1 Einleitung

Im Jahr 1984 wurde dem Verwaltungsgericht Wiesbaden die Frage zur Klärung vorgelegt, ob von einer muslimischen Bürgerin verlangt werden dürfe, zur Ausstellung eines „Ausweisdokuments mit Lichtbild“ das Kopftuch abzulegen. Da im damaligen Verwaltungserlass Ausnahmeregelungen für Kopfbedeckungen für Angehörige christlicher Orden vorgesehen waren, entschied das Verwaltungsgericht – im Sinne einer Gleichbehandlung der Religionen –, dass auch das islamische Kopftuch in diesem Fall nicht abgenommen, sondern der Personalausweis mit „Kopftuch-Lichtbild“ ausgestellt werden müsse (VG Wiesbaden vom 10.07.1984, AZ.: VI/1 E 596/82).

Dieses und andere „Kopftuchurteile“ aus den 1980er und 1990er Jahren, die sich fast ausschließlich mit Passfragen beschäftigten, blieben unterhalb der Schwelle der öffentlichen Aufmerksamkeit. Erst als Zuwanderer und ihre Nachkommen nicht mehr nur berufliche Positionen im privaten Arbeitsmarkt einzunehmen begannen, sondern zunehmend auch im öffentlichen Dienst Anstellungen erhielten, änderte sich hier etwas. Kinder aus Migrantenfamilien wurden häufiger eingebürgert, absolvierten auch akademische Bildungskarrieren und strebten nun Berufe wie Lehrerin oder Sozialpädagogin an. Ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geriet dies, als im Jahr 1998 das Oberschulamt Stuttgart die Einstellung der Referendarin Fereshta Ludin in den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg ablehnte. Die Klägerin sei durch das Tragen des Kopftuches, so die Schulbehörde damals, nicht für den Schuldienst geeignet. Der sich anschließende Rechtsstreit führte bis vor das Bundesverfassungsgericht und machte deutlich, dass aus der christlich geprägten Gesellschaft der Bundesrepublik eine polyreligiöse Gesellschaft geworden war und nun auch Bürgerinnen und Bürger islamischen Glaubens ihre Grund- und Freiheitsrechte geltend machen wollten.

In der Bundesrepublik Deutschland wird man sich in der Folge vermehrt darüber verständigen müssen, wie mit religiös motivierten Verhaltensweisen nicht-christlicher Bürger umgegangen werden soll. Jenseits des konkreten Streitgegenstandes manifestiert sich in der Kopftuchfrage damit letztlich der Streit darüber, wie liberale Demokratien auf zunehmende religiöse Heterogenität reagieren sollen. Die vorliegende Studie untersucht am Beispiel des „Kopftuchstreits“, wie die relevanten (politischen und juristischen) Instanzen dieses Problem bewältigt haben und welche integrations- und religionspolitischen Paradigmen sich im Kräftefeld zwischen den betroffenen Kopftuchträgerinnen, der Politik und den deutschen Gerichten ergeben haben.

Wir gehen davon aus, dass für das Zustandekommen von „Kopftuchverbotsgesetzen“ die programmatische Heterogenität der Parteien verantwortlich gemacht werden muss (Parteiendifferenzhypothese; vgl. Hibbs 1977; Beyme 1981; Schmidt 1982), die sich in der jeweiligen parteipolitischen Zusammensetzung der Landesregierungen zeigt. Zugleich ist für rechtsstaatliche Demokratien zu vermuten, dass sich die Intentionen der regierenden Parteien nur dann verwirklichen lassen, wenn sich die parlamentarisch beschlossenen Gesetze im Rahmen der Grundrechtsordnung bewegen – die letztverbindlich von Gerichten definiert wird. Demokratische Mehrheiten einerseits und rechtsstaatliche Akteure und Institutionen andererseits können miteinander in Konflikt geraten, wenn – wie im Kopftuchfall – Ansprüche von Minderheiten nach gleicher Anerkennung verbindlich festgestellt werden müssen. Dabei gehört es zu den Aufgaben demokratischen Regierens, den Mehrheitswillen mit dem Schutz grundrechtlicher Freiheiten in Einklang zu bringen. Gerade bei solchen Fragen wie dem Kopftuchverbot ist zu vermuten, dass dies nicht geräuschlos geschehen kann, sondern dass es spezifische Differenzen in den Orientierungen von politischen Akteuren gibt, die letztlich nur über rechtsstaatliche – und nicht über mehrheitsdemokratische – Verfahren zum Ausgleich gebracht werden können.

Es geht also um die konkrete Frage, wie sich die Neuaushandlung der Beziehungen zwischen Staat und Religion bzw. Staat und Kirche im Kräftefeld zwischen politischen Akteuren mit unterschiedlichen Integrationsparadigmen und Gerichten, die der Einheitlichkeit der Rechtsordnung sowie der Geltung der Grundrechte verpflichtet sind, vollzogen hat. Damit ist auch zu diskutieren, welche generellen Schlussfolgerungen in Bezug auf die Anpassungsfähigkeit liberaldemokratischer Institutionenordnungen zu ziehen sind. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Frage, welchen Rang Religionsfreiheit in dem von uns definierten Demokratiemodell einnimmt (Abschn. 2). Anschließend werden drei religionspolitische Strategien der Integrationspolitik vorgestellt (Abschn. 3), auf deren Basis dann empirisch die Plenardebatten und rechtsstaatlichen Verfahren analysiert werden, die den Kopftuchstreit in Deutschland in den letzten 10 Jahren geprägt haben (Abschn. 4).Footnote 1 Daraus ziehen wir alsdann eine entsprechende demokratietheoretische Bewertung (Abschn. 5).

2 Eingebettete Demokratie und religiöse Heterogenität

Demokratie wird hier verstanden als ein Institutionensystem, das politische Gleichheit, bürgerliche Freiheitsrechte und die Kontrolle der Herrschaftsausübung gleichermaßen gewährleistet (vgl. Merkel et al. 2003; Lauth 2004). Wir bedienen uns hier des Modells der „eingebetteten Demokratie“ (embedded democracy; vgl. zur Entwicklung und Herleitung dieses Modells Merkel et al. 2003), das Demokratie als ein Gefüge von Institutionen begreift, in dem fünf Prinzipien gelten: aktives und passives Wahlrecht, Partizipationsrechte, bürgerliche Freiheitsrechte, Institutionen der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates sowie die „effektive Regierungsgewalt“ demokratisch legitimierter Herrschaftsträger.

Eingebettet sind die Prinzipien insofern, als nur die Gesamtheit der sich gegenseitig stützenden Institutionen und die gleichzeitige Geltung aller Prinzipien eine funktionierende Demokratie bilden können – die Störung eines der Prinzipien, so die grundlegende Idee, stört die Funktionsfähigkeit der gesamten Demokratie. Die für die vorliegende Untersuchung relevanten Prinzipien stellen die „bürgerlichen Freiheitsrechte“ und die „Gewaltenteilung“ dar. Bürgerliche Rechte begrenzen den Herrschaftsanspruch des Staates und der Gesellschaft gegenüber dem Individuum sowie gesellschaftlichen Minderheiten. Sie stehen daher auch bei Entscheidungen der gewählten (parlamentarischen) Mehrheiten oder des Volkes nicht zur Disposition und stellen eine „Sperrzone“ für Mehrheitsentscheide dar, in die nur unter bestimmten Umständen (etwa bei entgegenstehenden anderen Grundrechten) nach entsprechender Abwägung eingedrungen werden darf. Mitunter wurde postuliert, dass die Religionsfreiheit – historisch betrachtet – so etwas wie das „Urgrundrecht“Footnote 2 dieser bürgerlichen Freiheitsrechte darstelle. Folgt man dieser These, dann ist ein politisches System nur dann eine funktionierende Demokratie in unserem Sinne, wenn es die Ausübung der Religionsfreiheit für alle Bürger in gleicher Weise ermöglicht und seine Bürger damit „als Gleiche“ anerkennt (vgl. Dworkin 1978). Die Sicherung dieses Freiheitsrechts setzt eine Judikative voraus, die die Aufgabe übernimmt, zu kontrollieren, ob die parlamentarischen Akteure die bürgerlichen Freiheitsrechte ausreichend beachten.

Demokratie benötigt überdies eine von den Bürgern geteilte Vorstellung einer politischen Gemeinschaft (vgl. auch Anderson 1996). Die demokratische Gemeinschaft der Bürger muss eine Vorstellung davon haben, wer als Bürger zu gelten hat und welche Eigenschaften die Bürger gemeinsam haben. Die Vorstellung einer „Gemeinschaft von Gleichen“ macht sich nicht immer nur an rein politischen Kriterien wie der Staatsangehörigkeit fest, sondern gelegentlich auch an ethnischen und kulturellen Eigenschaften (vgl. Beiner 2003; Kivisto und Faist 2007). Unter den Bedingungen zunehmender religiöser Heterogenität können bisher ausgeübte gesellschaftliche Praktiken und funktionierende Regelungsmechanismen mehr und mehr ihre Überzeugungskraft einbüßen. Wenn fraglich wird, welche Verhaltensweisen noch als zulässig und damit „gemeinschaftsfähig“ gelten können und welche nicht, kann eine Neuaushandlung der Regelungsmechanismen notwendig werden. Hinsichtlich des öffentlichen Umgangs mit Religion eröffnet sich ein doppeltes Spannungsfeld: zum einen zwischen säkular und religiös orientierten Bürgern, zum anderen zwischen den Religionen selbst. Im ersten Fall kann das Ausmaß der Zulässigkeit von Religion in der Öffentlichkeit strittig sein, im zweiten Fall die Frage, ob alle Religionen gleich zu behandeln sind oder nicht.

Bei der Antwort, die die demokratisch legitimierten politischen Akteure geben müssen, wird der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien im Politikfeld „Zuwanderung/Integration“ jedoch nicht vorrangig durch die klassische Konfliktlinie Kapital-Arbeit strukturiert (Lipset und Rokkan 1967), sondern orientiert sich eher an der Konfliktlinie Staat-Kirche (bzw. Staat-Religion) sowie an den beiden Polen libertär vs. autoritärFootnote 3 (vgl. auch Kitschelt 1994, S. 20 ff.). Diese beiden – sich zum Teil überlappenden – Konfliktlinien sind auch im programmatischen Umgang der Parteien mit Fragen der Integration erkennbar (s. hierzu ausführlich 4.2).

Besonders seit Ende der 1990er Jahre haben zwei miteinander verknüpfte Entwicklungen ihre Wirkung auf die Positionen der Parteien entfaltet: Zum einen stellte der Umgang mit dem Islam die existierenden Beziehungen zwischen Staat und Kirche in den europäischen Ländern auf den Prüfstand (vgl. Kastoryano 2003; Koenig 2007). Dies bedeutete insbesondere für solche Parteien eine Herausforderung, die die christliche Religion als konstitutiven Bestandteil ihrer Programmatik begreifen. Zum anderen gerieten auch die multikulturalistischen Positionen von linken und grünen Parteien im politischen Diskurs unter Druck. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie die gemeinsame Grundlage der Gesellschaft aus den Augen verloren hätten. In der Debatte über eine „Leitkultur“ (vgl. Göhler 2003; Lammert 2006; Stein 2008; Schiffauer 2008, S. 10 ff.) zeigte sich etwa, dass zwischen den politischen Akteuren hoch umstritten ist, inwieweit Religion Bestandteil einer – wie auch immer verstandenen – Leitkultur und des darin verankerten Bürgerbildes sein soll. Im Streit um das Kopftuch als Ausdruck religiöser Identität im öffentlichen Raum sollten also programmatische Differenzen zwischen den Parteien und Parteiendifferenzeffekte zutage treten.

Letztlich müssen in der rechtsstaatlichen Demokratie Politik und Recht die abstrakten demokratischen Prinzipien gemeinsam in konkrete Institutionen überführen. Welches Bürgerschaftskonzept in einer Demokratie gilt, wie das Gleichheitsprinzip konkret ausgestaltet ist und wie Grund- und Bürgerrechte miteinander zum Ausgleich gebracht werden, ist durch das Demokratiemodell nur abstrakt vorgegeben; die Konkretisierung wird jeweils erst im demokratischen Prozess realisiert. Dabei können sich vor allem die politischen Akteure an unterschiedlichen Konzepten der Bürgerschaft und unterschiedlichen Integrationsparadigmen orientieren.

3 Religionspolitische Strategien in der Integrationspolitik

Politische Gemeinschaften unterscheiden sich zum Teil erheblich in ihren Vorstellungen über Bürgerschaft, Zugehörigkeit und die Anerkennung kultureller Heterogenität in der öffentlichen Sphäre. Innerhalb der Migrationsforschung werden im Allgemeinen drei Bürgerschaftsmodelle identifiziert (s. bspw. Brubaker 1992; Castles und Miller 1993; Castles 1995; Freeman 1995), die noch immer heuristischen Gewinn versprechen:Footnote 4 Erstens ein exklusives Modell, das Nation und Bürgerschaft auf ethnischer und kultureller Grundlage definiert und einen Beitritt zur Nation extrem erschwert. Zweitens ein universalistisches Modell, das die Nation politisch begreift (und grundsätzlich – bei bezeugtem politischem Zugehörigkeitsgefühl – einen Beitritt zulässt), kulturelle Fragen aber in die private Sphäre verweist. Drittens ein pluralistisches Modell, das die Nation und den Bürger ebenfalls politisch begreift und auch bei vorliegender kultureller Heterogenität keine Anpassung erwartet. Im Gegensatz zum universalistischen Modell wird hier kulturelle Vielfalt in unterschiedlichem Ausmaß auch in der öffentlichen Sphäre verankert.

Diese Bürgerschaftsmodelle lassen sich anhand des zentralen Differenzkriteriums der „Anerkennung kultureller Eigenschaften im öffentlichen Raum“ sinnvoll unterscheiden. Mit den kulturellen Eigenschaften sind in erster Linie religiöse Eigenschaften als wesentliches Element gesellschaftlicher Heterogenität gemeint (vgl. Statham et al. 2005; Modood 2007, S. 70 ff.), nicht zuletzt, weil das Kopftuch zu einer Frage der nationalen Selbstdefinition geworden ist (vgl. Joppke 2009, S. 24). Bezogen auf die öffentliche Anerkennung religiöser Identität lassen sich drei eng mit den integrationspolitischen Modellen verbundene religionspolitische Leitbilder unterscheiden:Footnote 5

Eng mit dem universalistischen Bürgerschaftsmodell verknüpft ist ein Leitbild der strikten Neutralität der öffentlichen Institutionen.Footnote 6 Bei diesem Leitbild werden alle religiösen Bezüge und Symbole aus der staatlichen Sphäre verbannt und die Religionen aller Bürger auf gleiche Weise negiert (so z. B. in Frankreich). Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass ein solches Leitbild auf Grund historischer Kontingenz gegenüber kultureller – und religiöser – Heterogenität nicht vollständig neutral sein kann (vgl. Kymlicka 1995, S. 108 ff.) und meist eine Vielzahl historischer Regelungen enthält, die Religionen faktisch doch unterschiedlich behandeln. Generell stellt sich die Frage, ob unterschiedliche Religionen überhaupt gleich behandelt werden können, wenn sie nicht in gleichem Ausmaß mit Neutralitätsansprüchen zu vereinbaren sind und das gewählte Leitbild damit ungewollt bestimmte Religionen unterschiedlich stark einschränkt und damit die betroffenen Bürger indirekt diskriminiert.

Auf dieses Problem nimmt das pluralistische Bürgerschaftsmodell durch ein Leitbild der allgemeinen Anerkennung religiöser Heterogenität auch im öffentlichen Raum Rücksicht (offene Neutralität). Im Gegensatz zum Leitbild der strikten Neutralität werden hier religiöse Verhaltensweisen als so relevant für die persönliche Identität angesehen, dass sie so weit wie möglich in den öffentlichen Institutionen zum Ausdruck gebracht werden dürfen (s. hierzu Bielefeldt 2003, S. 24 ff.). Aus Sicht der Befürworter dieses Leitbilds würde der Staat ungerecht handeln, wenn er dies den Individuen verwehrte, denn er verletzte damit ihre Individualrechte.Footnote 7 Das in Deutschland vorherrschende System der wohlwollenden Trennung zwischen Religion und Staat steht einem solchen Leitbild sehr nahe (vgl. Willems 2001), allerdings werden seine umfassenden Implikationen so lange nicht offensichtlich, wie fast ausschließlich eine überwiegende Mehrheitsreligion – wie in Deutschland das Christentum – von den Regelungen profitiert. Erst wenn „konkurrierende“ Religionen ebenfalls von den Privilegien der offenen Neutralität Gebrauch machen wollen, werden potentielle gesellschaftliche Konfliktherde sichtbar.

Ein drittes Leitbild operiert mit dem Begriff des Ausnahmerechts und kann zu zwei sehr unterschiedlichen religionspolitischen Ausgestaltungen führen. Die erste Variante dieses Leitbilds geht von der Erkenntnis aus, dass unterschiedliche Religionen unterschiedlich gut mit allgemein gültigen Gesetzen zu vereinbaren sind. Wenn rechtliche Regelungen bestimmte Religionsgruppen besonders stark einschränken, wird von den Befürwortern dieses Leitbilds ein mögliches Ausnahmerecht für diese Gruppen in Betracht gezogen, um dadurch religiöse Gruppen mit spezifischen Eigenschaften dennoch in die Gesamtgesellschaft zu integrieren – Regelungen bezüglich religiöser Kleidung in Kanada können hier als Beispiel dienen. Kymlicka (1995, S. 30 f.) nennt solche Individualrechte polyethnische Rechte, die im hier diskutierten Kontext polyreligiös genannt werden können. Bei diesem Leitbild lässt sich ebenfalls eine gewisse Nähe zum pluralistischen Bürgerschaftsmodell feststellen, auch wenn hier nicht eine generelle Anerkennung bzw. eine Aufhebung gesetzlicher Regelungen gewährt wird, sondern eine gruppenspezifische Ausnahme bei Weitergeltung der allgemeinen Regelungen eingeräumt wird (Ausnahmemodell).

Unter dem Rubrum „Ausnahmerecht“ ist jedoch auch eine zweite Variante denkbar, in der nicht die religiösen Verhaltensweisen der Minderheits-, sondern die der Mehrheitsgruppe von einem allgemein gültigen Gesetz ausgenommen werden; es handelt sich also um eine positive Förderung der Mehrheitsreligion (der Umgang mit der orthodoxen Religion in Griechenland kommt diesem Modell sehr nahe). Die Nähe zu einem integrationspolitisch exklusiven Bürgerschaftsmodell ist in dieser Variante unverkennbar. Zur normativen Legitimierung wird weniger ein liberales Gleichheitspostulat bemüht als vielmehr die Wichtigkeit der in Rede stehenden Religionen für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bürger betont und auf ihre wesentlichen Beiträge zur Stabilität der Gesellschaft verwiesen (vgl. Ladeur und Augsberg 2007, S. 84 f.). Allerdings werden nur bestimmte – christliche – Religionen als mit den Grundwerten der Demokratie kompatibel und diese stützend angesehen (Exklusionsmodell).

Die skizzierten religionspolitischen Leitbilder prägen auch die politischen Akteure innerhalb der Nationen. Die nationalen Regulierungen, die die Handlungsorientierungen politischer Akteure formen, sind jeweils Ergebnisse von Kompromissen zwischen unterschiedlichen, ideologisch geprägten religionspolitischen Leitbildern, die dann wieder aufgebrochen werden, wenn größere Reformen der Beziehungen zwischen Staat und Kirche bzw. Staat und Religion zu bewältigen sind – so auch im Kopftuchstreit.

4 Das Kopftuch im Wechselspiel zwischen Gerichten und Landesparlamenten

4.1 Der Anlass: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im „Fall Ludin“

Im März 2000 urteilte das Verwaltungsgericht Stuttgart im Ausgangsverfahren des „Falls Ludin“, dass das Oberschulamt Stuttgart berechtigt gewesen sei, den Antrag von Frau Ludin auf Aufnahme in den Schuldienst abzulehnen, weil diese im Unterricht nicht auf das Tragen des islamischen Kopftuchs verzichten wollte. Die Klägerin, so das Gericht damals, verstoße durch das Tragen des Kopftuches gegen die Neutralitätspflicht des Staates und erfülle damit nicht die persönlichen Voraussetzungen für die Verbeamtung als Lehrerin. Unter anderem argumentierte die Kammer, dass sich sowohl das Grundgesetz als auch die baden-württembergische Landesverfassung ausdrücklich auf christliche Werte („christliches Sittengesetz“) stützten, und dass daher „für Lehrer, die nichtchristlichen Religionen anhängen, ihre Religionsausübung im Dienst wohl nur unter engeren Voraussetzungen möglich ist als dies bei Lehrern der Fall ist, die christlichen Religionen anhängen“ (vgl. VG Stuttgart vom 24.03.2000, AZ.: 15 K 532/99: 11 f.).Footnote 8

Nachdem sowohl der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg als auch das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des VG Stuttgart bestätigt hatten, legte Frau Ludin Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Dieses befand am 24.09.2003, dass „ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, (…) im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte Grundlage“ (BVerfGE 108, 282, Leitsätze) finde, und verwies die Sache zur neuerlichen Entscheidung an das Bundesverwaltungsgericht zurück.

Die Verfassungsrichter führten aus, dass das Tragen eines Kopftuches im Unterricht grundsätzlich durch das – vorbehaltlos gewährte – Grundrecht auf Glaubensfreiheit (Art. 4 GG) geschützt sei. Eine Einschränkung dieses Grundrechts komme nur durch entgegenstehende, ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte in Betracht und müsse auf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage erfolgen. Bei der Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen der positiven Glaubensfreiheit der Lehrerin einerseits und der eventuell entgegenstehenden staatlichen Pflicht zur religiösen Neutralität sowie den Rechten auf elterliches Erziehungsrecht und negative Religionsfreiheit andererseits räumte das Gericht den Landesgesetzgebern weiten Spielraum ein. So erlaubte es den Bundesländern ausdrücklich, unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes zu unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen zu gelangen, die auch die „Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung“ berücksichtigen dürften (BVerfGE 108, 303). Zugleich erlaubte Karlsruhe den Landesgesetzgebern, nicht nur konkreten Gefahren der Beeinflussung und Missionierung durch Lehrerinnen durch Verbote entgegenzutreten, sondern auch der abstrakten Gefahr der Störung der staatlichen Neutralität oder des Schulfriedens zu begegnen, die sich aus dem Tragen eines Kopftuches prinzipiell ergeben könne. Solle der abstrakten Gefahr präventiv begegnet werden (das Kopftuch also ohne konkreten Anlass generell im Schuldienst verboten werden), erfordere dies aber eine hinreichend konkrete gesetzliche Grundlage (an der es im Fall von Frau Ludin zu diesem Zeitpunkt fehlte).

Das Bundesverfassungsgericht wartet hier nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei verbindlichen Neutralitätskonzepten auf.Footnote 9 Einerseits beziehen sich die Richter auf das Konzept der offenen Neutralität, indem sie darauf verweisen, dass die religiös-weltanschauliche Neutralität des bundesdeutschen Staates nicht als strikte Trennung von Staat und Kirche, sondern vielmehr als „offene und übergreifende Neutralität“ zu verstehen sei (BVerfGE 108, 300 f.; vgl. auch Böckenförde 2004, S. 1182 f.). Andererseits eröffnen sie im Fortgang der Urteilsbegründung den Weg in ein Modell der strikten Neutralität, indem sie zugestehen, dass gesellschaftliche Veränderungen die Notwendigkeit induzieren können, die offene in eine strikte Neutralität zu überführen.Footnote 10

Die Folge dieser doppelten Neutralitätskonzeption ist, dass das Bundesverfassungsgericht weder generell individuelle religiöse Symbole in der Schule untersagt noch deren unbedingte Zulassung fordert, sondern den Landesgesetzgebern für ihre gesetzgeberische Tätigkeit beide Leitmodelle mit auf den Weg gibt. In beiden Fällen sind diese aber an die strikte Gleichbehandlung der Religionen und Bekenntnisse gebunden (so tendenziell auch Battis und Bultmann 2004, S. 585). Eine gesetzliche Regelung, die die Glaubensfreiheit der Lehrerinnen (und Lehrer) beschränkt, so das Bundesverfassungsgericht, kann nur dann in verfassungsgemäßer Weise begründet und durchgesetzt werden, „wenn Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften dabei gleich behandelt werden“ (BVerfGE 108, 282, S. 313). Wie die Gesetzgeber mit diesen höchstrichterlichen Vorgaben umgingen, zeigt die Analyse der Plenardebatten.

4.2 Die Gesetzgebung und die Plenardebatten in den Bundesländern

Nach dem Urteil des BVerfG kam es in allen elf westdeutschen Bundesländern zu parlamentarischen Verfahren (s. Tab. 1), aus denen acht entsprechende Gesetze hervorgingen. In Westdeutschland brachte nur die Hamburger CDU, auch während ihrer Alleinregierung von 2004 bis 2008, kein entsprechendes Gesetz ein und beließ es bei der bereits geltenden Einzelfallregelung.Footnote 11 Dagegen kam es in keinem ostdeutschen Bundesland zu einem Gesetzgebungsverfahren.Footnote 12

Tab. 1 Abstimmungsverhalten bei Kopftuchverbotsgesetzen. (Quelle: Eigene Zusammenstellung)

Unterschiede zwischen dem Vorgehen der Länder, die die Hoheit im Bereich Kultur besitzen, zeigten sich schon im Antragsverhalten der politischen Parteien. In sieben der elf Länder wurde ein Gesetzentwurf oder Antrag entweder von einer CDU-geführten Landesregierung oder der CDU-Fraktion eingebracht.Footnote 13 Unter Beteiligung der SPD wurden in Berlin, Bremen und im Saarland Gesetzentwürfe eingebracht. Im Saarland und in Bremen brachten CDU und SPD den Gesetzentwurf gemeinsam ein, in Berlin handelte es sich um den Gesetzentwurf der rot-roten Landesregierung.

Bei neun der zehn Abstimmungen in den Länderparlamenten stimmte die jeweilige CDU-Fraktion erwartungsgemäß dem Antrag zur Verabschiedung eines „Kopftuchgesetzes“ zu.Footnote 14 Nur dem Berliner Gesetzentwurf versagte sie ihre Zustimmung. Die grünen Fraktionen hingegen lehnten in allen Bundesländern ein entsprechendes Gesetz ab. Interessant ist das uneinheitliche Abstimmungsverhalten der SPD und der FDP: In sieben AbstimmungenFootnote 15 stimmte die FDP viermal gegen ein entsprechendes Verbot und dreimal dafür. Das Bild der SPD-Fraktionen ist noch uneinheitlicher. Als Opposition stimmte sie zweimal für ein Kopftuchverbot (BW, SL) und viermal dagegen (BY, HE, NI, NW).Footnote 16 War sie Teil einer Landesregierung, lehnte sie einen entsprechenden Antrag der Opposition ab (RP, SH) oder brachte einen eigenen Gesetzentwurf ein (BE, HB), der sich allerdings vom Inhalt der anderen Entwürfe deutlich unterschied (s. unten).

Während die CDU und die Grünen – politisch klar verortet – als reine „Policy-Seeker“ auftraten, die sich auf Grund ihrer jeweiligen Programmatik eindeutig für (CDU) oder gegen (Grüne) ein Kopftuchverbot aussprachen, erwies sich die FDP in dieser Frage als klassische Partei des Ämter- und Machtstrebens (sogenannte „Office-Seeker“). Spielte die Machtperspektive für die Entscheidung keine Rolle, entschieden sich die FDP-Fraktionen entsprechend ihrer liberalen Programmatik gegen eine Ungleichbehandlung der Religionen. Kamen aber Koalitionszwänge ins Spiel, stach die Machtorientierung die Programmatik aus. Office-Seeking spielte für die SPD keine große Rolle. Die meisten ihrer Landesverbände schienen eher eine klare politische Linie verfolgen zu wollen (also „Policy-Seeking“ zu betreiben), indem sie entweder ein spezifisches Kopftuchverbot ablehnten oder zumindest auch bei einer Ablehnung des Kopftuchs alle Religionen gleich behandeln wollten.

Der Blick auf die unterschiedlichen Gesetzestexte, die hier entstanden, zeigt, dass sich diese in ihren Inhalten zum Teil deutlich unterscheiden und diese Unterschiede das Verhalten der Parteien erklären. In der Formulierung der jeweiligen ParagrafenFootnote 17 wird im Wesentlichen auf vier Aspekte Bezug genommen: die Neutralität des Landes bzw. der Schule, den Schulfrieden, die Verfassungsgrundwerte und den Bildungsauftrag, der entweder im Schulgesetz oder in der Landesverfassung formuliert ist. Dies hat zur Folge, dass ein religiöses Symbol im Sinne der Gesetze immer dann unzulässig ist, wenn die Neutralität oder der Schulfriede beeinträchtigt sind, Zweifel an der Loyalität gegenüber den Grundwerten bestehen oder der Bildungsauftrag nicht erfüllt werden kann. Wie Tab. 2 ausweist, bedienen sich die verschiedenen Landesgesetze je unterschiedlicher Begründungen zum Verbot des Kopftuchs.

Tab. 2 Genannte Begründungen in den Gesetzestexten. (Quelle: Eigene Zusammenstellung)

Nur der Berliner Gesetzestext bezieht sich ausschließlich auf die Neutralität und schließt alle „sichtbaren“ religiösen Symbole ein. In Bremen steht die Notwendigkeit, die Neutralität der Schulen zu sichern, im Mittelpunkt der Gesetzesbegründung. In allen anderen Vorschlägen wird – mit Ausnahme Niedersachsens – auf eine Kombination der vier genannten Faktoren Bezug genommen. Deutlich wird dabei, dass die Verknüpfung des Verbots religiöser Symbole mit dem Schulfrieden, den Grundwerten oder dem Bildungsauftrag des jeweiligen Landes einen ungleichen Umgang mit unterschiedlichen Religionen ermöglichen soll. So werden z. B. in Bayern „die christlich-abendländischen Bildungs- und Kulturwerte“ als Teil der verfassungsmäßigen Grundwerte definiert und im Saarland unterrichtet die Schule laut Schulgesetz „auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte“. In anderen Gesetzestexten finden sich ebensolche Formulierungen.

Als religiös neutral können nur die Gesetze in Berlin und Bremen gelten. Niedersachsen kann wegen des Verweises auf das Christentum als einer Grundlage des Bildungsauftrags in § 2 des niedersächsischen Schulgesetzes nicht hierzu gezählt werden. In allen anderen Gesetzen ist eine dezidierte Ausnahme für christliche (und jüdische) religiöse Symbole vorgesehen bzw. intendiert. Allerdings werden in den Gesetzen die Symbole nicht als solche benannt, sondern unter die „Bekundung“ oder „Darstellung“ christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte subsumiert, um diese dann als mit der Neutralität des Landes, der Landesverfassung oder dem Schulgesetz vereinbar bezeichnen zu können.

Dass eine ungleiche Behandlung unterschiedlicher Religionen tatsächlich das erklärte Ziel einiger politischer Akteure war, zeigen die Plenardebatten (s. auch Henkes und Kneip 2009a). Im Vergleich zwischen den Bundesländern sind die inhaltlichen Argumente zumindest bei zwei Parteien – CDU/CSU und Grüne – in jedem Land fast deckungsgleich. Differenzen innerhalb der FDP gab es zwischen den Landesverbänden nur nach Koalitions- oder Oppositionszugehörigkeit. Die einzige Partei, deren Redner je nach Landesverband deutlich unterschiedliche Positionen einnahmen, war die SPD (s. Tab. 3).

Tab. 3 Argumentationen in den Plenardebatten. (Quelle: Eigene Darstellung)

4.2.1 CDU/CSU

Die Wortbeiträge der CDU in den Plenardebatten lassen keine inhaltlichen Differenzen zwischen den südlicheren – vermeintlich stärker religiös geprägten – und den nördlicheren Bundesländern erkennen. Für die CDU als christlich-religiös geprägte Partei war es wichtig, eine Verbannung der christlichen Religion aus der öffentlichen Schule zu verhindern (NW PlPr. 13/99: 9895). Aus diesem Grund sollte das Neutralitätserfordernis nicht so ausgelegt werden, dass aus ihm eine strikte Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion folgen würde. Vielmehr kreisten die Argumente sowohl in den Gesetzesbegründungen selbst als auch in den Wortbeiträgen um drei andere Aspekte: den Wertegehalt des Kopftuchs in Bezug auf die Verfassung, die Bedeutung der religiösen Tradition und das Wertefundament der Gesellschaft.

Ausgangspunkt der Argumentation der CDU war die vermeintliche Mehrdeutigkeit des Symbols Kopftuch, die allerdings sehr eindeutig interpretiert wurde: Das Kopftuch könne zwar auch als religiöses Symbol verstanden werden, in erster Linie sei es aber ein politisches Symbol (s. z. B. BW PlPr. 13/62: 4399; NI PlPr. 15/23: 2424; RP PlPr. 14/103: 6887) – und die damit zum Ausdruck gebrachten Wertvorstellungen seien mit den Grundwerten der Verfassung nicht vereinbar. Die Redner folgten konsequent der Argumentation, dass die Religionen unterschiedlich gut mit der freiheitlichen Demokratie zu vereinbaren seien. Um dem Nachdruck zu verleihen, wurde das Tragen des Kopftuchs verbal mit Zwangsehen, Ehrenmorden und einem Abdriften in Parallelgesellschaften, ja letztlich mit der Einführung der Scharia in Verbindung gebracht (s. z. B. HE PlPr. 16/30: 1898). Das Kopftuch sei integrationshemmend und überdies mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht zu vereinbaren (zum Genderaspekt in der deutschen Kopftuchdebatte s. Rostock und Berghahn 2008). Die Unvereinbarkeit des Kopftuchs mit den Verfassungsgrundsätzen unterscheide dieses gerade von anderen Symbolen wie etwa dem Kreuz. So repräsentiere das Kreuz das „Christentum als Quelle unserer Kultur, daraus erwachsen Menschenrechte, Demokratie, Gewaltenteilung“ (SL PlPr. 12/669: 3684).Footnote 18 Eine Ungleichbehandlung der Religionen wurde dabei als verfassungskonform angesehen:

Das Bundesverfassungsgericht hat (…) anerkannt, dass bei der Gestaltung einer Verhaltensregelung Schultradition und die konfessionelle Zusammensetzung und Verwurzelung der Bevölkerung berücksichtigt werden darf. Im christlich geprägten Deutschland kann es dabei keine aus der Verfassung abgeleitete Verpflichtung geben, alle Religionen gleich zu behandeln. Eine Privilegierung christlicher Bildungs- und Kulturwerte ist daher aus unserer Sicht zulässig (Abg. Henkel (CDU), BE PlPr. 15/62: 5198).

Integrationspolitisch steht hinter den Argumenten der Union die Vorstellung, dass es für den Zusammenhalt der Gesellschaft wesentlich sei, das eigene Wertefundament klar herauszustellen und deren religiöse Quelle – das Christentum – sichtbar zum Ausdruck zu bringen.

Zusammenfassend lässt sich das politische Ziel der von der CDU eingebrachten Gesetze in aller Einfachheit wie folgt definieren: „Wir lassen alles, wie es war und wie es ist. Das Kopftuch bleibt verboten, und die christlichen Bezüge bleiben erhalten“ (McAllister, NI PlPr 15/23: 2426). Kennzeichnend für die Position der CDU ist damit dreierlei: die Betonung der (vermeintlich) politisch-fundamentalistischen Dimension des Kopftuchs, die Verteidigung der „christlich-abendländischen“ Traditionen der bundesdeutschen Gesellschaft und vor allem die weitgehende Missachtung des Gleichbehandlungsgebots der Religionen. Die CDU steht damit programmatisch in der Kopftuchfrage dem oben diskutierten Exklusionsmodell am nächsten.

4.2.2 FDP

Im Gegensatz zur klaren Position der CDU waren die Argumente der FDP-Fraktionen deutlich stärker von Koalitionsgegebenheiten und damit von parteipolitischen Überlegungen geprägt. Die Argumente der Redner, die sich aus der Opposition heraus gegen entsprechende Gesetze aussprachen, weisen darauf hin, dass die Liberalen durchaus ein laizistisches Staats-Religions-Modell bevorzugen. So lehnte die Berliner FDP das dortige Gesetz nur wegen der ihrer Meinung nach schlechten Ausführungsbestimmungen ab und in der Debatte in Hessen wurde „bedauert“ (HE PlPr. 16/45: 3005), dass Deutschland nicht dem französischen Modell folge. In den drei Fällen, in denen die FDP mit der Union zusammen regierte, wurde hingegen deutlich betont, dass Laizismus nicht das Ziel der FDP sei (z. B. BW PlPr. 13/62: 4397).

Instruktiv für diese zwiespältige Haltung der FDP ist das Verfahren in Nordrhein-Westfalen. Hier gab es gleich zwei Anläufe für ein Kopftuchverbotsgesetz seitens der CDU. In der 13. Legislaturperiode lehnte die damals oppositionelle FDP den Entwurf der ebenfalls oppositionellen CDU wegen der darin vorgesehenen Privilegierung des Christentums mit deutlichen Worten ab. Nach der Landtagswahl 2005 bildeten CDU und FDP eine Regierungskoalition und brachten gemeinsam eine Änderung des Schulgesetzes in den Landtag ein. Die darin enthaltenen Vorschläge zur Änderung des § 57 des Schulgesetzes waren (fast) wortgleich mit dem früheren CDU-Antrag. In den Plenarbeiträgen des FDP-Abgeordneten Gerhard Papke wurde das Kopftuch nun sehr drastisch als Symbol des politischen Islamismus gewertet und in Bezug zu Scharia und Parallelgesellschaft gesetzt (z. B. NW PlPr. 14/31: 3347). In der Ausnahmeformulierung zugunsten christlicher Symbole wurde nun keine unzulässige Ungleichbehandlung der Religionen mehr gesehen, da es sich hierbei ja um Elemente einer Kulturtradition handele, die sich im Grundgesetz und in der Landesverfassung wiederfinde.

Diese ambivalente Positionierung lässt sich für die gesamte FDP konstatieren. Während manche Vertreter der Partei religiöse Pluralität auch unter dem Gesichtspunkt der Integration in den öffentlichen Institutionen zulassen und nur über das Dienstrecht in Einzelfällen eingreifen wollten, argumentierten andere, dass gerade auf Grund der gesellschaftlichen Heterogenität der öffentliche Bereich vollends von religiösen Bekundungen frei bleiben sollte. Inwieweit dies dann für alle Religionen gleichermaßen gelten sollte, zeigte sich als abhängig von der jeweiligen Regierungsbeteiligung. Im Grunde vertraten die Liberalen damit alle drei religionspolitischen Paradigmen: Spielten koalitionspolitische Erwägungen keine Rolle, sprachen sie sich entweder für strikte oder offene Neutralität aus. Kamen solche Erwägungen allerdings ins Spiel, wurden diese Positionen zugunsten des Exklusionsmodells des Koalitionspartners geopfert.

4.2.3 Die Grünen

Anders als die FDP vertrat die Partei der Grünen eine über die Landesfraktionen hinweg kohärente Position: Alle Landtagsfraktionen lehnten die eingebrachten Kopftuchverbotsgesetze ab. Dies wurde mit Argumenten begründet, die sich auf Integrationsfragen, die Ungleichbehandlung der Religionen und die Diskriminierung muslimischer Frauen bezogen.

In ihrer Mehrzahl sprachen sich die Grünen gegen eine Einschränkung der offenen Neutralität aus. Die Zulassung religiöser Symbole in der Schule sei notwendig, weil auch dort die Heterogenität der Gesellschaft abgebildet werden müsse (SH PlPr. 15/130: 10132). Die vorgeschlagenen Gesetze seien hingegen geeignet, die betroffene Gruppe auszugrenzen und gerade jene Parallelgesellschaft zu schaffen, die eigentlich verhindert werden solle. Alleine die grüne Landtagsfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin plädierte für einen strikt neutralen Gesetzentwurf, lehnte das Berliner Gesetz letztlich aber wegen Unklarheiten in der konkreten Formulierung ab (BE PlPr. 15/62: 5200 f.).

Die in der Mehrzahl der Gesetze intendierte Zulassung christlicher Symbole wurde von den Grünen nicht nur wegen eines möglichen Verfassungsverstoßes abgelehnt, sondern auch wegen ihrer befürchteten Wirkung auf die Integration (z. B. HE PlPr. 16/49: 3326). Gerade diese Ungleichbehandlung führe zu einer Abschottung der muslimischen Minderheit und verstärke die entsprechenden Abgrenzungsprozesse. Auch eine strikte Neutralität ist nach der überwiegenden Meinung der Grünen der Integration religiöser Minderheiten nicht dienlich.

Zusätzlich wurde in einem „Anti-Kopftuch-Gesetz“ ein Diskriminierungstatbestand gegenüber Frauen gesehen, da nur diese – und nicht muslimische Männer – betroffen seien. Die in anderen Fraktionen überwiegende (CDU) oder zumindest teilweise geteilte (SPD, FDP) Deutung des Kopftuchs als Symbol der Frauenunterdrückung durch patriarchale Strukturen wurde von grüner Seite in den Landtagen kaum thematisiert. Wenn dieser Aspekt aber doch angesprochen wurde (BY PlPr. 15/27: 1817), dann mit der ganz konträren Unterstellung, dass das Verbot des Kopftuchs eine kontraproduktive Strategie sei, da dadurch gerade die Personen betroffen seien, die als Beispiele für Emanzipation und Überwindung dieser gesellschaftlichen Strukturen stehen könnten.

Von allen Parteien traten die grünen Landtagsfraktionen – gerade auch mit integrationspolitischen Argumenten – am deutlichsten für eine Beibehaltung des deutschen Konzepts der offenen Neutralität und damit für die Anerkennung aller Religionen ein.

4.2.4 SPD

Als extrem uneinheitlich stellte sich schließlich das Argumentationsverhalten der SPD-Fraktionen dar; so vielschichtig wie das Abstimmungsverhalten selbst waren auch die vorgebrachten Argumente. Für die SPD lassen sich vier Gruppen unterscheiden:

  1. 1.

    Regierungen mit SPD-Beteiligung, die ein Neutralitätsgesetz einbringen (BE, HB).

  2. 2.

    Oppositionelle SPD-Fraktionen, die einem Kopftuchverbot nach Regierungsantrag zustimmen (BW, SL).

  3. 3.

    Regierungen mit SPD-Beteiligung, die keinen eigenen Entwurf vorlegen oder einen Antrag der Opposition auf ein Kopftuchverbot ablehnen (RP, SH).

  4. 4.

    Oppositionelle SPD-Fraktionen, die den Regierungsantrag auf ein Kopftuchverbot ablehnen (BY, HE, NI, NRW).

Besonders die integrationspolitischen Argumente unterschieden sich auf SPD-Seite deutlich. Vertreter der ersten beiden Varianten sahen es als für die Integration förderlich an, das Kopftuch zu verbieten. Gerade innerhalb der ersten Gruppe (BE, HB) wurde aber die integrationspolitische Zielsetzung eines neutral formulierten Gesetzes hervorgehoben: Angesichts der religiösen Heterogenität müssten alle Bekenntnisse im öffentlichen Raum gleich behandelt werden.

Die Argumente der oppositionellen Sozialdemokraten in Baden-Württemberg und im Saarland entsprachen hingegen weitgehend der Position der CDU-Fraktionen in diesen Ländern. Die Deutung des Kopftuchs als politisches Symbol des frauenfeindlichen Islamismus wurde von ihnen geteilt und ein Verbot als integrationspolitisch geboten angesehen, um einer Parallelgesellschaft vorzubeugen. Unentschieden waren die SPD-Abgeordneten aber offenkundig darin, ob – wie von der CDU postuliert – mit den christlichen Werten auch christliche Symbole und deren Bekundung zulässig bleiben sollten (BW PlPr. 13/67: 4715).

Wo die SPD-geführten Regierungen einen entsprechenden Antrag der oppositionellen Christdemokraten ablehnten und für eine Einzelfallregelung über das Beamtenrecht plädierten (SH, RP), traten die integrationspolitischen Argumente am stärksten hervor. Gerade hier wurde für den Fall eines Verbots des Kopftuchs vor der Gefahr des Rückzugs in eine abgeschottete Parallelwelt gewarnt und die Anerkennung des Kopftuchs als Integrationsmöglichkeit für sich emanzipierende Frauen gesehen. Für die SPD-Fraktionen in Bayern, Hessen und (ab 2005) in NRW wiederum war die Frage der Gleichbehandlung der Religionen zentraler Grund ihrer ablehnenden Haltung. Sie teilten die Befürchtung, dass durch eine intendierte Bevorzugung des Christentums die Abschottungstendenzen der muslimischen Bevölkerung gestärkt würden und/oder es über anschließende Gerichtsentscheidungen zu einer Verbannung aller religiösen Symbole aus dem Schulbereich kommen könnte.

Entsprechend ihrer Programmatik lehnten die SPD-Fraktionen in ihrer Mehrheit die Anträge der konservativen Konkurrentin CDU ab – und dies mit zum Teil drastischer Wortwahl in den Debatten. Ausnahmen hiervon stellten nur die Fraktionen in Baden-Württemberg und im Saarland dar, die offenbar davor zurückschreckten, ihre überwiegend christlich geprägte Wählerschaft durch eine religiös neutrale Position zu verunsichern (vgl. auch Blumenthal 2009, S. 163). Inhaltlich spannten sich die Positionen der Sozialdemokraten also über das gesamte Spektrum von strikter Neutralität über exklusive Regelungen zugunsten christlicher Werte (jedoch nicht christlicher Symbole) bis zu offener Neutralität gegenüber allen religiösen Symbolen. Gemeinsam ist den SPD-Fraktionen aber eine zumindest implizite Ablehnung der Ungleichbehandlung der Religionen.

4.2.5 Erklärungsfaktoren und parteipolitische Leitbilder

Sowohl das Zustandekommen als auch der konkrete Inhalt der Kopftuchgesetze lassen sich auf zwei Erklärungsfaktoren zurückführen: 1) die integrations- und religionspolitischen Positionen der Parteien und 2) den sich daraus ergebenden Parteienwettbewerb. So war es der erklärte politische Wille der CDU, ein Verbot des Kopftuchs bei einer gleichzeitigen Zulassung christlicher Symbole zu erreichen. Ein aus ihrer Sicht der Verfassung widersprechendes „politisches“ Symbol sollte im öffentlichen Dienst verboten werden. Diese politische Konnotation des Kopftuchs war für die Argumentation der Unionsparteien zentral, denn nur dadurch konnten andere – rein religiöse – Symbole weiterhin zugelassen bleiben. Die deklaratorische Nennung der abendländischen Werte und Traditionen erfüllte erkennbar auch den Zweck, Elemente einer gesellschaftlichen Leitkultur zu benennen und zumindest für den Bereich der Schule in Gesetzesform zu gießen. Besonders dieser politisch gewollten Ungleichbehandlung widersprachen die anderen Parteien entweder völlig (Grüne) oder teilweise (SPD, FDP). SPD-geführte Landesregierungen zielten auf eine Gleichbehandlung aller Religionen – entweder in Form einer Beibehaltung der bestehenden Dienstrechtsregelung oder in Form eines an strikterer Neutralität orientierten Gesetzes. Im Fall der FDP wurde die programmatische Position immer dann zweitrangig, wenn sie mit der CDU eine Landesregierung bildete. Die Grünen wiederum, die im Untersuchungszeitraum nur an der schleswig-holsteinischen Landesregierung beteiligt waren, zeigten sich programmatisch kohärent und lehnten konsequenterweise in allen Landtagen die Einführung eines Kopftuchverbotsgesetzes ab.

Besonders die CDU-Fraktionen wollten das bestehende, wohlwollend-pluralistische Modell der Beziehungen zwischen Staat und Religion nicht auf den – von ihnen als politisch verstandenen – Islam ausdehnen und hatten die Absicht, das Modell exklusiver zu gestalten. Ein Exklusivrecht für das Christentum sollte garantieren, dass nur bestimmte Religionen im staatlich-öffentlichen Raum Ausdruck finden. Im Gegensatz zur mittlerweile liberalisierten Staatsbürgerschaftspolitik sollte zumindest auf kultureller Ebene eine Schließung der deutschen Gesellschaft gewährleistet werden (vgl. Liedhegener 2005, S. 1197; Henkes 2008, S. 133). Fast geschlossen traten die grünen Fraktionen diesem Ansinnen entgegen und favorisierten das ursprüngliche religionspolitische Leitbild des pluralistischen Modells, das – auch aus integrationspolitischen Gründen – für alle Religionen gleichermaßen gelten sollte. Sowohl in der SPD als auch in der FDP war das programmatische Modell einer strikteren Trennung von Staat und Religion deutlich stärker vertreten. Programmatischer Ausgangspunkt der SPD war die erforderliche Gleichbehandlung aller Religionen, was mit den dies gewährleistenden Leitbildern der strikten und der offenen Neutralität korrespondiert. In den Ländern, in denen die FDP nicht in Koalitionen mit der CDU eingebunden war – also entweder Oppositionspartei war oder mit der SPD regierte –, vertrat sie eine sehr ähnliche Position wie die SPD.

Die Kopftuchverbotsdebatten offenbaren einen speziellen Fall von sich überlappenden gesellschaftlichen Konfliktstrukturen in der Integrations- bzw. Religionsfrage (sog. „cross-cutting-cleavages“, vgl. Lipset und Rokkan 1967): Hinsichtlich ihrer Programmatik in der Integrationspolitik können SPD, FDP und Grüne eher dem libertären Pol (Toleranz für kulturelle Vielfalt), die CDU eher dem autoritären Pol (kulturelle Homogenität) zugeordnet werden. Integrationspolitisch sollten Sozialdemokraten, Liberale und Grüne also „neuen“ Religionen und ihren Symbolen gegenüber aufgeschlossen sein. Zugleich neigen SPD und FDP in der Konfliktlinie Staat-Kirche aber eher einem religionskritischen, strikten Neutralitätsverständnis zu,Footnote 19 während CDU und Grüne dem religiös-kirchlichen Pol deutlich näher stehen – die Union aus ihrer eigenen christlichen Tradition heraus, die Grünen wegen ihres grundsätzlichen Respekts vor dem kulturell und religiös Anderen sowie wegen ihrer in Teilen der Partei starken Verbindungen zur evangelischen Kirche. Bei den Unionsparteien dominiert folgerichtig das Prinzip der offenen Neutralität, das aber vor allem für christliche Symbole reserviert bleiben soll. Die Grünen können problemlos die Pole libertär (in der Integrationsfrage) und offene Neutralität (in der Religionsfrage) verbinden – einzige Ausnahme bleibt der strikt laizistisch orientierte Berliner Landesverband – und argumentieren daher für das Prinzip offener Neutralität für alle Religionen. Während die FDP den Widerspruch zwischen libertärer Integrationspolitik und religionskritischem Standpunkt machtstrategisch löst, bringen die sozialdemokratischen Landesverbände die programmatischen Widersprüche auf sehr unterschiedliche Art und Weise zum Ausgleich: mal durch Nicht-Handeln, mal durch Parteinahme für offene, mal für strikte Neutralität.

Die Ursache für den unterschiedlichen Umgang mit der Kopftuchfrage ist also vor allem in den politischen Programmatiken der Parteien, dem Umgang mit Widersprüchen innerhalb dieser Programmatiken und den kontingenten Mehrheitsverhältnissen in den Bundesländern zu suchen. Immer dann, wenn die CDU im Westen (mit Ausnahme Hamburgs) eine Koalition dominierte, kam es zu einem Kopftuchverbot bei gleichzeitig intendierter Besserstellung christlicher Symbole; war die SPD an der Regierung beteiligt, kam es entweder zu keiner gesetzlichen Regelung oder zu einer strikt religiös neutralen. Die unterschiedlichen religionspolitischen Integrationsvorstellungen der Parteien haben damit dazu geführt, dass die Bundesrepublik heute in der Kopftuchfrage eine dreigeteilte Gesetzeslandschaft ist. Die unionsregierten Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland entschieden sich entsprechend ihrer religions- und integrationspolitischen Vorstellungen dafür, ein exklusiv christliches Modell zu etablieren, das – zumindest der Intention der jeweiligen Gesetze nach – christliche Bekundungen durch Lehrerinnen und Lehrer weiterhin zulassen sollte. Das rot-rot regierte Berlin ging den entgegengesetzten Weg und verabschiedete eine strikte Neutralitätsregelung, die alle religiösen Bekundungen von Lehrerinnen gleichermaßen verbot. Auch Bremen folgte zumindest formal diesem Weg. Alle anderen Länder blieben der offenen Neutralität verhaftet, indem sie kein spezielles Gesetz verabschiedeten und religiöse Symbole im Schuldienst grundsätzlich zuließen.

Damit war die „Kopftuchfrage“ aber noch nicht abschließend geklärt. Ob die gefundenen gesetzlichen Regelungen mit den Anforderungen der rechtsstaatlich-liberalen Demokratie vereinbar waren, musste in einer „dritten Runde“ – wieder durch die Gerichte – geklärt werden.

4.3 Der Kopftuchstreit in der dritten Runde: von offener Neutralität zu (nicht intendiertem) Laizismus

Am 24.06.2004 entschied der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts, dass „auf der Grundlage des 2004 geänderten baden-württembergischen Schulgesetzes (…) die Einstellung als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen abgelehnt werden [darf], wenn die Bewerberin nicht bereit ist, im Unterricht auf das Tragen eines ‚islamischen Kopftuches‘ zu verzichten“ (Urteil des BVerwG vom 24.06.2004, AZ.: 2 C 45/03, Leitsatz).

Ebenso eindeutig betonte das Gericht allerdings, dass eine unterschiedliche Behandlung verschiedener Bekenntnisse nicht mit der Verfassung und den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vereinbar sei. Die im baden-württembergischen Gesetzestext erwähnte „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“ müsse dahingehend verfassungskonform ausgelegt werden, dass mit ihr keine unzulässige Bevorzugung der christlichen Konfession verbunden sei.

Das Erfordernis strikter Gleichbehandlung aller religiösen Bekenntnisse einerseits und die vom Gericht getroffene Unterscheidung zwischen der Darstellung christlicher Werte im Sinne der Anerkennung prägender Kulturfaktoren (die zulässig bleibt) und der individuellen Bekundung durch einen Lehrer (die nicht zulässig ist) andererseits führten im Ergebnis dazu, dass die im Gesetz gewollte Vorzugsbehandlung christlicher Werte folgenlos bleibt. Bei einem Verbot des Kopftuches muss ebenso ein Verbot des Nonnenhabits und der jüdischen Kippa in der Schule erfolgen.Footnote 20

Dieser Trend zur „Laizisierung“ der deutschen Schulverfassungen blieb kein Einzelphänomen, wie der Blick auf die übrigen nach 2004 ergangenen Urteile zeigt (vgl. Tab. 4). In siebzehn Fällen untersagten die Gerichte das Tragen des Kopftuchs, erstreckten jedoch das Verbot religiöser Symbole auf alle Religionen gleichermaßen.Footnote 21 In fünf von insgesamt 22 ergangenen Urteilen hielt ein Gericht eine Zulassung des Kopftuches im Unterricht für verfassungskonform. Vier der fünf erfolgreichen Klagen betrafen die Frage der Zulassung zum Vorbereitungsdienst; eine Klage hatte Erfolg, weil das Gericht eine einseitige Praxisanwendung zugunsten christlicher Lehrer für gegeben ansah.

Tab. 4 Verfahren zur Kopftuchfrage nach dem Jahr 2004. (Quelle: Eigene Darstellung; die Entscheidungsdaten der aufgeführten Urteile finden sich in Henkes und Kneip 2009b, S. 35)

Die Aufnahme einer kopftuchtragenden Bewerberin in den Vorbereitungsdienst stellt eine Sondersituation dar, da bei der Lehrerausbildung in der Bundesrepublik ein staatliches Ausbildungsmonopol vorliegt. Während in den meisten Ländern die Möglichkeit einer Ausnahmeregelung im Einzelfall eröffnet wird, gilt dies nicht für das Saarland, wo keine Ausnahmeregelung erwähnt ist, und nur bedingt für Bremen, wo eine Ausnahme für Referendarinnen nicht gestattet wird, wenn diese Unterricht erteilen.

Nach einer Reihe widersprüchlicher Urteile entschied das Bundesverwaltungsgericht diese Frage letztinstanzlich anhand eines Falles aus Bremen. Es urteilte, dass innerhalb des staatlichen Ausbildungsmonopols eine abstrakte Gefährdung durch das Kopftuch für eine Ablehnung der Bewerberin nicht ausreiche. Eine entsprechende Auslegung des Bremischen Schulgesetzes, wie sie die Vorinstanz (OVG Bremen) vorgenommen hatte, komme einer verfassungswidrigen Berufszulassungsschranke gleich und verstoße nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Die Schulbehörde habe nun zu prüfen, ob der Ausbildung der Klägerin eine konkrete Gefahr der Störung des Schulfriedens entgegenstehe. Sei dies nicht der Fall, sei das Kopftuch zuzulassen (BVerwG, AZ. 2 C 22.07). Ein Verbot des Kopftuches darf im Vorbereitungsdienst damit nur in Fällen konkreter Gefährdungen anderer Grundrechte erlassen werden.

Für bereits im Schuldienst tätige Pädagoginnen gelten diese Grundsätze jedoch nicht. Alle mit den neu gefassten Landesgesetzen befassten Fachgerichte erklärten diese für vereinbar mit den Vorgaben der Verfassung und deren Auslegung durch Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht. Der Gesetzgeber, so die Gerichte unisono, dürfe bereits abstrakten Gefahren für Neutralität und Schulfrieden vorbeugen, ohne abwarten zu müssen, ob sich Gefahren konkret manifestieren. Das Kopftuch stelle einen Eignungsmangel im Sinne des jeweiligen Gesetzes dar, weil es im Lichte des „objektiven Empfängerhorizonts“ religiöse Positionen zum Ausdruck bringe, die bereits abstrakt geeignet seien, den Schulfrieden zu stören.Footnote 22

Ebenso einig sind sich die Gerichte aber auch darin, dass keine – wie auch immer geartete – Ungleichbehandlung unterschiedlicher Konfessionen zulässig ist. Nach Auffassung der Gerichte stellt etwa der Nonnenhabit gerade keine „Berufsbekleidung“ dar, sondern ist eindeutig als religiöses Symbol zu kennzeichnen (so z. B. VerwGH BaWü). Die Gleichbehandlung muss darüber hinaus in Begründung und Praxis erfolgen (VG Düsseldorf I u. II). Etwaig anders formulierte (oder vom Gesetzgeber anders gemeinte) Regelungen in den Landesgesetzen sind entsprechend verfassungskonform auszulegen; falls der Gesetzgeber mit seinen Regelungen eine Bevorzugung des Christentums beabsichtigt haben sollte, so die Gerichte, verstoße dies gegen die strikte Gleichbehandlung der Religionen.Footnote 23

Die einzigen Gerichte, die von dieser kohärenten Rechtsprechung abweichen, sind die beiden Landesverfassungsgerichte in Bayern und Hessen. So meint etwa der bayerische Verfassungsgerichtshof, dass es dem Gesetzgeber zustehe, bestimmte Kleidungsstücke zuzulassen, die „zwar eine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung ausdrücken, aber mit den Grundwerten und Bildungszielen der Verfassung vereinbar sind“ (Entscheidung des BayVGH vom 15.01.2007, AZ.: Vf.11-VII-05, Rdnr. 52). Diese Auslegung widerspricht eindeutig der hier dargelegten Rechtsprechung von Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht und der Fachgerichte. Dasselbe trifft auf die Ausführungen (der Mehrheit) der hessischen Verfassungsrichter zu, wenn diese meinen, der Gesetzgeber sei frei, christliche Bekleidung und Symbole zuzulassen, solange diese nicht die Neutralität und den Schulfrieden störten (Urteil HessStGH, 10.12.2007, AZ.: P.St. 2016, Rdnr. 91). Die Urteile verweisen auf ein prinzipielles Problem der Landesverfassungsgerichtsbarkeit in beiden Bundesländern: Da die Mitglieder beider Gerichte – anders als etwa jene des Bundesverfassungsgerichts – mit einfacher Mehrheit des jeweiligen Landtages gewählt werden, spiegelt sich in ihrer Zusammensetzung – und mitunter auch in ihren Urteilen – nicht selten die jeweilige politische Mehrheit des Landes. Im hessischen Fall dokumentieren die Minderheitsvoten auf bemerkenswerte Weise die grundlegende Spaltung der Richter entlang der Parteigrenzen.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Fachgerichte für eine kohärente Rechtsprechung in der Kopftuchfrage sorgen, indem sie die von Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht vorgegebenen Maßstäbe in gleicher Weise anwenden – und damit in der „dreigeteilten Gesetzeslandschaft“ eine einheitliche Rechtsanwendung gewährleisten. Alle Gerichte halten die neu erlassenen Landesgesetze so lange für verfassungs- und rechtskonform, wie Gleichheit, Systemgerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit gewahrt werden – und dies ist nur so lange gegeben, wie alle religiösen Bekenntnisse gleichermaßen von der Gesetzesbegründung und Praxisanwendung erfasst werden.

Es kann damit auch festgehalten werden, dass die (Fach-)Gerichte das Ansinnen der politischen Akteure, christliche Symbole entgegen der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Gesetzgebung faktisch doch zu bevorzugen, konterkariert haben. Die Gerichte haben sich nicht auf die Argumentation der Politik eingelassen, nur das Kopftuch könne gegen die Neutralitätspflicht verstoßen (während christliche Symbole dies nicht täten), sondern haben unmissverständlich deutlich gemacht, dass unter einer abstrakt formulierten gesetzlichen Regelung eine Ungleichbehandlung unterschiedlicher Religionen und Bekenntnisse rechts- und verfassungswidrig wäre. Dem Gesetzgeber war freigestellt, das Neutralitätsgebot neu zu fassen und von einem Konzept der offenen zu einem der strikteren Neutralität zu gelangen. Er war aber nicht frei darin, bestimmte Religionen von dieser strikten Neutralität wieder auszunehmen. Die von manchen gewollte Privilegierung christlicher Symbole führt damit im Ergebnis dazu, dass diesen nun weit weniger Raum in der Schule zukommt, als dies vor dem Streit um das Kopftuch der Fall war – sie erwies sich als Schritt hin zu einem unintendierten Laizismus.

5 (Demokratietheoretische) Schlussfolgerungen

Die sich im „Kopftuchstreit“ manifestierende Neuaushandlung der Regulierung kultureller und religiöser Heterogenität in Deutschland hat durch die neu gefassten landesgesetzlichen Regelungen und ihre Auslegung durch die Fachgerichte ein – vorläufiges – Ende gefunden. Drei Ergebnisse dieses Prozesses verdienen es, nochmals besonders betont und festgehalten zu werden:

Erstens ist gezeigt worden, dass in der Frage der Zulassung des islamischen Kopftuches die Parteiendifferenzhypothese greift und das Ergebnis erklären kann. Der klassische Parteienwettbewerb in den Bundesländern sorgt dafür, dass sich zunächst alle drei Varianten der relevanten integrationspolitischen Leitbilder in den Gesetzen auf Länderebene wieder finden. Die sozialdemokratisch geführten Länder folgen dabei vor allem zwei Leitbildern: der offenen Neutralität einer Politik der Anerkennung (die kein spezifisches Verbotsgesetz nach sich zieht) sowie der strikten Neutralität eines universalistischen Modells (das per Gesetz alle religiösen Bekundungen gleichermaßen aus der Schule ausschließt). Die Position der Grünen lässt sich eindeutig dem offenen Neutralitätsmodell zuordnen; die FDP macht ihr Abstimmungsverhalten von machtpolitischen Opportunitäten abhängig. Im Gegensatz dazu verfolgen die christdemokratischen Landesregierungen (und Fraktionen) erkennbar die von uns als zweite Variante eines Ausnahmerechtsparadigmas vorgestellte religionspolitische Strategie einer Bevorzugung der Mehrheitsreligion des Christentums (Exklusionsmodell). Verbal berufen sich die Unionsparteien auf ein „republikanisches“ Bürgerverständnis (vgl. hierzu Gerdes und Faist 2006; Stein 2008), vor dessen gemeinsamer Wertegrundlage auch die einzelnen Religionen bestehen müssten. Faktisch führt dies zu einem kulturellen Dominanzmodell, das zumindest in der rechtlich-politischen Sphäre mit den Reformen im Einbürgerungs- und Staatsangehörigkeitsrecht überwunden zu sein schien (vgl. Heckmann 2003). Das Kopftuch als vermeintlich politisches Symbol wird für die Union zum Zeichen all derjenigen negativen politischen Erscheinungen, die an der multikulturellen Gesellschaft abgelehnt werden.

Die von der Union gewünschte Ungleichbehandlung der Religionen ist aber – dies ist das zweite zentrale Ergebnis der vorliegenden Untersuchung – unter den Bedingungen einer rechtsstaatlich-liberalen Demokratie nicht durchzusetzen. Die Fachgerichte haben – wie auch das Bundesverfassungsgericht – eine strikte Gleichbehandlung der Religionen angemahnt und die politisch gewollte Ungleichbehandlung für mit der liberalen Rechtsordnung der bundesdeutschen Demokratie unvereinbar erklärt. Damit führt der politische Versuch, das Christentum bewusst zu bevorzugen, im Ergebnis zu einer laizistisch-strikten Neutralität gerade in den Bundesländern, in denen politisch das Exklusionsmodell durchgesetzt werden sollte. In Teilen lässt sich also ein Wandel der bundesdeutschen Verfassungsordnung beobachten: An die Stelle offener Neutralität und der Anerkennung religiöser Symbole im öffentlichen Raum tritt nun – unintendiert – mancherorts das Modell einer eher strikten, laizistisch orientierten Neutralität (in der Schule), die bislang nicht das Modell des deutschen Grundgesetzes gewesen ist.

Das dritte, demokratietheoretisch bedeutsame Ergebnis besteht in der Erkenntnis, dass in der rechtsstaatlichen Demokratie auch die Gerichte das Funktionieren demokratischen Regierens sicherstellen (müssen). Während die politischen Akteure im vorliegenden Fall je nach ideologischer Ausrichtung und parlamentarischen Mehrheiten Regelungen trafen, die auf mitunter verfassungswidrige Weise in die „Sperrzone“ bürgerlicher Rechte eindrangen und die Religionsfreiheit einer bestimmten Gruppe von Bürgern gleichheitswidrig einzuschränken versuchten, waren es die Gerichte, die diese Einschränkungen aufhoben und die gleiche Geltung des „Urrechts“ der Bekenntnisfreiheit über den Weg rechtsstaatlicher Verfahren wieder herstellten.Footnote 24 Hieran zeigt sich exemplarisch der zentrale Beitrag der Gerichtsbarkeit für das Funktionieren demokratischer Systeme: Über die Mechanismen horizontaler Gewaltenkontrolle wurde verhindert, dass demokratisch legitimierte Akteure über Mehrheitsverfahren verfassungsrechtlich verbriefte Rechte einer Minderheit gleichheitswidrig einschränkenFootnote 25 – und damit die Demokratie insgesamt beschädigen. Rechtsstaatlich-liberale Demokratien, so lautet die allgemeine Schlussfolgerung aus dem Diskutierten, sind geradezu darauf angewiesen, dass auch demokratisch korrekt zustande gekommene Entscheidungen einer (verfassungs-) gerichtlichen Überprüfung offenstehen. Nur so wird aus reiner Mehrheitsherrschaft tatsächlich Demokratie.

Als Ironie der Geschichte mag vielleicht erscheinen, dass das demokratiefunktionale Einschreiten der Fachgerichte nur deswegen notwendig wurde, weil das Bundesverfassungsgericht es den jeweiligen Landesgesetzgebern durch sein – in einzelnen Punkten doch recht interpretationsoffenes – Urteil erst ermöglichte, Gesetze zu erlassen, die faktisch ein Ausnahmerecht für die autochthone christliche Religion vorsahen. Hätte das Bundesverfassungsgericht gleich – wie es seiner Funktion im demokratischen Gewaltenteilungssystem vielleicht besser entsprochen hätte (vgl. Kneip 2009) – verbindlich entschieden, wie mit dem Kopftuch einer Lehrerin umzugehen ist, hätte es dem Integrationsanliegen in Zeiten zunehmender religiöser Heterogenität einen großen Dienst erweisen können.Footnote 26 Stattdessen hat es das Gericht in guter Absicht und im Sinne einer – unserer Ansicht nach allerdings falsch verstandenen – demokratischen Funktionsteilung den demokratisch direkter legitimierten Gesetzgebern ermöglicht, nach eigener Einschätzung auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Dass dies dann zum Teil auf gleichheitswidrige Art und Weise geschah, ist für die liberale Demokratie von Nachteil gewesen, jedoch nicht dem Bundesverfassungsgericht anzulasten.