zugänglich.

Die staatlichen Akteure und ihre Ziele werden für sich genommen zwar keine hinreichende Erklärung sozialpolitischer Neuentwicklungen liefern, aber meine Analyse staatlicher Bestandsinteressen erhebt auch gar nicht den Anspruch, alle sozialpolitischen Initiativen ausschließlich unter Rekurs auf das Organisationsinteresse der staatlichen Sozialreformer erklären zu können. Sie stellt gesellschaftliche Impulse nicht in Abrede, ebenso wenig wie sie leugnen würde, dass staatliche Akteure auf gesellschaftliche Gruppen und organisierte Interessen Rücksicht nehmen. Nur erschöpft sich die Handlungsmotivation der politischen Entscheidungsträger eben nicht in dieser sozialstrukturellen Einbettung. Sie hat vielmehr auch die andere – nicht auf gesellschaftliche Interessen reduzierbare – Dimension. Sozialpolitik löst heute nicht in erster Linie Rechtsansprüche und Emanzipationserwartungen ein, sondern sie tritt ihren Bürgern fördernd und fordernd mit eigenen Zielen gegenüber. Und darum geht es im Folgenden: den (kausalen) Beitrag der Ziele staatlicher Akteure in der Erklärung der Sozialpolitik-Entwicklung.

2 Sozialpolitik als Anreizpolitik im Dienst staatlicher Ziele

Fred Block hat die staatlichen Akteure als State Managers bezeichnet und damit am deutlichsten die Personen hervorgehoben, die als Entscheidungsverantwortliche für Sozialreformen ein organisatorisches Eigeninteresse des Staates geltend machen (Block 1980, S. 201): Politiker in Parlament und Regierung sowie die sie unterstützenden Verwaltungsstäbe, vorwiegend Spitzenbeamte in den Bundesministerien und Referenten in Parteien und Fraktionen. Durch gesellschaftliche Impulse nicht erklärte Handlungsmotivationen dieser Akteure erwachsen aus ihrer beruflichen Rolle und ihrem täglichen Arbeitsumfeld der (sozial-)politischen Entscheidungen. Spitzenpolitiker sind eben nicht ausschließlich Mandatsträger, sondern auch Entscheidungsverantwortliche, und in dieser Position sind sie gemeinsamen beruflichen Anforderungen ausgesetzt, welche sich relativ unabhängig von parteipolitischen Bindungen bemerkbar machen. Vergleichbar mit den gemeinsamen professionellen Zielen eines Berufsstandes richtet sich ihr Interesse auf die Stabilität und Ressourcenausstattung der Arbeitsumgebung und auf die Handlungsspielräume, die diese Umgebung bei der Ausübung der beruflichen Aufgaben bietet. Auch in der Politik geht das Alltagsgeschäft leichter von der Hand, wenn materielle und organisatorische Ressourcen gesichert und Status und Machtpositionen gefestigt sind; ja, Politik kann sogar zur dankbaren Aufgabe werden, wenn Spielräume vorhanden sind, die es erlauben, normative Zielvorstellungen und sozialreformerische Großtaten umzusetzen. Es ist also durchaus sinnvoll, von einem gemeinsamen, von parteipolitischer Couleur unabhängigen Interesse staatlicher Akteure an einer verlässlichen politischen Umgebung und Ressourcenbasis auszugehen. Anknüpfend an Offe kann dieses als institutionelles Eigeninteresse des Staates gelten.

Worauf richtet sich das staatliche Bestandsinteresse am „beständigen System von Organisationsmitteln“ (Offe 1975 [2006], S. 130) konkret? Abgeleitet aus dem allgemeinen Wunsch staatlicher Akteure nach Stabilität, Handlungsspielräumen und einer gesicherten materiellen Ressourcenausstattung des Arbeitsumfeldes, lassen sich drei hauptsächliche Zieldimensionen konkretisieren:

  1. 1.

    Unmittelbar einsichtig ist das Interesse staatlicher Akteure an stabilen Verhältnissen im Hinblick auf politische Gefolgschaft: Sozialer Friede und ein Mindestmaß an politischer Unterstützung und Bindung der Bürger an die Institutionen des Gemeinwesens ist für die Regierungsverantwortlichen in allen politischen Regimes – vor allem aber in Demokratien – sehr wichtig.

  2. 2.

    Für die materielle Ressourcenbasis staatlicher Aktivität sind verlässlich fließende Staatseinnahmen von Bedeutung. Hieraus ergibt sich die in klassischen polit-ökonomischen Texten (Lindblom 1982) oft betonte Dominanz ökonomischer Faktoren in den Kalkülen politischer Eliten.

  3. 3.

    Ein komfortables Arbeitsumfeld ist von ebenso großer Bedeutung und steht daher im Blickpunkt staatlicher Eigeninteressen. Zentral ist hier die Frage, in welchem Ausmaß wichtige Aufgaben des Reproduktionsbereiches (Pflege- und Erziehungsleistungen, auch materielle Absicherung von Personen ohne Erwerbs- oder Besitzeinkommen) von staatlicher Unterstützung abhängig sind.

Alle drei Dimensionen des staatlichen Bestandsinteresses sind wesentlich auf Verhaltensweisen und Einstellungen von Individuen bezogen. Von Bedeutung sind erstens Loyalität gegenüber den politischen Institutionen des Landes und Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols (nicht zu allen Zeiten selbstverständlich), zweitens adäquate ausbildungs- und arbeitsmarktbezogene Verhaltensweisen und drittens Lebensweisen in familiären und sozialen Kontexten, die für den Reproduktionsbereich entscheidend sind. Anders ausgedrückt sind es politisches oder soziales Engagement der Bürger, ökonomische Verhaltensweisen wie stetige Berufsarbeit, Anstrengungen für die eigene berufliche Ausbildung, vernünftiges privates Konsum- und Sparverhalten, zunehmend „Eigenvorsorge“ für alle möglichen Lebensrisiken, die Gegenstand staatlicher Wohlfahrtspolitik werden, und es geht um private Lebensentwürfe, in denen Wehrdienst, die Erziehung von Kindern oder ehrenamtliche Tätigkeit selbstverständlich sind. All diese Verhaltensweisen produzieren materielle und immaterielle Werte, die für die drei Dimensionen staatlicher Bestandsinteressen wichtig sind.

Das individuelle, unkoordinierte Verhalten der Staatsbürger hat somit den Charakter einer Ressource. Sozialpolitik wird in dieser Ressourcenperspektive zum Werkzeug in der Hand staatlicher Akteure, mit dem sie versuchen, das Verhalten der Bürger in erwünschte Richtungen zu lenken. Sozialpolitische Maßnahmen fördern und fordern, sie unterstützen bestimmte Verhaltensweisen, alimentieren bestimmte Lebensentwürfe, während sie andere Lebensweisen ignorieren oder sogar hemmen. Abhängig von den Zielen und den sozial-regulativen Absichten rücken dadurch unterschiedliche Politikfelder ins Zentrum des Interesses – Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik für die produktionsbezogenen Verhaltensweisen, Familienpolitik für die reproduktionsbezogenen Verhaltensweisen und viele Transferbereiche (vor allem die Alterssicherung) für den Aufgabenbereich sozialer Friede und politische Loyalität.

Welche Bedeutung die drei Verhaltensdimensionen, und welches Gewicht damit unterschiedliche Politikbereiche jeweils im sozialpolitischen Maßnahmenkatalog haben, hängt von den staatlichen Zielen in der Sozialpolitik ab. Wenngleich also das „Interesse des Staates an sich selbst“ die Sozialpolitik grundsätzlich prägt, sind seine konkreten Erscheinungsformen über die Zeit variabel: Sozialreformer während der frühindustriellen sozialen Verwerfungen haben anders über Bevölkerungszahlen gedacht als Sozialpolitiker im alternden Wohlfahrtsstaat. Der nach territorialer Expansion strebende militärische Aggressor der 1930er und 1940er Jahre hat mit anderen Augen auf demografische Trends geblickt als die kreislauftheoretisch denkenden, um industrielles Wirtschaftswachstum besorgten Globalsteuerer der 1960er und 1970er Jahre, und diese wiederum waren aus anderen Gründen über den Geburtenrückgang besorgt als die heutigen, um Nachhaltigkeit besorgten postindustriellen Modernisierer. Die Ziele des Staates in der Sozialpolitik und die auf sie gerichteten Politikinstrumente unterliegen also einem Formenwandel. Die Ziele ihrerseits sind abhängig von den Herausforderungen, vor die demografische, so-zialstrukturelle und ökonomische Entwicklungen die ressourcenbedachten Sozialpolitiker eines Landes stellen. Ferner sind sie beeinflusst von den politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Visionen, denen auch ambitionierte Sozialpolitiker in bestimmten Phasen unterliegen können.

Zu prüfen ist nun, ob sich also in der Geschichte des deutschen Wohlfahrtsstaates der Einfluss sich wandelnder staatlicher Ziele in der Sozialpolitik beobachten lässt. Kann man die zentralen Maßnahmen wichtiger Sozialreformen zumindest zum Teil den variierenden staatlichen Bestandsinteressen ursächlich zurechnen? Der historisch vergleichende Blick auf einige der richtungweisenden Initiativen in der deutschen Sozialpolitikgeschichte soll diese Frage klären helfen. Dazu werden im folgenden Abschnitt wichtige Neuerungen im sozialpolitischen Maßnahmenkatalog im Licht der staatlichen Ziele in der Sozialpolitik betrachtet, auf ihre Anreizcharakteristika im Fördern und Fordern bestimmter Verhaltensweisen untersucht, und es wird gefragt, ob und wie sie von den Zielen staatlicher Akteure beeinflusst worden sein könnten.

3 Formenwandel der staatliche Zielen und sozialpolitischen Maßnahmen

Man kann in der Geschichte der deutschen Sozialpolitik wichtige Entwicklungsabschnitte unterscheiden, in denen die Sozialpolitik in ihrem Gesamterscheinungsbild und in ihrer Qualität wesentlich verändert wurde. Diese Veränderungen stehen im Kontext unterschiedlicher Konstellationen von sozio-ökonomischen Herausforderungen an die staatliche Sozialpolitik, und sie sind beeinflusst von den politischen, militärischen und wirtschaftlichen Zielen, die Regierungen zu unterschiedlichen Zeiten verfolgt haben.Footnote 8 Herausforderungen und Ambitionen kommen in den nun folgenden Abschnitten zunächst kurz zur Sprache, um die sozialpolitischen Ziele des Staates plausibel zu machen. Diese Ziele werden dann auf die Ausgestaltung wichtiger sozialpolitischer Maßnahmen und die Schwerpunktsetzungen im Leistungsspektrum des Wohlfahrtsstaates bezogen. Abbildung 1 stellt die Struktur des Gedankengangs schematisch dar.

Abb. 1
figure 1

Staatliche Ziele, individuelle Verhaltensweisen und Sozialpolitik

Der Durchgang durch die sozialpolitische Entwicklung in Deutschland muss sich auf die wichtigsten Basisinnovationen beschränken, die jeder Entwicklungsabschnitt dem sozialpolitischen Instrumentarium hinzugefügt hat. In der Beharrungskraft hergebrachter Institutionen kann man die Intentionen der beteiligten Akteure nur schlecht beobachten,Footnote 9 doch die richtungweisenden Neuerungen zeigen die neuen Akzentsetzungen der staat-lichen Sozialreformer deutlich. Vor allem sie prägen Leitbilder und beabsichtigte Wirkungen der Sozialpolitik stark, an ihnen entzünden sich die aufschlussreichen Reformdebatten, und es kommen die Absichten und Zwecke hinter den neuen Maßnahmen deutlich zum Ausdruck. Um den Einfluss staatlicher Ziele auf sozialreformerische Vorhaben zu zeigen, werden in diesem Abschnitt zwei Arten von Hinweisen verarbeitet:

  1. 1.

    Die Ausgestaltung sozialpolitischer Leistungen, Footnote 10 die häufig sehr eindeutige Anreizstrukturen aufweist, in denen Hinweise auf die fördernden, fordernden und regulierenden Absichten der Sozialreformer ebenso enthalten sind wie auch Anhaltspunkte für die damit verfolgten Ziele. Die historiografische Literatur dokumentiert die Begründungen einzelner Reformmaßnahmen oft sehr genau, und man findet dort zuweilen auch explizite Verweise auf die Absichten staatlicher Akteure.

  2. 2.

    Veränderte Akzentsetzungen im Gesamtpaket der sozialpolitischen Maßnahmen, die Rückschlüsse auf veränderte Zielbestimmungen erlauben. Sozialpolitische Anreizpolitik kann unterschiedliche Problemlagen hervorheben und bestimmte andere als nicht sozialpolitisch relevant (oder nicht mit den Mitteln der Sozialpolitik bearbeitbar) einstufen. Einer Gewichtsverschiebung zwischen den drei Dimensionen sozialpolitischer Zielbestimmungen (Massenloyalität und politische Stabilität, Produktion und materielle Ressourcen, Reproduktion und sozialpolitisches Aufgabenspektrum) entsprechen demnach veränderte Schwerpunktsetzungen im sozialpolitischen Maßnahmenpaket.

3.1 Grundsteinlegung zentralstaatlicher Sozialpolitik: Die Sozialversicherung

Sozialpolitischer Handlungsbedarf entstand in den 1880er Jahre aus den sozialen Verwerfungen der frühindustriellen Wirtschaft und den innenpolitischen Anforderungen der Reichsgründung (Tennstedt 1997). Dabei waren Familienstrukturen und Geburtenraten noch kein Thema, denn der für Industriegesellschaften typische Geburtenrückgang hatte gerade erst seinen Anfang genommen (McIntosh 1983, S. 58), und malthusianische Befürchtungen eines zu starken Bevölkerungswachstums beherrschten viel stärker die politische Diskussion als sinkende Geburtenraten (Schmuhl 2003, S. 1). So war denn auch eine besondere Förderung von Familien und Kindern kein Teil der frühen Sozialversicherungspolitik, und Ansätze familienpolitischer Maßnahmen fanden sich nur im Bereich des Steuerrechts und des Mutterschutzes. Die wichtigste Innovation war die zentralstaatliche Sozialversicherung männlicher Industriearbeiter. Sie leistete einen – sehr begrenzten – Beitrag zur Förderung der Arbeitskräftemobilität, entlastete sie doch die regional gebundene Armenfürsorge in gewissem Maße (Ritter 1987, S. 141).

Die eigentliche Hauptaufgabe staatlicher Sozialpolitik lag jedoch nicht im Sozialen, und auch nicht so sehr in der Ökonomie, sondern sie lag in der politischen Funktionalität der Sozialversicherung. Bismarck und seine Ministerialbeamten verfolgten mit ihr die Absicht, die „Nebenzentren“ der politischen Identifikation, Daseinsvorsorge und auch politischen Mobilisierung, wie sie in kleineren SolidargemeinschaftenFootnote 11 existierten, sukzessive auszuschalten und durch Institutionen des Deutschen Reiches zu ersetzen. Massenloyalität durch Sozialversicherung war die Formel, auf die die frühen Sozialreformer setzten (Ritter 1987, S. 155). Indem die Sozialversicherung den Arbeiterfamilien teilweise die Existenzangst nahm, dabei aber individuelle Leistungsansprüche betonte (Ayass et al. 2003, S. 20) und an die Stelle der traditionellen Selbsthilfeorganisationen staatliche Leistungsträger setzte, hofften Sozialpolitiker der Reichsregierung zugleich, Forderungen nach politischer und sozialer Emanzipation der Arbeiter zu begegnen und die Industriearbeiter an das Reich als wichtigste Institution der Daseinsvorsorge zu binden. Wenngleich in ihrer Zielsetzung, die organisierte Arbeiterschaft zu schwächen, mittel- und langfristig gescheitert (Manow 1997), prägte das politische Ziel der „Zähmung“ der organisierten Arbeiterschaft doch das Kalkül Bismarcks und seiner Sozialreformer-Kollegen entscheidend. Im Visier der Integrationsbemühungen stand hierbei nicht nur die sozialistische Arbeiterschaft, sondern vor allem auch der Sozialkatholizismus, in Deutschland durch die Zentrumspartei politisch präsent: „Spielte man auf römischer Seite den Sozialpapst aus, so werde man finden [hoffte Bismarck], dass der Sozialkaiser wichtiger sei, denn dessen Reich sei von dieser Welt.“ (Tennstedt 1997, S. 90) Die Einführung einer eigenständigen Alterssicherung für Angestellte im Jahr 1911 hatte ebenfalls eine politische Stoßrichtung: Es „sollte eine systemstabilisierende Pufferzone in der klassenpolitischen Frontstellung von Kapital und Arbeit geschaffen werden“ (vom Bruch 1985, S. 16), durch die die Angestellten sich politisch und sozial von den Arbeitern abgrenzten (Kocka 1981) und eine gemeinsame politische Mobilisierung aller Lohnabhängigen verhindert würde (Ritter 1987, S. 144, 152).

Der staatliche Appell an das Verhalten bezog sich somit vor allem auf Verhalten und Einstellungen der Individuen im politischen Raum. Leistungsberechtigte sollten politisch und kulturell enger an den noch jungen Nationalstaat gebunden werden (Ritter 1987, S. 141), denn die staatsbürgerliche Integration der Lohnarbeiter, die „innere Reichsgründung“, wie Tennstedt (1997) den Prozess nennt, war die eigentliche politische Aufgabe der frühen Sozialversicherungspolitik.

3.2 Der Arbeitsmarkt im Zentrum staatlicher Ziele während der Weimarer Republik

Nach dem Ersten Weltkrieg war die sozialpolitische Lage durch sozioökonomische und politische Verwerfungen definiert. Soziale und ökonomische Massennotstände, eine politisch instabile Situation sowie große latente Gewaltbereitschaft im Gefolge des Ersten Weltkrieges (Geyer 1983) prägten den Rahmen für die sozialpolitischen Ziele; der verlorene Erste Weltkrieg kann mithin als der „große Schrittmacher der Sozialpolitik“ (Preller 1978 [1949], S. 85) gelten. Regulierung des Arbeitsmarktes und die Befriedung der Gesellschaft durch Linderung der schlimmsten Massennotstände waren die zentralen sozialpolitischen Herausforderungen; beiden Ansprüchen erwies sich die Sozialpolitik der Weimarer Republik nicht gewachsen. Angesichts ihrer schwachen wirtschaftlichen Grundlagen war die Sozialpolitik der Weimarer Republik systematisch überfordert (Abelshauser 1987, S. 31). Das galt für die arbeitsmarktpolitische Zielsetzung im engeren Sinne, und im weiteren Sinne galt dies in einem dramatischen Ausmaß für die politische und soziale Integrationsfunktion der Sozialpolitik. Staatliche Sozialleistungen trugen letztlich nicht erfolgreich zur demokratischen Konsolidierung und zur Befriedung der Gesellschaft in der Weimarer Republik bei.Footnote 12 Wenngleich hinter den Zielen weit zurückbleibend, gab es in der Weimarer Republik in vielen sozialpolitischen Bereichen Expansion und organisatorische Weiterentwicklung.

Doch es waren nicht so sehr die sozialen Zieldimensionen (Daseinsvorsorge und Sicherung des sozialen Friedens), sondern vielmehr die wirtschafts-(ordnungs-)politischen Dimensionen, die in den sozialpolitischen Aktivitäten der Zeit ein bleibendes Erbe hinterließen. Hier brachten sie die zentralen Institutionen, Akteure, und Akteursbeziehungen hervor, welche den Arbeitsmarkt der deutschen Wirtschaftsordnung auf lange Zeit prägen würden. Neben der arbeitsrechtlichen und kollektivvertraglichen Regulierung des Arbeitsmarktes war die zentrale sozialpolitische Innovation die Schaffung der Arbeitslosenversicherung im Jahr 1928 und einhergehend mit ihr ein Zentralisierungsschub in der Arbeitsvermittlung (Reidegeld 1989, S. 502; Schmuhl 2003. S. 137–149). Aktive quantitative und qualitative Lenkung des Arbeitskräfteangebots durch den Staat hatte ihren Ursprung in Mobilmachungsverordnungen während des Krieges, mittels derer die Militärverwaltung die Rüstungsindustrie mit Arbeitskräften versorgt hatte. Doch auch die Demobilisierung in der Frühphase der Weimarer Republik war geprägt durch direkte Intervention auf dem Arbeitsmarkt und die Praxis, bestimmte Arbeitskräfte (vor allem Frauen) teilweise auch zwangsweise von ihren Arbeitsplätzen zu entfernen. Im Zuge dieser wachsenden Präsenz des Zentralstaates verlor das zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern hart umkämpfte Feld der Arbeitsvermittlung zunehmend seinen Streitwert. In dem Sinn hatte schon der Erste Weltkrieg einen irreversiblen Zentralisierungsschub im fragmentierten Politikfeld der Arbeitsvermittlung mit sich gebracht, der die Bündelung von Arbeitslosenversicherung, Arbeitsvermittlung und teilweise auch Arbeitsbeschaffung in den Händen einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft, der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, im Jahr 1928 überhaupt erst möglich machte (Preller 1978 [1949], S. 362–374).

In ihren Wurzeln hat die aktive Arbeitsmarktpolitik somit wenig von dem liberalen, den Einzelnen unterstützenden Charakter, den man zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit ihr assoziieren würde. Anrechte auf Kompensation für arbeitslosigkeitsbedingte Einkommensausfälle entwickelten sich sukzessive und blieben auf niedrigem Niveau, und anstelle staatlicher Angebote der Arbeitsvermittlung, Arbeitsbeschaffung und beruflichen Weiterbildung spielte Arbeitskräftelenkung – in Form direkt an die Bürger gerichteter staatlicher Anforderungen (oft ohne Mitspracherecht der Betroffenen) – eine bedeutende Rolle. Wie wir sehen werden, hat sich die Arbeitsmarktpolitik von dieser Tradition nie vollständig gelöst, und Sozialpolitiker sind seitdem immer wieder der Versuchung erlegen, das Angebot auf dem Arbeitsmarkt qualitativ und quantitativ steuern zu wollen.

3.3 Humanressourcen im Blickpunkt der nationalsozialistischen Sozialpolitik

Für die nationalsozialistische Arbeitspolitik galt das ohne Abstriche. Die Vormachts- und Expansionsbestrebungen des „Dritten Reiches“ erforderten eine rationalisierte Arbeitskräftelenkung, so dass Arbeitsmarktpolitik, ausgebaut zur „Arbeitseinsatzpolitik mit stark repressiven Zügen“ (Geyer 1989, S. 395), das zentrale sozialpolitische Aktionsfeld blieb (Teppe 1977, S. 211 ff.). „Alles überragend war das Ziel die Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten für den politischen und militärischen Aggressionskurs, und vor diesem Prinzip gab es im Grunde nur zwei Kategorien von Menschen, Volksgenossen und Volksfeinde“ (Götz 2002, S. 86). Mobilisierung bezog sich nicht allein auf den Arbeitsmarkt, sondern auch auf politische Gefolgschaft. Aus der politischen Stoßrichtung erklärt sich die gleichzeitig inklusive (gegenüber Deutschen) und extrem exklusive Stoßrichtung (gegenüber allen als „minderwertig“ klassifizierten Bevölkerungsgruppen) der nationalsozialistischen Sozialpolitik. In der Sozialversicherung bedeutete sozialpolitische Inklusion vor allem, dass man den Geltungsbereich dieses Sicherungsprinzips erweiterte.Footnote 13 Im Verlauf des Krieges gab es sogar an einigen Stellen (beispielsweise in der gesetzlichen Rentenversicherung oder bei den Transfers an Familien) Leistungserhöhungen. Wenngleich diese oft eher symbolischer Natur waren, sind es dennoch bemerkenswerte sozialpolitische Konzessionen, zu denen sich das totalitäre Regime „aus Sorge vor Popularitätsverlust“ (Teppe 1977, S. 510 f.) genötigt sah.

Die entscheidende Eigenheit nationalsozialistischer Sozialpolitik lag jedoch in ihren bevölkerungspolitischen Absichten. In ihr verbanden sich einander entgegengesetzte Elemente von „Auslese und Ausmerze“ (Sachße und Tennstedt 1992, S. 129), von pronatalistischen Maßnahmen gegenüber der arischen, „erbgesunden“ Bevölkerung und stark anti-natalistischen Maßnahmen gegenüber Millionen von als „minderwertig“ angesehenen Personen (Schulz 1998, S. 120). Pronatalistische Ziele verbanden sich in der Frühphase der nationalsozialistischen Herrschaft mit der Absicht, Frauen aus dem Arbeitsmarkt auszugliedern (McIntosh 1983, S. 63), um knappe Arbeitsplätze freizumachen. Sie schlugen sich in familienpolitischen Maßnahmen wie vor allem dem Ehestandsdarlehen nieder.Footnote 14 Allerdings hatte die mit großen rhetorischen Aufwand forcierte Ablehnung weiblicher Erwerbstätigkeit nur in der Frühphase der NS-Zeit Einfluss auf die praktische Politik. Als sich während des Krieges der Arbeitskräftebedarf erhöhte, wurde die Erwerbstätigkeit von Frauen sogar gefördert, was sich auch in sozialpolitischen Leistungen wie der Verbesserung des Mutterschutzes im Jahr 1942 niederschlug (Schulz 1998, S. 125 f.).

Während es dem Nationalsozialismus ohne weiteres möglich war, das Arbeitsmarktverhalten der Deutschen autoritär zu lenken, war sein Einfluss auf ihr reproduktives Verhalten allenfalls kurzfristiger Natur (McIntosh 1983, S. 78). Die bevölkerungspolitischen Aktivitäten der Nationalsozialisten hatten allerdings organisatorische und kulturelle Spätfolgen, die bis weit in die bundesrepublikanische Politik hineinwirkten. Ein Effekt des bevölkerungspolitisch motivierten Aktivismus war es, erstmals Frauen- und Familienpolitik als eigenständigen Bereich der Sozialpolitik zu etablieren (Schulz 1998, S. 134). „Sozialpolitik knüpfte (…) nicht mehr nur an die (überwiegend männliche) Erwerbsarbeit an, sondern zunehmend auch an die reproduktiven Aufgaben von Frauen und Müttern“ (Sachße und Tennstedt 1992, S. 140). Die Verbindung von pronatalistischen mit rassehygienischen und repressiven Maßnahmen hatte allerdings eine nachhaltige Wirkung auf Einstellungen der Deutschen gegenüber pronatalistischer Sozialpolitik. Wenngleich sinken-de Geburtenraten Experten und manche Politiker relativ früh schon alarmierten, fehlte in der Bundesrepublik lange Zeit jegliche Bereitschaft zu einer aktiven geburtenfördernden Politik (McIntosh 1983, S. 66).

3.4 Sozialer Friede, wirtschaftliches Wachstum und Re-Privatisierung des Sozialen als Parameter der bundesdeutschen Nachkriegssozialpolitik

Unmittelbar nach dem Krieg diente sozialpolitische Expansion unter anderem dazu, die Bundesrepublik in ihrer „Gründungskrise“ (Hockerts 1986) innenpolitisch zu stabilisieren und sozial zu befrieden.Footnote 15 Die teilweise sozialpolitisch erkaufte Legitimität der jungen Demokratie sollte das politische System in den Augen seiner Staatsbürger attraktiv machen – attraktiver auch als das alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell in Ostdeutschland. Das Ausmaß und der Zuschnitt des rasch wachsenden Sozialstaates waren somit von der Überlegung geprägt, „daß die Sozialreform die außenpolitische Grundlegung des neuen Staates durch eine innenpolitische Fundamentierung ergänzen sollte “ (Hockerts 1980, S. 244).Footnote 16

Für die politische Integrationsaufgabe war in der Nachkriegszeit die Alterssicherung das zentrale Aktionsfeld. Die Erkenntnis, „daß der moderne Staat seinen Bürgern das Gefühl der Sicherheit für das Alter geben muß – das Gefühl, nach einem Leben voller Arbeit nicht ‚deklassiert‘ zu werden“ (Jantz 1977, S. 110 f.) –, war für viele Arbeiter und Angestellte vor dem Hintergrund katastrophal geringer Altersrenten von großer Bedeutung. Strukturprinzipien der bedeutenden Rentenreform von 1957, wie Beitragsbezogenheit der Rente und dynamisierte, d. h. vor Erosion im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung geschützte Leistungen, entsprachen einem in den 1950ern verbreiteten Bedürfnis nach sozialer Sicherheit (Braun 1978). Allerdings waren sie in der Art, in der sie dies taten, nicht neutral, sondern sie gewährten höchst differenzierte, auf individueller Arbeitsleistung aufbauende Geldleistungen. Diese Ansprüche betonten das Rechtsverhältnis zwischen einzelnen Bürgern und dem Staat; kollektive Rechte (wie die Armenfürsorge oder Leistungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes) traten demgegenüber in der Sozialpolitik in den Hintergrund. Darüber hinaus honorierten sie bestimmte Verhaltensweisen, wie etwa qualifizierte Berufstätigkeit in langfristigen Beschäftigungsverhältnissen. Indem die Sozialversicherung auf individuellen wirtschaftlichen Erfolg als Grundlage vieler Sozialleistungen zugeschnitten war,Footnote 17 unterstützte sie nicht nur den Gesellschaftsentwurf der frühen Bundesrepublik, sondern sie schaffte mit der Honorierung beruflicher Leistungen und dem Schutz beruflicher Qualifikationen, die von ihr indirekt ausgingen, Anreize für Investitionen in berufliche Bildung und stabile professionelle Karrieren und bildete damit auch in ökonomischer Hinsicht eine Stütze der sich entwickelnden Wirtschaftsordnung (vgl. Estévez-Abe et al. 2001).

Die Normalitätsannahmen (Moeller 1993) in Bezug auf individuelles Erwerbsverhalten und (männliche) BerufsbiografienFootnote 18 fanden ihre Entsprechung in ähnlich stark ausgeprägten Leitvorstellungen über die Familie. 1954 wurden mit dem Kindergeld direkte Transferleistungen an kinderreiche Familien (wieder) eingeführt. Dieser schichtenspezifischeFootnote 19 „Familienlastenausgleich“, wie der konservative Familienminister Franz Josef Wuermeling ihn nannte (Joosten 1990, S. 53), war von der traditionellen Vorstellung über Geschlechterrollen geprägt, und es ging vor allem um die Frage, wie man den Frauen ein Dasein als Hausfrau und Mutter ermöglichen könne (Schulz 1998, S. 130). Wenngleich man die Familie in der Nachkriegszeit als „unentbehrlichen Ordnungsfaktor“ und „wichtigsten Erziehungsträger“ der Gesellschaft (Wuermeling 1963, S. 85 f.) ansah, wurde aktive Geburtenförderung in der sozialpolitischen Umsetzung (wenngleich nicht immer in der politischen Rhetorik) entschieden abgelehnt (Schulz 1998, S. 122).

Unzweifelhaft verbanden sich mit den sozialpolitischen Maßnahmen der Nachkriegszeit sowohl im Hinblick auf (männliches) Erwerbsverhalten als auch im Hinblick auf private Lebensentwürfe und die Rolle der Familie sehr dezidierte Erwartungen an ein bestimmtes Verhalten der Adressaten. Diese Erwartungen bezogen sich jedoch weniger auf quantitatives Bevölkerungswachstum oder die Rekrutierung aller Arbeitsfähigen in die Erwerbstätigkeit, als vielmehr auf qualitative Aspekte der familiären und beruflichen Sozialisation. Zuverlässige Arbeitskräfte, Steuerzahler und Hausfrauen waren ein wesentlicher Faktor im westdeutschen Wirtschaftswunder, ein wesentlicher Faktor auch in der erfolgreichen Konsolidierung der bundesdeutschen Demokratie, und auf sie hin waren viele sozialpolitische Leistungen denn auch zugeschnitten.

3.5 Ziele des Staates in der Entwicklung zu einer „nachhaltigen“ Sozialpolitik

Auch in der Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts stehen der Arbeitsmarkt und die Familie im Zentrum der Aufmerksamkeit; die mit den jüngeren Sozialreformen verfolgten Absichten unterscheiden sich jedoch krass von denen der traditionellen bundesrepublikanischen Sozialpolitik. Die derzeitige Sozialpolitik steht im Zeichen leerer öffentlicher Kassen, anhaltender Arbeitsmarktkrisen, bei der gleichzeitigen Wahrnehmung eines drohenden Fachkräftemangels. Ein zunehmendes Maß an privat zu übernehmender Vorsorge gegen Armutsrisiken gilt als Notwendigkeit, die den Bürgern als notwendig und gerecht vermittelt werden soll. Aus diesem Blickwinkel – als Teil eines breiteren, im Kern arbeitsmarktpolitischen Strategiewechsels – wird auch das Umdenken in der Familienpolitik verständlich, in der es neben der Geburtenförderung gleichzeitig auch um Erwerbsintegration von Müttern geht.

Wie der Überblick über frühere Etappen der Sozialpolitik-Entwicklung in Deutschland gezeigt hat, operierten Arbeitsmarktpolitiker immer schon mit klaren Vorstellungen über erwünschtes Erwerbsverhalten der Bürger. In dieser Hinsicht macht die Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik keine Ausnahme. Auch hier sollen Arbeitsmarktprobleme immer wieder von der Arbeitsangebotsseite her, d. h. durch Einflussnahme auf das Erwerbsverhalten der Bürger gelöst werden. Zur Bewältigung der Massenarbeitslosigkeit sollten lange Zeit möglichst viele Personen mit einem Bündel von Maßnahmen vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Frühverrentungsregelungen, sehr lange Ausbildungsgänge, ein breites Spektrum von den Arbeitsmarkt entlastenden Maßnahmen der „aktiven“ Arbeitsmarktpolitik und nicht zuletzt eine am Leitbild der nichterwerbstätigen Mutter festhaltende Familienpolitik – all diese Maßnahmen sollten bestimmten Personengruppen (mehr oder weniger dauerhafte) Alternativen zur Erwerbstätigkeit anbieten. Dieses Muster einer Art Stilllegung von Arbeitsangebot stellte aus Sicht der politischen Entscheidungsträger lange Zeit eine einfache, weil konfliktarme Antwort auf das Problem der Massenarbeitslosigkeit dar (Manow und Seils 2000), eine Strategie allerdings, deren Nutzen und vor allem deren Finanzierbarkeit nach der Jahrtausendwende verbreitet in Frage gestellt wurden (Streeck 2001), und die daher an erhebliche Akzeptanzprobleme stieß.

Eine Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik mit dem Ziel der Erhöhung der Beschäftigungsquote begann zeitgleich mit einer familienpolitischen Diskussion, die immer öfter die Befunde der international vergleichenden Forschung aufgriff, nach denen es der Geburtenrate abträglich ist, wenn man Frauen in eine Entscheidung zwischen Kinderaufziehen und Beruf hineinzwingt (Schoppa 2005), so dass Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum wichtigsten Ziel der Familienpolitik wurde. Diese – aufeinander bezogenen – Veränderungen in den dominanten Leitvorstellungen der Familienpolitik und Arbeitsmarktpolitik kennzeichnen den derzeitigen Richtungswechsel in der Sozialpolitik insbesondere: Hohe Erwerbsquoten werden immer mehr zum Hauptziel und Hauptbezugspunkt der sozialpolitischen Intervention. Einhergehend damit werden die klassischen, umverteilenden Sozialtransfers (vor allem im Rahmen der Sozialversicherung) in ihrer Leistungshöhe und –dauer beschnitten, und private Vorsorge wird immer wichtiger.

In der Familienpolitik lässt sich durchaus eine parallele Entwicklung beobachten. Private Unterstützung in Familien und Lebensgemeinschaften wird immer wichtiger als Ressource in den wachsenden Lücken des sozialen Netzes, was zunehmend auch explizit einkalkuliert und sozialpolitisch gefördert wird. Gleichzeitig wird (Vollzeit-) Erwerbstätigkeit immer ausgeprägter zur sozialpolitischen Norm für alle Erwachsenen. Abweichungen von dieser Norm sind kurzzeitig legitim, wenn sie mit Pflege- und Erzieh- ungstätigkeiten in Verbindung stehen; in den Fällen werden sie, um die Verbindung zur Erwerbstätigkeit zu betonen, mit als Einkommensersatzleistungen ausgestatteten Transfers sozialpolitisch alimentiert. Die Familie verliert zwar ihre Rolle als Bezugspunkt vieler abgeleiteter sozialpolitischer Leistungsansprüche,Footnote 20 sie wird aber gleichzeitig als Ressource privatisierter Daseinsvorsorge immer bedeutender. Diese doppelte Stoßrichtung – Entfamilisierung bei gleichzeitiger Re-Familisierung (Ostner 2006, S. 189 f.) – ist nicht leicht zu verwirklichen. Aus ihr ergibt sich der derzeit stark expansive Kurs der staatlichen Familienpolitik.

Im Kontext der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Gesamtstrategie wird die Logik der Arbeitsmarkt-Aktivierung von beiden Eltern auch sehr kleiner Kinder deutlich: Mit steigenden Armutsrisiken und schrumpfenden Verteilungsspielräumen sind zwei Erwerbseinkommen im Haushalt die potenteste private Absicherung gegen diese Risiken. Armut in der Familie wird somit auch immer einhelliger aufgefasst als „eine Folge ihres nicht ausgeschöpften Erwerbspotenzials und daher zunächst durch die Aktivierung der nichterwerbstätigen Mutter zu bekämpfen“ (Ostner 2006, S. 195). Insgesamt beobachten wir ein steigendes Maß an familienpolitischer Intervention und steigende arbeitsmarktpolitisch legitimierte Ansprüche an den Einzelnen, doch wir sehen Familien und einzelne Arbeitnehmer auch vor drastisch gestiegenen Risiken und finanziellen Belastungen: für die eigene Ausbildung, für die Sozialisation und Ausbildung der Kinder, für die Pflege von Angehörigen, für chronische Krankheiten – Verantwortlichkeiten, die die „nachhaltige“ und aktivierende Sozialpolitik nicht übernehmen will.

4 Sozialpolitik ohne aktive politische Integrationsaufgabe

Die Ziele staatlicher Akteure haben die Sozialpolitik auf allen Etappen ihrer Entwicklung mitgeprägt, dieses allerdings in über die Zeit variabler Form und Zusammensetzung. Die konkrete, inhaltliche Konstellation staatlicher Bestandsinteressen hat sich als abhängig von den strukturellen Herausforderungen und den militärischen, ökonomischen und politischen Ambitionen gezeigt, welche die politischen Eliten für „ihren“ Staat und seine Staatsbürger ins Auge fassten. Dies übersetzten die Sozialpolitiker in fördernde, fordernde, erzieherische Maßnahmen, nach denen die Sozialpolitik mit dem Zuschnitt ihrer Leistungen auf das Verhalten der Bürger Einfluss zu nehmen versuchte.

Es wurde deutlich, wie Sozialpolitik immer auch staatliche Intervention auf der Mikroebene sozialer Beziehungen und individueller Verhaltensweisen beinhaltete. Das pronatalistische Motiv war hierbei allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Der Reproduktionsbereich trat vor allem in jüngerer Zeit in Bezug auf Pflege- und Erziehungstätigkeiten im sozialpolitischen Zielkanon in Erscheinung. Ökonomische und politische Motive tauchten dagegen durchgängig im Zielkatalog und bei den Beeinflussungsversuchen der staatlichen Sozialreformer auf. Was ökonomische Motive betrifft, so zielte die staatliche Sozialpolitik seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder darauf ab, das Arbeitskräfteangebot qualitativ und quantitativ zu steuern. Auch in die bundesrepublikanische Sozialpolitik flossen recht deutliche Vorstellungen darüber ein, für wen es angemessen und erwünscht ist, am Erwerbsleben teilzunehmen, und für wen nicht. Was das politische Motiv betrifft, so spielten sozialpolitische Transfers als Lockmittel für politische Gefolgschaft häufig eine Rolle im Kalkül der politischen Eliten.

Es ist also möglich, staatliche Bestandsinteressen in der Sozialpolitik inhaltlich zu bestimmen und ihren Einfluss auf die Gestaltung der Sozialpolitik zu beobachten. Damit werden sie als Kategorien für die empirische Untersuchung konkreter sozialpolitischer Reformvorhaben tauglich. Das staatszentrierte Erklärungsprogramm, welches bislang zögerte, inhaltliche Aussagen über den sozialpolitischen Gehalt staatlicher Interessen zu machen, und nur relativ schemenhaft und auf der Strukturebene verbleibend den Einfluss des Staates auf die Sozialpolitik erfassen konnte, wird hiermit der historisch vergleichenden Analyse zugänglich. Dabei lässt sich das staatliche Interesse in der Sozialpolitik sinnvoll als Ressourceninteresse konzeptionalisieren. Indem man dieses Ressourceninteresse inhaltlich benennt, gelingt es, Staatsbürger nicht ausschließlich als Träger von sozialen Rechten wahrzunehmen, sondern auch als Produzenten relevanter Ressourcen. Als solche aber sind sie aus Sicht der staatlichen Akteure interessant. Ressourcen, die durch massenhafte Verbreitung bestimmten Verhaltens auf dem Arbeitsmarkt, im politischen Raum, aber auch im Privatbereich der Familie generiert werden, haben in der Geschichte der staatlichen Sozialpolitik immer wieder Begehrlichkeiten geweckt, und es gibt in der Sozialpolitik durchweg Versuche, den Zugriff auf diese Ressourcen durch sozialpolitische Intervention – durch Alimentierung bestimmter, erwünschter Verhaltensweisen – zu stabilisieren. Die sich wandelnden Zielbestimmungen staatlicher Akteure beeinflussen die Ausgestaltung einzelner sozialpolitischer Institutionen. Darüber hinaus schlagen sie sich in Verschiebungen bei den Schwerpunktsetzungen im Maßnahmenspektrum der Sozialpolitik nieder. Dies erlaubt es uns schließlich, den sozialpolitischen Gehalt des derzeitigen Paradigmenwechsels in der Familienpolitik und Arbeitsmarktpolitik besser zu verstehen.

Gegenwärtig erleben wir, wie sich die inhaltlichen Leitvorstellungen über Erwerbsverhalten und familiäre Lebensentwürfe in relativ kurzer Zeit stark ändern, und wir haben auch im historischen Abriss gesehen, dass sich der Schwerpunkt neuer sozialpolitischer Initiativen stark auf das Ziel der Erwerbsintegration ausrichtet, während die klassischen umverteilenden Transferprogramme vorwiegend als Schauplatz von Kürzungsbemühungen in Erscheinung treten. Dieser Trend wird oft als „Ökonomisierung“ der Sozialpolitik interpretiert (vgl. die Beiträge in Evers und Heinze 2008). Allerdings hat die historisch vergleichende Analyse gezeigt, dass es verfehlt wäre, anzunehmen, dass ökonomische Motive nun erstmals eine wichtige Rolle in der Sozialpolitik spielen würden. Weder die Tatsache, dass sozialpolitische Maßnahmen politische und auch ökonomische Nebenfunktionen zu erfüllen haben, noch die Tatsache, dass sie von ökonomischen Voraussetzungen abhängig sind, ist ein Novum in der Geschichte der Sozialpolitik. Verändert hat sich lediglich die inhaltliche Gestalt der ökonomischen Funktionen (Evers 2008; Mätzke 2011). Was den Anschein erweckt, als wären die sozialpolitischen Maßnahmen heute stärker als je zuvor von ihren ökonomischen Voraussetzungen abhängig, erweist sich als Artefakt. Der Eindruck entsteht, wenn man die Nachkriegs-Sozialpolitik mit ihrem beispiellos weiten Handlungsspielraum zum „Goldenen Zeitalter“ der Wohlfahrtsstaatlichkeit erklärt und zum Bezugspunkt für alle Analysen der geschichtlichen Entwicklung macht.Footnote 21 Der Fehler liegt dann aber im Auge des Betrachters. Tatsächlich ändert sich die Erscheinungsform der ökonomischen Nebengedanken bei sozialpolitischen Maßnahmen inhaltlich über die Zeit, prinzipiell aber nicht die Abhängigkeit der Sozialpolitik von ihrem ökonomischen und sozialen Kontext.

Der eigentliche Grund, warum in gegenwärtigen sozialpolitischen Diskussionen die ökonomische Funktionalität der Sozialpolitik so dominant erscheint, ist also ein anderer, und er tritt nur bei der Betrachtung längerer historischer Zeitabschnitte zutage. Es ist dies die Tatsache, dass in den heutigen Sozialreformen politische Integrationsaufgaben so gut wie keine Rolle mehr spielen. Seit es nationalstaatliche Sozialpolitik gab, waren in der politischen Dimension staatlicher Interessen die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen immer auch die „Währung“, mit der sozialer Friede, Massenloyalität und eine Bindung der Bürger an ihr politisches Gemeinwesen erkauft wurden. Und wo dies nicht gelang – wie in der Weimarer Republik –, da war es um den sozialen Frieden auch bald geschehen. Diese Aufgabe der Sozialpolitik hat in den letzten Jahren praktisch völlig an Bedeutung verloren. Die Notwendigkeit, unter den Bürgern eines Landes ein Minimum an Zustimmung zu den Institutionen des Gemeinwesens zu erhalten, scheint keine Aufgabe mehr zu sein, die man sozialpolitisch bearbeiten könnte oder wollte.Footnote 22 Sozialpolitische Leistungen sollen die Bürger nicht mehr mit ihrem Gemeinwesen versöhnen, sie sollen die Gesellschaft nicht innenpolitisch befrieden, und schon gar nicht sind sie eine Gegenleistung für Gefolgschaft in irgendwelchen Expansionsbestrebungen. Der westliche Kapitalismus muss sich nicht mehr gegenüber einem möglichen Rivalen behaupten. Politische und soziale Integration ist ein Problem, das heute nur noch bildungspolitisch bearbeitet werden soll, doch nicht mehr sozialpolitisch, durch staatlich vermittelte Daseinsvorsorge und materielle Inklusion. Dementsprechend harsch fallen die Einschnitte in soziale Rechte aus. Hierin liegt das eigentlich Neue am sozialpolitischen Richtungswechsel: nicht so sehr in der Ökonomisierung der Sozialpolitik als vielmehr in ihrer Entpolitisierung, d. h. im Verlust einer positiven politischen Gestaltungsaufgabe staatlicher Sozialpolitik.