Walter Siebel hat zusammen mit Hartmut Häußermann (1988) als erster das Thema „Schrumpfen“ auf die Tagesordnung der Soziologie gebracht, was damals ein höchst weitsichtiger und „politisch inkorrekter“ Vorstoß war. Noch Ende 2002, als ich als Senior Fellow des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen mich entschloss, das Thema meines öffentlichen Vortrags dem Bevölkerungsrückgang zu widmen, konnte ich unwidersprochen formulieren: „Bevölkerungsrückgang: Tabu und Investitionslücke“. Im Herbst 2003 wurde dann die politische Hemmschwelle überwunden, und mit seiner gut recherchierten Titelgeschichte „Land ohne Lachen“ brachte der Spiegel zum Jahresbeginn 2004 das Thema auch in die breitere Öffentlichkeit, aus der es erst die Finanzkrise wieder verdrängt hat. In der Soziologie haben – soweit ich sehe – nur der leider inzwischen verstorbene Karl Otto Hondrich (2007) und ich (Kaufmann 2005, 2008) dem Thema größere Studien gewidmet, und zwar, wie Siebel zu Recht hervorhebt, mit konträren Perspektiven und Schlussfolgerungen.

Siebel basiert seinen Essay im wesentlichen auf der Lektüre dieser beiden Autoren. Leider hat er die Möglichkeit versäumt, beide explizit gegeneinander antreten zu lassen.Footnote 1 Während er für seine Argumentation meine Primärstudie ausgiebig heranzieht, sodass man sich als Autor selbst dort freut, wo man nicht ausdrücklich zitiert wird, werden die analytisch interessantesten Argumente von Hondrich nicht eingebracht. Dessen Ausführungen liegt ein evolutionäres Weltbild zugrunde, demzufolge „die soziale Evolution über die Selbststabilisierung von funktionalen Teilsystemen funktioniert“, denn „Jede Lebenssphäre […] sorgt für sich selbst – und nimmt dabei von den anderen, was sie benötigt.“ (Hondrich 2007, S. 26 f.) Wenn in den letzten Jahrzehnten in ganz Europa die Geburten zurückgehen, so muss das nach Hondrich einen evolutiven Sinn haben, gegen den Politik, „nur ein Mosaikstein in einem größeren kulturellen Wirkungszusammenhang“, kaum etwas vermag. Vielmehr sei von einer „Arbeitsteilung zwischen reproduktiven und produktiven Kulturen“ auszugehen, wobei der Ausgleich im wesentlichen über Wanderungsbewegungen erfolge (Hondrich 2007, S. 95).

Siebel argumentiert vordergründiger. Seine summarische Darstellung der demographischen Trends ist korrekt, und auch die Systematisierung der behaupteten Folgen eines langfristigen Bevölkerungsrückgangs entspricht durchaus meinen Einschätzungen. Nur: Warum soll es sich hier um „Katastrophenszenarien“ handeln, wie der Titel des Abschnitts suggeriert? „Kaufmann folgert aus all dem ‚zunehmende, […] soziale Unruhen, neue extremistische Parteien, kollektiver Vertrauensverlust, vielleicht auch kollektive Erstarrungserscheinungen‘“, schreibt Siebel (Hervorhebung von mir). Ich erlaube mir den Kontext dieses Zitats vollständig wieder zu geben: „Was heute bereits für erhebliche Teile Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsen-Anhalts gilt, könnte sich wie ein Ölfleck allmählich in Deutschland ausbreiten. Das flache Land entvölkert sich, nur die Regionen um die Großstädte bleiben attraktiv und müssen den Unterhalt für den Rest der Republik erwirtschaften. Immobilienkapital entwertet sich in großem Umfang, die Binnennachfrage stagniert. Die öffentlichen Haushalte sind nicht mehr auszugleichen, ihre Kreditwürdigkeit sinkt. Soweit lassen sich die Wirkungsketten mit einiger Sicherheit voraussehen. Welche politischen und sozialen Weiterungen daraus entstehen, lässt sich nur ahnen: zunehmende Verarmung […]“ (Kaufmann 2005, S. 166 f.). Ich unterscheide also deutlich zwischen absehbaren und möglichen Folgen und geißle in der Folge einen „demographischen Fatalismus“ der „die Bevölkerungsentwicklung wie ein Naturereignis auf(fasst), das man nicht ändern, dem man sich nur anpassen kann.“ Mit Siebel (und gegen Hondrich) plädiere ich für familien-, bildungs-, migrations-, wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen, wobei sich die Argumentation von derjenigen Siebels nicht grundsätzlich unterscheidet.

Da Siebel mich als einzigen im Abschnitt über „Katastrophenszenarien“ zitiert, muss ich annehmen, dass er mich hier zum Kronzeugen nehmen will. Er hätte sich geeignetere Autoren (z. B. den Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg und erst recht manche publizistische Äußerungen) wählen können! Meine ganze Schrift ist vom Bemühen getragen, einerseits die These „Wachsen ist leichter als Schrumpfen“ plausibel zu machen und deshalb für ein Ernst-Nehmen der demographischen Herausforderung zu plädieren, andererseits aber deterministischen Dramatisierungen als wissenschaftlich unhaltbaren Vereinfachungen entgegen zu treten. Das haben auch zahlreiche Rezensionen anerkannt.

Am wenigsten kann ich Siebels Abschnitt „Einwände“ zustimmen, welcher öffentlich verbreitete Argumente zur Verharmlosung der Diagnose zusammenfasst.Footnote 2 Zweifellos lässt sich einiges für eine geringere Bevölkerungsdichte und die Auflockerung der Städte anführen; aber nach aller Erfahrung entvölkert sich zuerst das flache Land, und dem Trend zur Verstädterung wäre nur entgegenzuwirken durch eine entsprechende „Verländlichung der Arbeitsplätze“. Darüber nachzudenken wäre des Schweißes von Regionalwissenschaftlern wert! Meines Erachtens ist regionale Dezentralisierung bei wachsender Bevölkerung leichter als bei schrumpfender. Wirkliche Chancen des Schrumpfens hat Siebel nicht benannt. Völlig daneben liegt er mit der Annahme, ein neues Bevölkerungsgleichgewicht ließe sich auf der Basis beobachtbarer Trends erwarten, der Bevölkerungsrückgang also z. B. bei 65 Millionen (wie in der Weimarer Republik) anhalten. Das wirklich Dramatische eines langfristigen Bevölkerungsrückgangs ist seine zunehmende Wucht, die Demographen als „demographisches Moment“ bezeichnen: Geschlossene Populationen haben – ceteris paribus! – die Tendenz, sich in geometrischer Progression zu verändern. Das hat Malthus bereits für das Bevölkerungswachstum gesehen, es gilt aber auch für den Bevölkerungsrückgang. Denn: bei einer Fertilität von z. B. 1,4 Kindern würden unter aktuellen Sterblichkeitsverhältnissen 1.000 Frauen der Ausgangsgeneration etwa 667 Töchter, 445 Enkelinnen und 297 Urenkelinnen bekommen. Das demographische Moment liegt also in den sinkenden Beständen der reproduktionsfähigen Frauen begründet. Das ist der demographische Kernprozess, der sich nur durch massive Zuwanderung und eine Erhöhung der durchschnittlichen Fertilität von Frauen eindämmen ließe, so lange wir uns nicht künstlich reproduzieren können und wollen. Irgendwann, „in the long run, when we are all death“ (so ironisch Keynes) wird sich die demographische Konstellation von selbst ändern, was man dann mit Hondrich als Evolution interpretieren kann.

Absehbar ist das nicht. Solange wir in kollektiven Einheiten wie Staaten und Städten denken, mit denen wir uns identifizieren (und nur unter diesen Voraussetzungen macht der Begriff „Bevölkerung“, aber auch derjenige von „Politik“ überhaupt Sinn), sollten wir deshalb den Bevölkerungsrückgang und insbesondere seine absehbaren Einflüsse auf Wirtschaft und Politik politisch ernst nehmen, um noch unerfreulichere Folgewirkungen zu vermeiden. Das ist kein Katastrophenszenario, sondern eine Kombination von analytisch begründeten Warnungen und Empfehlungen, wie sie von angewandter Sozialwissenschaft zu erwarten ist.

Walter Siebel ist zu danken, dass er erneut das Thema „Schrumpfen“ auf die Tagesordnung bringt. Und er hat gewiss recht, wenn er den Wachstumsfetischismus in Wirtschaft und Politik hinterfragt. Sind gedeihliche Sozialverhältnisse unter Bedingungen einer stationären Wirtschaft möglich? Und unter welchen Bedingungen?Footnote 3 Es wäre sehr bedauerlich, wenn sich die Sozialwissenschaftler in Deutschland die Chance entgehen lassen, ihre Kompetenz zur soziologischen Imagination in Auseinandersetzung mit dem langfristig wirksamsten Trend gesellschaftlicher Entwicklung zu profilieren.