1 Einleitung: Elias’ dritte Soziologie

Norbert Elias kann zu den soziologischen Klassikern der zweiten Generation gezählt werden. Mit seinen Studien zur Höfischen Gesellschaft und zum Prozess der Zivilisation entwickelte er die Soziologien zweier Klassiker der ersten Generation, Georg Simmel und Max Weber, weiter (Footnote 1 Die darin angedeutete und später systematischer ausgearbeitete theoretische Konzeption der Figurationssoziologie wird heute als vielversprechender Ansatz gehandelt, unbefriedigende Dichotomien der Soziologie zu überwinden und ihren neueren Entwicklungen als konzeptionelle Hebamme zu dienen (z. B. Emirbayer 1997). Figurationssoziologen betonen in der Regel die Einzigartigkeit des Elias’schen Ansatzes (van Krieken 1998, 2000; Treibel 2008, S. 28; auch Hamp 2005, S. 23). Auch Elias selbst hat sich einer eigenständigen Position zugehörig gesehen, die weder individualistisch noch kollektivistisch einzuordnen sei (vgl. Elias 1987; van Krieken 1998; Treibel 2008, S. 22; auch Hamp 2005, S. 21). Figurationssoziologie wäre danach keiner der methodologisch unterscheidbaren „zwei Soziologien“ zuzuordnen, sondern einer „dritten Soziologie“.Footnote 2 So hat dies auch einer der Elias durchaus kritisch gegenüberstehenden Elias-Experten gesehen: Robert van Krieken (vgl. van Krieken 2000, aber auch 1998; vgl. auch Baumgart und Eichener 1991, S. 28 f.). In diesem Sinn wird hier ein Versuch unternommen, methodologisch und ontologisch zu konkretisieren, inwiefern die Figurationssoziologie als dritte Soziologie verstanden werden kann. Elias’ Position verbindet individualistische Elemente nämlich mit einem neuartigen Emergenzbegriff und geht damit über den methodologischen Individualismus in spezifischer Weise hinaus. Das damit verbundene methodologische Modell ist mit einem Kollektivismus unverträglich und „korrigiert“ quasi im Popper’schen Sinn das individualistische Modell der Erklärung.Footnote 3 Es beinhaltet partiell die individualistische Erklärung, enthält aber Elemente, die das individualistische Modell nicht kennt, und kann prinzipiell prognostizieren, woran individualistische Erklärungen vermutlich scheitern werden.

Dabei ist ein zweiter Punkt von zentraler Bedeutung. Elias entwirft seine methodologische Konzeption vor dem Hintergrund einer bestimmten Ontologie, die sowohl den grundlegenden Aufbau der natürlichen wie der sozialen Welt beinhaltet. Elias entwickelt eine Position, die sich in wichtigen Punkten vom Programm der Einheit der Wissenschaft grundlegend unterscheidet (vgl. zur Einheit der Wissenschaft Albert 1999).Footnote 4 Er ist davon überzeugt, dass jeder Gegenstandsbereich einer Wissenschaft einer eigenen ontologischen Untersuchung unterzogen werden muss und die jeweilige Methodologie den ontologischen Eigentümlichkeiten der verschiedenen Gegenstandsbereiche Rechnung tragen muss. Dies gilt natürlich auch für die Soziologie und die Menschenwissenschaften:

Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist etwas Einzigartiges. Es hat kein Analogon in einer anderen Sphäre des Seins. Dennoch können die Erfahrungen, die sich bei der Beobachtung des Verhältnisses von Teil und Ganzem in anderen Sphären gewinnen lassen, auch hier in einer bestimmten Hinsicht weiterhelfen. (Elias 2003, S. 37)

Diese Erfahrungen können Elias zufolge helfen, Denkblockaden aufzulockern. Zentral für die Elias’sche Position bleibt aber, dass physikalisch-chemische Wissenschaften, biologische Wissenschaften und Menschenwissenschaften drei jeweils eigentümliche Gegenstandsbereiche besitzen, deren ontologische Unterschiedlichkeit verschiedene methodologische Vorgehensweisen empfehlen lässt, die den allgemeinen Strukturen des Gegenstandsbereichs angemessen sind.

Im Folgenden geht es also um eine Rekonstruktion der Elias’schen Methodologie vor dem Hintergrund seiner Ontologie.Footnote 5 Es handelt sich um einen theoriegeschichtlichen Beitrag in systematischer Absicht im Sinne Wolfgang Schluchters (vgl. Schluchter 2006, 2007). Die zentrale theoriegeschichtliche These besteht darin, dass Elias’ Konzeption zwischen individualistischer und kollektivistischer Methodologie angesiedelt ist. Die systematische Absicht des vorliegenden Beitrags besteht darin, durch rationale Rekonstruktion der Elias’schen Position einen Beitrag zur Weiterentwicklung heutiger soziologischer Methodologie zu leisten – im Konkreten zur Mikro-Makro-Problematik. Diese systematische Absicht bringt eine spezielle Selektivität mit, was an Elias’ Soziologie, Ontologie und Methodologie thematisiert wird. Die Setzung thematischer Prioritäten, der z. B. die Frage der Prozessontologie sowie der Symboltheorie von Elias zum Opfer fällt, geschieht letztlich aber aus Beschränkungen des hier zur Verfügung stehenden Raums.

Der vorliegende Beitrag gliedert sich in drei noch folgende Schritte: Der anschließende Abschn. 2 rekonstruiert die Ontologie der natürlichen und der sozialen Welt von Norbert Elias. In Abschn. 3 folgt eine Rekonstruktion seiner damit eng verbundenen Methodologie. Abschnitt 4 resümiert die Resultate der Untersuchung und Abschn. 5 gibt einen Ausblick auf heutige methodologische Heuristik nach Norbert Elias.

2 Die Ontologie von Norbert Elias

2.1 Figurationen als soziale Ganze

Eine Rekonstruktion der Elias’schen (Sozial-)Ontologie beginnt am besten „von oben her“ mit seinem Begriff der „Figuration“. „Figuration“ stellt seinen zentralen Begriff für soziale Gebilde makrosozialer Art dar.Footnote 6 Familien, Dörfer, Städte, Klassen, Industriesysteme, Stämme, Stadtstaaten, Feudalreiche, Nationalstaaten: dies alles sind Elias zufolge Verflechtungs-, also Beziehungserscheinungen, und werden von ihm als Figurationen bezeichnet (Elias 1987, S. 53).Footnote 7 Figurationen sind Menschen-in-Beziehungen (Elias 2003, S. 34 f., 44, 1987, S. 137, 1986, S. 76, 141). Es sind größere gesellschaftliche Ganze, deren Teile die einzelnen Individuen sind (Elias 2003, S. 27). Diese sozialontologische Feststellung kommentiert Elias folgendermaßen:

‚Der Einzelne ist Teil eines größeren Ganzen, das er mit anderen zusammen bildet‘; es ist im Grunde nicht mehr als eine höchst banale und selbstverständliche Feststellung. Oder, genauer gesagt, es wäre eine banale Feststellung, dächten nicht so viele Menschen ständig an diesem einfachen Sachverhalt vorbei. Ein guter Teil der Äußerungen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, denen man heute begegnet, läuft, näher betrachtet, auf eine ganz entgegengesetzte Vorstellung hinaus. ‚In Wirklichkeit‘, so denken und empfinden die Vertreter dieser Haltung, „gibt es gar nicht so etwas wie eine Gesellschaft; in Wirklichkeit gibt es nur viele einzelne Individuen.“ (Elias 2003, S. 27 f.)

Elias verwendet auch den Begriff der Integrationseinheit synonym für den der Figuration, manchmal auch den Begriff des Integraten (z. B. Elias 1987, S. 53,195).Footnote 8 Diese beiden Begriffe, Integrationseinheit und Integrat, verdeutlichen den (moderaten) sozialontologischen Holismus, der sich hier bei Elias findet, denn diese Begriffe zielen ja auf die relative Kohäsion eines Ganzen.Footnote 9 Elias verwendet den Integrationsbegriff ständig in vielfältigen Variationen wie Integrationsstufen, Integrationsebenen, Integrationszustände, Modi der Integration etc. (vgl. Elias 1987). Ihm zufolge erklärt die Art und Weise, wie Einheiten integriert oder organisiert sind, die grundlegenden Unterschiede, die die von den verschiedenen Wissenschaften untersuchten „(Beobachtungs-)Einheiten“ aufweisen. Er spricht von dem atomistischen Grunddogma, das ungerechtfertigter Weise die Art der Einheiten der physikalisch-chemischen Wissenschaften zum Modell für die darüber liegenden, „höheren“ Wissenschaften wie die Biologie und die Soziologie oder die „Menschenwissenschaften“ macht. Er unterscheidet „idealtypisch“ zwei Arten von Modellen der Einheiten, also der Ganzen, wie sie in den Wissenschaften beobachtet werden, die sich in der Wirklichkeit auf den verschiedenen analytischen Untersuchungsebenen aber kontinuierlich einander ablösen. Diese Modelle lassen sich wiederum in einem übergreifenden „Kontinuum-Modell“ nebeneinander stellen (vgl. Elias 1987, S. 41 f.). Das atomistische Grunddogma, das sich das Verhalten eines Ganzen aus dem seiner Teile ergibt und diese Teile auch aus ihrem Kontext, dem Ganzen, isoliert werden können, ohne ihre charakteristischen Eigenschaften zu verlieren, steht einer anderen Auffassung, man kann sie getrost holistisch nennen, gegenüber, der zu Folge, die charakteristischen Eigenschaften der Teile sich aus ihrer Integration in ein Ganzes ergeben und sie diese Eigenschaften verlieren können, wenn man sie isoliert (Elias 1987, S. 197 f.). Die auf Isolierung von Teileinheiten beruhende Form der atomistischen Analyse der chemisch-physikalischen Wissenschaften ist in der Biologie und den Menschenwissenschaften nicht anwendbar (Elias 1987, S. 194).

2.2 Die relationalen Eigenschaften des Menschen als Kennzeichen seiner ontologischen Soziabilität

Wenn Elias seine Ganzen als im Husserl’schen Sinne „integrierte Ganze“ auffasst, wie oben gezeigt wurde, so ist zu vermuten, dass sich in seinen Schriften auch die definitorischen Merkmale integrierter Ganzer, nämlich relationale Merkmale des Menschen, finden lassen, die sich anthropologisch als grundlegende Sozialität des Menschen ausdrücken: dass der Mensch also von seinen grundlegenden Anlagen her ein in Gesellschaft von Artgenossen lebendes Wesen ist.Footnote 10 Textstellen mit solchen Thesen lassen sich bei Elias viele finden. Elias geht davon aus, dass viele biologische Organismen „soziale“ Wesen sind, der Mensch diese Eigenschaft aber im Besonderen besitzt (vgl. z. B. Elias 1987, S. 231).

Diese Sozialität des Menschen liegt für Elias in der biologischen Evolution begründet:

Es spricht vieles dafür, dass gerade in der Evolution der Hominiden, die keine angeborenen Waffen wie Klauen oder besonders mächtige Zähne besitzen, der Zusammenschluss zu Gruppen im Überlebenskampf mit anderen Arten wie mit anderen Gruppen der eigenen Art eine ganz zentrale Rolle spielt. Die Entwicklung vieler artspezifischer Eigentümlichkeiten von Menschen ist ohne diese fundamentale Abgestimmtheit des einzelnen Menschen auf das Zusammenleben mit anderen Menschen kaum verständlich. (Elias 1987, S. 232)

Die grundlegende Sozialität des Menschen zeigt sich auch in der enormen Bedeutung des Aufwachsens in menschlicher Gesellschaft und der Übernahme gesellschaftlicher Modelle in der Sozialisation (vgl. z. B. Elias 2003, S. 47). Zentrale Eigenschaften des Menschen sind auf ihr Entstehen durch gesellschaftliche Prägung angewiesen, wie z. B. Sprache, Langsicht und Triebsteuerung. Diese Eigenschaften haben generischen Charakter, werden also je nach gesellschaftlichem Kontext erst in spezifischer Weise ausgeprägt (vgl. Elias 2003, S. 41). Der Mensch lebt damit niemals verflechtungs- oder beziehungsfrei (vgl. zum folgenden Elias 2003, S. 31–48). Ein anthropologischer Grundtatbestand besteht nämlich in der „elementaren Gesellschaftsbezogenheit“ des Menschen, in der „Gruppenhaftigkeit des Menschenlebens“ (vgl. auch Treibel 2008, S. 27). Er ist ein Mensch mit „Valenzen, die sich auf andere richten“ (Elias 1986, S. 47). Diese Valenzen sind grundlegend relationaler Natur und bilden, da sie zur Sättigung drängen, die Grundlage der menschlichen Beziehungen. Was die Menschen voneinander abhängig macht, ist nicht auf jeder Entwicklungsstufe dasselbe, aber es gibt universale Abhängigkeiten, denn allein schon der Körper bildet eine Quelle motivierender Energien. Das Streben nach Befriedigung ist nicht nur beim Sex, sondern auch bei anderen Gefühlsbefriedigungen von vornherein auf andere Menschen gerichtet. Es gibt ein emotionales Bedürfnis nach Gesellschaft beim Menschen. Er ist von klein auf durch persönliche, aber auch durch unpersönliche Arbeits-, Besitz-, Trieb- und Affektketten an andere gebunden. Und kraft seiner elementaren „Ausgerichtetheit“ – was genau dem üblichen Begriff der Intentionalität entspricht – und Angewiesenheit aufeinander bildet der Mensch Figurationen (Elias 1986, S. 12)!Footnote 11 Seine elementare Natur bindet ihn also zur „Gesellschaft“ zusammen. Aber der Mensch lebt immer in spezifischen Beziehungen veränderbaren Charakters, und von daher erhält er auch sein Gepräge: Die „Beweglichkeit“ der Beziehungen impliziert daher die grundlegende Variabilität der sozialisatorischen Prägung.

Die Neigung zur Bildung gesellschaftlicher Formationen ist folglich biologisch verankert. Auch wenn entgegen dem biologischen Atomismus damit schon die Art als holistische Entität aufgefasst werden muss, so schieben sich zwischen biologischen Organismus und Art doch die Integrationsstufen spezifischerer Art, die Gruppierungen in sozialen Einheiten wie in Familien, Stämmen, Staaten und ähnlichen Figurationen mehr. Wie viele Organismen zeichnet sich der Mensch also im Besonderen durch eine „ontologische Soziabilität“ aus (Elias 1987, S. 254)! Damit meint Elias, dass das Sein und die Existenz des Menschen in fundamentaler Weise gesellschaftsbezogen ist, der Mensch also, ganz im Sinne von Aristoteles, ein „zoon politikon“ ist.

2.3 Emergenz und Reduktion in Elias’ Stufenontologie

Zeigt sich bis hierher, dass Elias soziale Figurationen als integrierte/holistische Ganze versteht, deren Teile Menschen bilden, die aufgrund ihrer relationaler Eigenschaften anthropologisch gesehen aufeinander angewiesen und daher soziale Wesen sind, so findet sich bei ihm auch das Thema der Irreduzibilität und der Emergenz. Und es ist erstaunlich: Elias bezieht klar und eindeutig eine emergentistische Position und zwar in einer solchen Weise, dass man vermuten muss, dass er sich mit dem Thema auseinander gesetzt hat, dass er also Literatur zum Thema gelesen hat; er erwähnt den Begriff der Emergenz aber nicht.Footnote 12 Wie auch immer, seine Position umfasst die Beschreibung von Integrationsstufen, auf denen sich auf den höheren Stufen Gebilde befinden, die Eigenschaften besitzen, die nicht reduzierbar, sondern (stark) emergent sind. Auch der im Emergentismus immer wieder auftauchende Topos der nicht-intendierten Folgen intentionalen Handelns taucht bei ihm auf sowie die typisch emergentistische Vorstellung, dass seine Position sich jenseits der Positionen eines SubstanzdualismusFootnote 13, eines VitalismusFootnote 14 und eines physikalistischen MaterialismusFootnote 15 finden lässt (vgl. Stephan 2006).

Elias zufolge gibt es drei Hauptgruppen der theoretisch-empirischen Wissenschaften, die physikalisch-chemischen, die biologischen und die Menschenwissenschaften (soziologische Wissenschaften) (Elias 1987, S. 187).Footnote 16 Sie spiegeln die hierarchisch aufgebaute Wirklichkeit wider, in der sich aus atomaren und molekularen Einheiten, also einfacheren Integraten, komplexere Einheiten entwickeln (Elias 1987, S. 230 f.). Die höheren Integrationsstufen der Wirklichkeit zeichnen sich durch immer komplexere Einheiten, Integrate, Ganze, aus.Footnote 17 Elias gibt eine zusammenfassende Darstellung der verschiedenen Integrationsstufen, mit den jeweiligen Integraten und den Integranten, also den Teilen, aus denen sich die Integrate, die Ganze, zusammensetzen, die dem wissenschaftlichen Wissen seiner Zeit entsprechen soll (vgl. Elias 1987, S. 230).

Abb. 1
figure 1

Elias’ Ontologie der aus Teil und Ganzen zusammengesetzten Integrationsstufen (Elias 1987, S. 230)

Die Gliederung der Wissenschaften in die autonomen Einzelwissenschaften steht also in einem engen Zusammenhang mit der Gliederung der Welt in Integrationsstufen oder Integrationsebenen (vgl. Elias 1986, S. 62). Lässt man mögliche Ausnahmen wie die der „Pseudospezialisierung“ beiseite, so befassen sich die drei Hauptgruppen der Wissenschaft gerechtfertigter Weise mit verschiedenen Integrationsebenen des Universums (Elias 1986, S. 47, 62 f.). Das Kennzeichen der Gebilde/Integrate auf den höheren Ebenen ist nun aber, dass sie weder ontologisch noch epistemologisch reduzierbar sind. Zum einen ist es also eine ontische Autonomie, die die höheren Einheiten auszeichnet. Elias geht hier von Einsichten der Biologie aus, verallgemeinert diese dann aber anschließend für die Soziologie (vgl. Elias 1986, S. 47). Die relative „ontische“ Autonomie der höheren Integrationsebenen impliziert deren ontologische Irreduzibilität, die auch die Unmöglichkeit der reduktiven Erklärung der Eigenschaften höherer Ebenen zur Folge hat:Footnote 18

Die physikalischen, die biologischen und die soziologischen Wissenschaften befassen sich mit verschiedenen Integrationsebenen des Universums. Auch hier begegnet man auf jeder Ebene Typen des Zusammenhangs, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht aus denen der vorangehenden Integrationsstufe erklären und verstehen lassen. So lässt sich das Funktionieren eines Staates, einer Fabrik, einer Familie nicht einfach aus biologisch-psychologischen Eigenschaften der sie zusammensetzenden Individuen verstehen und erklären. (Elias 1986, S. 47)

Die epistemologische Reduktion von Ganzen auf ihre Teile ist für Elias typisch für die physikalisch-chemischen Wissenschaften, wo sie teilweise gerechtfertigt ist, da es der Wissenschaftler hier weniger mit integrierten Ganzen zu tun hat. Je höher aber die Integrationsstufe ist, die man erforscht, desto unangemessener ist die Anwendung reduktiver Methoden:

Im Falle von Beobachtungseinheiten wie Mengen und Populationen ist es ein angemessenes Forschungsziel, theoretische Modelle einer zusammengesetzten Einheit als ganzer zu entwickeln, indem man diese als die Summe ihrer Komponenten behandelt und ihre Eigentümlichkeiten auf die ihrer zusammensetzenden Teile zurückführt. Aber die Reduktion auf Teileinheiten wird desto weniger angemessen, je weiter man innerhalb des Kontinuums der Modelle zu höher organisierten Gebilden aufsteigt. (Elias 1987, S. 45)

Reduktion taugt also für die physikalisch-chemischen Wissenschaften, nicht aber für die Biologie und Soziologie (vgl. insgesamt zur Reduktion Elias 2003, S. 21 f., 23, 1987, S. 45, 47 f., 50, 70 f., FN. 8, 54, 57, 189, 194). Die höheren Gebilde der Biologie und Soziologie zeichnen sich eben durch Eigenschaften aus, die ihrer Integrationsstufe eigentümlich sind, neu hinzukommen und auf den darunter liegenden Stufen nicht zu finden, d. h. also emergent sind.

Sie (unsere herkömmlichen Sprachgewohnheiten) verdecken zunächst einmal die offensichtliche Tatsache, dass die Gebilde der jeweils höheren Organisationsstufen Gebilde aller relativ niedrigeren Organisationsstufen der Natur in hierarchischer Ordnung als Teileinheiten enthalten. Der Tatsache aber, dass die ersteren stufenspezifische Eigentümlichkeiten haben, die die Teileinheiten der jeweils niedrigeren Stufe nicht besitzen, und die sich auch nicht allein aus deren Eigentümlichkeiten herleiten lassen, wird gewöhnlich dadurch Rechnung getragen, dass man sie symbolisch verdinglicht und dann als etwas hinstellt, das rein additiv zu den Einheiten der jeweils niedrigeren Integrationsstufe hinzugefügt wird. So drückt man etwa den Unterschied zwischen denjenigen Integrationsstufen, die den Gegenstandsbereich der physikalisch-chemischen Wissenschaften und denjenigen Integrationsstufen, die den Gegenstandsbereich der biologischen Wissenschaften bilden, durch den Begriff „Leben“ aus. Man unterstellt gewissermaßen, dass Organismen physikalisch-chemische Gebilde seien, zu denen noch etwas hinzukommt, nämlich „Leben“. In der gleichen Weise unterscheidet man die Integrationsstufen der nicht-menschlichen von denen der menschlichen Lebewesen dadurch, dass man den letzteren neben dem animalischen Körper zusätzlich noch etwas weiteres zuschreibt, ein unsichtbares Ding, eine „Seele“ oder je nachdem auch „Geist“, „Bewusstsein“ oder „Vernunft“. (Elias 1987, S. 202 f.)

Abgesehen davon, dass man heute in der Regel auch Tieren Bewusstsein zuschreibt, vertritt Elias hier eine emergentistische Standardposition. Einheiten höherer Stufen, also Ganze oder Systeme oder ähnliches, setzen sich aus Einheiten niedrigerer Stufe, Teilen, Teilsystemen oder Bestandteilen, zusammen und besitzen auf dieser Stufe Eigenschaften, die die Teileinheiten nicht besitzen, also emergente Eigenschaften. Es entspricht der Standarddefinition, wenn man sagt, dass emergente Eigenschaften Eigenschaften von Ganzen (systemische) sind, die kein Bestandteil des Ganzen (oder des Systems) besitzt (vgl. z. B. Stephan 2001, S. 124–129).Footnote 19 Elias spricht nun zwar nicht von Eigenschaften, kritisiert aber den verdinglichenden Sprachgebrauch, was grundsätzlich korrekt ist. Denn die Mehrheit der Emergenztheoretiker geht heute davon aus, dass es keine dinghaften Objekte sind, die emergent sind, sondern Eigenschaften, sodass ein verdinglichender Sprachgebrauch in dieser Perspektive tatsächlich in gewisser Weise irreführend sein könnte.Footnote 20 Und schließlich stellen die von Elias gewählten Beispiele für emergente Phänomene, „Leben“ und „Bewusstsein“, Standardbeispiele der Emergenzdiskussion dar.

Elias kann auch die Frage beantworten, was denn genau im Bereich des Sozialen emergent ist. Denn wie andere heutige Emergenztheoretiker stellt Elias den Begriff der nicht-intendierten Folgen des Handelns mit ins Zentrum seiner theoretischen Begriffe (vgl. Elias 1976b, S. 312–316; Treibel 2008, S. 87 ff.; van Krieken 1998, z. B. S. 6, 23 f., 28, 50–55, 65; Archer 1995; Sawyer 2005). Elias siedelt seine „emergentistische“ Position auch genau in derselben Weise wie die Mehrheit der heutigen Emergenztheoretiker an: als eine Position zwischen physikalistischem Materialismus, Substanzdualismus und Vitalismus (vgl. dazu Stephan 2001). Substanzdualistische Vorstellungen wirft er den kollektivistischen Theoretikern vor. Während Elias die „Eigengesetzlichkeit der Beziehungen“ betont, betrachteten Kollektivisten Gesellschaften ihm zu Folge fälschlicher Weise als überindividuelle Substanzen:

Da sie sich Gesetzlichkeiten nur als Gesetzlichkeit von Substanzen oder von substanziellen Kräften vorzustellen vermögen, denken sie sich unwillkürlich zu der Gesetzlichkeit der menschlichen Beziehungen, die sie beobachten, auch eine eigene Substanz jenseits der Individuen hinzu. Sie können sich aufgrund dieser spezifischen gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten die Gesellschaft nur als etwas Überindividuelles vorstellen. Sie erfinden sich zu diesen Gesetzmäßigkeiten als deren Träger entweder einen „Kollektivgeist“ oder einen „Kollektivorganismus“ oder, je nachdem, auch überindividuelle geistige und überindividuelle materielle Kräfte in Analogie zu den naturalen Kräften und Substanzen.Footnote 21 (Elias 2003, S. 35)

Die physizistischen und reduktionistischen Materialisten und die vitalistischen Idealisten bieten Elias zu Folge keine tragfähigen Sichtweisen an (vgl. Elias 1987, S. 226 f.). Elias stellt sein eigenes emergentistisches Programm diesen typischen Alternativ-Programmen, die sich bei methodologischen Individualisten und methodologischen Kollektivisten finden, gegenüber. Er betont im Gegensatz zu diesen eine spezifische Eigengesetzlichkeit der Beziehungen zwischen den Teilen von Ganzen, in der Soziologie also der Beziehungen zwischen Menschen, qua derer sie Figurationen bilden. Damit sind neben der ontologischen Frage aber gleichzeitig epistemologische Fragen seiner Erklärungskonzeption angesprochen.

3 Die Methodologie von Norbert Elias

3.1 Die explanative Bedeutung der Beziehungen/Relationen

Beziehungen haben Elias zu Folge Struktureigentümlichkeiten und Eigengesetzlichkeit (Elias 1986, S. 111). Elias scheint hier von einer Art explanativer Emergenz auszugehen. Irreduzibilität und Emergenz von neuartigen Gesetzmäßigkeiten auf höheren Ebenen der Integration sind bei Elias die zwei Seiten derselben Medaille, die auch für die Ebene der menschlichen Gesellschaften gilt. Während er sich zum einen eindeutig von reduktionistischen Erklärungsmodellen individualistischer Theoretiker distanziert, die sich Gesetze nur an substanzhaften Körpern einzelner Individuen vorstellen könnten, kämpft er auf der anderen Seite gegen den Substanzdualismus der Kollektivisten, die sich zu den Gesetzen überindividuelle substanzhafte Kollektivgebilde wie einen Kollektivgeist oder einen Kollektivorganismus erfänden (Elias 2003, S. 35 f.). Individualisten wie Kollektivisten würden daher verkennen, dass Gesetze nicht nur an Substanzen individueller oder über-individueller Art vorkommen könnten, sondern auch an Beziehungen selbst. Von den Ganzen unterer Integrationsebenen, die reduktionistisch erklärbar seien unter Rückgriff auf die Eigenschaften ihrer Teile, käme es beim Höhergehen auf der Hierarchie der Integrationsstufen zu einem „Umschlag vom Primat der zusammensetzenden Teile zum Primat der Organisationsform als Explanans, als des Erklärenden“ (Elias 1987, S. 249).Footnote 22 Das Muster der Beziehung, die Struktur der Figuration, steht damit explanativ im Mittelpunkt des Elias’schen Erklärungsmodells:

Man bedarf, mit anderen Worten, sowohl einer Kenntnis der Funktionsweise von Teileinheiten wie einer Kenntnis der Funktionsweise der zusammengesetzten Einheit, die sie miteinander bilden, also des Modus ihrer Integration. Je höher man auf einer solchen evolutionären von einem Gegenstandsbereich zum anderen heraufsteigt, desto stärker wird der Primat des Musters der Integration als Erklärungsfaktor der Eigenschaften einer zusammengesetzten Einheit, verglichen mit der Bedeutung von isoliert beobachteten Eigenschaften von Teileinheiten als Faktoren der Erklärung. (Elias 1987, S. 201)Footnote 23

Diese Textstelle ist nicht mit dem methodologischen Individualismus vereinbar, obwohl dieser durchaus die Struktur der Beziehungen zwischen den Akteuren in seinen Erklärungen berücksichtigt. Die Passage über die isoliert beobachteten Eigenschaften von Teileinheiten, die an Erklärungskraft verlieren sowie über das damit verbundene Primat des Integrationsmusters, also der Beziehungsstruktur, als Erklärungsfaktor indiziert die emergentistische, anti-reduktionistische Stoßrichtung der Elias’schen Erklärungskonzeption. Die Struktur wird nämlich erst dann zum primären Faktor, wenn man nicht aus dem Verhalten der Teile in anderen Strukturen oder in Isolation erklären kann, wie sie sich in dieser davon verschiedenen Struktur verhalten (vgl. dazu Stephan 2001, S. 129). Die Elias’sche Emphase auf dem Stellenwert der Beziehungen selbst unter Ablehnung der Vorstellung über-individueller Kollektiventitäten macht auch seine Kritik des emergentistischen „Orakelspruchs von dem Ganzen, das mehr als seine Teile sei“, verständlich (Elias 2003, S. 203). Es kommt bei Elias zu den Individuen als den Teilen eben keine über-individuelle Kollektiventität neu hinzu. Elias versucht eher horizontal als vertikal, also auf der Beziehungsebene, zu denken und verbindet damit die Vorstellung, dass das „Ganze etwas anderes ist als die Summe seiner Teile“, wobei er hier interessanter Weise auf die holistischen Einsichten der Gestaltpsychologie verweist (Elias 2003, S. 22).Footnote 24

3.2 Die motivationale Prägung im Zentrum der Mikro-Makro-Programmatik

Nun empfiehlt Elias aber keineswegs, bei soziologischen Erklärungen nur die Ebene der menschlichen Beziehungen in Betracht zu ziehen und damit praktisch auch „eine Art von“ rein makrosoziologischer Forschung zu betreiben, indem etwa die Dynamik der (Beziehungs-)Figurationen rein unter Rückgriff auf andere solche Figurationen erklärt würde.Footnote 25 Wie in obigem Zitat schon deutlich wurde, spielen auch bei ihm die Eigenschaften der Teile bei der Erklärung der Eigenschaften des Ganzen durchaus eine Rolle. Er scheint doch eher der Meinung zu sein, dass für soziologische Erklärungszwecke immer die Mikro-Ebene der Individuen wie die Makroebene der Figuration betrachtet werden muss:

Vielleicht ist bereits genug gesagt worden, um anzuzeigen, dass die konventionelle Trennung, wohlgemerkt, die Trennung, nicht die Unterscheidung, zwischen der wissenschaftlichen Untersuchung des Menschen und der Menschen fragwürdig ist. Es gehört zu den größten Mängeln der konventionellen soziologischen Theorien, dass sie zwar das Bild von Menschen als Gesellschaften zu klären sucht, nicht zugleich aber auch das Bild von Menschen als Individuen. (Elias 1986, S. 139)

Im Falle hochintegrierter Strukturgebilde, also integrierter Ganzer, gewinnt für Elias ein bestimmter Typus von Forschungsoperationen die Oberhand: „nämlich Auf- und Abbewegungen zwischen Modellen der umfassenderen Einheit und solchen ihrer Teileinheiten“ (Elias 1987, S. 44; vgl. auch Treibel 2008, S. 24). Zum Verstehen und Erklären umfassenderer integrierter Einheiten müsse man zwischen den verschiedenen Integrationsebenen, also zwischen Ganzen und Teilen, auf- und abwärts steigen (Elias 1987, S. 45 f., 247, 1987).

Wird aus diesen Bemerkungen von Elias schon deutlich, dass er immer auf eine Untersuchung von Teilen und Ganzem, Individuum und Figuration, Mikro- und Makroebene drängt, so scheint die von ihm geforderte Auf- und Abbewegung zwischen Mikro- und Makroebene hier zunächst doch eher unbestimmten Charakters zu sein. Dies konkretisiert Elias aber an verschiedenen anderen Stellen: Man müsse vom Ganzen zu den Teilen hin denken, von den Beziehungen her auf das Bezogene, also von der Figuration hin auf das Individuum (Elias 1986, S. 124, 1987, S. 211). Und die Beziehung zwischen höherer Integrationseinheit und Teileinheit, zwischen Figuration und Individuum, ist eine der Prägung. Die höhere Integrationseinheit ist die Prägestätte der Teileinheit (Elias 1987, S. 256). Beziehungen sorgen für das Gepräge der Einzelnen (Elias 2003, S. 38). Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen und wächst in Beziehungen auf. Er bedarf der Modellierung durch andere. Die grundlegende Gesellschaftsbezogenheit, die vom sozialontologischen Atomismus immer missachtet wird, lässt die Sozialisation des Menschen, seine Prägung, als zentralen Erklärungsfaktor in den Mittelpunkt rücken:

Das Kind ist nicht nur in ganz anderem Maße prägsam als der Erwachsene. Es bedarf der Prägung durch andere, es bedarf der Gesellschaft, damit aus ihm ein psychisch Erwachsener wird. Hier bei dem Kind, sind es nicht nur Gedanken, nicht nur bewusstseinsgesteuerte Verhaltensweisen, die sich ständig in Beziehung zu anderen und durch die Beziehung zu anderen bilden und umbilden, sondern auch die Triebrichtungen, auch die triebgesteuerten Verhaltensweisen (…) Ohne die Einverleibung von gesellschaftlich vorgeformten Modellen, von Teilen und Produkten dieser mächtigeren Wesen, ohne die Ausprägung seiner psychischen Funktionen durch sie, bleibt das kleine Kind, um es noch einmal zu sagen, nicht viel mehr als ein Tier. Und eben weil das hilflose Kind, um ein stärker individualisiertes und differenzierteres Wesen zu werden, der gesellschaftlichen Modellierung bedarf, kann man die Individualität des Erwachsenen nur aus seinem Beziehungsschicksal, nur im Zusammenhang mit dem Aufbau der Gesellschaft, in der er heranwuchs, verstehen. So gewiss jeder Mensch ein Ganzes für sich ist, ein Individuum, das sich selbst steuert, so gewiss ist zugleich die ganze Gestalt seiner Selbststeuerung, der bewussteren wie der unbewussteren, ein Verflechtungsprodukt, nämlich herangebildet in einem kontinuierlichen Hin und Her von Beziehungen zu anderen Menschen, so gewiss ist die individuelle Gestalt des Erwachsenen eine gesellschaftsspezifische Gestalt. (Elias 2003, S. 46 f.)Footnote 26

Die motivationale Prägung des Menschen ist ein Verflechtungsprodukt, ein Ergebnis seines „Beziehungsschicksals“, also der jeweiligen Beziehungs-Figurationen.Footnote 27 Dabei formuliert Elias hier keineswegs die „triviale“ These, dass jeder Mensch einen Sozialisationsprozess durchläuft. Dieser These würde sicherlich jeder Sozialwissenschaftler zustimmen. Nein, Elias verfechtet hier eine These, die bei den individualistischen Atomisten für Widerspruch sorgen dürfte. Es ist die Vorstellung, dass sich durch die motivationale Prägung die Gesetze menschlichen Erlebens, Verhaltens und Handelns herstellen oder ändern.Footnote 28 Diese These impliziert, dass es sinnlos wäre, nach einer allgemeinen Theorie des Handelns Ausschau zu halten, da die darin formulierten Gesetze nicht immer Gültigkeit besäßen. Elias spricht von „wandelbaren Gesetzen“ und bezieht dies auf die von Natur aus bestehende, besondere Wandelbarkeit des Menschen (Elias 1986, S. 114).Footnote 29 Menschliche Verhaltenssteuerung sei aufgrund der ererbten Konstitution des menschlichen Organismus so eingerichtet, dass sie in höherem Maße von durch Lernen geprägten Antrieben bestimmt werde als die irgendeines anderen Lebewesens (Elias 1986, S. 116). Eine Universalie der menschlichen Gesellschaft sei daher die innerhalb natürlicher Grundlagen grenzenlose Wandelbarkeit des menschlichen Erfahrens und Verhaltens (Elias 1986, S. 118).

Diese Wandelbarkeit des menschlichen Erfahrens und Verhaltens impliziert die Wandelbarkeit der damit verbundenen theoretischen Gesetze und erfordert von daher eine auf diese Sachverhalte zugeschnittene Methodologie.Footnote 30 Die Orientierung an der Physik hat bisher aber verhindert, dass in den Menschenwissenschaften angemessene Denkwerkzeuge zum Einsatz gekommen wären (Elias 1986, S. 43). Es werde immer deutlicher, dass das mit der Physik verbundene, gegenwärtig herrschende Bild von der Natur als einer Welt der ewig gültigen Gesetze dem Problem des Wandels der Natur nicht gerecht werde (Elias 1987, S. 195 f.).

Damit trifft Elias direkt einen heutigen wichtigen Strang philosophischer Diskussion, der wissenschaftstheoretische Fragen von Erklärung und Kausalität in den „special sciences“ abseits der Physik in den Mittelpunkt stellt.Footnote 31 Hier wird von einigen Philosophen konstatiert, dass die Wirklichkeit in diesen „Spezialwissenschaften“ nicht dem klassischen Erkenntnisideal entspricht. In der Biologie wie auch in der Medizin finden sich anscheinend keine echten „Naturgesetze“ wie – vielleicht – in der Physik (vgl. Bartelborth 2007, S. 83). Daher werden für die „special sciences“ Erklärungs- und Kausalitätskonzeptionen entwickelt, die für deren Gegenstandsbereiche nicht von der Existenz von Naturgesetzen ausgehen. Nancy Cartwright schwächt z. B. den Gesetzesbegriff ab und spricht nur noch von ceteris-paribus-Gesetzen, sogar in der Physik (vgl. Cartwright 2002). Eine andere Möglichkeit besteht darin, überhaupt von der Forderung nach Gesetzen in Erklärungen abzurücken und einen Ersatz für den Gesetzesbegriff zu schaffen, wie dies James Woodward und, im Anschluss an Woodward, Thomas Bartelborth tun (vgl. Woodward 2000; Bartelborth 2007). Statt von universellen Gesetzen spricht Woodward von „Invarianzen“, Bartelborth von „nomischen Mustern“ als erklärenden Generalisierungen, die relativ stabile, genuin dispositionale Eigenschaften bestimmter Objekte oder Systeme beschreiben (Bartelborth 2007, S. 83). Der Begriff des Gesetzes als universelle Generalisierung wird auch hier für Wissenschaften wie die Soziologie als unbrauchbar angesehen. Zwar muss ein nomisches Muster innerhalb eines bestimmten Bereichs einen invarianten Zusammenhang zwischen den Eigenschaften eines Objekts oder Systems behaupten (vgl. Bartelborth 2007, S. 33, 70). Der Begriff des nomischen Musters verweist aber auf Generalisierungen geringerer Reichweite, die nur in bestimmten Anwendungsbereichen invariant gelten (vgl. dazu Bartelborth 2007, S. 70).

Elias hat damit Überlegungen heutiger Wissenschaftsphilosophen vorweggenommen. Es lasse sich aber die Frage stellen, so Elias, warum die von der modernen Wissenschaftsentwicklung aufgeworfenen Probleme des Wandels nicht ausreichend zur Kenntnis genommen würden:

Aber einer der Gründe liegt sicherlich darin, dass die philosophische Tradition, in der auch die gegenwärtige Wissenschaftstheorie noch steht, den Zugang zu Problemen der Entwicklung, der diachronischen Sequenzen, kurzum, der immanenten Ordnung des Wandels blockiert. Sie ist an eine Wertehierarchie gebunden, kraft deren es als die höchste Aufgabe der Wissenschaft erscheint, unwandelbare Gesetzmäßigkeiten zu entdecken und von dem diachronischen Wandel, der gewöhnlich durch den Anwurf des bloß Historischen entwertet wird, zu abstrahieren. (Elias 1987, S. 193)

Die „physikalistisch getönte“ philosophische Tradition zeitigt also negative Konsequenzen für einen angemessenen Umgang mit der Wandelbarkeit des Menschen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, konkretisiert Elias seine Thesen zum prägungsbedingten Wandel menschlichen Verhaltens und Erlebens aber weiter, z. B. in seinen Studien zur „höfischen Gesellschaft“ und zum „Prozess der Zivilisation“.Footnote 32

3.3 Motivationale Prägung im „Prozess der Zivilisation“

Die zentrale Idee seiner Zivilisationstheorie besteht in der allgemeinen These, dass ein Wandel im Aufbau der menschlichen Beziehungen einem Wandel im Aufbau des psychischen Habitus entspricht, oder anders ausgedrückt: dass mit langfristigen gesamtgesellschaftlichen Strukturwandlungen eine langfristige Wandlung der Habitusstrukturen einhergeht, wobei der Antrieb dieser Entwicklung, also seine Ursache, aus dem gesellschaftlichen Aufbau, der Struktur gesellschaftlicher Beziehungen, kommt (Elias 1976a, Kap. IX, LXXIII, 1976b, S. 315). Dieser kausale Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Persönlichkeitsstruktur, zwischen Figuration und Habitus, wird als ein Zusammenhang der motivationalen Prägung verstanden. Elias benutzt in offensiver Weise das von Weber eingeführte Vokabular der Prägung und variiert es vielfach (vgl. Weber 1904/1905, S. 83):Footnote 33 Die jeweils prägende makrosoziale Beziehungsstruktur der Figurationen wird unter anderem als gesellschaftliche Präge- oder Prägungsapparatur, Prägestock, Prägezentrum, Prägestätte, Prägestation oder Prägeorgan bezeichnet, die das geistige Gepräge des psychischen Habitus prägt (vgl. z. B. Elias 1976a, Kap. LXXVIII, S. 29, 34, 62, 65, 96, 144 f., 149, 152, 262, 1976b, S. 3, 330, 333). Die Entdeckung von Gesetzen motivationaler Prägung im Sinne von kausalen Makro-Mikro-Verbindungen ist also eines der zentralen Themen in Elias’ Zivilisationstheorie. Wenn man die Elias’schen Gesetzeshypothesen dazu kurz gerafft zusammenfassen will, kommt man unter anderem zu folgenden „nomologischen“ Aussagen (vgl. dazu Elias 1976b, S. 312–454):

  1. 1.

    Zunehmende gesellschaftliche Differenzierung führt zu zunehmender Differenzierung des Habitus in Es, Ich und Über-Ich;

  2. 2.

    die zunehmende Stabilität des Gewaltmonopols führt zu einer zunehmenden Stabilität der Selbstzwangapparatur (Über-Ich);

  3. 3.

    die zunehmende Stabilität des Gewaltmonopols führt über die relative Ausschaltung von Konflikten zwischen den Menschen zur Verlegung der Konfliktlinien nach innen, d. h. zu Spannungen zwischen dem Über-Ich und dem Unbewussten;

  4. 4.

    die Verlängerung der Handlungsketten führt zu einer Verlängerung der Denkketten, also zur Langsicht;

  5. 5.

    schwindet die soziale Ungleichheit, verbreitet sich ein stärkeres Schamempfinden;

  6. 6.

    die zunehmende Differenzierung einer Gesellschaft führt zu einer länger dauernden Entwicklung zum Habitus des Erwachsenen hin.

Elias verknüpft seine Thesen motivationaler Prägung, wie oben gesehen, mit der Annahme, dass sich über unterschiedliche solche Prägungen unterschiedliche Handlungs- und Verhaltensgesetze ergeben können und diese Gesetze daher nicht wie in der Physik üblich als feststehend betrachtet werden sollten. Mit Hilfe der ersten These lässt sich leicht illustrieren, warum das so ist: „Zunehmende gesellschaftliche Differenzierung führt zu zunehmender Differenzierung in Es, Ich und Über-Ich“. Elias historisiert mit dieser These die psychoanalytische Theorie, soweit er sie übernimmt (vgl. auch Goudsblom 1979, S. 156). Diese Historisierung impliziert nun die Wandelbarkeit von Handlungs- und Verhaltensgesetzen, während die Annahme eines universell existierenden, historisch unwandelbaren Strukturzusammenhangs von Es, Ich und Über-Ich universelle allgemeine Handlungs- und Verhaltensgesetze involviert. Bleibt die Struktur invariant, ändern sich nur die jeweiligen Inhalte von Es, Ich und Über-Ich, also die Randbedingungen, während der feste Strukturzusammenhang das daraus resultierende gesetzmäßig feststehende Handeln garantiert. Ändert sich hingegen diese Struktur, so ändern sich die damit verbundenen Handlungs- und Verhaltensgesetze. Elias’ empirische Thesen zur motivationalen Prägung implizieren also seine allgemeinen Thesen zur Wandelbarkeit der grundlegenden menschlichen Handlungsdispositionen.

Norbert Elias’ Interesse richtete sich anscheinend vor allem auf Fragen motivationaler Prägung, die handlungstheoretische Analyse trieb er nicht voran. Für ihn scheinen handlungstheoretische Fragen sogar eher peripherer Natur gewesen zu sein (van Krieken 2000, S. 127; Hamp 2005, S. 41, 79 ff.).Footnote 34 So finden sich in seinem Werk verstreut immer mal wieder Thesen zu den affektuellen, zweckrationalen, teilweise auch wertrationalen (Ethos) und gewohnheitsmäßigen (traditionalen) Elementen menschlichen Handelns und Verhaltens, also zu allen vier Handlungstypen Webers, aber auf explizite handlungstheoretische Erklärungen hat er, so scheint es mir zumindest, eher verzichtet. Aber der Figurationssoziologe Volker Eichener hat in einem wichtigen Beitrag unter anderem gezeigt, wie die Elias’sche Figurationssoziologie mit der Weber’schen Handlungstypologie verbunden werden kann (vgl. Eichener 1989). Er rekonstruiert die Elias’sche Position zur Handlungstheorie im hier gebrauchten Sinn als eine Handlungstheorie mittlerer Reichweite zweiter Ordnung, als veränderbare nomische Muster:Footnote 35

Die Synthese, die Elias aus der Integration aller drei Arten menschlichen Handelns bildet, lautet, dass die Art der Verhaltensregulation, d. h. die Anteile, zu denen Handeln durch Triebe und Affekte, durch eingeübte Gewohnheit (Konditionierung) und durch rationale Überlegung bestimmt wird, selber gesellschaftlich wandelbar ist. (Eichener 1989, S. 349 f.)

Und an anderer Stelle:

Der Modus der menschlichen Verhaltenssteuerung ist keine anthropologische Konstante, sondern eine sozialgeschichtliche Variable. Eine realitätsgerechte Theorie muss diese Variable zum Explanandum machen, anstatt eine extreme Ausprägung als Axiom anzusehen. (Eichener 1989, S. 358 f.)

Die Verhaltenssteuerung des Menschen ist also nicht biologisch festgelegt, sondern variiert mit den veränderlichen menschlichen Beziehungen, den Figurationen. Bei Elias lautet eine charakteristische Textpassage zu diesem Punkt folgendermaßen:

Maßgebend für einen Menschen, wie wir ihn vor uns sehen, ist weder allein ein „Es“, noch allein ein ‚Ich‘ oder ‚Über-Ich‘, sondern immer und von Grund auf die Beziehung zwischen diesen, teil miteinander ringenden, teils miteinander kooperierenden Funktionsschichten der psychischen Selbststeuerung. Sie aber, diese Beziehungen im einzelnen Menschen selbst und damit sowohl die Gestalt seiner Triebsteuerung, wie die Gestalt seiner Ich und Überichsteuerung, sie wandelt sich als Ganzes im Laufe des Zivilisationsprozesses entsprechend einer spezifischen Transformation der Beziehungen zwischen den Menschen, der gesellschaftlichen Beziehungen. (Elias 1976b, S. 390)

Für den wandelbaren Modus der Verhaltenssteuerung, der die verschiedenen Handlungs- und Verhaltenskomponenten je nach motivationaler Prägung unterschiedlich integriert, hat Elias den Begriff des Habitus reserviert, der eben das Ganze der Verhaltenssteuerung meint (vgl. Elias 1976b, S. 387 f.). Da er die psychischen Strukturen des Menschen, seinen Habitus, als etwas gesellschaftlich Gewordenes ansieht, fordert er eine historische Gesellschaftspsychologie, die das Thema der motivationalen Prägung fokussieren sollte, wie er selber es in seinen historischen Studien getan hat (Elias 1976b, S. 385 ff.).

3.4 Elias’ neuer Emergenzbegriff

Thesen motivationaler Prägung stehen also im Zentrum der Elias’schen Soziologie. Verbindet man sie mit seinen Gedanken zur Emergenz und interpretiert Emergenz im herkömmlichen Sinne kollektivistischer Soziologie in der Tradition Durkheims, würde man zu folgendem Ergebnis kommen: Figurationen haben emergente Eigenschaften, die aufgrund von Makrodetermination Prägungsvorgänge bewirken. Wenn man diesen bisher üblichen Emergenzbegriff so mit Elias’ Begriff der Figuration verknüpft, kommt man aber in Schwierigkeiten. Bei Figurationen kann es nämlich in gewisser Weise gar nicht zum Auftauchen emergenter Eigenschaften kommen, die das Ganze besitzt, die Teile aber nicht, wie es der übliche Emergenzbegriff suggeriert. Dies lässt sich gut am Beispiel kollektiver Überzeugungen sozialer Ganzer betrachten, die immer auch Überzeugungen der einzelnen Mitglieder, also der Teile des Ganzen, sein müssen. Dies scheint auch Elias zu glauben, denn er wehrt sich, wie oben gesehen, ja selbst gegen die Vorstellung, dass ein „Kollektivgeist“, in Durkheim’scher Terminologie ein Kollektivbewusstsein, in ähnlicher Weise wie der individuelle Geist existieren würde.

Die emergenztheoretische These, die aus dem figurationalen Charakter sozialer Ganzer folgt, lautet daher: Es gibt keine emergenten Eigenschaften sozialer Ganzer, die deren Teile nicht besitzen. Stattdessen lässt sich aber folgende These aufstellen: Es gibt emergente Eigenschaften sozialer Ganzer, die an deren Teilen auftauchen. Es würde sich also um emergente Eigenschaften der Teile handeln, die nur bei bestimmten (Kon-)Figurationen sozialer Ganzer neu auftauchen. Diese Umkehrung des üblichen Emergenzgedankens, die in Nebensätzen der Emergenzdiskussion schon ansatzweise aufgetaucht ist, ergibt sich, wenn man den Elias’schen Begriff der Figuration und die dahinterstehende Intuition der Ablehnung von „überindividuellen“ Kollektiventitäten ernst nimmt (vgl. dazu Hoyningen-Huene 1994, S. 180, 191).

Dadurch deutet sich bei ihm auch an, dass es ihm in der Soziologie nicht um die Emergenz neuer Ganzheitseigenschaften geht, sondern um neue Eigenschaften der Teile, die jeweils in sozialen Ganzen bestimmter relationaler Struktur auftauchen. Ein Punkt, der für diese Interpretation spricht, besteht darin, dass Elias zwar, wie oben schon bemerkt, wie heutige Emergenztheoretiker den Begriff der nicht-intendierten Folgen des Handelns mit ins Zentrum seiner theoretischen Begriffe stellt, er diesen aber zumindest teilweise anders als üblich interpretiert und zwar nicht makro-soziologisch, sondern mikro-soziologisch. Das lässt sich an einem prominenten Beispiel ablesen. Der zivilisiertere Habitus „als eine Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens“ ist ungeplantes Ergebnis der Veränderung der menschlichen Gesellschaft (Elias 1976b, S. 312 f.). Die Zivilisierung des Menschen wird nicht als bewusst geplantes Resultat menschlichen Erziehungshandelns auffasst, sondern als nicht-intendiertes Produkt menschlichen Handelns über einen langen Zeitraum hin. Damit würde aber das emergente Neue, das bei Emergenztheoretikern mit dem Begriff der nicht-intendierten Folgen sozialen Handelns verbunden ist, bei den Teilen des sozialen Ganzen verortet, nicht etwas beim sozialen Ganzen selbst. Emergent und irreduzibel sind also Eigenschaften der Teile je nach relationaler Struktur der Ganzen.

Man kann diese Elias’sche Position systematisch ausbauen und auch klar definieren, und zwar in engster Anlehnung an die klassische Emergenz-Definition von C.D. Broad in seinem epochalen Werk „The Mind and its Place in Nature“ (vgl. Broad 2009, S. 61). Die neue Emergenz-Definition für soziale Ganze (Figurationen) lautet folgendermaßen:

Abstrakt formuliert nimmt die Emergenztheorie an, dass es bestimmte soziale Ganze gibt, die komponiert sind aus den in einer relationalen Struktur R zueinander stehenden Konstituenten (Teilen) A, B und C; dass zumindest ein Teil der Konstituenten der Art von A, B und C Eigenschaften haben, die sie in der relationalen Struktur von der Art R erwerben; dass A, B, und C in anderen Ganzen Eigenschaften erwerben können, deren relationale Struktur nicht von der Art R ist; und dass es in R erworbene Eigenschaften zumindest eines Teils der Konstituenten A, B und C gibt, die nicht einmal in der Theorie von dem vollständigsten Wissen der Eigenschaften von A, B und C abgeleitet werden können, die sie in Isolation oder in anderen Ganzen erworben haben, die nicht von der Form R (A, B, C) sind.

Teile eines sozialen Ganzen können also in bestimmten Relationen R stehen und dort Eigenschaften erwerben, die prinzipiell unvorhersagbar sind, also nicht vorhersagbar aus dem Wissen über andere Konfigurationen R oder über die Eigenschaften der Teile in Isolation.Footnote 36 Ein zentraler Punkt dieser Konzeption bleibt, dass die Eigenschaften der Teile weiterhin in Abhängigkeit vom Ganzen variieren, also die bei Elias explanativ im Mittelpunkt stehende Makro-Mikro-Beziehung der motivationalen Prägung bestehen bleibt.

An dieser Stelle können nicht alle Details dieser Position expliziert werden, aber es lässt sich festhalten, dass mit dieser Definition die Emergenz zu einer Emergenz der Teile wird, nicht des Ganzen. Dabei ist nicht zu vergessen, dass das Ganze „nur“ aus relational verbundenen Teilen besteht. Die Irreduzibilität taucht damit gewissermaßen nicht erst bei der „späteren“ Aggregation, sondern beim „früheren“ Erleben und Handeln auf.

An der Stelle des Handelns wäre nun ein „Missing Link“ in Elias’ Soziologie zu konstatieren. Seine Unterschätzung des Stellenwerts handlungstheoretischer Modellierungen hat ihn den kreativen Charakter menschlichen Handelns ignorieren lassen. So ergriff Elias in einer interessanten Diskussion zwischen Karl Mannheim und Alfred Weber die Partei von Mannheim. Während Weber bei Mannheim „die Anerkennung der geistig Schöpferischen als Unterlage des Handelns“ vermisste, replizierte Elias dem Sinn nach, den schöpferischen, also kreativen, Menschen ins Zentrum der Betrachtungen zu rücken, wäre zu individualistisch, zu atomistisch, gedacht (vgl. van Krieken 1998, S. 17; DGS 1929, S. 91, 111).Footnote 37 Aber gerade die Kreativität des menschlichen Handelns und Erlebens ist die bei Elias fehlende Zwischenstation auf dem Weg zur motivationalen Prägung des Habitus, der erst durch eine Routinisierung kreativer Akte ins Leben tritt.Footnote 38 Die Kreativität des Handelns und Erlebens, wie sie Hans Joas (1992) als zentralen Aspekt jeder halbwegs befriedigenden Handlungstheorie konzipiert, ist überhaupt der Grund dafür, dass wir es bei Elias’ motivationaler Prägung mit einem wirklich „neuen“, eben emergenten Phänomen zu tun haben, denn Kreativität ist emergent.Footnote 39 Der Philosoph Günter Abel hat in diesem Zusammenhang gezeigt, dass bestimmte Formen von Kreativität als irreduzible, unvorhersagbare, weder logisch noch kausal noch psychologisch deduzierbare Emergenzphänomene verstanden werden müssen (vgl. Abel 2006): Kreative Verletzungen der Regeln generativer Systeme, wie des menschlichen Habitus, folgen keiner Meta-Regel und es ist keineswegs einem Mangel an Intelligenz geschuldet, dass der Nachweis einer erfolgreichen kalkülmäßigen Behandlung menschlicher Kreativität noch niemandem gelungen ist (Abel 2006, S. 9 f.). Reduktionisten können sich daher an diesem Phänomen wie an dem der Existenz der Qualia, der subjektiven Bewusstseinsqualität menschlichen Erlebens, die Zähne ausbeißen.Footnote 40 Elias’ Replik, Kreativität sei zu individualistisch gedacht, vergisst nun aber selbst die sozialen Voraussetzungen jeglicher Kreativität wie auch die sozialen Einwirkungen auf die Routinisierung kreativer Praktiken bei der Prägung des Habitus: denn die Basis des emergenten Entstehens eines neuen Habitus ist der neuen Emergenzdefinition nach nicht das einzelne Individuum, sondern die soziale Figuration, ein relational bestimmtes soziales Ganzes. Kreativität und anschließende Routinisierung als sozial verstandene Phänomene, wie sie z. B. Max Weber mit dem Begriff des Charisma und dessen Veralltäglichung prominent in seinem Ansatz konzipierte, sollten daher ein zentraler Bestandteil der Figurationssoziologie sein. Und selbstverständlich muss dies auch in der Handlungstheorie reflektiert werden, wie das Hans Joas fordert (vgl. Joas 1992).

4 Schlussbemerkung

Die Rekonstruktion der Elias’schen Methodologie vor dem Hintergrund seiner Ontologie ergibt abseits aller existierenden Unschärfe ein relativ klares Bild. Elias hat methodologisch den Weg einer dritten Soziologie beschritten. Ein großer Verdienst scheint mir in der grundsätzlichen Richtung der Formulierung seiner anthropologisch fundierten Sozialontologie zu liegen, die angesichts der anti-reduktionistischen Tendenzen eines Teils der der jüngeren biologischen Anthropologie neue Aktualität gewinnt (vgl. Dupré 2010). Elias entwickelt zunächst die ontologische Konzeption eines Stufenaufbaus der Welt, die in klassischer Weise mit den Begriffen von Ganzen und Teilen mereologisch begründet wird, und stellt an die Spitze dieser Stufenontologie eine Ontologie sozialer Figurationen.Footnote 41 Die Interdependenz der Menschen in sozialen Figurationen sieht Elias in ihrer besonderen ontologischen Soziabilität begründet. Mit diesem Begriff verweist Elias auf die relationalen Eigenschaften des Menschen, die selbige in wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse setzt. Diese Abhängigkeitsverhältnisse führen zur Emergenz neuartiger Phänomene. Elias entwickelt dabei einen originellen Emergenzbegriff. Es sind nicht mehr Eigenschaften des Ganzen, die emergenten Charakter tragen, sondern Eigenschaften der Teile bestimmter Ganzer. Je nach spezifischer Struktur der relationalen Ganzen, der Figurationen, erwerben die Teile bestimmte emergente Eigenschaften.

Der neue Emergenzbegriff führt bei Elias dann folgerichtig nicht zur typisch emergentistischen Position des methodologischen Kollektivismus in Durkheimianischer Tradition, wie sie heute z. B. Keith Sawyer vertritt (vgl. Sawyer 2005).Footnote 42 Seine Ablehnung des methodologischen Kollektivismus stützt sich ontologisch auf einen relationalistischen Figurationsbegriff, der eine Rechtfertigung einer makrosozialen Kausalitätsthese, also die Annahme der Existenz kausaler Makrogesetze, unmöglich macht. Aber auch die individualistische Kausalreduktion auf menschliche Individuen verwirft Elias, wenn er die Struktur der Relationen von Figurationen zum primären Erklärungsfaktor erklärt, deren abhängige Variable der psychische Habitus der Menschen wird. Die motivationale Prägung des Habitus durch Figurationen steht damit im Zentrum der Elias’schen Mikro-Makro-Programmatik.Footnote 43 Die emergentistische Prägungsbeziehung zwischen Figuration und Akteur widerspricht dem reduktionistischen Individualismus und erweitert das herkömmliche Mikro-Makro-Modell der Erklärung. Diese Prägung des Habitus involviert einen umfassenden Wandel der Persönlichkeitsstruktur, der handlungstheoretische Konsequenzen besitzt, die Volker Eichener paradigmatisch aufgezeigt hat. Elias postuliert die Möglichkeit des radikalen Wandels von Handlungsdispositionen, also die grundsätzliche Wandelbarkeit (handlungs-)theoretischer „Gesetze“.

Genau hier, in der handlungstheoretischen Programmatik, liegt aber auch ein wesentlicher Unterschied des Elias’schen Programms zu dem der Einheit der Wissenschaft (vgl. besonders Elias 1985b).Footnote 44 Die Vertreter der Einheit der Wissenschaft gehen in der Handlungstheorie von der Existenz allgemeiner Gesetzmäßigkeiten universalen Charakters aus (vgl. Hans Albert 1999, S. 201).Footnote 45 Elias geht ontologisch hingegen, wie sich gezeigt hat, von Gesetzen eingeschränkter Reichweite aus.Footnote 46 Dies war auch schon Hartmut Esser aufgefallen, der dieses Kennzeichen der Elias’schen Soziologie für unvereinbar mit Erklärungsansprüchen jedweder Art hielt (Esser 1984, S. 693, 695). Doch es sind genau solche Auffassungen wie die von Elias, die heute in der wissenschaftsphilosophischen Diskussion von Erklärungstheoretikern wie James Woodward und Thomas Bartelborth vertreten werden. Wissenschaften wie die Soziologie weisen danach keine allgemeinen Gesetze auf, sondern nur kausale Invarianzen geringerer Reichweite. Der zumindest für die Soziologie unbrauchbare Gesetzesbegriff wird daher durch den Begriff der nomischen Muster (oder der kausalen Invarianzen) ersetzt. Der Begriff des nomischen Musters kann dann auch den Elias’schen Begriff der „wandelbaren Gesetze“ handlungstheoretischer Art ersetzen sowie auf die Beziehungen der Prägung des Habitus durch Figurationen angewandt werden (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Das neue Makro-Mikro-Modell der Erklärung – entwickelt aus dem individualistischen Modell durch Ersetzung des Begriffs des Gesetzes durch den des nomischen Musters und durch eine Erweiterungum um nomische Muster motivationaler Prägung

Überträgt man die ontologisch-methodologischen Innovationen von Norbert Elias in das heutige Mikro-Makro-Modell der Erklärung, so ergeben sich daraus folgende zwei Punkte:

  1. 1.

    Statt nach allgemeinen Gesetzen wird im „Elias’schen Modell“ nur nach eingeschränkteren Handlungsmodellen, nomischen Handlungsmustern, gesucht.

  2. 2.

    Das herkömmliche Erklärungsmodell muss in der Folge um die Makro-Mikro-Beziehung der motivationalen Prägung ergänzt werden.

Im Folgenden soll grob skizziert werden, welche heuristischen Ansatzpunkte sich für die heutige soziologische Forschung aus der hier rekonstruierten Methodologie heraus ergeben können, wenn man diese mit der handlungstheoretischen Programmatik Max Webers verbindet.Footnote 47

5 Ausblick: Zur methodologischen Heuristik nach Norbert Elias

Wie deutlich geworden sein sollte, besteht das Ziel des vorliegenden Artikels nicht darin, den Elias’schen Theorieansatz seiner Figurationssoziologie als heutige Forschungsperspektive zu empfehlen. Vielmehr handelt es sich um die Skizzierung einer ontologisch begründeten methodologischen Alternative zu den bisherigen Programmen des methodologischen Individualismus und methodologischen Kollektivismus. Methodologie und Theorie müssen aber unterschieden werden. Eine Methodologie ist in der Regel mit verschiedenen theoretischen Ansätzen vereinbar. So ist der methodologische Individualismus vereinbar mit dem verhaltenstheoretischen Ansatz George C. Homans, verschiedenen Versionen des RC-Ansatzes, der Theorie der Interaktionsrituale von Randall Collins, dem theoretischen Ansatz der Frame-Selektion Hartmut Essers usw. Die hier skizzierte Methodologie einer „dritten Soziologie“ ist daher zunächst genauso wenig einer bestimmten theoretischen Schule verpflichtet. Im Folgenden soll aber grob skizziert werden, welche heuristischen Ansatzpunkte sich ganz allgemein für die heutige soziologische Forschung aus der hier rekonstruierten Methodologie heraus ergeben können, wenn man diese mit der handlungstheoretischen Programmatik Max Webers verbindet.Footnote 48

Wie soll die handlungstheoretische Forschung nach der hier entwickelten Methodologie weiter verfahren? Die unorthodoxe handlungstheoretische Forschung erlebt, gerade auch im ökonomischen Bereich, in den letzten Jahren eine neue Blüte, und in der Soziologie ergeben sich auch aus der praxistheoretischen Forschung interessante Anregungen für die Handlungstheorie (vgl. z. B. Ariely 2008; Fehr und Gintis 2007; Frey 1997; Schmidt 2012; Vanberg 2002). Gerade vor diesem Hintergrund lautet die methodologische Empfehlung: Keine voreilige Schließung der handlungstheoretischen Forschung auf der Basis der Idee einer einzigen allgemeinen Handlungstheorie, stattdessen die Öffnung handlungstheoretischer Forschung in verschiedene Richtungen. Favorisiert wird die Erforschung der vermuteten realen Vielfalt möglicher Handlungsdispositionen. Es geht hierbei zunächst um den Eigenwert der Entdeckung wahrer Handlungstheorien. Dies betrifft die von Popper so genannte nomologische Zielsetzung einer realistischen Wissenschaft. Da in der hier entwickelten Methodologie statt nach Gesetzen, nach nomischen Mustern geforscht wird, muss man von der nomischen Zielsetzung sprechen.

Diese „positive“ Zielsetzung korreliert mit der „negativen“ Zielsetzung, Handlungstheorien, die mit dem Anspruch auf universale, allgemeine Geltung auftreten, zu falsifizieren. Mit dieser Falsifikation wird nicht etwa gezeigt, dass diese Handlungstheorien nicht erklären können, sondern dass sie höchstens auf bestimmte Anwendungsbereiche beschränkt erklären können und ihr Allgemeinheitsanspruch somit aufgegeben werden muss.Footnote 49

Die positive nomische Zielsetzung führt dann in explanatorischer Hinsicht zur Empfehlung mittels einer Mehrzahl handlungstheoretischer Modelle, die verschiedene nomische Kerne beinhalten, zu arbeiten, also heterogene Akteurspopulationen zur Erklärung makrosozialer Phänomene zu konstruieren. Ansatzweise findet sich das unter anderem auch in der experimentellen Ökonomie, wenn wie bei Ernst Fehr und Herbert Gintis gerade die Heterogenität von Akteurspopulationen, nämlich das Vorhandensein egoistisch und stark reziprok orientierter Akteure, dazu führt, dass unterschiedliche situative Bedingungen in ganz bestimmter Weise wirken, dass z. B. in Kollektivgut-Spielen die Unmöglichkeit von Bestrafungen zu einem Zusammenbruch der Kooperation führt, während die Einführung der Möglichkeit von Bestrafungen selbst bei einer relativ geringen Anzahl stark reziprok orientierter Akteure die Kooperation nahezu hundert Prozent erreicht (vgl. Fehr und Gintis 2007; dazu auch Schröder 2011). Fehr und Gintis hängen dabei noch an der Idee einer allgemeinen Handlungstheorie, übersehen meines Erachtens aber, dass sie über die unterschiedliche inhaltliche Füllung der Nutzenmaximierungsannahme, Egoismus und starke Reziprozität, tatsächlich zwei nomisch unterschiedliche Handlungstypen eingeführt haben.

Mit der Einführung dieser unterschiedlichen Handlungstypen verbinden Fehr und Gintis aber eine interessante Empfehlung für eine bestimmte Tradition soziologischer Forschung: die Sozialisationstheorie (vgl. Fehr und Gintis 2007). Wenn man, anders als bei allgemeinen Handlungstheorien, a priori kein Wissen über die Handlungsorientierung der Akteure haben kann, muss nämlich sozialisationstheoretisch erforscht werden, wie es zu solchen unterschiedlichen Akteursorientierungen kommt. In der hier entwickelten Methodologie wird in ähnlicher, aber tiefer gehender Weise empfohlen, eine engere Kopplung von Sozialisations- und Handlungstheorie zu vorzunehmen, als es bisher in der erklärenden (und verstehenden) Soziologie üblich ist. Mit dem orthodoxen Rational-Choice-Ansatz war z. B. eine völlige theoretische Vernachlässigung sozialisationstheoretischer Fragen verbunden. Das lag in der Natur der Sache: der RC-Akteur war der durch seine Biologie festgelegte situative Nutzenmaximierer, nahezu ohne Persönlichkeit und Geschichte (vgl. dazu Baurmanns Einschätzung 1996; sowie Fehr und Gintis 2007). In der hier vertretenen Konzeption ergeben sich die nomisch beschreibbaren Handlungsmuster aus der längerfristigen kulturellen und strukturellen Prägung der Akteure. Deren Persönlichkeitsstrukturen umfassen je nach motivationaler Prägung nomisch unterschiedliche Dispositionen. Damit ist hier der Zusammenhang zwischen Sozialisation und Handeln viel tiefer angelegt: Die Sozialisation sorgt nicht nur für die jeweiligen Randbedingungen des Handelns in Form von relativ stabilen Präferenzen, die prinzipiell auch ohne Sozialisationstheorie eruierbar sind. Sozialisation führt zu unterschiedlichen nomischen Handlungsmustern bei den Akteuren und diese müssen durch jeweils unterschiedliche handlungstheoretische Modelle beschrieben werden. Die Erklärung der Genese unterschiedlicher Identitäten und Persönlichkeitsstrukturen mit ihren nomisch unterschiedlichen Handlungsdispositionen legt damit aber die tiefere Grundlage für erfolgreiche handlungstheoretische Erklärungen. Die Erklärung der Genese nomisch unterschiedlicher Handlungsdispositionen scheint dabei oft das schwierigere und interessantere Problem zu sein. Sozialisationstheorie rückt damit also mit der Handlungstheorie zusammen in das Zentrum soziologischer Forschung.

Und schließlich ergibt sich eine zentrale Forschungsperspektive aus der emergenztheoretischen Fundierung der hier entwickelten Methodologie: Die Frage nach dem ersten Auftauchen neuer nomischer Handlungsmuster, die sich als stabilisierte Konsequenzen aus den kreativen Reaktionen der Akteure auf ihre Situation ergeben. Welche makrosozialen Bedingungen haben zur Emergenz dieser kreativen Reaktionen geführt? Und vor allem: wie sahen die psychischen Mechanismen aus, die dann zur Ausbildung stabiler neuer Handlungsmuster geführt haben? Wenn man Elias psychoanalytisch begründeter historischer Psychologie zumindest so nicht folgen will, steht hier ein völlig offener Bereich mikrosoziologischer Forschung zur Erkundung bereit. Die emergenztheoretische Fundierung des Ansatzes führt damit aber zwingend zu einer historischen Perspektive, wie es auch Renate Mayntz neuerdings vertreten hat (vgl. Mayntz 2009; Albert 2005).

Es handelt sich hier also um eine Methodologie für eine historisch ausgerichtete Soziologie. Sie umfasst eine neue methodologische Konzeption für die sogenannten proximaten, also unmittelbaren Ursachen makrosozialer Phänomene in Form einer Pluralisierung handlungstheoretischer Modelle. Sie erzwingt eine verstärkte Hinwendung zu den mediaten, also mittelbaren Ursachen makrosozialer Phänomene, nämlich der Sozialisation der Akteure, und erfordert daher eine engere Kopplung von Sozialisations- und Handlungstheorie. Und neben der sozialisatorischen Weitergabe von Handlungsdispositionen fördert sie in besonderer Weise die historische Frage nach dem erstmaligen Erscheinen neuer nomischer Handlungsmuster. Die hier entwickelte methodologische Konzeption ist also eine rationale Heuristik, die die Frage nach den proximaten, mediaten und ultimaten Ursachen sozialer Phänomene in den Mittelpunkt soziologischer Forschung stellt.Footnote 50