1 Einleitung

In den meisten westlichen Ländern stellt die Partnerwahl eine auf dem „Liebesideal“ basierende Entscheidung dar, die allein von den beiden Partnern getroffen wird. In vielen anderen Ländern jedoch ist die Partnerwahl eine Gemeinschaftsentscheidung, an der neben dem Paar auch die Eltern und andere Familienmitglieder beteiligt sind (vgl. Goode 1970; Goody 1983 für einen Vergleich und die Entstehungsgeschichte beider Partnerwahlsysteme). In Deutschland ist diese familienorientierte Form der Partnerwahl seit den 1980er Jahren immer wieder Gegenstand des öffentlichen Diskurses über Migrantenpopulationen, insbesondere aus muslimisch geprägten Ländern wie die Türkei. Trotz des öffentlichen Interesses wurde das Thema in Deutschland bisher so gut wie gar nicht erforscht. Stattdessen stützen sich die Argumente oftmals auf Berichterstattungen über Zwangsehen oder auf Informationen aus autobiografischen Büchern (für einen Überblick über die Debatte vgl. Westphal und Katenbrink 2007; Boos-Nünning und Karakaşoğlu 2005, S. 322–323).

Die qualitativen Studien von Straßburger (2003, S. 50) und Toprak (2002) mit Personen türkischer und kurdischer Herkunft zählen zu den ersten und bis heute wenigen Forschungsarbeiten in Deutschland zum Thema. Darüber hinaus gibt es zwei quantitative Studien mit 114 bzw. 143 Fällen, die jedoch rein deskriptiver Natur sind und einige wenige Merkmale abhandeln. Außerdem wurden darin nur Frauen befragt (İlkkaracan 1996; Schröttle 2008). Es existieren zudem zwei Untersuchungen von Mirbach et al. (2006, 2011), in denen Informationen über Opfer von Zwangsheirat, die sich bei Hilfs- oder Beratungseinrichtungen gemeldet haben, zusammengetragen wurden. Neben dem ebenfalls rein deskriptiven Charakter der Studie handelt es sich bei der untersuchten Population um eine höchst selektive Gruppe, da Verheiratungen gegen den Willen der Kinder nur einen Bruchteil unter den familienorientierten Partnerwahlentscheidungen einnehmen (van Zantvliet et al. 2014; Timur 1993). Außerdem ist nicht klar, wie viele von den Betroffenen sich wirklich bei solchen Einrichtungen melden.

Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist, Determinanten aufzudecken, von denen es abhängt, wie stark die Partnerwahl von der Familie beeinflusst wird oder komplementär dazu, wie stark die individuelle Partizipation an der eigenen Partnerwahl ist. Insgesamt sollen dazu sechs Hypothesen zu verschiedenen Einflussfaktoren theoretisch abgeleitet und empirisch überprüft werden. Als Datengrundlage dient eine standardisierte Befragung von in Berlin wohnhaften türkischen Personen aus dem Jahr 2009. Dabei handelt es sich um eine einmalig durchgeführte Begleiterhebung zum DFG-finanzierten Beziehungs- und Familienpanel pairfam (Panel Analysis of Intimate Relationships and Family Dynamics).

Der Artikel ist wie folgt aufgebaut: Es werden zunächst die zwei unterschiedlichen Verwandtschaftssysteme skizziert, innerhalb derer die beiden Partnerwahlmodi (individuell vs. familienorientiert) einzuordnen sind. Die so dargelegten Hintergrundinformationen dienen als konzeptionelle Rahmung und sind essenziell für das Verständnis der weiteren Ausführungen (Abschn. 2). Sodann folgen in Abschn. 3 theoretische Erklärungen zu den Determinanten der individuellen vs. familienorientierten Partnerwahl und deren Überführung in sechs empirisch überprüfbare Hypothesen. Der zur Überprüfung der Hypothesen verwendete Datensatz, die Auswahl der Analyseeinheiten und die Operationalisierung der theoretischen Konstrukte werden in Abschn. 4 vorgestellt, gefolgt von deskriptiv-statistischen und multivariaten Analysen in Abschn. 5. Der Artikel schließt mit einer Diskussion der Ergebnisse und einigen Hinweisen zu wichtigen Forschungsdesiderata (Abschn. 6).

2 Hintergrund

2.1 Deszendenz- und affinalverwandtschafltiches System

In einer in der historischen Familienforschung populären Typologie kontrastiert Hajnal (1982) das Familien- und Haushaltssystem Nordwest-Europas (einschließlich des heutigen Gebiets der BRD) mit dem in der restlichen Welt vorherrschenden System des „joint household“. Letzteres zeichnet sich neben einem vergleichsweise jungen Heiratsalter dadurch aus, dass Ehepaare keinen eigenen Haushalt gründen sobald sie heiraten, sondern zunächst einen gemeinsamen Haushalt („joint household“) mit den Eltern, meistens des Ehegattens, führen.Footnote 1 Ein ähnliches System, mit stärkerem Fokus auf die Praxis der Partnerwahl und der Familiengründung, beschreiben Thornton et al. (1994a, b, c) für Nepal, China und Taiwan, welches sie als „family mode of social organization“ bezeichnen (vgl. auch Ghimire et al. 2006). Nauck (2001b) knüpft daran an und erweitert die Ausführungen um zahlreiche Facetten rund um innerfamiliäre- und verwandtschaftliche Beziehungen. Die Türkei, vor allem die ländlichen Regionen, betrachtet er als Prototyp für das sogenannte „deszendenzverwandtschaftliche Regime“, während Deutschland und die anderen Länder Nordwest-Europas dem „affinalverwandtschaftlichen Regime“ zuzuordnen sind. Grob zusammengefasst unterscheiden sich die beiden Systeme vor allem darin, wie stark sich familiäre und individuelle Interessen im alltäglichen Handeln überlappen. Dieser konstituierende Unterschied zwischen den beiden Systemen umfasst auch den Bereich der Partnerwahl, die im deszendenzverwandtschaftlichen Regime als hochbedeutendes, die ganze Familie betreffendes Ereignis wahrgenommen wird und daher selten eine ausschließliche Entscheidung des Paares darstellt, wie es im affinalverwandtschaftlichen System die Regel ist.

2.2 Partnerwahl-Typologie

Der Einfluss der Familie auf die Partnerwahl kann unterschiedlich ausgestaltet sein. Die Familie kann a) eine Entscheidung treffen, ohne dem Kind ein Mitsprachrecht einzuräumen oder b) potenzielle Partnerinnen oder Partner vorschlagen und das Kind kann zustimmen oder ablehnen oder c) das Kind macht einen Vorschlag und die Familie kann zustimmen oder ablehnen. Die im öffentlichen Diskurs häufig thematisierte „Zwangsehe“ stellt ein Resultat von Typ (a) dar. Theoretisch kann aber auch eine ohne Konsultation des Kindes getroffene Entscheidung mit den Partnerwahlpräferenzen des Kindes übereinstimmen. Streng genommen kann daher nur dann von einer Zwangsehe die Rede sein, wenn Typ (a) vorliegt und die Wahl der Familie den Präferenzen des Kindes widerspricht oder wenn eine alleinige Entscheidung des Kindes anders ausgefallen wäre. Methodisch kann die Unterscheidung zwischen Typ (a) und (b) eine Herausforderung darstellen. Das Kind kann einem Vorschlag der Familie auch dann zustimmen, wenn es alleine anders entschieden hätte, wenn es sich z. B. indirekt unter Druck gesetzt fühlt, weil eine Ablehnung des Vorschlags die Solidarität zur eigenen Familie in Frage stellen würde. Eine Möglichkeit, um solche Fälle richtig klassifizieren zu können, wäre die zusätzliche Frage danach, wie das Kind alleine entschieden hätte. Selbstverständlich muss auch hier bedacht werden, dass die soziale Erwünschtheit im Antwortverhalten eine Rolle spielen könnte.

Neben dem Begriff der Zwangsehe findet sich sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der Forschungsliteratur häufig der Begriff der arrangierten Ehe. Eine einheitliche Definition gibt es hierzu nicht. Manchmal wird damit auf Typ (b) verwiesen und eine explizite Abgrenzung zur Zwangsehe vorgenommen (Schroedter 2013, S. 105–106). Manchmal umfasst die arrangierte Ehe sowohl Typ (b) als auch Typ (a) und die Zwangsehe stellt einen Spezialtyp der arrangierten Ehe dar (Rindfuss und Morgan 1983, S. 269). An anderer Stelle wiederum wird die arrangierte Ehe Typ (b) und (c) zugeordnet (Straßburger 2003, S. 181), während Islamkritikerin Kelek (2008, S. 89) „zwischen einer arrangierten Ehe und einer Zwangsehe […] keinen wesentlichen Unterschied“ sieht. Nicht selten wird in quantitativen Erhebungen die Definition den Befragten überlassen, die anhand einer dichotomen Antwortkategorie angeben sollen, ob sie in einer arrangierten Ehe leben oder nicht (Hortaçsu 2007; Baykara-Krumme 2015). Das ist problematisch weil erstens die Stärke der familiären Einflussnahme vergleichsweise grob erfasst und daraus nicht ersichtlich wird, ob es sich um eine Gemeinschaftsentscheidung oder um eine alleinige Entscheidung der Familie handelte. Zweitens kann es sein, dass bei der Partnerin oder dem Partner die Familie in die Entscheidung involviert war, die Befragungsperson aber allein entschieden hat. Ob solche Partnerschaften als arrangiert gelten, wird dann der Befragungsperson überlassen. Dabei ist das theoretische Interesse auf das Verhältnis zwischen der Befragungsperson und ihrer Familie gerichtet und auf die Determinanten der familiären Einflussnahme auf die Partnerwahl. Wie stark der Einfluss der Familie auf Seiten des Partners oder der Partnerin war, spielt dann eine eher untergeordnete Rolle.

Wegen der definitorischen Problematik wird im Folgenden auf eine Verwendung des Begriffes der arrangierten Partnerschaft verzichtet. Stattdessen wird es hier um eine „familienorientierte Partnerwahl“ gehen, die auf eine Gemeinschaftsentscheidung einer Person mit ihrer Familie (Typ (b) oder (c)) oder auf eine alleinige Entscheidung der Familie (Typ (a)) hinauslaufen kann. Dagegen hat bei einer „individuellen Partnerwahl“ die Familie keinen Einfluss auf die Entscheidung. Diese drei Partnerwahlmodi können zu einer ordinal skalierten Variable zusammengefasst werden, die den Einfluss der Familie auf die Partnerwahl einer Person oder den Grad der Partizipation der Person an der eigenen Partnerwahl abbildet (1 = Familie entscheidet allein, 2 = Gemeinschaftsentscheidung, 3 = individuelle Partnerwahl). Eine ähnliche Definition und Operationalisierung findet sich bei van Zantvliet et al. (2014) und bei Ghimire et al. (2006).

2.3 Empirische Relevanz des Untersuchungsgegenstands

Verschiedene Befunde aus der Türkei verdeutlichen die quantitative Bedeutung der familienorientierten Partnerwahl. In einer älteren Studie aus dem Jahr 1968 gaben in der Türkei ca. zwei Drittel der Befragten an, dass die Familie an der eigenen Partnerwahl beteiligt war (Timur 1981, S. 70–71). Im Turkish Demographic and Health Survey (TDHS) von 1998 waren nur 30 % aller Ehen ohne Beteiligung der Familien entschieden worden. Obgleich die Daten auch auf regionale Unterschiede innerhalb der Türkei hinweisen, betrug der höchste Anteil allein entschiedener Ehen 43 % (urbaner Westen). Der niedrigste Anteil lag bei 23 % (ländlicher Süden). Vor allem in den älteren Kohorten hatte die Familie einen starken Einfluss auf die Partnerwahl. Für die Heiratskohorte 1959–1968 lag der Anteil der Ehen, die gegen den Willen der Kinder entschieden wurden, bei fast 30 %. Im Laufe der Zeit hat dieser Anteil jedoch signifikant abgenommen und betrug in der jüngsten Heiratskohorte (1989–1998) nur 5 %. Der Anteil der familienorientierten Partnerwahl als Gemeinschaftsentscheidung blieb jedoch über die Zeit hinweg relativ stabil und betrug noch in der jüngsten Kohorte knapp 50 % (Klaus 2008, S. 69; Gündüz-Hoşgör und Smits 2007, S. 195).

Für türkische Migrantenfamilien sind diesbezügliche Befunde rar gesät. Zwei aktuelle Studien geben jedoch einen Hinweis auf die Persistenz der familienorientierten Partnerwahl bei türkischen Familien auch über den Zeitpunkt der Migration hinaus. Eine Untersuchung mit türkisch- und marokkanischstämmigen Personen in den Niederlanden zeigt, dass bei jeweils 40 % bzw. 35 % der Befragten die Familie in die Partnerwahl involviert war. Dabei handelte es sich überwiegend um Gemeinschaftsentscheidungen, denn der Anteil der von den Familien allein entschiedenen Partnerschaften lag bei unter 5 % (van Zantvliet et al. 2014). Damit lässt sich feststellen, dass die Zwangsehe sowohl in der Türkei (zumindest für die jüngeren Kohorten) als auch im Migrationskontext eher ein Randphänomen der familienorientierten Partnerwahl darstellt. In einer anderen Untersuchung werden türkische Migrantenfamilien in mehreren europäischen Ländern mit nicht-migrierten Personen in der Türkei verglichen. Obwohl die deskriptiven Zahlen für Deutschland nicht einzeln aufgelistet werden, stellt die Autorin anhand eines multivariaten Analysemodells fest, dass die Chance einer familienorientierten Partnerwahl für Türkischstämmige in Deutschland ungefähr gleich groß ist wie für Personen in der Türkei (Baykara-Krumme 2015, S. 18–20).

Des Weiteren findet sich eine Studie aus dem Jahr 1994, in der 114 türkische Frauen in Berlin befragt wurden und knapp die Hälfte (46 %) der Frauen angab, dass die Familie an der Partnerwahl beteiligt war (İlkkaracan 1996). Das deckt sich mit den Ergebnissen einer anderen Studie aus dem Jahr 2003, bei der 48 % der 143 befragten türkischstämmigen Frauen die Partnerwahl als familiäre Entscheidung beschrieben haben (Schröttle 2008). Insgesamt weisen die Befunde darauf hin, dass die familienorientierte Partnerwahl auch im Migrationskontext eine wichtige Rolle spielt.

2.4 Migration als beschleunigte Transformation vom Deszendenz- zum Affinalsystem

Im Gegensatz zum deszendenzverwandtschaftlichen herrscht im affinalverwandtschaftlichen System das Ideal einer Partnerwahl vor, bei dem „Liebe“ das zentrale Entscheidungskriterium darstellt und eine familiäre Einflussnahme eher im Widerspruch zu den normativen Vorstellungen über die Partnerwahl steht. Die Paarbeziehung genießt auch über die Partnerwahl hinaus eine höhere Exklusivität und Intimität als im Deszendenzsystem (Nauck 2001b; vgl. auch Luhmann 1982). Für viele Familien aus der Türkei, insbesondere aus den ländlichen Regionen, kann eine Migration nach Deutschland daher einen abrupten Wechsel von einem deszendenz- zu einem affinalverwandtschaftlichen System, einschließlich des Ideals der intimen Paarbeziehung, bedeuten.

Ein solcher Wechsel, wenngleich nicht in derselben Geschwindigkeit (und der daher eher als Transformation zu bezeichnen ist), vollzieht sich bereits in vielen Ländern, die ursprünglich ein Deszendenzsystem hatten, darunter auch die Türkei (Klaus 2008). Deshalb sollten Erklärungsansätze aus der Forschungsliteratur zu solchen Transformationsländern – meistens aus der modernisierungstheoretischen Forschung – auch für die Erklärung der Situation von Migrantenfamilien gewinnbringend einsetzbar sein. Aus diesem Grund und wegen der großen Lücke auf diesem Gebiet der Migrationsforschung stützen sich viele der folgenden Ausführungen auf Erkenntnisse, die in Ländern gewonnen wurden, in denen sich eine Transformation von einem Deszendenz- zu einem Affinalregime vollzieht oder vollzogen hat. Die besondere Herausforderung ist, diese Erklärungsansätze anzupassen und mit Erkenntnissen aus der Migrationsforschung zu verknüpfen, um der speziellen Situation von Migrantenfamilien gerecht zu werden.

3 Theoretische Erklärungen und Hypothesen zu den Determinanten der individuellen vs. familienorientierten Partnerwahl

3.1 Bildung

Eine der zentralen Variablen im modernisierungstheoretischen Diskurs ist Bildung (Caldwell 1980; Goode 1970). Die Annahme bezüglich des Effekts auf das Partnerwahlverhalten lautet, dass mit steigendem Bildungsgrad einer Person die Chance steigt, dass die Person ihre Partnerwahl allein entscheidet. Ghimire et al. (2006) erklären den Bildungseffekt mit dem größeren Respekt der Eltern gegenüber ihren Kindern sowie einem größeren Selbstvertrauen der Kinder, sobald sie neues Wissen aus der Schule mitbringen und zu einer wichtigen Quelle neuer Ideen und Ressourcen für ihre Eltern werden. Die Eltern-Kind-Beziehung wird dadurch zu einer Beziehung auf Augenhöhe und das elterliche Vertrauen in die Kompetenzen der Kinder groß genug, um ihnen wichtige Entscheidungen, wie die Wahl des Partners oder der Partnerin, allein zu überlassen.

Bei Migrantenfamilien könnte außerdem eine Rolle spielen, dass sich die Eltern angesichts von Sprachbarrieren und fehlenden Kenntnissen über die Aufnahmegesellschaft oftmals in einer hilflosen Situation wiederfinden, sodass das Wissen der Kinder und ihre Sprachkompetenzen zu einem unverzichtbaren Gut bei der Erledigung alltäglicher Aufgaben für die Eltern werden. Portes und Rumbaut (2001, S. 53) sprechen in diesem Zusammenhang von einem „role reversal“, der sich zwischen Migrierten und ihren Kindern vollzieht, sobald „key family decisions become dependent on the children’s knowledge“.

Ein höherer Bildungsgrad geht zudem mit höheren Chancen einher, über eigenes ökonomisches Kapital zu verfügen. Die Familie verliert dadurch ihren Monopolstatus als Quelle wichtiger materieller Ressourcen. Mehr Unabhängigkeit des Kindes bedeutet weniger Macht der Familie über das Kind (Emerson 1962), womit auch demografische Entscheidungen wie die Partnerwahl häufiger alleine getroffen werden sollten (Caldwell 1982, S. 162). Da jedoch, wie bereits dargelegt, die familienorientierte Partnerwahl in der Regel eine Gemeinschaftsentscheidung und weniger eine Machtausübung der Familie darstellt, sollte der Effekt ökonomischer Ressourcen geringfügig zur Erklärung des Bildungseffekts beitragen.

Eine Reihe von Untersuchungen aus Ländern mit einem deszendenzverwandtschaftlichen System bestätigt den negativen Zusammenhang von Bildung und einer familienorientierten Partnerwahl, z. B. die Studie von Ghimire et al. (2006) mit knapp 3000 Nepalesinnen und Nepalesen oder ein Befund aus Taiwan, basierend auf einem Survey mit über 16 000 Frauen, in dem Bildung den stärksten Effekt von allen in den Analysen berücksichtigen Einflussfaktoren aufweist (Thornton et al. 1994b, c). Ein ähnlicher Befund findet sich in einer vietnamesischen Studie mit über 3000 Personen (Emran et al. 2009), ebenso wie in einer Studie aus Jordanien (Khoury und Massad 1992) und, der vielleicht allererste Befund dieser Art, in einer Untersuchung mit japanischen Ehepaaren (Blood 1967, S. 37 f.).

Entsprechende Evidenzen gibt es auch für die Türkei. Die prominenteste Studie hierzu (erschienen im Journal of Marriage and Family) mit 803 Frauen aus Ankara stammt von Fox (1975). Darin hatten nur 20 % der Frauen mit Grundschulabschluss ihre Partnerwahl allein entschieden, im Vergleich zu 49 % bei den Sekundarschulabsolventinnen. In einer aktuelleren Befragung aus dem Jahr 2000 mit Frauen aus Ostanatolien ging über die Hälfte (57 %) der unverheirateten Frauen mit Grundschulabschluss oder weniger davon aus, dass sich die Eltern an der Partnerwahl beteiligen werden, während es bei den Sekundarschulabsolventinnen nur jede zehnte (11 %) Frau war (İlkkaracan 2000, S. 237). Das gleiche Muster findet sich in einer weiteren Studie mit über 400 türkischen Ehepaaren (Hortaçsu 2007). Bei türkischstämmigen Familien in den Niederlanden (van Zantvliet et al. 2014), ebenso wie bei einer zusammengefassten Betrachtung von türkischen Migrantenfamilien in Europa und nicht-migrierten Familien in der Türkei (Baykara-Krumme 2015), erweist sich der Bildungsgrad des Kindes als einer der stärksten Prädiktoren für die familiäre Einflussnahme auf die Partnerwahl und zwar auch unter Kontrolle des Bildungsgrades der Eltern. Insgesamt lautet damit die erste zu testende Hypothese:

H1

Die Chance einer individuellen Partnerwahl steigt, je höher der Bildungsgrad einer Person ist.

3.2 Interethnische Kontakte

In seinem klassischen Werk über die Assimilation von Immigranten in den USA beschreibt Gordon (1964, S. 80) die strukturelle Assimilation als den Grundstein für alle weiteren Assimilationsstufen. Mit struktureller Assimilation meint er die interethnischen Kontakte der Immigranten mit Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft. Ihm zufolge würden solche Kontakte über kurz oder lang unweigerlich dazu führen, dass die Immigranten die Kultur der Aufnahmegesellschaft übernehmen, was er als Akkulturation bezeichnet. Er schränkt aber ein, dass nicht jedwede Form von interethnischen Kontakten die Akkulturation befördert, sondern ausschließlich Kontakte auf Primärgruppenebene, d. h. intensive Kontakte wie sie in den Bereichen der „touch relationship, in the family circle and in intimate congenial groups“ vorkommen (Gordon 1964, S. 62). Das lässt sich mit Annahmen aus der in der Vorurteilsforschung populären Kontakthypothese ergänzen, die besagt, dass Intergruppenkontakte vor allem dann zum Abbau von sozialen Barrieren zwischen den Gruppen führen, wenn innerhalb der Interaktionssituation die Gruppenmitglieder den gleichen Status haben, dieselben Ziele verfolgen und miteinander kooperieren (Allport 1954; Pettigrew 1998). Insbesondere Freundschaften zeichnen sich durch gemeinsame Ziele, Kooperation und wiederholte Interaktionen auf Augenhöhe über einen längeren Zeitraum und in unterschiedlichen Situationen aus (Pettigrew 1997; Hewstone 2004). Jedoch könnten auch andere Formen von Primärgruppenkontakten ein akkulturationsförderndes Potenzial aufweisen, so z. B. Kontakte mit Deutschen in der eigenen Verwandtschaft.

Nauck et al. (1997) konnten empirisch nachweisen, dass interethnische Kontakte bei türkischstämmigen Jugendlichen zu einer verstärkten Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft und der Aufgabe kultureller Präferenzen der Herkunftsgesellschaft geführt haben. In einer anderen Untersuchung äußerten Türkinnen und Türken, die deutsche Freunde hatten, eine um 20 % höhere Chance, sich einbürgern lassen zu wollen als diejenigen, die über keine deutschen Freunde verfügten (Diehl und Blohm 2008). Eine weitere Studie konnte einen positiven Effekt von interethnischen Freundschaften auf die sprachliche Assimilation von türkischen Jugendlichen feststellen (Leibold et al. 2006). Übertragen auf das Partnerwahlmuster ist von einem analogen Assimilationseffekt auszugehen, weshalb die zweite Hypothese lautet:

H2

Primärgruppenkontakte mit Deutschen steigern die Chance einer individuellen Partnerwahl.

3.3 Religiosität

Kulturelle Verhaltensrepertoires können maßgeblich von der Konfessionszugehörigkeit abhängen und innerhalb der jeweiligen Konfessionen nochmal vom Grad der individuellen Religiosität (Diehl und König 2011). Das ist deshalb von Bedeutung für die Untersuchung von türkischen Migrantenfamilien, weil sich bei ihnen die Religiosität über die Generationen hinweg als äußerst stabil erweist (Diehl und König 2009). Im Koran und der daraus abgeleiteten muslimischen Rechtsprechung finden sich zahlreiche Verweise auf zentrale Elemente des deszendenzverwandtschaftlichen Systems. Beispielsweise erfährt die Verwandtenehe zwischen Cousins und Cousinen väterlicherseits, wie sie auch von Nauck (2001b) als für das Deszendenzsystem typisch beschrieben wird, im Islam eine starke Legitimität (Goody 1990, S. 156). Auch zur Rolle der Familie bei der Partnerwahl finden sich im Koran explizite Ausführungen. Darin wird die Ehe als Vertrag („nikah“) betrachtet, dessen Gültigkeit von der Zustimmung des Familienvorstands, dem „waliy“, abhängt (Büyükçelebi 2003, S. 280 ff.). Faktisch ist somit das Mitbestimmungsrecht der Familie an der Partnerwahl der Kinder im Koran niedergeschrieben und die dritte Hypothese lautet folglich:

H3

Die Chance einer individuellen Partnerwahl sinkt mit dem Grad der Religiosität.

Bis dato wurde dieser Zusammenhang ausschließlich von Fox (1975, S. 184) untersucht, die nachweisen konnte, dass vor einem Imam geschlossene Ehen signifikant häufiger als zivilrechtliche Ehen von den Eltern mitentschieden wurden. Darüber hinaus gibt es Befunde, die zumindest hinsichtlich anderer Dimensionen, wie Einstellungen zu Geschlechterrollen, traditionellere Haltungen bei hochreligiösen Muslimen sowohl in den Herkunftsländern (Inglehart und Norris 2003; Alexander und Welzel 2011) als auch im Migrationskontext (Diehl und König 2011) feststellen konnten.

3.4 Gelegenheitsstrukturen

In der Literatur zur Partnerwahlforschung wird neben den individuellen Präferenzen auf die Bedeutung von Gelegenheitsstrukturen als zweite, mindestens gleichrangige Erklärungskategorie hingewiesen. In diesem Zusammenhang wird häufig die Formel „who does not meet, does not mate“ bemüht, die auf den Umstand verweist, dass zwei Personen zuallererst die Gelegenheit haben müssen, sich kennenzulernen, damit es überhaupt zu einer Partnerschaft zwischen ihnen kommen kann. Die Effizienz der Gelegenheitsstrukturen, also die Chance, auf potenzielle Partnerinnen oder Partner zu treffen, kann zwischen Individuen variieren. Einer aktuellen Untersuchung aus Frankreich zufolge (N = 5743) lernen sich die meisten Paare bei Unternehmungen im Freundeskreis kennen, gefolgt von Aktivitäten an öffentlichen Plätzen (Bozon und Rault 2013). Zu diesen als lokale Partnermärkte bezeichneten sozialen Kontexten zählen auch Sportvereine, Jugendclubs und das Berufsumfeld (Kalmijn und Flap 2001).

Im modernisierungstheoretischen Diskurs wird das Entstehen just solcher Partnermärkte als eine wichtige Ursache für den schwindenden Einfluss der Familie auf die Partnerwahl betrachtet (Caldwell et al. 1983; Macfarlane 1986). Erst wenn Kinder die Möglichkeit haben, sich auf Partnermärkten außerhalb der Familie zu bewegen, sind sie in der Lage, selbst eine Partnerin oder einen Partner kennenzulernen. Andernfalls sind sie darauf angewiesen, dass ihnen Familienmitglieder bei der Partnersuche helfen. Die Rolle der Suchhelferin übernimmt in der Türkei häufig die Mutter des angehenden Bräutigams, indem sie zunächst verschiedenen Familien mit Töchtern im heiratsfähigen Alter Besuche abstattet und die Passung zum Sohn sowie die Bereitwilligkeit seitens der anderen Familie für eine solche Partnerschaft eruiert. Je nachdem, wie konservativ die Familien sind, folgt der weitere Verlauf einem stark ritualisierten Muster, der u. a. Verhandlungen zwischen den Familien über gegenseitige und an das Ehepaar gerichtete Geld- und Warengeschenke umfasst (Hortaçsu 2003). In solchen Kontexten werden Gelegenheiten des Kennenlernens also hauptsächlich durch die Hilfe von Familienmitgliedern generiert und Mütter haben eine Quasi-Monopolstellung inne, da sie häufig den einzigen Zugang zu einem relativ abgeschotteten Partnermarkt ermöglichen.

Ein etwas anders gelagertes Beispiel findet sich bei Blood (1967), wenngleich der grundlegende Mechanismus dahinter derselbe ist. Blood beschreibt wie japanischer Männer, die nach mehrjährigem Studium in den USA nach Japan zurückkehrten, nur noch über ineffiziente soziale Netzwerke in ihrem Herkunftsland verfügten und daher kaum Gelegenheiten hatten, selbst eine Partnerin kennenzulernen, sodass sie bei der Partnersuche auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen waren. Ghimire et al. (2006) konnten den positiven Einfluss effizienter Gelegenheitsstrukturen auf die Chance einer individuellen Partnerwahl mit Hilfe von quantitativen Daten und multivariaten Analyseverfahren nachweisen. In ihrer Untersuchung hatten Nepalesinnen und Nepalesen, die in Jugendclubs aktiv waren, eine um 40 % höhere Chance, dass sie ihre Partnerwahl alleine entscheiden. Insgesamt lautet die vierte Hypothese daher:

H4

Die Chance einer individuellen Partnerwahl steigt, je häufiger sich eine Person auf lokalen Partnermärkten aufhält.

3.5 Geschlecht

Einer der am häufigsten replizierten Befunde in der Forschung zu Partnerwahl in vorindustriellen Gesellschaften lautet, dass die Partnerwahl der Töchter stärker von der Familie kontrolliert wird als die der Söhne (Ghimire et al. 2006; Emran et al. 2009; Timur 1981; Blood 1967; Apostolou 2010). Beispielsweise betrug in der Studie von Ghimire et al. (2006) die Chance von Frauen, dass sie ihre Partnerwahl allein entschieden haben, je nach Regressionsmodell, 28 % bis 40 % der Chance der Männer. Bei Blood (1967, S. 47) gaben 55 % der japanischen Frauen an, dass sie nicht das letzte Wort hatten, wenn die Eltern an der Partnerwahl beteiligt waren, während nur 27 % der Männer dasselbe angaben.

Entsprechende Befunde finden sich auch für die Türkei. In einer älteren Repräsentativbefragung mit über 4500 Haushalten gaben 11 % der Frauen an, ihre Partnerwahl allein entschieden zu haben. Im Vergleich dazu betrug der Anteil bei den Männern 52 % (Timur 1981, S. 70–71). Bei einer aktuelleren Umfrage mit 400 Familien aus Ost- und Südostanatolien gaben 76 % der Eltern an, dass sie die Partnerwahl ihren Söhnen überlassen würden, aber 53 % den Töchtern (İlkkaracan 1998). Die unterschiedlich starke familiäre Einflussmnahme bei Söhnen und Töchtern scheint sich auch in der Migrationssituation fortzusetzen. In einer Befragung mit über 1000 türkischstämmigen Jugendlichen in Österreich gaben 78 % der Töchter an, sich bei ihrer Partnerwahl von der Familie eingeschränkt zu fühlen. Bei den Söhnen waren es 47 % (Gapp 2007, S. 141).

Eine mögliche Ursache für die stärkere familiäre Einflussnahme bei den Töchtern könnte die in den meisten Deszendenzregimes vorherrschende patrilokale Residenzregel sein, der zufolge Töchter nach der Heirat die Herkunftsfamilie verlassen und Teil der Familie des Ehemannes werden. Vor diesem Hintergrund wird argumentiert, dass der Auszug der Tochter den Verlust einer wichtigen Arbeitskraft darstellt, der durch materielle oder finanzielle Zuwendungen seitens der Familie des Bräutigams an die Familie der Braut kompensiert werden muss. Die Wahl des „richtigen“ Partners für die Tochter entscheidet daher über die Höhe der Kompensationszahlung, woraus sich das familiäre Interesse für die Partnerwahl der Töchter erklären könnte (Kazgan 1981, S. 144).

Goody (1983, S. 12) weist aber darauf hin, dass diese häufig als „Brautpreis“ bezeichnete Zahlung meistens von den Eltern an die Tochter weitergeleitet wird und der Brautvater oftmals etwas hinzufügt. Dabei soll das Geld der Tochter zu einer finanziellen Grundlage verhelfen, um irgendwann einen eigenen Haushalt mit dem Ehemann gründen zu können oder um ihr ein wenig materielle Unabhängigkeit vom Ehemann zu verschaffen. Ob nun die Eltern die Kompensationszahlung aus Eigeninteresse in die Höhe treiben möchten oder aus Fürsorge der eigenen Tochter gegenüber, beides führt letztlich zum selben Ergebnis: Die Partnerwahl der Tochter steht im besonderen Fokus der Eltern und der anderen Familienmitglieder. Empirische Evidenz für die Prävalenz solcher Zahlungen in der Türkei findet sich im TDHS. Darin gaben je nach Region 10 % (urbaner Westen) bis 67 % (ländlicher Osten) an, dass es eine entsprechende Zahlung vor der Heirat gegeben hat (Gündüz-Hoşgör und Smits 2007, S. 195). Für türkische Migrantenfamilien in Deutschland fehlen solche Zahlen bisher.

Wahrscheinlich ist die stärkere Kontrolle der Töchter aber Ausdruck eines viel umfassenderen Komplexes von Geschlechterstereotypen und Geschlechterrollen, deren Entstehung mit der Versorgerrolle der Söhne für die Eltern (Nauck 2001a, b) oder der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung (Eagly et al. 2000) erklärt wird. Innerhalb dieser Geschlechterrollen werden Männern Attribute wie Autonomie, Dominanz und Zielstrebigkeit zugeschrieben, während typisch weibliche Rollenzuschreibungen Abhängigkeit, Unterordnung und Schutzbedürftigkeit sind (Hoffman 1977; Murdock und Provost 1973; Okin 1995; Eagly 1987; Eagly und Mladinic 1989). Wie stark solche Geschlechterrollen in einigen ländlichen Regionen der Türkei manifestiert sind, zeigt die Zustimmung selbst von Frauen zu Aussagen wie „Männer sind klüger als Frauen“ (60 %), „Wichtige Entscheidungen sollten von Männern getroffen werden“ (58 %) oder „Frauen sollten nicht mit Männern diskutieren“ (61 %) (Gündüz-Hoşgör und Smits 2007, S. 195). Obwohl sich Geschlechterstereotype abschwächen, sobald deren strukturelle Ursachen wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung verschwinden, zeigt die Forschung auch, dass dies mit einer Latenz geschieht, die eher in Generationen als in Jahren gemessen werden muss (vgl. Brewster und Padavic 2000 für einen Forschungsüberlick). Somit ist für türkische Migrantenfamilien anzunehmen:

H5

Die Chance einer individuellen Partnerwahl ist bei Töchtern niedriger als bei Söhnen.

Die stärkere Kontrolle der Töchter beschränkt sich aber nicht auf die Partnerwahl, sondern umfasst auch alltägliche Verhaltensweisen. Aufschlussreich sind hier die Befunde einer Repräsentativbefragung von türkischen Migrantenfamilien, bei denen die Autorinnen eine im Vergleich zu den Söhnen drastisch eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Töchter feststellen (Granato und Meissner 1994, S. 104 f.). Beispielsweise würden fast alle Eltern (94 %) ihren Söhnen erlauben, schwimmen zu gehen, jedoch nur die Hälfte (53 %) auch den Töchtern. In vier von fünf Familien (82 %) sind die Eltern nicht damit einverstanden, dass die Tochter tanzen geht, während sich nur ein Drittel (33 %) der Familien auch beim Sohn dagegen ausspricht. Weiter oben wurde dargelegt, wie relevant solche Freizeitaktivitäten sind, damit die Kinder selbst einen Partner oder eine Partnerin kennenlernen, ohne auf die Hilfe der Familie angewiesen zu sein. Daher lautet die sechste und letzte Hypothese:

H6

Die geringere Chance der Töchter auf eine individuelle Partnerwahl wird auch durch deren im Vergleich zu den Söhnen selteneren Freizeitaktivitäten verursacht.

Im Vokabular multivariater Analyseverfahren liegt hier eine Mediation vor, bei der das Geschlecht einen über die Häufigkeit der Freizeitaktivitäten (Mediator) vermittelten Effekt auf die individuelle Partizipation an der Partnerwahl ausübt.

4 Datenbasis und Operationalisierungen

4.1 Beschreibung des verwendeten Datensatzes

Zur Überprüfung der Hypothesen dient eine im Jahr 2009 in Berlin durchgeführte Befragung von Personen türkischer Herkunft. Es handelte sich um eine Begleitstudie des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Beziehungs- und Familienpanels pairfam (Panel Analysis of Intimate Relationships and Family Dynamics) (für Konzept und Instrumente der pairfam-Hauptstudie vgl. Huinink et al. 2011). Gegenstand der Berliner Begleitstudie ist das Befragungsinstrument der ersten Welle der pairfam-Hauptstudie, das um migrations- und integrationsrelevante Items ergänzt wurde. Die computergestützten persönlichen Interviews (CAPI) wurden auf Deutsch oder Türkisch geführt. Die Grundgesamtheit umfasste in Berlin wohnhafte Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit in den Alterskohorten 15–17, 25–27 und 35–37 Jahren. Die Befragungspersonen wurden vom Statistischen Landesamt Berlin mit Hilfe einer Zufallsstichprobe ermittelt. Von den 1320 übermittelten Adressen waren 10 % neutrale Ausfälle, da die Adressen nicht korrekt waren. Ausgehend von der bereinigten Stichprobe (N = 1180) betrug der tatsächlich auswertbare Anteil von Interviews 36,4 % (N = 429). Im Vergleich dazu waren es in der Hauptstudie 36,9 %. (für eine ausführliche Dokumentation der Berliner pairfam-Begleitstudie vgl. Baykara-Krumme 2010).

4.2 Abhängige Variable und Auswahl der Analyseeinheiten

Ausgangspunkt zur Bildung der abhängigen Variable war die Frage „Wer wird an der Entscheidung beteiligt sein, wer Ihr/e Partner/in wird?“, die Singles gestellt bekamen sowie die Frage „Wer war an der Entscheidung beteiligt, dass {Name des/r Partner/in} Ihr/e Partner/in wurde?“, die an Personen in Partnerschaft gestellt wurde. Die folgenden acht Antwortkategorien standen zur Auswahl, wobei Mehrfachnennungen möglich waren: „Befragungsperson selbst“, „Mutter“, „Vater“, „Geschwister“, „weitere Verwandte mütterlicherseits“, „weitere Verwandte väterlicherseits“, „Freunde“, „andere Personen“. Aus den Antworten wurde eine ordinal skalierte Variable mit den folgenden drei Ausprägungen generiert: 1 = alleinige Entscheidung der Familie, 2 = gemeinsame Entscheidung der Familie und Befragungsperson, 3 = alleinige Entscheidung der Befragungsperson (individuelle Partnerwahl). Zur Familie wurden alle in den Antwortkategorien aufgelisteten Personen mit Ausnahme der beiden Kategorien „Befragungsperson selbst“ und „Freunde“ gezählt.

Bei den Personen in Partnerschaft konnten nur diejenigen berücksichtigt werden, die vor dem 18. Lebensjahr nach Deutschland zugewandert sind, um auf diese Weise Heiratsmigranten und andere, die bereits vor der Migration verheiratet waren, auszuschließen, also Personen, deren Partnerwahl in der Türkei stattgefunden hat. Das führt zu einem Ausschluss von 103 Fällen. Das ist erforderlich, da die hier untersuchten Einflussfaktoren für die Situation der Befragungspersonen in Deutschland erhoben wurden und für die Situation in der Türkei dieselben Merkmale entweder keine Varianz aufweisen (z. B. interethnische Kontakte mit Deutschen) oder sich deutlich zwischen den beiden Kontexten unterscheiden können (z. B. Gelegenheitsstrukturen). Bei den Personen in fester Partnerschaft stehen damit nur 124 Fälle für die weiteren Analysen zur Verfügung. Aufgrund der kleinen Fallzahl wird auf eine gesonderte Betrachtung dieser Gruppe verzichtet und die Analysen zunächst nur mit den 202 Singles durchgeführt. Später werden jedoch multivariate Modelle berechnet, in denen auch Personen in fester Partnerschaft berücksichtigt sind, um auf diese Weise durch die größere Fallzahl (n = 326) die Teststärke zu erhöhen und die Validität der Ergebnisse aus den Modellen mit den Singles auch für die Gruppe der Personen in Partnerschaft zu überprüfen.

4.3 Unabhängige Variablen

Bildung wurde, analog zur Operationalisierung bei Ghimire et al. (2006), anhand der insgesamt absolvierten Schuljahre einer Befragungsperson als metrisch skalierte Variable in die Analysen aufgenommenFootnote 2.

Primärgruppenkontakte mit Deutschen wurden anhand von zwei Variablen mit jeweils einer 5er-Skala erfasst. Die Personen sollten dabei die Häufigkeit ihrer Kontakte mit Deutschen im Freundeskreis („Wie oft haben Sie Kontakte zu Deutschen im Freundeskreis“) und im Verwandtschaftsnetzwerk („Wie oft haben Sie Kontakte zu Deutschen in der eigenen Familie und Verwandtschaft?“) angeben (1 = fast nie oder nie, 5 = sehr oft). Außerdem konnten sie eine sechste Antwortkategorie mit „Es gibt dort keine Deutschen“ ankreuzen. Personen mit dieser Kategorie erhielten den Wert 1.

Religiosität wurde mit Hilfe einer 6er-Skala abgefragt, auf der die Befragten angeben sollten, wie oft sie in die Moschee gehen oder an religiösen Veranstaltungen teilnehmen (1 = nie, 2 = seltener, 3 = mehrmals pro Jahr, 4 = 1 bis 3 × pro Jahr, 5 = 1 × pro Woche, 6 = mehr als 1 × pro Woche).

Gelegenheitsstrukturen auf den lokalen Partnermärkten wurden mit Hilfe eines Summenscores aus zwei fünfstufigen Variablen operationalisiert, mit denen die Häufigkeit von Treffen mit Freunden und die Häufigkeit von sportlichen Aktivitäten abgefragt wurden. Die Kategorien mit den drei niedrigsten Häufigkeiten wurden zu einer Kategorie zusammengefasst, sodass beide Variablen eine 3er-Skala aufweisen (1 = 1 × pro Monat oder seltener, 2 = mind. 1 × pro Woche, 3 = täglich). Schließlich wurde durch Aufsummieren der Werte beider Variablen und anschließende Subtraktion von 1 eine neue Variable mit Werten zwischen 1 und 5 generiert, die die Häufigkeit von Freizeitaktivitäten abbildet.

Weitere Variablen waren das Geschlecht (0 = männlich, 1 = weiblich) und das Alter, das als Kontrollvariable dient.

5 Ergebnisse

In Tab. 1 sind Mittelwerte, Prozentverteilungen sowie weitere deskriptive Maßzahlen für alle verwendeten Variablen aufgeführt. Hinsichtlich der Partizipation an der Partnerwahl zeigt sich, dass knapp die Hälfte (48 %) der Befragten angibt, die Entscheidung allein zu treffen. Fast genauso viele geben an, dass sie zusammen mit der Familie entscheiden (46 %). Die Familie entscheidet bei nur ca. einer von 20 Personen (6 %) allein. Die Verteilung ähnelt der in den Analysen von Klaus (2008, S. 69) dargestellten Verteilung für die jüngste Kohorte aus dem Turkish Demographic and Health Survey.

Tab. 1: Kodierungen und deskriptive Statistiken für die abhängige und unabhängigen Variablen (N = 202)

Als nächstes wurden bivariate und multivariate ordered logit-Modelle geschätzt. Einige der Variablen weisen fehlende Werte auf, jedoch maximal 7 %. Um Fälle mit fehlenden Werten nicht aus den Schätzungen auszuschließen (listwise deletion), was neben der kleineren Fallzahl auch zu verzerrten Schätzern führen kann (Acock 2005), wurde das Verfahren der Multiplen Imputation angewandt. Hierbei wird zunächst auf Basis der Informationen aus den anderen Variablen im Datensatz eine festzulegende Anzahl von neuen Datensätzen mit vollständigen Informationen geschätzt. Anschließend werden die neu generierten Datensätze nach dem von Rubin (1987) vorgeschlagenen Verfahren kombiniert. Mit Hilfe des mi-Befehls von Stata wurden 20 neue Datensätze anhand von insgesamt 37 Variablen generiert, zu denen auch die hier beschriebenen Variablen gehören. Probehalber wurden die ordered logit-Modelle ohne Multiple Imputation geschätzt und es zeigten sich keine substanziellen Unterschiede zu den Ergebnissen mit Imputation. Lediglich das Signifikanzniveau von zwei Koeffizienten sank ohne Anwendung des Imputationsverfahrens von unter 5 % auf unter 10 %. Um die Modelle auf Multikollinearität hin zu überprüfen wurde für jede unabhängige Variable der Varianzinflationsfaktor ermittelt. Die Werte bewegten sich zwischen 1,03 und 1,19, was deutlich unter dem von Allison (2012) als kritisch bezeichneten Wert von 2,5 liegt.

Die Ergebnisse der ordered logit-Schätzungen finden sich in Tab. 2. In der linken Spalte sind die odds ratios, in der rechten die jeweiligen Standardfehler aufgeführt. In den bivariaten Modellen erweisen sich für vier von sechs Variablen die im Theorie-Teil vorhergesagten Effekte als statistisch signifikant. Zumindest bivariat scheint dagegen Bildung keinen signifikanten Einfluss auf die Partizipation an der Partnerwahl auszuüben. Ebenso wenig macht es keinen Unterschied, ob der eigene Freundeskreis ausschließlich aus gleichethnischen Personen zusammengesetzt ist oder auch viele Deutsche darunter sind.

Tab. 2: ordered logit-Schätzungen des Einflusses individueller und Netzwerk-Eigenschaften auf den Grad der familiären vs. individuellen Partizipation an der Partnerwahl

In Modell 1 wurden alle unabhängigen Variablen in die Schätzung aufgenommen. Substanzielle Unterschiede gegenüber dem bivariaten Modell ergeben sich dadurch nicht. Der Bildungseffekt ist weiterhin nicht signifikant. Das odds ratio zeigt aber in die vorhergesagte Richtung und mit jedem zusätzlichen Bildungsjahr steigt die Chance um 11 %, der nächsthöheren Kategorie auf der abhängigen Variable anzugehören, also die Partnerwahl allein zu entscheiden anstatt zusammen mit der Familie oder zusammen mit der Familie anstatt dass die Familie allein entscheidet. Kontakte mit Deutschen im Verwandtschaftsnetzwerk erweisen sich als signifikant. Mit jedem zusätzlichen Skalenpunkt auf der insgesamt fünfstufigen Skala erhöht sich die Chance, der nächsthöheren Partnerwahlkategorie anzugehören, um 33 %. Das stimmt mit den theoretischen Überlegungen überein. Dagegen hat die ethnische Zusammensetzung des Freundeskreises auch im multivariaten Modell keinen Einfluss auf die Partnerwahlpraxis (p = 0,874).

Der Effekt von Religiosität fällt gegenüber dem bivariaten Modell nochmal etwas stärker aus und ist nun höchst signifikant (OR = 0,69). Mit jedem zusätzlichen Skalenwert sinkt die Chance um 30 %, einer nächsthöheren Partnerwahlkategorie anzugehören. Demzufolge haben Personen, die mehr als einmal pro Woche in die Moschee gehen (höchster Skalenwert), im Vergleich zu Personen, die das niemals tun, eine nur 17 %-ige Chance, dass sie ihre Partnerwahl allein entscheiden anstatt zusammen mit der Familie (oder zusammen mit der Familie, anstatt dass nur die Familie entscheidet).Footnote 3

Der Effekt der Freizeitaktivitäten hat sich ebenfalls gegenüber dem bivariaten Modell verstärkt und ist nun auf dem 5 %-Niveau signifikant. Mit jedem Anstieg um einen Skalenpunkt auf der insgesamt fünfstufigen Skala steigt die Chance um fast die Hälfte (OR = 1,45), der nächsthöheren Partnerwahlkategorie anzugehören, was einen sinkenden Einfluss der Familie auf die Partnerwahl mit steigender Frequenz von Freizeitaktivitäten bedeutet. Demzufolge hätte eine Person mit dem höchsten gegenüber einer Person mit dem niedrigsten Skalenwert eine um mehr als 300 % höhere Chance, der nächsthöheren Partnerwahlkategorie anzugehören.Footnote 4

Das Geschlecht hat ebenfalls einen höchst signifikanten Einfluss darauf, wer an der Partnerwahl beteiligt ist. Die Chance der Töchter, dass sie allein entscheiden anstatt mit der Familie oder zusammen mit der Familie anstatt dass die Familie allein entscheidet beträgt ca. ein Viertel der Chance der Söhne (OR = 0,27).

Im nächsten Schätzmodell wurden zusätzlich Personen in Partnerschaft inkludiert, wodurch sich die Fallzahl von 202 auf 326 erhöht. Nun wird auch der Bildungseffekt signifikant und verfehlt nur knapp das 5 %-Niveau (p = 0,053). Die Chance, der nächsthöheren Partnerwahlkategorie anzugehören, steigt mit jedem Bildungsjahr um 17 %. Demzufolge hätte eine Differenz von drei Bildungsjahren, die dem Unterschied zwischen einem Hauptschul- und Gymnasialabschluss entspricht, eine für die Gymnasialabsolventen 60 % höhere Chance zur Folge, die Partnerwahl allein anstatt zusammen mit der Familie zu entscheiden.Footnote 5 Alle anderen Koeffizienten behalten auch unter Einschluss der Personen in Partnerschaft dieselben Signifikanzniveaus. Damit erhärtet sich auch der Befund, dass es keinen Zusammenhang zwischen der ethnischen Zusammensetzung des Freundeskreises und dem Grad der individuellen Partizipation an der Partnerwahl gibt.

Als nächstes soll der in H6 postulierte indirekte Effekt des Geschlechts getestet werden. Die Annahme lautete, dass Töchter bei ihrer Partnerwahl häufiger als Söhne die Familie einbinden müssen, weil sie sich seltener auf den lokalen Partnermärkten aufhalten und daher weniger Gelegenheiten haben, selbst einen Partner kennenzulernen. Zunächst wurde anhand eines einseitigen t-Tests überprüft, ob sich die Mittelwerte von Söhnen und Töchtern hinsichtlich der Häufigkeit von Freizeitaktivitäten unterscheiden. Der Mittelwertunterschied erwies sich als hoch signifikant (p = 0,002) mit einem wie erwartet niedrigeren Wert für die Töchter (3,12 vs. 3,53)Footnote 6. Es wurde dann ein Strukturgleichungsmodell mit Hilfe der Software MPlus (Muthén und Muthén 2012) geschätzt, in dem zusätzlich zu den Variablen aus den Regressionsmodellen ein über die Häufigkeit von Freizeitaktivitäten vermittelter Effekt des Geschlechts auf die abhängige Variable spezifiziert wurde. Das dabei angewandte Schätzverfahren ist das Full Information Maximum Likelihood (FIML), mit dem sich auch fehlende Werte schätzen lassen und das ähnliche Ergebnisse wie die Multiple Imputation liefert (Acock 2005).

Die Ergebnisse aus der Schätzung finden sich in Modell 3. Darin ist zu sehen, dass der indirekte Effekt in die erwartete Richtung zeigt (OR = 0,91) und auf dem 10 %-Niveau signifikant ist. Insgesamt stellt dieser indirekte Einfluss aber nur einen kleinen Teil des Geschlechtseffekts dar, was bereits in den Modellen zuvor zu erkennen war, in denen das Geschlecht auch unter Kontrolle der Häufigkeit von Freizeitaktivitäten einen hoch signifikanten Einfluss hatte.Footnote 7 Was die anderen Variablen betrifft, so verschiebt sich lediglich das Signifikanzniveau für die Kontakte mit Deutschen im Verwandtschaftsnetzwerk von unter 5 % auf unter 10 %, während der Bildungseffekt nun auf dem 5 %-Niveau signifikant ist. In dem Modell steigt die Chance, der nächsthöheren Partnerwahlkategorie anzugehören, mit jedem Bildungsjahr um 20 %.

6 Diskussion

Der vorliegende Artikel behandelt die Determinanten des individuellen und familiären Einflusses auf die Partnerwahl von türkischstämmigen Personen. Anhand der empirischen Analysen konnte gezeigt werden, dass einige der theoretischen Erklärungsmuster, die sich in Transformationsländern wie der Türkei (Fox 1975; Klaus 2008) oder Nepal (Ghimire et al. 2006) bewährt haben, sich erfolgreich auf Migrantenfamilien anwenden lassen. Insofern lässt sich die Migrationssituation, zumindest für einige Bereiche des familialen Handelns, als eine Art beschleunigte Transformation von einem deszendenz- zu einem affinalverwandtschaftlichen Regime verstehen. Bildung spielt wie in den Transformationsländern auch bei den Migrantenfamilien eine zentrale Rolle für diesen Regimewechsel. Die empirischen Analysen mit den türkischstämmigen Personen konnten bestätigen, dass der individuelle Einfluss auf die Partnerwahl mit steigender Bildung einer Person zunimmt, wie das bereits aus einer Reihe von Studien aus Transformationsländern bekannt war (Ghimire et al. 2006; Thornton et al. 1994a; Fox 1975; Blood 1967). Ebenso hat sich gezeigt, dass Freizeitaktivitäten den individuellen Einfluss auf die Partnerwahl erhöhen, was mit den dadurch generierten Kennenlernchancen von potenziellen Partnerinnen und Partnern außerhalb der Familie erklärt wurde. Dies ist ein Befund, der bereits in einer Studie aus Nepal nachgewiesen werden konnte (Ghimire et al. 2006).

Des Weiteren scheint Religiosität in der Migrationssituation wie im Herkunftsland (Fox 1975) einen konservierenden Einfluss auf die familienorientierte Partnerwahl zu haben. An dieser Stelle muss aber angemerkt werden, dass der hier verwendete Religiositätsindikator, nämlich die Häufigkeit von Moscheebesuchen oder religiösen Veranstaltungen, neue Formen muslimischer Religiosität nur begrenzt erfassen kann. Einige Befunde vor allem aus der qualitativen Sozialforschung weisen darauf hin, dass sich bei den Kindern von muslimischen Immigrierten eine Gruppe herausgebildet hat, die ähnlich den jungen Menschen in urbanen Zentren muslimischer Länder (Badran 1999; Moghadam 2002; Göle 1996) einen vergleichsweise progressiven Islam praktizieren (Klinkhammer 2000; Nökel 2002; Karakaşoğlu-Aydin 2000; Tietze 2001). Dieser „neue Islam“, manchmal auch „Neo-Islam“ genannt, zeichnet sich durch eine Re-Interpretation islamischer Kodizes aus, sodass ein Geschlechteregalitarismus ebenso selbstverständlich wird wie eine Verurteilung traditioneller Partnerwahlformen als unislamisch (Nökel 2002, S. 221). Die Studien zeigen gleichzeitig, dass diese „moderne Idee des Islam“ (Stauth 2000, S. 14) außerhalb von Moscheen und stärker im Privaten oder in informellen Netzwerken praktiziert wird (Nökel 2002, S. 46, 62 ff.), weshalb mit herkömmlichen Religiositätsindikatoren wie der abgefragten Häufigkeit von Moscheebesuchen diese Form muslimischer Religiosität nicht ausreichend erfasst wird. Der Befund aus der vorliegenden Studie trifft daher vor allem für eine konservative Auslegung muslimischen Glaubens zu, wie sie eher in Moscheen zu finden ist. Neuere Befragungsinstrumente, mit denen auch andere Formen von Religiosität erfasst werden können, müssen daher zeigen, inwieweit sich der hier und bereits in anderen Studien (Diehl und König 2009, 2011) nachgewiesene Konnex zwischen Tradition und Religion aufrechterhalten lässt.

In dem vorliegenden Artikel wurde zudem überprüft, ob Kontakte mit Deutschen auf Primärgruppenebene, die als besonders harter Akkulturationsindikator betrachtet werden können, den Übergang vom deszendenz- zum affinalverwandtschaftlichen System beschleunigen. Lediglich solche Kontakte im Verwandtschaftsnetzwerk der Befragungsperson erwiesen sich als signifikanter Prädiktor für eine Partnerwahl ohne familiäre Partizipation. Für Kontakte mit Deutschen im eigenen Freundschaftsnetzwerk konnte nicht einmal ein tendenzieller Effekt in die vorhergesagte Richtung nachgewiesen werden. Folglich reicht die Akkulturation des Kindes (bzw. der Befragungsperson) allein nicht aus, um die familiäre Partizipation an der Partnerwahl zu senken. Erst wenn die Akkulturation auch das Verwandtschaftsnetzwerk erreicht hat, vollzieht sich ein Übergang vom familienorientierten zum individuellen Partnerwahlmodus. Diese intrafamiliäre Akkulturationsdiskrepanz, insbesondere zwischen den älteren und jüngeren Migrantengenerationen, ist bereits seit den 1990er Jahren in der Forschungsliteratur häufig thematisiert und für einen statistisch bedeutenden Teil von Migrantenfamilien empirisch nachgewiesen worden. Portes hat in diesem Zusammenhang auch den Begriff der „dissonant acculturation“ geprägt (vgl. Portes 1997; Portes et al. 2009 für einen Überblick zur theoretischen Diskussion und zu empirischen Befunden).

Dissonante Akkulturation in Bezug auf das Partnerwahlverhalten könnte das Konfliktpotenzial innerhalb der Familie steigern, wenn Kinder auf eine Partnerwahl nach westlichem Vorbild, also ohne familiäre Beteiligung, bestehen, Eltern und andere Familienmitglieder, deren Akkulturation weniger fortgeschritten ist, aber weiterhin Einfluss ausüben möchten. Wie groß dieses Potenzial ist, muss die zukünftige Forschung beantworten. Es gilt auch zu untersuchen, wie solche Konflikte ausgetragen oder welche Konfliktlösungsstrategien angewandt werden. Für die Türkei ist bekannt, dass eine solche Strategie die sogenannte „Brautentführung“ (kiz kaçırma) ist, die eher einem gemeinsamen „Durchbrennen“ der Partner entspricht (Bates 1974; Sertel 1969; Kudat 1974; Schiffauer 1987, S. 205–207). Befunde aus der Türkei weisen auf einen Anteil von knapp 10 % unter allen Partnerschaften hin (Timur 1981, S. 70–71; Klaus 2008, S. 69). Diesbezügliche Zahlen für Migrantenfamilien liegen nicht vor und deren Erfassung sollte ebenfalls Ziel zukünftiger Studien sein.

Das „Durchbrennen“ gestaltet sich wahrscheinlich deutlich schwerer, wenn dies nicht zusammen mit der Partnerin oder dem Partner, sondern allein geplant und ausgeführt werden muss, was nämlich der Fall ist, wenn eine Person gegen ihren Willen verheiratet werden soll. Mirbach et al. (2011) haben für das Jahr 2010 deutschlandweit alle Fälle zusammengetragen, in denen Personen bei einer Beratungseinrichtung um Hilfe erbeten haben, weil sie gegen ihren Willen verheiratet wurden oder werden sollten. Aus den Ergebnissen geht u. a. hervor, dass Frauen viel häufiger als Männer betroffen sind, denn von den 773 dokumentierten Fällen waren lediglich 37 männlich.

Die hier durchgeführten Analysen konnten ebenfalls bestätigen, dass der familiäre Einfluss bei der Partnerwahl der Töchter ausgeprägter ist. Dieser Befund knüpft an einer Reihe von Studien aus Transformationsländern an (Emran et al. 2009; Timur 1981; Blood 1967; Apostolou 2010) und offenbart das im Vergleich zu den Söhnen höhere Konfliktpotenzial zwischen Töchtern und Eltern, wenn es um die Partnerwahl geht. Schließlich wurde überprüft, ob sich der geschlechtsspezifische familiäre Einfluss auch darin begründet, dass Töchter seltener Gelegenheiten haben, selbst einen Partner kennenzulernen und daher zwecks Partnerfindung häufiger auf die Familie angewiesen sind als Söhne. Die Annahme konnte empirisch bestätigt werden, wenngleich die ungünstigeren Gelegenheitsstrukturen der Töchter nur einen kleinen Teil der Erklärung ausmachten und normative Ursachen wie Geschlechterrollen wahrscheinlich eine viel größere Rolle haben.

Angesichts der Präsenz des Themas im öffentlichen Diskurs mag es verwundern, warum in Deutschland bisher so gut wie keine Forschung auf diesem Gebiet betrieben wurde. Dabei wäre es auch relevant zu untersuchen, wie sich das Leben nach der Partnerwahl gestaltet und ob sich z. B. die Partnerschaftszufriedenheit (und damit zusammenhängend die Lebenszufriedenheit) unterscheidet, je nachdem, ob die Partnerwahl allein oder zusammen mit der Familie entschieden wurde. Abschließend lässt sich somit feststellen, dass die Forschung zu diesem in der Öffentlichkeit häufig diskutierten Thema noch in den Kinderschuhen steckt und es noch viel Potenzial für zukünftige Forschungsvorhaben auf diesem Gebiet gibt.