1 Einleitung

Der Globalisierungsenthusiasmus der 1980er und 1990er Jahre ist einer Ernüchterung gewichen, die nicht nur in politischen Debatten, sondern auch in der soziologischen Theoriediskussion spürbar ist. War der frühe Schwung in einige allgemeine Theorieentwürfe gemündet, die viel gelesen und zitiert wurden (insbesondere Giddens 1990; Harvey 1990; Robertson 1992; Beck 1997; Stichweh 2000a; Castells 2000), häuft sich nun die Kritik an diesen Theorien und ihren voraussetzungsvollen Prämissen. Diese Kritik hat sich fast schon zu einer kleinen Tradition mit unterschiedlichen Motiven formiert, unter denen uns drei besonders erwähnenswert erscheinen: 1) In Justin Rosenbergs scharfsinnigen Polemiken gegen die „follies of globalization theory“ steht die Kritik an der Geschichts- und Traditionsvergessenheit der prominentesten Globalisierungstheorien im Vordergrund und letztlich die Aufforderung zur Rückbesinnung auf klassische Konzepte (Rosenberg 2005; in der Tendenz ähnlich Chernilo 2006). 2) Raewyn Connells Einwände gegen die „northern theory of globalization“ richten sich dagegen primär gegen ein Denken in „abstract linkages“, das sie auf eine Übergeneralisierung westlicher Erfahrungshorizonte zurechnet und durch Auseinandersetzung mit Autoren nicht-westlicher („südlicher“) Herkunft zu korrigieren empfiehlt (Connell 2007). Diese Kritik fügt sich in eine in der globalhistorisch informierten Forschung weit verbreitete Skepsis gegenüber „eurozentristischem“ Denken, die jedoch erst selten auf theoretische Argumente hingeführt worden ist (zu diesem Desiderat und ersten theoretischen Anschlüssen auch Bhambra 2007; Knöbl 2007; Schwinn 2005; für eine interessante empirisch fundierte Kritik Yashar 2007). Schließlich hat 3) Urs Stäheli soziologische Begriffe des Globalen (darunter den systemtheoretischen Begriff der Weltgesellschaft) auf einer konzeptionellen Ebene diskutiert und für ihr „allzu reibungsloses theoretisches Funktionieren“ kritisiert, also dafür, dass sie als gegeben voraussetzen, was sie erst noch untersuchen und belegen müssten (Stäheli 2008, S. 54).

Der vorliegende Aufsatz geht davon aus, dass diese Kritiken im Kern berechtigt sind. Soziologischen Globalisierungs- und Weltgesellschaftstheorien ist es in der Tat bisher nur sehr bedingt gelungen, ihre abstrakten Erkenntnisansprüche mit den Resultaten einer empirischen und historischen Globalisierungsforschung abzustimmen, die in den letzten Jahrzehnten enorm an Breite und Differenziertheit hinzugewonnen hat. Insbesondere ist noch kaum versucht worden, die Bedingungen näher zu bezeichnen, unter denen Globalisierungsdynamiken überhaupt möglich und wahrscheinlich werden können. Es sind daher vor allem die konzeptionellen Einwände à la Stäheli, die wir im folgenden heuristisch produktiv machen wollen, indem wir Globalität und Globalisierung als voraussetzungsvolle und entsprechend unwahrscheinliche Phänomene begreifen und untersuchen, unter welchen historischen Voraussetzungen sie gleichwohl wahrscheinlich werden können. Bislang gibt es erst wenige Versuche, Globalisierungsphänomene systematisch zu erklären. Die meisten soziologischen Arbeiten beschäftigen sich mit den Folgen der Globalisierung oder sie analysieren deren unterschiedliche Ausdrucksformen. Was fehlt, sind Studien, die untersuchen, welche Bedingungen gegeben sein mussten, damit sich Globalisierungsdynamiken überhaupt entfalten konnten und die damit auch zu erklären verhelfen, unter welchen Bedingungen Globalisierung ein unwahrscheinliches Phänomen bleibt.

Der Aufsatz kann diese Forschungslücke selbstverständlich nicht umfassend schließen, sondern verfolgt ein bescheideneres Ziel. Wir konzentrieren uns auf die Schwellenbedingungen, die gegeben sein müssen, damit sich globale Vergleichshorizonte entfalten können. Der Erklärungsgegenstand ist also nicht faktische Globalisierung im Sinne einer räumlich verstandenen weltweiten Ausdehnung, sondern die Entstehung potenziell globaler Vergleichszusammenhänge. Oder am Beispiel unserer beiden Untersuchungsfälle: Es geht nicht darum, ob tatsächlich in allen Ländern der Welt nach den gleichen Regeln Fußball gespielt wird, und auch nicht darum, ob die weltweite Forschung zu einem Thema tatsächlich global rezipiert wird. Vielmehr interessiert uns die Frage, unter welchen Bedingungen sich eine Konstellation etablierte, die eine sukzessive Ausdehnung des Vergleichshorizontes möglich und wahrscheinlich macht. Diese Bedingungskonstellation kann zunächst räumlich begrenzt sein, entscheidend ist, dass sie fähig ist, eine grenzüberschreitende Eigendynamik auszulösen, die den Vergleich wissenschaftlicher Ergebnisse und sportlicher Leistungen aus lokalen Entstehungsbedingungen herauslöst und eine globale Systemdynamik in Gang setzt.

Um diese Bedingungskonstellation zu identifizieren, entwickeln wir in Abschn. 2 ein heuristisches Modell, in dessen Zentrum die Vorstellung steht, dass Globalisierungsprozesse nicht nur durch strukturelle Vernetzungen, sondern auch durch öffentliche Diskurse vorangetrieben werden, die Einzelereignisse (z. B. sportliche Wettkämpfe, Publikationen) zueinander in Beziehung setzen und in einen Vergleichszusammenhang bringen. Ein solcher Vergleichszusammenhang kann sich nur unter spezifischen Bedingungen etablieren. Diese Bedingungen konkretisieren wir in Abschn. 3 am Beispiel von (Natur-)Wissenschaft und Sport. In einem abschließenden Abschn. 4 fassen wir die Argumentation zusammen und deuten an, inwieweit das Modell über die beiden Anwendungsfälle hinaus generalisierbar ist und welches Licht es auf faktische globale Expansionsprozesse wirft.

2 Vernetzen und Vergleichen: das Doppelgesicht der Globalisierung

2.1 Von „cultural linkages“ zur Kommunikation von Vergleichen

In der soziologischen Forschung wird Globalisierung vorwiegend in Netzwerkbegriffen beschrieben und als Intensivierung grenzüberschreitender Kontakte oder Beziehungen interpretiert. Die Schlüsselbegriffe sind „flows“, „connectivity“, „ties“ oder eben „networks“. Es gibt aber noch eine andere Seite der Globalisierung, die Verbindungen über Beschreibungen herstellt. Wir konzentrieren uns auf diese zweite Seite der Globalisierung und vertreten die These, dass sie sich vor allem über Vergleiche, und damit meinen wir immer kommunizierte Vergleiche, realisiert. Ein Beispiel dafür sind Hochschulrankings, die alle Universitäten der Welt zueinander in Beziehung setzen, ohne dass diese untereinander notwendig strukturell vernetzt sind (Wedlin 2007; Heintz 2008). Vergleiche verstehen wir als Beobachtungsinstrumente, die zwischen Einheiten (z. B. Personen, Staaten oder Organisationen) oder Ereignissen (z. B. Zitationen, sportlichen Wettkämpfen oder Kunstausstellungen) eine Beziehung herstellen. Sie beruhen einerseits auf der Annahme, dass die verglichenen Einheiten in mindestens einer grundlegenden Hinsicht gleich sind (Herstellung von Vergleichbarkeit), und setzen andererseits ein Vergleichskriterium voraus, dass die Verschiedenheit des (partiell) Gleichen beobachtbar macht (Vergleichskriterien)Footnote 1 Diese Kombination von Gleichheitsunterstellung und Differenzbeobachtung zeichnet Vergleiche als Beobachtungsformen eigener Art aus (dazu ausführlicher Heintz 2010).

Während die Globalgeschichte die Bedeutung von Vergleichen für Globalisierungsprozesse in mehreren Studien aufgezeigt hat (exemplarisch Bayly 2004; Osterhammel 1998), hat sich die Soziologie bislang kaum für Vergleiche als Globalisierungsmechanismus interessiert. Ein Grund dafür ist die oben erwähnte Fokussierung auf die Vernetzungsdimension von Globalisierungsprozessen. Um unsere Perspektive zu verdeutlichen, lohnt sich deshalb ein Blick auf zwei Theorieansätze, die ebenfalls zwischen einer Vernetzungs- und einer Beschreibungsdimension unterscheiden, ohne allerdings der Bedeutung von Vergleichen systematisch Rechnung zu tragen. Es handelt sich um Theorien, die üblicherweise nicht miteinander in Verbindung gebracht werden: die neo-institutionalistische World Polity-Forschung um John W. Meyer und die neuere Netzwerktheorie im Anschluss an Harrison White.

David Strang und John W. Meyer (1993) haben in einem bekannten Aufsatz die klassischen netzwerktheoretischen Analysen von Diffusionsprozessen als einseitig kritisiert: neben „relational linkages“ gebe es auch „cultural linkages“, die auf abstrakten Kategorien und Modellen beruhen und auch ohne Kontakte oder Kontaktketten zwischen Akteuren Globalisierungsprozesse anstoßen können. Cultural linkages sind m. a. W. Verbindungen, die über Beobachtung oder Beschreibung zustande kommen und nicht auf direkten oder indirekten Kontakten beruhen müssen.Footnote 2 Sie können entweder durch abstrakte Modelle hergestellt werden, die Ereignisse über Kausalerklärungen miteinander in Beziehung setzen, oder dadurch, dass Einheiten ein- und derselben Kategorie zugeordnet werden. Der Sammelbegriff ist der Begriff der „Theoretisierung“: „Theoretization increases perceived similarity by simplifying the phenomena, and also expands diffusion by providing causal accounts“ (Strang und Meyer 1993, S. 104). Wie fruchtbar es ist, cultural linkages als eigenständigen Globalisierungsfaktor ernst zu nehmen, hat die World Polity-Forschung in vielen empirischen Untersuchungen gezeigt, und dies besonders eindrucksvoll an einem Bereich, dem internationalen Staatensystem, der traditionell eher in relationalen Begriffen („internationale Beziehungen“) beschrieben wird (exemplarisch Boli 1987; Meyer et al. 1997; als Überblick Meyer 2010).

Interessanterweise gelangt die Netzwerktheorie, die ursprünglich für die von Strang und Meyer kritisierte „relationale“ Sicht stand, in letzter Zeit zu ähnlichen Überlegungen. Seit einiger Zeit ist in der Netzwerkforschung sogar explizit von einer „kulturellen Wende“ die Rede (vgl. etwa Mützel und Fuhse 2010, S. 7). Für ein umfassendes Verständnis der Struktur und Funktion von Netzwerken, so die neue „kulturalistische“ Programmatik, reiche es nicht aus, Verbindungen ausschließlich als „Kanäle“ zu begreifen, durch die unterschiedliche Ressourcen wie Informationen, Güter, Personen oder Dienstleis-tungen transportiert werden; Verbindungen werden auch auf einer Beschreibungsebene hergestellt. Harrison White verwendet dafür den Begriff der erzählten Geschichte, der story (White 2008, Kap. 2; White und Godart 2007). Geschichten sind kulturelle Konstruktionen, die Einheiten zueinander in Beziehung setzen, und zwar auch dann, wenn zwischen ihnen noch keine ties im engen Sinne bestehen (instruktiv Mützel 2009). Die Beziehung wird in diesem Fall über Selbst- und Fremdbeschreibungen hergestellt. Geschichten können als Selbstbeschreibungen auftreten (Pressemitteilungen, Homepages etc.) oder durch externe Beobachter produziert werden (Zeitungsartikel, Expertenberichte). Sie stellen nicht nur Verbindungen, „cultural linkages“ her, sondern liefern auch die Kategorien, damit sich Akteure als vergleichbar, als strukturell äquivalent erkennen und positionieren können (White 2008, S. 6 f.). Geschichten strukturieren m. a. W. soziale Felder, indem sie spezifizieren, wer oder was als vergleichbar angesehen wird (z. B. Universitäten, aber nicht Fachhochschulen), in welchen Beziehungen die Akteure zueinander stehen (z. B. in Konkurrenz- anstatt in Konfliktbeziehungen) und welche Beurteilungskriterien für die Positionierung maßgeblich sind (z. B. wissenschaftliche Leistung und nicht ökonomischer Gewinn). Insofern lassen sich Vergleiche als Sonderform von Geschichten begreifen, die in unterschiedlichen Ausdrucksformen auftreten können, etwa als Narrationen, Statistiken oder Rankings.

Das Konzept der erzählten Geschichte, der story, weist eine überraschende Ähnlichkeit mit dem Begriff der Theoretisierung bei Strang und Meyer auf. Beide Theorien beziehen sich auf Beschreibungen, die Ereignisse oder Einheiten in einen (Kausal)-Zusammenhang bringen und Kategorien bereitstellen, um Vergleichbarkeit, perceived similarity, zu konstruieren. Beide weisen jedoch auch Leerstellen auf. Der Begriff der „cultural linkages“ zielt auf „Verbindungen“ durch Modelle und Kategorien, die in der World Polity-Forschung unterstellt, aber nicht auf ihre sozialen Bedingungen befragt werden. Die diskursiven oder, kommunikationstheoretisch gesprochen, operativen Voraussetzungen globaler Kategorien und Modelle, die den Agenten der World Polity, den „rationalized others“ (Meyer 1994),Footnote 3 Stimme und Gewicht verleihen, sind in der empirischen World Polity-Forschung daher weitgehend offen geblieben (zu dieser Kritik näher Werron und Holzer 2009). Insofern ist es kein Zufall, dass aktuelle Versuche, die „Struktur“ der World Polity näher zu bestimmen, sich klassischer netzwerktheoretischer Methoden bedienen und den Aspekt der kulturellen Konstituiertheit von Netzwerkbeziehungen ausklammern (Beckfield 2010).

Demgegenüber geht es in der neueren Netzwerkforschung auch darum, die Entstehung und Transformation von Geschichten zu erklären. Für White ist die Generierung von Bedeutungen und ihre Kondensierung zu Geschichten eine Folge des switching zwischen unterschiedlichen Netzwerkdomänen (White und Godart 2007, S. 3; vgl. auch Mische und White 1998). Der Wechsel zwischen unterschiedlichen Referenzrahmen setzt, wie bereits Alfred Schütz (1972) unnachahmlich beschrieben hat, Reflexionsprozesse, Beobachtungen zweiter Ordnung, in Gang und führt zu neuen Bedeutungszuschreibungen und neuen oder modifizierten Geschichten. Da die Netzwerktheorie dazu tendiert, den Netzwerkbegriff gegenüber anderen sozialen Strukturformen zu privilegieren und damit den Fokus auf (persönliche) Beziehungen legt, unterschätzt auch sie die Bedeutung öffentlicher, durch „rationalisierte Andere“ produzierte Beschreibungen, Evaluierungen und Vergleiche (vgl. dazu auch Holzer 2010). Dazu kommt, dass die neuere Netzwerktheorie bisher nicht systematisch auf Globalisierungsfragen bezogen wurde.Footnote 4 Das ist vermutlich auch der Grund dafür, weshalb die unseres Erachtens nach auffälligen konzeptionellen Parallelen zwischen der neueren „kulturalistischen“ Netzwerktheorie und dem World Polity-Ansatz bislang kaum zur Kenntnis genommen wurden.

2.2 Von lokalen Vergleichen zu globalen Referenzhorizonten: Erklärungsmodell

Das im Folgenden vorgestellte Erklärungsmodell präzisiert die Idee der cultural linkages oder story mit Hilfe des Konzepts des Vergleichs und der Vergleichskommunikation. Wie wir im letzten Punkt ausgeführt haben, begreifen wir Vergleiche als einen Globalisierungsmechanismus, der zu einer Globalisierung via Vernetzung in einem komplementären Verhältnis steht, indem Vergleiche globale Zusammenhänge auch unabhängig von bestehenden Kontakten und Kontaktketten stiften können. Der Präzisierungsanspruch unseres Erklärungsmodells beruht auf einer globalisierungstheoretisch gewendeten Unwahrscheinlichkeitsprämisse, die nicht davon ausgeht, dass sich Globalisierung unter bestimmten technologischen und sozialen Bedingungen (wie Verfügbarkeit elektronischer Medien oder kapitalistischen Formen des Wirtschaftens) mehr oder weniger zwangsläufig einstellt, sondern nach den Bedingungen der Möglichkeit von Globalisierungsdynamiken fragt. Die Pointe dieser Prämisse lässt sich gut an den Gemeinsamkeiten mit und Differenzen zu Niklas Luhmanns Skizzen zu einer Theorie der Weltgesellschaft erläutern (grundlegend Luhmann 1975, 1997, S. 145 ff.). Wir folgen Luhmann in der Annahme, dass die Herausbildung einer globalen Ordnung in der Moderne, ob man sie Weltgesellschaft nennen will oder nicht, eng an die Eigendynamik von Funktionssystemen wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst oder Sport gekoppelt ist. Es gehört daher zu den zentralen Aufgaben der soziologischen Globalisierungsforschung, die Globalisierungsdynamik dieser Felder begrifflich zu fassen und historisch zu rekonstruieren. Wir trennen uns von Luhmann, insofern wir keinen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen Differenzierungs- und Globalisierungsprozessen annehmenFootnote 5 und das Potenzial zur räumlichen Expansion nicht für einen natürlichen, sondern für einen historisch kontingenten, erklärungsbedürftigen Aspekt von Differenzierungsprozessen halten (in diesem Sinne auch Beyer 2006). Unsere Leitfrage lautet entsprechend: Unter welchen Bedingungen können Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst, Sport und andere Felder eine Eigendynamik gewinnen, die sie nicht nur als autonome gesellschaftliche Teilsysteme erkennbar werden lässt, sondern auch als solche, die sich aus lokalen Entstehungskontexten herauslösen und eine eigenständige Globalisierungsdynamik entfalten können?

Bevor wir diese Frage am Beispiel von Wissenschaft und Sport zu beantworten versuchen, sei das allgemeine Erklärungsmodell vorgestellt, das wir in den beiden historischen Kapiteln aufnehmen und präzisieren wollen. Es beruht auf dem Gedanken, dass sich potenziell globale Vergleichsordnungen auf lokal limitierte Vergleichslogiken zurückverfolgen und im Kontrast zu diesen auf ihre Möglichkeitsbedingungen hin untersuchen lassen. So gab es lange vor der heutigen „Weltwirtschaft“ (sowie möglicherweise noch heute neben ihr) lokale Formen des marktförmig strukturierten Tauschs, lange vor der heutigen „Weltwissenschaft“ lokale Formen der Erkenntnisakkumulation und der wechselseitigen Bezugnahme, und lange vor dem heutigen „Weltsport“ räumlich limitierte und kulturell spezifische Wettkampfkulturen. Was macht den Umschlagpunkt zwischen lokal limitierten und potenziell globalen Vergleichsordnungen aus? Und was rechtfertigt die Annahme, dass kommunizierte Vergleiche für die Erklärung von Globalisierungsdynamiken eine entscheidende Rolle spielen?

Unsere These ist, dass die Möglichkeitsschwelle zwischen lokal limitierten und potenziell globalen Vergleichsordnungen mit der Einrichtung öffentlicher Vergleichsdiskurse überwunden wird, d. h. dadurch, dass Vergleiche in öffentliche Kommunikationsformen gebracht werden (näher Werron 2007, 2010). Diese öffentlichen Vergleichsprozesse stützen sich auf die Unterstellung der Informiertheit eines im einzelnen unbekannten Publikums und setzen damit eine Dynamik wechselseitiger Plausibilisierung dreier Prozesse in Gang. Dabei kommt es auf das zirkuläre Zusammenspiel dieser drei Prozesse an (vgl. Schema). Das Entstehen eines überlokalen, universalistischen Vergleichszusammenhangs setzt 1) die kontinuierliche Produktion öffentlicher Vergleichsereignisse voraus, denn nur dann kann kontinuierlich verglichen und laufend zwischen unterschiedlichen Vergleichsresultaten differenziert werden; sie setzt 2) die Herstellung von Vergleichbarkeit dieser Vergleichsereignisse jenseits ihrer lokalen Entstehungskontexte voraus, denn nur was unter bestimmten Gesichtspunkten plausibel als gleich beschrieben werden kann, kann unter anderen Gesichtspunkten plausibel als ungleich beschrieben werden; schließlich setzt es 3) die Etablierung von Vergleichskriterien voraus, die die Ereignisse in einen übergreifenden Vergleichszusammenhang integrieren. Gleichzeitig wird damit die Möglichkeit geschaffen, Ereignisse auf einer Zeitachse einzuordnen und sie mit anderen, vergangenen und zukünftigen Vergleichen in Beziehung zu setzen.

Schema
figure 1

Erklärungsmodell

3 Schwellenbedingungen der Globalisierung in Wissenschaft und Sport

Dieses Erklärungsmodell soll nun an zwei Fallbeispielen, Wissenschaft und Sport, konkretisiert und plausibilisiert werden. Zeitlich konzentrieren wir uns auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, da in diesem Zeitraum in beiden Feldern Konstellationen entstanden, die die Unwahrscheinlichkeit der Globalisierung zu überwinden verhalfen. Wissenschaft und Sport scheinen uns besonders geeignet zu sein, weil sie ähnlich wie die Wirtschaft, aber im Unterschied etwa zu Kunst, Recht und Politik heute als globalisierte Felder par excellence gelten und das moderne Prinzip des Leistungsuniversalismus nahezu idealtypisch symbolisieren. Gleichzeitig, und das macht den Charme dieses Vergleichs aus, waren die beiden Felder historisch mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Während es im Sport vor allem darum ging, räumlich isolierte Wettkämpfe zueinander in Beziehung zu setzen und sie in einen überlokalen (zunächst nationalen, später globalen) Vergleichszusammenhang zu integrieren, bildete die europäische république des lettres der frühneuzeitlichen Wissenschaft bereits ein überregionales Netzwerk. Für die Wissenschaft lag die Herausforderung deshalb weniger in der Erweiterung und Verknüpfung lokal limitierter Vergleichslogiken als darin, soziale Limitationen kommunikativer Anschlussfähigkeit zu überwinden. Sollte sich trotz dieser Unterschiede erweisen, dass das in Abschn. 2.2 präsentierte Erklärungsmodell ein geeignetes Modell für beide Fälle darstellt, wäre dies ein starker Hinweis darauf, dass es zentrale Ursachenbündel zu identifizieren vermag, die sich u. U. auch auf andere Feldern übertragen lassen (vgl. Abschn. 4).

3.1 Wissenschaft

Wissenschaft ist vermutlich jenes Funktionssystem, das sowohl in seiner Selbst- wie auch in seiner Fremdbeschreibung am stärksten globalisiert ist. Weshalb sollte man eine Studie zur Umsetzung von Menschenrechten nicht zur Kenntnis nehmen, nur weil die Autorin eine Marokkanerin ist; Und weshalb sollte ein mathematischer Beweis nicht in einer amerikanischen Zeitschrift veröffentlicht werden, nur weil der Autor aus China kommt? Die fraglose Unterstellung einer immanenten Globalität der Wissenschaft hat mit ihrem Universalitätsanspruch zu tun. Partikularistische Beurteilungen verletzen hier nicht bloß das moderne Universalismusprinzip; sie untergraben zusätzlich eine kognitive Regelstruktur, die für das praktische Funktionieren der Wissenschaft entscheidend ist (Merton 1985).

Empirische Studien zur Globalisierung der Wissenschaft beziehen sich in der Regel auf jene Seite der Globalisierung, die wir als Vernetzungsdimension bezeichnet haben, und verwenden oft Koautorenschaft als Indikator für Globalität (als Überblick über verschiedene Indikatoren Engels et al. 2005). Wir interessieren uns dagegen für die Beschreibungsdimension der Globalisierung, d. h. für die Entfaltung eines globalen Vergleichs- und Referenzhorizontes. Dieser Aspekt wird in der Forschung in der Regel über das Zitationsverhältnis von ausländischen und inländischen Autoren erfasst (exemplarisch Zitt und Bassecoulard 1998). Damit wird allerdings der Globalisierungsgrad systematisch unterschätzt, da dieser Indikator nur faktische Zitationen, nicht aber den Anspruch erfasst, die eigene Forschung auf einen potenziell weltweiten Forschungsstand zu beziehen. Zudem gibt es bislang kaum Arbeiten, die die Globalisierungsdynamik der Wissenschaft über einen längeren Zeitraum hinweg untersuchen (etwa Schott 1998, allerdings eher kursorisch), und erst recht keine Arbeiten, die diese Dynamik systematisch zu erklären versuchen. Die Erklärungen haben in vielen Fällen ad-hoc-Charakter und beschränken sich auf die Aufzählung einzelner Faktoren, ohne diese in einen theoretischen Zusammenhang zu integrieren (als Überblick Wagner und Leydesdorff 2005a).

Einer der wenigen Autoren, die sich der Globalisierungsdynamik der Wissenschaft aus einer (gesellschafts-)theoretischen Perspektive nähern, ist Rudolf Stichweh. Stichwehs These ist elegant und einfach: Die Globalisierung der Wissenschaft ist ein notwendiges Folgeprodukt ihrer internen Differenzierung. „Es ist offensichtlich, dass in diesem Prozess der fortschreitenden disziplinären und subdisziplinären Differenzierung der Wissenschaft in der Moderne der hauptsächliche Mechanismus der Globalisierung dieses Systems liegt“ (Stichweh 2003, S. 23, auch Stichweh 2000b, S. 132 ff.). Die thematische und methodische Spezialisierung zwinge dazu, Kommunikationspartner weltweit zu suchen, und lässt es folglich immer unwahrscheinlicher werden, dass der Kommunikationsraum der Wissenschaft an nationalen Grenzen halt macht. Die These ist elegant, aber ist sie auch ausreichend? Wird damit tatsächlich erklärt, weshalb es zu weltweiten kommunikativen Vernetzungen kommt und welche Bedingungen dazu erforderlich sind?

Auf der Basis des im vorangehenden Abschnitts präsentierten Erklärungsmodells wird im Folgenden der Versuch unternommen, diese Engführung von Differenzierung und Globalisierung zu lockern und die historischen Schwellenbedingungen zu identifizieren, die für die Entstehung eines globalen wissenschaftlichen Referenzhorizonts gegeben sein müssen. Ein solcher Horizont markiert einen Möglichkeitsraum, der nicht notwendig in Form weltweiter kommunikativer Vernetzungen realisiert sein muss und deshalb auch über Kooperationsbeziehungen und Zitationen nicht direkt erfasst werden kann. Es genügt, wenn der Anspruch und die Möglichkeit vorhanden sind, die eigene Forschung auf andere Forschungsarbeiten zu beziehen, unabhängig davon, wo, wann und von wem diese produziert wurden. In Berichten zum Forschungsstand, Zitationen, Fußnotenverweisen, Überblicksaufsätzen und anderen Formen wissenschaftlicher Kommunikation wird nicht die Gesamtheit der Literatur zitiert, die für eine Forschungsfrage einschlägig ist. Es wird aber unterstellt, dass es sich bei der zitierten Literatur um eine Auswahl aus einem weltweiten Forschungszusammenhang handelt, der durch eben diese Unterstellung erzeugt und reproduziert wird (ähnlich Mersch 2005 in Bezug auf Patente).Footnote 6

Während der Anspruch auf Universalität zum Normgefüge der Wissenschaft seit dem späten 17. Jahrhundert gehört, ist die Möglichkeit, die eigene Forschung auf einen potenziell globalen Forschungszusammenhang zu beziehen, erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegeben. Dazu waren epistemische und kommunikative Innovationen erforderlich, deren Zustandekommen keineswegs selbstverständlich war und die bis heute nicht in allen Disziplinen realisiert sind. Wir beziehen uns im Folgenden auf die Naturwissenschaften (und am Rande auf die Mathematik), da sich in diesen Disziplinengruppen die hier interessierenden Globalisierungsvoraussetzungen am frühesten und prägnantesten ausgebildet haben. Dass es sich um fundamentale und keineswegs selbstverständliche Neuerungen handelt, die Globalisierung der Wissenschaft trotz ihres Universalitätsanspruchs ein unwahrscheinliches Phänomen ist und, wie Phasen nationaler Abschottung belegen, auch wieder partiell rückgängig gemacht werden kann, soll durch einen kontrastiven Vergleich mit der Frühphase der modernen Naturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts plausibilisiert werden.

Die moderne Wissenschaft, die sich im 17. Jahrhundert allmählich auszudifferenzieren begann, inthronisierte empirische, und im Idealfall experimentelle Beobachtung als ultimative Erkenntnisinstanz. Wahrheit ist nicht in Texten zu finden, sondern im „Buch der Natur“, nicht in kommunikativ vermitteltem Wissen, sondern in sprachfreien Sinneserfahrungen. Nur was neu war und durch den eigenen Augenschein bestätigt wurde, konnte den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben.Footnote 7 Damit stellte sich jedoch ein Problem: Es ist ein konkretes Individuum, das an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Beobachtungen macht. Wie lassen sich solche notwendig lokalen und personengebundenen Beobachtungen verallgemeinern und mit anderen Beobachtungen in Beziehung setzen? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit Forschungsresultate als objektive Beschreibungen von Sachverhalten interpretiert und nicht mehr auf ihren lokalen Entstehungskontext zugerechnet werden? Das ist ein Problem, das sich der Wissenschaft grundsätzlich stellt, zu Beginn der modernen Wissenschaft aber besonders virulent war, da es zu diesem Zeitpunkt noch keine etablierten wissenschaftlichen Methoden und keine kanonisierten Kommunikationsformen gab.

Da wissenschaftsinterne Kriterien und Konventionen noch nicht zur Verfügung standen, musste die Zuverlässigkeit der Ergebnisse über andere Verfahren plausibilisiert werden. Diese Verfahren waren zunächst vor allem sozialer Natur. Um Wissen als universell gültiges Tatsachenwissen zu zertifizieren und damit für andere Forschungen anschlussfähig zu machen, wurde entweder an gemeinsame Wahrnehmung (Experimente) und/oder an die soziale Glaubwürdigkeit des Autors appelliert (unbezeugte Naturbeobachtungen). Im Falle experimenteller Daten mussten die Experimente öffentlich vorgeführt und durch glaubwürdige Zeugen, d. h. in einem Akt gemeinsamer Wahrnehmung, autorisiert werden. Dies geschah nach einem ähnlichen Prozedere wie in einem Gerichtsverfahren. Als Zeugen kamen nur Personen in Betracht, deren sozialer Status Unvoreingenommenheit garantierte. Shapin und Schaffer (1985) sprechen deshalb auch von gentleman-Wissenschaft. Gemeinsame Wahrnehmung setzt Anwesenheit voraus. Entsprechend blieb das Wissen zunächst auf die Anwesenden beschränkt, auch wenn es öffentlich bezeugt war. Um einer Beobachtung nachhaltig Resonanz zu verschaffen, musste das Wahrgenommene beschrieben und durch Abwesende, „virtuelle Zeugen“ (Shapin und Schaffer 1985, S. 60 ff.), beglaubigt werden. Aber weshalb sollte man einem Forschungsbericht vertrauen, wenn man das Berichtete nicht selbst gesehen hatte? Und weshalb sollte man die Mühe auf sich nehmen, eine Apparatur nachzubauen, wenn man nicht wissen konnte, ob ihre Beschreibung glaubwürdig war? Dieses Glaubwürdigkeitproblem stellte sich erst recht bei Arbeiten, die auf unbezeugten Naturbeobachtungen beruhten.Footnote 8

Da Wahrheitsansprüche noch nicht durch Rekurs auf anerkannte wissenschaftliche Methoden gerechtfertigt werden konnten und eine systematische Überprüfung der Ergebnisse aus praktischen Gründen kaum durchführbar war, wurde dieses Problem vor allem über Kommunikationstechniken gelöst, die die Glaubwürdigkeit des Autors in den Vordergrund stellten (Atkinson 1999, S. 76 ff.; Bazerman 1988, S. 140 ff.; Gross et al. 2002, S. 31 ff.; Gunnarsson 2001). Forschungsberichte sind oft in der 1. Person verfasst und enthalten Hinweise auf die Persönlichkeit und den sozialen Hintergrund des Autors und seiner Zeugen. Im Gegensatz zur heutigen Wissenschaftsprosa, die eine Zurechnung auf einen externen Sachverhalt nahe legt, auf „Erleben“ in Luhmanns Terminologie, wurden in der Entstehungsphase der modernen Wissenschaft die persönlichen Motive des Forschers und sein Forschungshandeln akzentuiert. Entsprechend kommen Passivkonstruktionen selten vor, und umgekehrt gelten Personalpronomina und wertende Bemerkungen noch nicht als unwissenschaftlich. Die Autoren bedienen sich literarischer Stilmittel und orientieren sich an den Konventionen der geselligen Konversation (Shapin 1994, S. 114 ff.). Beobachtungen werden vorwiegend auf einer phänomenalen Ebene beschrieben; quantitative Aussagen sind ebenso selten wie methodische Angaben, und wenn sie vorkommen, dienen sie vorwiegend dem Nachweis persönlicher Seriosität und haben nur sekundär eine technische Funktion (Shapin 1994, S. 221 ff.). Darstellungskonventionen für Publikationen haben sich noch kaum herausgebildet, und insbesondere im englischen Sprachraum orientieren sich viele Veröffentlichungen am Format des Briefes (Atkinson 1999, S. 81 f.). Der Inhalt wird durch lange Titel indiziert und noch nicht durch Zusammenfassungen; Aufsätze werden nicht mit einer Einleitung eröffnet, sondern mit persönlichen Bemerkungen und direkter Anrede; Veröffentlichungen enden häufig mit einer Verabschiedungsfloskel und nicht mit zusammenfassenden Schlussbemerkungen; andere Arbeiten werden nur gelegentlich erwähnt und Zitationen haben noch nicht den Zweck, die eigene Arbeit in einem übergreifenden Forschungszusammenhang zu verorten.

Die Situation gemeinsamer Anwesenheit bildete lange Zeit den normativen Bezugspunkt wissenschaftlicher Kommunikation, alle anderen Kommunikationsformen waren in gewissem Sinne Derivate, die dem persönlichen Gespräch nachgebildet waren.Footnote 9 Das gilt in besonderem Maße für die wissenschaftliche Korrespondenz, die bis Ende des 18. Jahrhunderts ein wesentliches Verbreitungsmedium wissenschaftlichen Wissens war (Kempe 2004; Lux und Cook 1998; Pearl 1984). Im Gegensatz zu den Büchern und Zeitschriften der Frühen Neuzeit, die oft nur eine regionale Ausstrahlung hatten und neues Wissen mit erheblicher Verzögerung diffundierten (Bazerman und Rogers 2008), hatten die Korrespondenznetzwerke, die teilweise hunderte Personen umfassten, eine transnationale Reichweite und ermöglichten eine rasche Wissenszirkulation einerseits über Reisen und persönliche Begegnungen, andererseits über ausgedehnte Briefwechsel (exemplarisch Stuber 2005; Harris 2007; Goldstein 2003). Obschon Briefe normalerweise an eine Einzelperson adressiert waren, ermöglichten sie via Abschriften eine multilaterale Kommunikation, die teilweise auch in internationale Kooperationen mündete.

Die Tatsache, dass die wissenschaftliche Kommunikation primär auf persönlichen Beziehungen beruhte (Lux und Cook 1998) und in die Netzwerke nur Personen aufgenommen wurden, deren Glaubwürdigkeit durch direkte Kontakte bezeugt und durch Empfehlungsschreiben zertifiziert war (Harris 2007), legte es nahe, auch wissenschaftliche Behauptungen personal zuzurechnen, d. h. mit sozialen und persönlichen Merkmalen und Motiven des Schreibenden in Verbindung zu bringen. Die Bedeutung persönlicher Glaubwürdigkeit als Indiz für die Gültigkeit von Wahrheitsansprüchen und die Schwierigkeit, Forschungsergebnisse an anderen Orten zu replizieren, führte dazu, dass ihre Vergleichbarkeit limitiert blieb. Die Anschlussfähigkeit wissenschaftlicher Kommunikation war m. a. W. über persönliches Vertrauen gesichert und noch nicht über Systemvertrauen, d. h. über ein Vertrauen in wissenschaftsinterne Institutionen und Verfahren (zu dieser Unterscheidung Luhmann 1989). Erst mit der Zeit und angestoßen durch Kontroversen, die sich durch Bezugnahme auf die soziale Reputation der Kontrahenten nicht auflösen ließen, war es nicht mehr die Person des Autors, sondern sein Vorgehen, d. h. die von ihm verwendeten Methoden und die Konsistenz seiner theoretischen Argumentation, die als Wahrheitsindikator dienten (Bazerman 1988, S. 141).

Was waren die Gründe dafür, dass sich wissenschaftliche Kommunikationszusammenhänge aus ihren lokalen und heterogenen Entstehungskontexten lösen konnten? Wie wir im letzten Abschnitt ausgeführt haben, sehen wir einen wesentlichen Grund in der Entstehung eines öffentlichen Vergleichsdiskurses, der ursprünglich räumlich limitierte oder sozial kontextualisierte Ereignisse miteinander verknüpft und in einen sachspezifischen Vergleichszusammenhang bringt. Im Falle der Wissenschaft wird die Entstehung eines solchen Vergleichsdiskurses durch ein neues Verbreitungsmedium angestoßen: Die disziplinäre Fachzeitschrift, die Forschungsresultate einem potenziell weltweiten und im Einzelnen unbestimmtem Publikum zugänglich macht und sie im Format des Fachaufsatzes zueinander in Beziehung setzt. Wissenschaftliche Zeitschriften gab es zwar bereits seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, es handelte sich aber entweder um Akademiezeitschriften, die sozial exklusiv waren,Footnote 10 oder um privat finanzierte Zeitschriften, die eher populären Charakter hatten und sich an ein breites, noch nicht fachlich differenziertes Publikum richteten (zur Geschichte der wissenschaftlichen Zeitschrift im 17. und 18. Jahrhundert s. Kronick 1976). Erst mit der Verbreitung der Spezialzeitschrift, die sich an ein anonymes und im Prinzip weltweites Publikum richtete und deren Leser gleichzeitig potenzielle Autoren waren, bildete sich eine Ebene wissenschaftlicher Kommunikation heraus, die sich nicht mehr an der Kommunikation unter Anwesenden orientierte, sondern aus sich heraus Anschlussfähigkeit herstellen musste (Stichweh 1984, S. Kap. VI).

Das Aufkommen der Fachzeitschrift im 19. Jahrhundert unterlief die Netzwerke, die sich rund um die Akademien gebildet hatten, und erschloss neue Kommunikationskreise, die fachlich homogener, sozial und geographisch aber weiter gestreut waren. Da man nicht mehr davon ausgehen konnte, dass man die Kollegen persönlich kannte und sich mit ihnen in direkten Gesprächen oder Briefwechseln austauschen konnte, mussten neue Verfahren entwickelt werden, um Verstehen und Verständigung sicher zu stellen (Heintz 2007). Unter der Bedingung anonymer Kommunikation kann der Wahrheitsgehalt einer Aussage nicht mehr, oder nur noch zweitrangig (wissenschaftliche Reputation), an den personalen Qualitäten des Forschers festgemacht werden, sondern bemisst sich daran, ob ein Ergebnis aufgrund anerkannter und überprüfbarer Methoden zustande kam. Es ist dabei nicht entscheidend, ob eine Replikation tatsächlich stattfindet. Entscheidend ist vielmehr, dass Forschungsresultate durch rekonstruierbare Verfahren zustande kommen und in einer Form kommuniziert werden, die für andere nachvollziehbar ist.

Die Ausbreitung des Zeitschriftenaufsatzes als Standardform wissenschaftlicher Kommunikation verband sich mit drei anderen Entwicklungen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in den empirischen Naturwissenschaften zu verzeichnen waren und die gemeinsam dazu beitrugen, Forschungsergebnisse in einen übergreifenden Vergleichszusammenhang zu integrieren: 1) die Verstetigung der Forschung und damit der Vergleichsereignisse, die wir am Beispiel der „Laboratorisierung“ illustrieren, 2) die Vereinheitlichung der Vergleichsbedingungen (Standardisierung) und die Normierung der wissenschaftlichen Sprache (Quantifizierung und Formalisierung), und 3) die Entwicklung und Kanonisierung universeller Vergleichskriterien (z. B. Konsistenz und Überprüfbarkeit). Diese drei Entwicklungen bahnten sich bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an, mit der Durchsetzung des Zeitschriftenaufsatzes gewannen sie aber an Intensität und wechselseitiger Plausibilität. Zusammengenommen setzten sie eine Eigendynamik in Gang, die maßgeblich dazu beitrug, dass sich ein potenziell globaler wissenschaftlicher Verweisungs- und Vergleichszusammenhang etablierten konnte.

Erwartbarkeit und Kontinuität von Vergleichsereignissen: Verstetigung der Forschung. Die Entstehung eines potenziell globalen Vergleichszusammenhanges setzt eine kontinuierliche Produktion von Vergleichsereignissen voraus (vgl. 2.2.). Im Falle der Wissenschaft sind die Vergleichsereignisse theoretische (z. B. Beweise, Begriffsklärungen) und/oder empirische Resultate, die in irgendeiner Form mitgeteilt werden. Während in der frühneuzeitlichen Wissenschaft die Forschung von kontingenten Bedingungen abhängig war und es noch keine kontinuierlichen Veröffentlichungsformen gab, kommt es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Verstetigung der Veröffentlichung von neuen wissenschaftlichen Resultaten. Ein wesentlicher Grund dafür war die Institutionalisierung der Forschung an den Universitäten und das Format der regelmäßig erscheinenden Fachzeitschrift. Wir greifen im Folgenden einen anderen Aspekt heraus, nämlich eine Entwicklung, die in der Wissenschaftsforschung unter dem Begriff der „Laboratorisierung“ beschrieben wird und auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu datieren ist (James 1989; Pickstone 2000, Kap. 6; Chadarevian 1996).Footnote 11 Im Gegensatz zu den Feldwissenschaften, in denen man Ereignisse nur dann sehen kann, wenn sie stattfinden, und nur dort, wo sie stattfinden (als Überblick Kuklick und Kohler 1996), werden die Beobachtungsgegenstände im Labor unter kontrollierbaren Bedingungen erzeugt und manipuliert und stehen damit jedermann und jederzeit zur Verfügung. Ein frühes Beispiel ist die Elektrizitätsforschung, die ihre Beobachtungsgegenstände nur selten in der Natur vorfand, sondern sie durch eigens gebaute Instrumente „künstlich“ erzeugte. Für Stichweh (1994) ist die Elektrizitätslehre deshalb eines der ersten Forschungsgebiete, in denen sich die autopoietische Struktur der Wissenschaft realisiert: Anstatt vorgefertigte Elemente aus der Umwelt zu übernehmen, produziert sie die Elemente, aus denen sie besteht, selbst und bettet sie in einen rekursiven Zusammenhang ein. Hacking (1992) spricht in diesem Zusammenhang von einer „self-vindication of the laboratory sciences“ und meint damit ähnlich wie Stichweh die Koproduktion und gegenseitige Stabilisierung von Theorien, Instrumente und Beobachtungsereignissen. Insgesamt führt die Laboratorisierung der Wissenschaft zu einer Dekontextualisierung in zeitlicher, räumlicher und sachlicher Hinsicht mit der Folge, dass Forschung zu einem kontinuierlichen und erwartbaren Prozess wird. Insofern hat die Institutionalisierung der Forschung, die durch die Gründung von Laboratorien und Forschungsinstituten in Gang gesetzt wurde, einen vergleichbaren Effekt wie die Einführung des Wettkampfsystems im Sport: Sie sorgt für einen kontinuierlichen Nachschub von Vergleichsereignissen.

Herstellung von Vergleichbarkeit 1: Standardisierung der Messverfahren und Messinstrumente. Heute ist es für uns selbstverständlich, dass Länge, Gewicht, Temperatur oder Zeit an jedem Ort der Welt auf dieselbe Weise gemessen wird und jedes chemische oder biologische Labor vergleichbare Analyseverfahren, Maßeinheiten und Grenzwerte verwendet. Historisch gesehen ist diese Vereinheitlichung aber ein relativ neues und ausgesprochen voraussetzungsvolles Phänomen. Noch Ende des 18. Jahrhunderts gab es lokale Metriken, und es brauchte ein hohes staatliches Durchsetzungsvermögen, um diese auf nationaler Ebene zu vereinheitlichen (Kula 1986; Wise 1995, Teil I). Dies galt erst recht für die internationale Ebene. Viele der heute gebräuchlichen Maßeinheiten und Messverfahren wurden erst im Laufe des 19. Jahrhunderts festgelegt und nach teilweise langen Auseinandersetzungen international für verbindlich erklärt (u. a. Galison 2003; Cahan 1989; Zerubavel 1982).Footnote 12 Diese Standardisierungstendenz erfasste auch die Fabrikation von Messinstrumenten. Während die Messapparaturen in der Frühphase der Wissenschaft in der Regel Unikate waren (Turner 2003), war die Instrumentenentwicklung im 19. Jahrhundert auf Standardisierung ausgerichtet: Im Idealfall brauchen die Messergebnisse auf einer Skala nur noch „abgelesen“ werden. Die Entwicklung von replizierbaren Messapparaturen und die Festsetzung von Maßeinheiten und Messverfahren trug m. a. W. maßgeblich dazu bei, den wissenschaftlichen Austausch und die Vergleichbarkeit von Forschungsresultaten auch über soziale und geographische Distanzen hinweg zu sichern. Je stabiler die Messbedingungen und je normierter Messverfahren sind, desto plausibler wird es, von den jeweiligen lokalen Bedingungen zu abstrahieren und Forschungsresultate miteinander in Beziehung zu setzen, unabhängig davon wo, wann und von wem sie produziert und beobachtet wurden.

Herstellung von Vergleichbarkeit II: Normierung der Kommunikation. Die Vereinheitlichung der Vergleichsbedingungen allein reicht nicht aus. Vergleichbarkeit muss zusätzlich kommunikativ, über die Etablierung von sprachlichen Konventionen sichergestellt werden, und dies besonders dann, wenn sich wissenschaftliche Publikationen an ein unbekanntes und kulturell heterogenes Publikum richten und transnationale Kooperationen eine grenzüberschreitende Verständigung erfordern. In der Wissenschaft selbst wurde das Problem der Kommunizierbarkeit von wissenschaftlichem Wissen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend thematisiert und in Zusammenhang mit dem Begriff der Objektivität gebracht (u. a. Daston 1992). Während Objektivität auf der einen Seite mit einer radikalen Ausschaltung von Subjektivität gleichgesetzt wurde, wurde sie auf der anderen Seite als Intersubjektivität interpretiert und nahm hier die Bedeutung von Kommunizierbarkeit an (zu diesen beiden Varianten ausführlicher Heintz 2000, S. 252 ff.). Oder wie es der Mathematiker Henri Poincaré 1905 formulierte: „Objektiv ist nur das, was für alle identisch ist; also können wir von einer solchen Identität nur sprechen, wenn ein Vergleich möglich ist und in ‚Wechselgeld‘ umgewandelt werden kann, das von einem Geist zum anderen zu übermitteln ist“ (zit. in Daston und Galison 2007, S. 291). In der Wissenschaft bilden Zahlen und mathematische Formeln das „Wechselgeld“, auf das eine grenzüberschreitende wissenschaftliche Kommunikation angewiesen ist (Heintz 2007).

Es ist deshalb kein Zufall, dass die Formalisierungsbemühungen in der Mathematik und die Gleichsetzung von Quantifizierung und Wissenschaftlichkeit Erscheinungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind und in der Wissenschaft selbst mit dem Problem der Kommunizierbarkeit in Verbindung gebracht wurden. Quantifizierung und Formalisierung stellen Mitteilungsformen bereit, die sich im Unterschied zur Alltagssprache oder zu Bildern durch rigorose Konventionalisierung und minimale Indexikalität auszeichnen. Argumente, die im Medium von Zahlen oder einer formalen Sprache formuliert sind, sind von Kontextbezügen weitgehend gereinigt und folglich auch ohne kulturelles Hintergrundwissen anschlussfähig (Heintz 2010). Um einen formalen Beweis zu verstehen, muss man nicht die gleiche Sprache teilen, und ähnlich ist auch das „Medium der Quantifikation“ (Luhmann 1990, S. 399) eine Art „lingua franca“, deren Beherrschung kein Kontextwissen voraussetzt und folglich in kulturell heterogenen Kontexten anschlussfähig ist. Argumente, die numerisch dargestellt werden oder in Form eines formalen Beweises gekleidet sind, erfüllen damit zwei Funktionen gleichzeitig. Sie zwingen zur Präzision und sie ermöglichen eine Verständigung über soziale und sprachliche Grenzen hinweg.

Generalisierung der Vergleichskriterien: Systematisierung und Theoretisierung. Während die Beurteilungskriterien in der Frühphase der Wissenschaft noch primär sozialer Natur waren, gewinnen sie im Laufe der Zeit einen zunehmend versachlichten Charakter. Mit der Bindung von Wahrheitsansprüchen an die Beachtung anerkannter Methoden und an die Konsistenz der theoretischen Argumentation entwickeln sich Vergleichskriterien, die im Prinzip auf jedes Forschungsergebnis anwendbar sind, unabhängig davon, wo es produziert wurde, wann und von wem. In der Norm des anonymisierten Begutachtungsverfahrens ist dieses universalistische Prinzip institutionalisiert. An die Stelle der Beurteilung einer Person tritt die Beurteilung der Sache, und diese Beurteilung muss sich zwangsläufig an Kriterien orientieren, die abstrakt genug sind, um auf sämtliche Studien anwendbar zu sein, zumindest innerhalb derselben Disziplin.Footnote 13 Wahr ist nicht mehr das, was eine glaubwürdige Person behauptet (oder höchstens sekundärFootnote 14), und Wahrheit macht sich nicht, oder jedenfalls nicht in den Naturwissenschaften und der Mathematik, an der „guten Erzählung“ fest (instruktiv Rees 2001); wahr, oder zumindest vorläufig wahr, sind Aussagen, die empirisch (noch) nicht falsifiziert wurden und/oder aus denen kein Widerspruch resultiert. Empirische Bestätigung, begriffliche Konsistenz und Anschluss an bestehende Theorien sind m. a. W. die primären Vergleichskriterien, die in jeder Disziplin ihre spezifische Ausprägung und Interpretation erfahren. Diese Kriterien sind selbstverständlich normativ. Sie entsprechen dem, was Robert Merton (1985) als „technische Normen“ bezeichnet und von denen er soziale Normen wie Universalismus, Uneigennützigkeit und organisierten Skeptizismus unterschieden hat. Insofern ist es kein Zufall, dass mit der Wissenschaftstheorie Ende des 19. Jahrhunderts eine Disziplin entsteht, die sich darauf spezialisiert, die im innerwissenschaftlichen Diskurs entwickelten Kriterien zu begründen und zu systematisieren – vergleichbar mit Reflexionstheorien wie ökonomische Theorie (Wirtschaft) und Rechtstheorie (Recht), die die „Logik“ eines Feldes empirisch zu entziffern und zugleich normativ zu kodifizieren versuchen (Kieserling 2004).

Die genannten Entwicklungen schaffen die Voraussetzungen dafür, dass sich ein autonomer wissenschaftlicher Verweisungszusammenhang etablieren kann, der sich in der Erwartung äußert, die eigene Forschung über Zitationen auf andere Forschungsergebnisse zu beziehen. Dies steht in eklatantem Kontrast zur Frühphase der Wissenschaft, wo sich die Autoren an einer geradezu gegenteiligen Norm orientierten und systematische Verweise als „not courteous“ – und folglich als unwissenschaftlich – empfanden. Noch Robert Boyle, einer der prominentesten Wegbereiter der „Neuen Wissenschaft“, der andere Autoren nur gelegentlich und äußerst unvollständig zitierte, meinte sich dafür entschuldigen zu müssen: „I know it would be more acceptable to most readers, if I were less punctual and scrupulous in my quotations; it being by many accounted a more genteel and masterly way of writing, to cite others but seldom, and then to name only the authors“(zit. in Shapin 1994, S. 117 f.). Im Laufe des 18. Jahrhunderts werden Hinweise auf andere Forschungen zwar häufiger, die Arbeiten werden aber nicht systematisch zitiert und die Referenzen folgen noch keinen Zitationskonventionen. Dies verweist darauf, dass gemeinsam geteiltes Wissens zu dieser Zeit noch als gegeben vorausgesetzt wurde. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden systematische Literaturüberblicke zur Norm (Atkinson 1999, S. 96), aber es dauerte noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bis sich standardisierte Zitationskonventionen endgültig durchsetzten (Gross et al. 2002, S. 173).

Publikationen teilen eigene Forschungsresultate mit, über Zitate und andere Bezugnahmen auf den Forschungsstand beziehen sie sich aber auch auf die Forschungsresultate anderer Publikationen. Insofern enthalten Publikationen immer zwei Elemente: die Mitteilung von Forschungsresultaten (Beobachtung erster Ordnung), auf die sich andere Autoren ihrerseits via Zitationen beziehen können, und die Bezugnahme auf andere wissenschaftliche Ergebnisse, zu denen die eigene Forschung in Beziehung gesetzt wird (Beobachtung zweiter Ordnung).Footnote 15 Erst auf dieser zweiten Ebene wechselseitiger Bezugnahme, der Situierung eigener Forschung im Lichte anderer Forschung (als Falsfikation, Weiterentwicklung, Präzisierung etc.), entsteht ein autonomer, potenziell globaler Vergleichszusammenhang, der für eine moderne wissenschaftliche Disziplin auch dann konstitutiv sein kann, wenn er sich nicht in Form von Literaturhinweisen realisiert. Die Tatsache, dass bereits die Unterstellung und rhetorische Insinuierung eines vollständigen (und folglich auch weltweiten) Literaturüberblicks auf einen globalen Vergleichszusammenhang verweist, ist auch der Grund dafür, weshalb die am Anfang dieses Abschnitts erwähnten Zitationsanalysen den Globalisierungsgrad der Wissenschaft höchstens annäherungsweise zu erfassen vermögen. Folgt man unserem Modell, realisiert sich die Globalisierungsdynamik der modernen Wissenschaft zunächst in Form eines Möglichkeitssinns,Footnote 16 der sich auf faktische Verweise und Zitationsverfahren stützt, aber zugleich projektiv über sie hinausweist.

3.2 Sport

Auch der moderne Wettkampfsport dürfte heute zu den wenigen unbestrittenen Fällen eines globalen Feldes zählen. „Weltmeisterschaften“ in zahlreichen Sportarten und „Weltverbände“ wie der internationale Fußballverband (Fifa) führen auch einem breiteren Publikum vor Augen, dass seine Relevanzen nicht an lokalen oder nationalen Grenzen Halt machen. Dieser selbstverständliche Anschein von Globalität und medialer Prominenz lässt leicht vergessen, dass es sich um ein relativ junges, kaum mehr als hundert Jahre altes Phänomen handelt. Die eigentlich „formative“ Phase dieser Strukturen ist das späte 19. Jahrhundert: Die ersten sich explizit als Weltereignisse inszenierenden Veranstaltungen finden seit den 1880er Jahren statt (darunter die ersten Olympischen Spiele 1896), und die erste Welle von internationalen Verbänden folgt in den Jahrzehnten um 1900, darunter die heute wohl bekanntesten und erfolgreichsten wie das Internationale Olympische Komitee (IOC, 1892) und die Fifa (1904). Letztere repräsentieren die Globalität des Sports heute ebenso wie sein hohes Maß an interner Ordnung und sind daher mit ironischem Respekt auch die „great universal churches“ unserer Zeit genannt wurden (Mangan 2005).

Diese frühe Globalisierungsphase des Wettkampfsports in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist für uns aus zwei konstrastierenden Gründen von besonderem Interesse. Der erste Grund ist, dass sich im späten 19. Jahrhundert tatsächlich viele noch heute prägende Strukturen des modernen Wettkampfsports erstmals ausbilden, darunter wichtige Varianten des Wettkampfbetriebs (wie das Ligensystem) und neue Formen der Leistungsbewertung (wie das heutige Verständnis des Rekords), aber auch, und der zeitliche Zusammenhang wird uns gleich noch näher beschäftigen, die historischen Vorläufer der Weltverbände, lokale oder nationale associations, die ab etwa 1860 in Großbritannien und den USA auftauchen und sich rasch vermehren (dokumentiert z. B. bei Tranter 1998; Eisenberg 1997). Diese Formen vertreten gewissermaßen die frühe Erfolgsgeschichte des modernen Sports. Der zweite Grund ist, dass sich an dieser Phase die Unwahrscheinlichkeit der späteren Erfolgsgeschichte noch deutlich erkennen lässt. Die ersten Weltmeisterschaften und Olympischen Spiele waren allenfalls dem Anspruch nach globale Ereignisse, tatsächlich eher provinzielle und elitäre Veranstaltungen mit beschränktem Teilnehmerkreis (zu den Olympischen Spielen z. B. Brown 2005). Blickt man auf diese frühe Phase zurück, fällt zudem auf, dass es von den vielen seit damals auf den Weg gebrachten Veranstaltungsformaten, Sportarten, Ligensystemen, Verbänden usw. letztlich nur wenigen gelungen ist, sich langfristig zu etablieren oder sich gar einen weltweiten Teilnehmer- und Interessenkreis zu erschließen (zu gescheiterten Ligen etwa Brucato 2001; zur Vielzahl unbekannter „Großereignisse“ Bell 2003).

Pointiert formuliert: Bereits im späten 19. Jahrhundert entwickeln sich die heute noch prägenden Strukturen des modernen Sports ohne aber bereits die heutige globale Präsenz und Sichtbarkeit zu erreichen. Eine Analyse, dieses historischen Abschnitts verspricht daher die Bedingungen der Globalisierungsdynamik des Sports sichtbar zu machen, ohne die historischen Kontingenzen des späteren Globalisierungsprozesses, seine Unwahrscheinlichkeit, zu verdecken. Dieser heuristische Vorzug wird noch deutlicher, wenn man auch auf die Vorphase dieser frühen Erfolgsgeschichte schaut und fragt: Was genau ist neu an den Institutionen, die den Sport seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägen, und welche ihrer Eigenschaften sind für den Übergang zum heutigen Weltsport verantwortlich?

Bereits im 18. und frühen 19. Jahrhundert wuchsen, vor allem in Großbritannien und den USA, die Zahl und die Popularität von Spiel- und Wettkampfkulturen. Neben primär von exklusiven Clubs getragenen „sports“ wie Pferderennen, Rudern, Cricket und Boxen gab es populäre (häufig von Kneipenwirten veranstaltete) frühe Formen des Fußballs und viele andere Sportarten, die komplexe schriftliche Regeln hervorbrachten, teils auch hohe Ansprüche an die Fähigkeiten der Wettkämpfer und Tierzüchter stellten und beachtliche Zuschauerzahlen anlockten.Footnote 17 Und es fehlte auch schon damals offenbar weder an Freizeit noch an einer laufenden Berichterstattung in der Presse und Sportliteratur, obschon sie natürlich noch nicht das spätere Tempo und den durch Doppelzylinderdruck und verbesserte Papierproduktion ermöglichten Umfang hatte (zum Überblick Tranter 1998; Harvey 2004). All diese Entwicklungen scheinen zunächst auf „Rationalisierung“, „Spezialisierung“ und „Modernisierung“ zu deuten, was Entdecker solcher Fakten gern, und ohne Gegenargumente zunächst einmal zu Recht, zum Anlass nehmen, an der Schärfe gängiger Abgrenzungsmerkmale des modernen Sports zu zweifeln (so etwa Holt 1989, S. 12; Kay und Vamplew 2003; im weiteren Rahmen Carter und Krüger 1990). Gerade wenn man solche Wachstumsprozesse vor der Mitte des Jahrhunderts berücksichtigt, drängt sich ja umso mehr die Frage auf, was dieser „kommerziellen Sportkultur“ des frühen 19. Jahrhunderts gleichwohl zur „globalen Sportkultur“ noch fehlte.

Die entscheidende Limitation, die sich zeigt, wenn man so fragt, ist die lokale Limitierung der Vergleichshorizonte. Vor dem modernen Baseball gab es base ball und townball, die aber in Philadelphia, Boston und New York nach unterschiedlichen Regeln und weitgehend isoliert von den jeweils anderen städtischen Baseballkulturen gespielt wurden (Goldstein 1989; Kirsch 1989); und es gab „Football“, das in den Londoner Public Schools nach anderen Regeln gespielt wurde als in Sheffield oder in der Provinz und wiederum ohne systematischen Vergleich mit dem Leistungsniveau in den anderen Städten (Harvey 2005). Worin die Beschränkung bestand, lässt sich exemplarisch am wettkampfmäßig betriebenen Schach verdeutlichen, wo die Leistungshandlungen, die Züge, da nicht an Körpervollzüge gebunden, leicht „notiert“, gedruckt, in Büchern gesammelt, per Post verschickt und miteinander verglichen werden konnten, lange bevor ähnlich plausible Notationsformen für andere Sportarten zur Verfügung standen. Zudem gab es bereits im frühen 19. Jahrhundert eine wachsende Zahl von Clubs und Kaffeehäusern, die sich bereits an weitgehend einheitlichen Spielregeln orientiertenFootnote 18 sowie erste städteübergreifende Wettkämpfe und eine mit ihrem fachlichen Anspruch und historischen Vergleichshorizont beeindruckende Schachliteratur (Eales 1985). Wie gerade ein Blick in die damalige Schachliteratur lehrt (noch heute bekannt v. a. Bilguer 1979 [1843]), gab es jedoch kaum Möglichkeiten des überlokalen Vergleichs einer Vielzahl gleichzeitig ablaufender Wettkämpfe. Bücher und Zeitschriften jener Zeit konnten daher schon differenziert davon handeln, wie man besser Schach spiele, aber nicht ähnlich differenziert vergleichen und bewerten, wer gerade das beste Schach spiele. Kurz: Die Wettkampfkulturen wuchsen bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber sie wuchsen noch nicht zu einer Wettkampfkultur zusammen. Es gab daher letztlich in allen Sportarten wenig, gegen Mitte des Jahrhunderts sogar rückläufige Tendenzen zur einheitlichen Anwendung einzelner Regelwerke (Harvey 2004). Weshalb begannen sich Sportler und Publikum aber gerade jetzt, Mitte der 1850er Jahre, intensiver auch für entfernt stattfindende Wettkämpfe zu interessieren?

Nach unserer Auffassung (vgl. 2.2.) wurde dieser Übergang durch eine raumzeitliche Transformation der öffentlichen Wettkampfberichterstattung angestoßen, die ihrerseits von der Etablierung des Telegraphienetzes abhängig war. Mit dieser These stellen wir erneut nicht primär auf die Vernetzungs-, sondern auf die Beschreibungsdimension der Globalisierung ab: Erst unter dem Einfluss dieser Transformation des Vergleichshorizontes und im Zuge eines zwei- bis drei Jahrzehnte dauernden Prozesses, der sich ziemlich exakt zwischen 1860 und 1890 datieren lässt, konnten sich die lokal fragmentierten Wettkampfkulturen des frühen 19. Jahrhunderts zu zunächst primär nationalen Wettkampfkulturen zusammenschließen, die schon früh Ansprüche auf globale Bedeutung ausbildeten und sich im 20. Jahrhundert tatsächlich zu globalen Wettkampfkulturen entwickelten. Die „epochale“ Leistung der Telegraphie bestand dabei darin, ein Kommunikationsnetz bereitzustellen, mit dessen Hilfe sich Beobachtungs- und Beschreibungsknoten wie Sportverbände oder Presseredaktionen einrichteten, wo Wettkampfinformationen zusammengeführt, notiert, gesammelt, verglichen, evaluiert und, für unser Argument entscheidend, publiziert wurden mit der Folge, dass nunmehr die gleichzeitige Informiertheit aller Ausübenden und Interessierten einer Sportart unterstellt werden konnte.Footnote 19 Konkret zeigte sich dies in einer in Zahl, Umfang und Komplexität zunehmenden Presseberichterstattung, die anfangs maßgeblich von Publizisten betrieben wurde, die sich der von ihnen beobachteten Wettkampfkultur unmittelbar zugehörig fühlten, spezialisierte Sportzeitschriften und Jahrbücher herausgaben, überlokale Leistungsvergleiche anstellten und neue Leistungskriterien erfanden, modifizierten und verbreiteten (aus der Pionierzeit z. B. Chadwick 1983[1868]; zur Entwicklung der Presseberichterstattung Betts 1953; Mason 1986).

Abstrakter formuliert: Presseberichterstattung über einzelne Wettkämpfe sorgte schon seit dem 17. Jahrhundert für Wettkampfbeobachtung erster Ordnung, aber erst auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung, die aus dem öffentlichen Vergleich vieler Wettkämpfe neue Leistungskriterien gewann, konnten sich Sportarten im späten 19. Jahrhundert aus lokalen Kontexten lösen und eigene Autonomie gewinnen. Die Allianz aus Presse und Telegraphie war insofern stilbildend für eine auch heute noch gültige Kombination aus elektrischen Kommunikationstechnologien und statistisch-narrativer öffentlicher Evaluation, die von weiteren Medien und Formen der Berichterstattung im 20. Jahrhundert nur noch ausgeweitet und verfeinert werden konnte. Und ähnlich wie die Verweisungs- und Zitationstechniken wissenschaftlicher Disziplinen stießen diese Wettkampf-Beobachtungsformen zweiter Ordnung eine Logik wechselseitiger Plausibilisierung von Vergleichbarkeit, Produktion von Vergleichsereignissen und neuen Vergleichskriterien an, die den Wettkampfsport als autonome, eigene Globalisierungsdynamik entfaltende Sinnsphäre etablierte. Sie realisierte sich hier in einem Zusammenspiel 1) der Umstellung auf einen kontinuierlichen, hierarchisierten Wettkampfbetrieb mit 2) der Vereinheitlichung der Wettkampfbedingungen und mit 3) der Erweiterung und Verfeinerung der Leistungskriterien.

Erwartbarkeit und Kontinuität von Vergleichsereignissen: Umstellung auf einen kontinuierlichen, hierarchisierten Wettkampfbetrieb. Das Entstehen eines überlokalen Vergleichszusammenhangs setzt zunächst die kontinuierliche Produktion von Vergleichsereignissen voraus. Geht es in wissenschaftlichen Disziplinen um die regelmäßige Publikation von Wahrheitsansprüchen und, in den Laborwissenschaften, um die gezielte Produktion von Beobachtungsereignissen, geht es im Wettkampfsport um die kontinuierliche Produktion von Wettkampfereignissen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt sich dieser Trend in der erstmaligen Durchführung von Cup- und Ligenwettbewerben, deren innovativer Beitrag darin bestand, einzelne Wettkämpfe als Teil von Wettbewerben zu inszenieren, die eine Vielzahl früher, gleichzeitig oder später stattfindender Wettkämpfe in einen gemeinsamen Bedeutungskontext stellten.Footnote 20

Diese Formen, die sich seit den frühen 1870er Jahren zu entwickeln begannen, systematisierten die Bestimmung von „champions“ und traten damit schrittweise neben oder an die Stelle von Vorgänger- und Übergangsformen wie Herausforderung-Matches („challenges“) oder „Touren“ von Amateurmannschaften und professionellen Teams. Letztere beruhten stärker auf dem Prinzip singulärer Leistungsvergleiche, waren folglich allenfalls zur Bestimmung eines „champion du jour“ (Laurans 1990, S. 1051 ff.) geeignet und hatten kaum behebbare Schwierigkeiten bei der plausiblen Festlegung des besten Clubs/Athleten einer Stadt oder eines Landes aufgeworfen (zu solchen „difficulties to designate a winner“ instruktiv Kirsch 1989, S. 233 ff.). Zugleich hierarchisierte sich unter dem Einfluss dieser neuen Formen der Betrieb und differenzierte sich in Profi- und Amateurlager und/oder unterschiedliche Leistungsklassen, was vor allem in den 1870er und 1880er Jahren zu scharfen Konflikten führte zwischen den Verteidigern der alten, primär an Geselligkeit orientierten Wettkampfkulturen – die Sport als Spiel und „recreation“ begriffen und die Reputation eines Clubs weniger an seine sportlichen Erfolge denn an die Qualität seiner Gastfreundschaft knüpftenFootnote 21 – und den Befürwortern des neuen, primär am Prinzip des Leistungsvergleich um seiner selbst willen orientierten Wettkampfsports. Während erstere die mit den neuen Wettbewerben verbundene „excessive rivalry“ (Green 1960, S. 17 f.) und das durch den verschärften Wettbewerb ausgelöste „ill feeling“ beklagten (hierzu z. B. Goldstein 1989, S. 62) und für die Rückkehr zu den alten Werten oder gar für die Abkehr vom Wettkampfsport plädierten, betonten die anderen den Reiz und Unterhaltungswert des systematischen Leistungsvergleichs und setzten sich für die weitere Systematisierung des Wettkampfbetriebs ein. Es waren die Systematisierer und Professionalisierer, nicht die Bewahrer der Geselligkeitskultur, die sich letztlich durchsetzten (näher Werron 2010, S. 292–344).Footnote 22

Herstellung von Vergleichbarkeit: Vereinheitlichung der Wettkampfbedingungen. Wie das Vergleichen von Forschungsergebnissen eine Standardisierung der Forschungsmethoden voraussetzt, erfordert der Vergleich von Wettkampfleistungen, die an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten erbracht werden, die Vergleichbarkeit der Bedingungen, unter denen diese Leistungen zustande kommen. Historisch nachvollziehen lässt sich dies in der frühen Phase zwischen 1860 und 1890 an einem Trend zur Vereinheitlichung der Wettkampfregeln sowie am Auftreten von Akteuren und Organisationen, die sich für die einheitliche Anwendung der Regeln zuständig machten. Ein erstes Indiz ist die Übernahme von zunächst lokalen Regelwerken in anderen Städten und Regionen, z. B. der New Yorker Baseballregeln in Boston und Philadelphia (Kirsch 1989), oder der Londoner Fußballregeln in Sheffield, von wo aus umgekehrt auch auf die Formulierung der Londoner Regeln Einfluss genommen wurde (Harvey 2001).

Der Trend zur allmählichen Angleichung und strengeren Überwachung der Wettkampfbedingungen zeigte sich dann u. a. in der offiziellen Einführung von Schiedsrichtern sowie, langfristig entscheidender, in einer auf die Anforderungen des neuen Vergleichsarrangements abgestimmten Neudefinition der Schiedsrichterrolle, die sich z. B. im Fußball von der Rolle eines Mediators, der zwischen den “gentlemen“ von Amateurmannschaften vermittelte und nur im Konfliktfall eingriff, zu der eines Regelvollstreckers entwickelte, der auf die Einhaltung und Durchsetzung der immer gleichen Regeln achten sollte. Die Folgen dieser Trends lassen sich auch an der zunehmend aktiven Rolle der nationalen Verbände (associations) ablesen, d. h. an Organisationen wie der Londoner „Football Association“ (1863), die sich anfangs eher als eine lose Interessenvereinigung verstand, dann aber aktiver wurde und begann, sich für die Kontrolle der Regeln zuständig zu machen, die Organisation des Wettkampfbetriebs in die Hand zu nehmen und die ordnungsgemäße Durchführung der Wettkämpfe gegen das Eingreifen und die Partikularinteressen von Wettenden, Rowdys u. a. zu schützen (näher Harvey 2005). Entscheidend war freilich nicht so sehr das Eingreifen der Verbände als solches, sondern die Vergleichbarkeit der Wettkämpfe, deren Plausibilität davon abhing, neben den eigentlichen Wettkampfregeln Akzeptanzregeln zu etablieren, die auf die Erfordernisse des überlokalen öffentlichen Leistungsvergleichs abgestimmt waren und die im Prinzip, und in manchen Sportarten wie dem professionellen Golfsport noch heute, auch ohne starke Verbände auskommen können. In der frühen Phase war dies auch daran zu erkennen, dass sich zunächst weniger die Verbände, sondern führende Publizisten (in den USA der sogenannte „father of baseball“ Henry Chadwick, in England der „father of modern sport“ Charles W. Alcock) für die einheitliche Anwendung der Regeln einsetzten (näher Werron 2010, S. 344–372; zu „acceptance rules“ auch Vamplew 2007).

Generalisierung der Vergleichskriterien: Erweiterte und verfeinerte Leistungskriterien. Ein einheitlicher Vergleichszusammenhang von Wettkampfleistungen setzt schließlich die Formulierung von Vergleichskriterien voraus, die eine Vielzahl räumlich oder zeitlich distanzierter Leistungen verknüpfen sowie aus dem Vergleich neue, „dekontextualisierte“ Leistungskriterien gewinnen. Die neue Qualität der Kriterien, die in der frühen Phase gefunden werden mussten, lässt sich gut an einer zentralen Innovation des Wettkampfbetriebs der 1870er und 1880er Jahre, den nationalen Ligensystemen, illustrieren. Ein Ligensystem aus Clubs, die über verschiedene Städte verstreut sind, zielt ja auf eine gleichzeitige Konkurrenz von Wettbewerbern, die sich nur sporadisch direkt in Wettkämpfen begegnen, ist daher auf die Erreichbarkeit räumlich verstreuter Wettkampforte und entsprechende Informiertheit der Konkurrenten auch unter der Bedingungen der Abwesenheit angewiesen. Das setzt voraus, dass alle Spiele in einer Beobachtungsperspektive gegenwärtig zusammengezogen werden – etwa, indem die Ergebnisse aller Spiele in einen Tabellenstand eingehen, der laufend aktualisiert und als bekannt unterstellt werden kann.

Tabellen und Tabellenstände einer Liga symbolisieren folglich wie kein anderes Schema die sich in den 1880er Jahren konsolidierende Idee, gleichzeitige Leistungskonkurrenz auch unter Abwesenden für möglich zu halten. Diese Idee kam damals auch in einem neuen Verständnis des „Rekords“, im Sinne einer nicht überbotenen, aber im Prinzip überall, jederzeit und von jedem überbietbaren Höchstleistung, zum Ausdruck, das in dieser Bedeutung seit den 1880er Jahren überliefert ist (Mandell 1976), sowie in einer Reihe statistischer Vergleichsschemata bis hin zu komplexen Statistiken, die z. B. messen, wer den besten „batting average“ (Schlagdurchschnitt) aller professionellen Baseballspieler, dieses Spieltages, dieser Saison oder gar aller Zeiten, vorweisen kann.Footnote 23 Der allgemeine Effekt solcher Schemata war, dass Sportler von einem Distanzpublikum vereinnahmt und auf ständige Steigerungsbereitschaft verpflichtet werden konnten; in diesem Sinne forderte eine New Yorker Zeitung schon Anfang der 1870er Jahre „that professional clubs and players owed it to the public, whose money supported the teams and athletes, to train hard“ (Adelman 1986, S. 169 f.).

Das Zusammenspiel dieser drei je für sich gesehen unauffälligen Innovationen führte dazu, dass alle Fußball- oder Baseballspiele einem übergreifenden Vergleichszusammenhang zugerechnet und die gesamten Vereinigten Staaten oder ganz Großbritannien als einheitliche „Leistungsvergleichsräume“ aufgefasst werden konnten. Die sich hieraus in einer relativ kurzen „formativen“ Phase entwickelnde sportspezifische Globalisierungsdynamik ist leicht zu übersehen, und ist in der Literatur übersehen worden, weil sie sich zunächst in einem weitgehend nationalen oder regionalen Rahmen entfaltete.Footnote 24 Ohne eine Rekonstruktion dieser national oder regional gerahmten Dynamik ist jedoch nicht verständlich zu machen, weshalb sich in den 1880er Jahren auch die Veranstaltungen von Weltmeisterschaften (mit noch begrenzten Teilnehmer- und Interessentenkreisen), seit den 1890er Jahren auch die Gründungen internationaler Verbände (mit noch begrenztem Einfluss) zu häufen begannen. Denn es ist eine immanenter Aspekt dieser Logik, sich letztlich auch die ganze Welt als einen Leistungsvergleichshorizont vorzustellen und dies in Weltmeisterschaften, Weltverbänden, Weltrekorden etc. zum Ausdruck zu bringen (zu internationalen Verbänden Mevert 1981; zu Weltmeisterschaften Eichberg 1984, S. 91). Trotz nationaler Rahmung begannen diese modernen Sportarten daher bereits früh Ansprüche auf globale Bedeutung auszubilden, und dieselbe Universalisierungslogik konnte dann später von anderen Sportarten mit je eigenen Regeln, Formen des Wettkampfbetriebs und Leistungskriterien erschlossen werden.

Wie für die Begrenzung des Leistungsvergleichs in der ersten Jahrhunderthälfte gilt wohl auch für diese globalen Leistungsvergleichshorizonte in der zweiten Jahrhunderthälfte, dass sie sich in keiner Sportart so früh und anschaulich zeigen wie im Schach, in dem nicht nur das erste „international tournament“ anlässlich der Weltausstellung in London 1851 ausgetragen wurde, sondern sich auch schon früh die Vorstellung vom „besten Schachspieler der Welt“ konsolidierte. Nur hier, behauptete 1859 ein Lobredner auf den von einer Europareise heimkehrenden amerikanischen Schachspieler Paul Morphy, sei es möglich zu sagen ‚I am first in my special walk or profession,‘ and have the whole world respond amen. Who could ever say ‚I am the greatest poet or author, painter or sculptor, orator or statesman?‘ (Dizikes 2002, S. 173). Jemanden aufgrund seiner Leistungen als „Besten der Welt“ zu bezeichnen, war auch im Schach 1859 noch eine gewagte Feststellung, denn offizielle „Weltmeisterschaften“ und „Weltranglisten“ gab es damals dort sowenig wie in anderen Sportarten. Umso mehr fällt auf, dass sich dieser Möglichkeitssinn für einen weltweit-gleichzeitigen Leistungsvergleich anschließend rasch verfestigte und heute längst nicht nur im Schach und Sport, sondern auch in anderen Bereichen üblich geworden ist.

Die Innovationen des späten 19. Jahrhunderts sind aus unserer Sicht also deshalb von so grundlegender Bedeutung, weil sie globale Möglichkeitshorizonte erschlossen, in die faktische Globalisierungsprozesse im 20. Jahrhundert, soweit sie eintraten, gleichsam hineinwachsen konnten. Da sich diese Logik bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte, trägt ihre Rekonstruktion nicht nur zur Erklärung der Transformation lokaler Wettkampfkulturen in (dem Anspruch nach) globale Sportarten bei, sondern auch zur Erklärung der überraschenden Tatsache, dass spätere technologische Neuerungen keine grundlegenden Strukturänderungen mehr anstoßen konnten.Footnote 25 Alle Innovationen oder Entwicklungstrends, die im 20. Jahrhundert hinzukamen, wie insbesondere die zunehmende Regulierungskraft von internationalen Verbänden oder die Popularisierung vieler Sportarten durch neue Verbreitungs- und Massenmedien, lassen sich vor diesem Hintergrund als Stabilisierung und Ausweitung eines Ende des 19. Jahrhunderts etablierten Vergleichsarrangements lesen. Es ist dieser für den modernen Sport konstitutive Möglichkeitssinn, der sich zeigt, nähert man sich der Geschichte des Sports mit Interesse an den Möglichkeitsbedingungen nicht nur von Differenzierungs-, sondern auch von einem Globalisierungsprozessen.

4 Abschließende Bemerkungen

Wir sind in diesem Aufsatz von der Prämisse der Unwahrscheinlichkeit der Globalisierung ausgegangen und haben am Beispiel der Geschichte von moderner Naturwissenschaft und modernem Wettkampfsport untersucht, welche historischen Konstellationen gegeben sein mussten, damit diese Unwahrscheinlichkeitsschwelle überwunden werden konnte. (Natur-)Wissenschaft wie Sport sind Felder, in denen diese Überwindung gelang. Deshalb bietet es sich an, diese Konstellationen als Vergleichsfolie zu nutzen, um Globalisierungsdynamiken, aber auch Globalisierungsgrenzen in anderen Bereichen zu untersuchen. Wir haben zunächst zwischen einer Vernetzungs- und einer Beschreibungsdimension der Globalisierung unterschieden und vorgeschlagen, die Beschreibungsdimension der Globalisierung über eine Analyse der Voraussetzungen und Effekte von Vergleichskommunikationen zu präzisieren (2.1). Ausgehend von diesen Überlegungen haben wir ein allgemeines Erklärungsmodell vorgestellt, wonach verschiedene Bedingungen zusammen kommen müssen, damit sich eine Globalisierungsdynamik entfalten kann (2.2). Anschließend haben wir gezeigt, wie und unter welchen historischen Konstellationen sich diese Dynamik in naturwissenschaftlichen Disziplinen (3.1) und modernen Sportarten (3.2) etabliert und eine Dekontextualisierung aus sozialen und lokalen Restriktionen ermöglicht hat. Dem Aufsatz liegen zwei Entscheidungen zugrunde: Zum einen die Entscheidung, die Möglichkeitsbedingungen von Globalisierungsprozessen an zwei „erfolgreichen“ Fällen zu untersuchen, ohne damit zu supponieren, dass diese Bedingungen in jedem Fall gegeben sind, d. h. ohne zu unterstellen, dass Globalisierung immer der wahrscheinliche Ausgang ist. Zum andern die Entscheidung, uns zunächst auf die Erklärung des Globalisierungspotenzials einzelner sozialer Felder zu beschränken und die Bedingungen ihrer faktischen globalen Expansion vorläufig auszuklammern. Zum Abschluss möchten wir diese beiden Punkte, Generalisierungsfähigkeit des Modells und faktische globale Expansion, aufgreifen und einige weiterführende Vermutungen formulieren. Dafür stellen wir erstens die Gemeinsamkeiten und Differenzen heraus, die die von uns dargestellten Felder miteinander teilen oder voneinander trennen, deuten zweitens Fragen an, die sich beim Versuch der Übertragung des Modells auf andere Felder ergeben, und schließen drittens mit einigen Überlegungen, welches Licht dieses Modell auch auf faktische globale Expansionsprozesse werfen könnte.

1) Bevor wir den generalisierungsfähigen Kern unseres Erklärungsmodells herausstellen, seien kurz einige Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungsfällen genannt. Elektrische Kommunikationstechnologien, in dem hier analysierten Zeitraum vor allem die elektromagnetische Telegraphie, scheinen im Sport für die Ingangsetzung der Dynamik eine wesentlichere Rolle gespielt zu haben als in der Wissenschaft. Umgekehrt waren wissenschaftliche Disziplinen offenbar stärker auf eine Normierung der Kommunikation angewiesen. Und schließlich stand im Sport die Überwindung räumlicher Begrenzungen im Vordergrund, während es in der Wissenschaft vor allem um die Überwindung sozialer Beschränkungen ging.

Vor dem Hintergrund dieser Differenzen fallen die grundlegenden Gemeinsamkeiten umso stärker auf. In beiden sozialen Feldern beginnen oder stabilisieren sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleichbare Entwicklungen: 1) Sowohl in den Naturwissenschaften wie auch im Sport wird der Nachschub von Vergleichsereignissen auf Dauer gestellt. Man kann nun erwarten, dass Publikationen regelmäßig erscheinen und Wettkämpfe kontinuierlich durchgeführt werden. 2) In beiden Feldern ist die Tendenz zu erkennen, Vergleichbarkeit herzustellen. Im Sport geschieht dies über die Vereinheitlichung von Wettkampfregeln, in der Wissenschaft über eine Standardisierung der Maßeinheiten und der methodischen Verfahren. 3) Gleichzeitig kommt es zu einer zunehmenden Generalisierung und Verfeinerung der Vergleichskriterien, die sich in den Naturwissenschaften u. a. an der Ausdifferenzierung immer neuer Spezialdisziplinen sowie am Entstehen der Wissenschaftstheorie ablesen lässt, im Sport an der Proliferation neuer Vergleichsschemata wie Tabellen, Rekorden und Statistiken, über die sich die für den modernen Sport typische Vorstellung einer gleichzeitigen Leistungsvergleichs unter Abwesenden durchsetzte. 4) Schließlich ist in beiden Feldern die Etablierung eines öffentlichen (Vergleichs-) Diskurses zu beobachten, der sich an ein (unterstelltes) anonymes Publikum richtet. Im Sport nimmt dieser öffentliche Diskurs die Form einer kontinuierlichen Sportberichterstattung an, die sich zunächst in einer Fachpresse mit lokal oder national beschränktem Vergleichshorizont etabliert, in der Wissenschaft konkretisiert er sich in Form der regelmäßig erscheinenden Fachzeitschrift, mit der sich die Konvention durchsetzte, neben eigenen Wahrheitsansprüchen zugleich den Forschungsstand eines Faches in Form von Zitationen, Berichten zum Forschungsstand usw. präsent zu halten. Und in beiden Fällen etablieren sich über spezielle Publikationsformen Unterscheidungen zwischen Beobachtungen erster Ordnung (Formulierung eigener Wahrheitsansprüche; Berichterstattung über einzelne Wettkämpfe) und Beobachtungen zweiter Ordnung (Einordnung und Bewertung im Vergleich mit weiteren Publikationen und Wettkämpfen), die als Katalysator dieser Vergleichsdynamik wirken.

Dieses Zusammenspiel bezeichnet den generalisierbaren Kern unseres Erklärungsmodells. Das Modell impliziert die Vermutung, dass überall dort, wo diese Bedingungen zusammenkommen, eine Globalisierungsdynamik entsteht. Wo dies nicht der Fall ist, erwarten wir folglich Globalisierungsgrenzen.Footnote 26 Wie wir gezeigt haben, waren diese Bedingungen in der Wissenschaft vor allem in der Mathematik und den experimentell verfahrenden Naturwissenschaften gegeben. Dies mag mit ein Grund dafür sein, dass es gerade diese beiden Disziplinengruppen sind, die sich für „die“ Wissenschaft als Referenzmodelle etablieren und andere Fächer in ihren Sog ziehen. Um als „wissenschaftlich“ zu gelten, müssen sich die anderen Disziplinen diesem Modell in gewisser Weise unterwerfen. Tun sie das nicht, stehen sie unter besonderen Rechtfertigungszwängen.Footnote 27 Im (Leistungs-)Sport gibt es keine einzelne Sportart, die als Referenzmodell für alle anderen verstanden wird, das Bezugsmodell ist in diesem Fall die von uns beschriebene allgemeine Konfiguration: hierarchisierter Wettkampfbetrieb, Vereinheitlichung der Wettkampfbedingungen, differenzierte und (möglichst) objektivierbare Leistungskriterien. Gemäß unserem Modell ist folglich zu vermuten, dass Sportarten, die diese Bedingungen nicht oder nur partiell erfüllen, zum einen ein nur beschränktes Globalisierungspotenzial aufweisen (etwa wenn die weltweite Vereinheitlichung der Regeln nur eingeschränkt gelingt) und zum anderen mit der Anerkennung als „wirklichem“ Sport zu kämpfen haben, so beispielsweise der Eiskunstlauf, dessen Beurteilung auf qualitativen Einschätzungen und nicht auf Leistungsmessungen oder -zählungen beruht.Footnote 28

2) Damit zur Frage, inwieweit unser Erklärungsmodell auch auf andere soziale Felder übertragbar ist, oder, anders formuliert, inwieweit in anderen Bereichen, etwa Politik, Wirtschaft oder Kunst, ähnliche Bedingungskonstellationen zu konstatieren sind, denen ebenfalls ein eigenständiges Globalisierungspozential zugeschrieben werden kann. Wir können dies hier nur knapp am Beispiel Wirtschaft andeuten. Es gibt seit Jahrtausenden grenzüberschreitende und kontinentübergreifende Handelsbeziehungen, die manche Globalisierungsforscher veranlasst haben, mindestens seit dem 16. Jahrhundert von der Existenz eines Weltsystems auszugehen (repräsentativ Wallerstein 2004). Legt man unser Erklärungsmodell zugrunde, drängt es sich auf, statt auf grenzüberschreitende Handelsbeziehungen („Vernetzung“) auf „beschreibende“ Faktoren ökonomischer Globalisierung abzustellen und nach den Bedingungen der Möglichkeit globaler Märkte zu fragen. Illustrieren lässt sich dies an Analysen globaler Finanz- und Währungsmärkte. Karin Knorr Cetina und Urs Brügger (2002) haben gezeigt, wie sich computergestützte Währungsmärkte in einem Zusammenspiel von Kontakten zwischen den Händlern („networking“) und für alle gleichzeitig zugänglichen Marktbeschreibungen („scoping“) konstituieren. Folgt man unserem Modell, müssten sich globale Märkte generell in einem Zusammenspiel aus öffentlichem Vergleichsdiskurs (analog zum „scoping“ in der Terminologie von Knorr Cetina und Brügger), Produktion von Vergleichsereignissen (hier Angebote und Transaktionen zu bestimmten Preisen), Herstellung von Vergleichbarkeit (Produktstandards wie „Währungen“) und generalisierten Vergleichskriterien (Währungskurse und andere preisbildende Informationen) formieren und sich auch auf ihre historischen Entstehungsbedingungen untersuchen lassen. Die bestehenden Hinweise legen die Vermutung nahe, dass sich globale Märkte ähnlich wie moderne Sportarten erstmals zwischen den 1860er und 1880er Jahren formiert haben, als der sogenannten Weltverkehr (inbesondere die Telegraphie) die Voraussetzungen für die Unterstellbarkeit gleichzeitiger Informierheit anonymer Marktteilnehmer geschaffen hatte (zu Finanzmarkt-Tickern des späten 19. Jahrhunderts Preda 2006). Ganz in diesem Sinne konstatierte ein früher Analytiker der Weltwirtschaft, August Sartorius von Waltershausen, bereits Ende der 1920er Jahre, dass die Entstehung der Weltwirtschaft „zwischen den sechziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts“ anzusetzen sei (Sartorius von Waltershausen 1929, S. 892; ähnlich in der neueren Literatur Walter 2001; O’Rourke und Williamson 1999).Footnote 29

Ein wichtiger theoretischer Ertrag solcher historischer Studien könnte darin bestehen, konkretere Vorstellungen der Beziehungszusammenhänge zwischen Verbreitungsmedien und Globalisierungsprozessen zu entwickeln. Solche Beziehungszusammenhänge werden in der Globalisierungsliteratur zwar immer wieder postuliert, etwa in den viel zitierten Formeln einer „time-space compression“ (Harvey 1990) oder einer „time-space distanciation“ (Giddens 1990), sie sind aber noch kaum auf ihre sozialen Voraussetzungen und historischen Bedingungen befragt worden. Das begünstigt zeitdiagnostische Übertreibungen gegenwärtiger Veränderungen (hierzu kritisch Rosenberg 2005) und führt zu einem vagen und zu voraussetzungsvollen Verständnis der Globalisierungsdynamik einzelner Felder. Es fehlen, so können wir diese Kritik nun ergänzen, historische Problemformulierungen, die von der Unwahrscheinlichkeit von Globalisierungsprozessen ausgehen. Unsere beiden Fallstudien haben am Einfluss wissenschaftlicher Fachzeitschriften und telegraphisch gestützter Wettkampfberichterstattung im Sport zu zeigen versucht, dass sich der Bedingungszusammenhang zwischen Globalisierungsprozessen und Verbreitungsmedien wesentlich präziser fassen lässt, wenn man von einer Unwahrscheinlichkeitsprämisse ausgeht und das hier postulierte Erklärungsmodell zugrunde legt.

3) Die Frage, unter welchen Bedingungen sich eine Disziplin, eine Sportart oder ein anderes Teilsystem auch faktisch weltweit ausbreiten, hatten wir in diesem Aufsatz bewusst zurückgestellt und uns allein auf die Bedingungen der Möglichkeit von Globalisierungsprozessen konzentriert. Selbstverständlich soll unser Erklärungsmodells langfristig auch zur Erklärung solcher „faktischeren“ Globalisierungsprozesse beitragen. Wir verstehen diesen Aufsatz aber auch als Plädoyer dafür, sich dieser Frage mit Vorsicht anzunähern. Denn erstens ist es schwierig zu sagen, unter welchen Voraussetzungen man überhaupt von einem faktisch „globalisierten“ System sprechen will: In wie vielen Ländern und von wie vielen Menschen muss eine sportliche/wissenschaftliche Disziplin praktiziert oder beobachtet werden, um als globale Disziplin gelten zu dürfen? Zweitens führen bei näherem Hinsehen vermutlich kontingente Wege von der Konstellation potenzieller globaler Vergleichszusammenhänge (die sich häufig bereits im späten 19. Jahrhundert beobachten lässt) zu einer mehr oder weniger stabilen Etablierung globaler Kommunikationszusammenhänge im 20. Jahrhundert. Erneut illustriert am Beispiel von Wissenschaft und Sport: In vielen wissenschaftlichen Disziplinen scheint sich Globalisierung vor allem in Form von Zentrum/Peripherie-Differenzierungen und Regionalisierungen realisiert zu haben (Wagner und Leydesdorff 2005b), während in anderen, darunter die Soziologie, starke nationale oder regionale Diskursbegrenzungen zu beobachten sind; und während manche Sportarten (wie Fußball oder Leichtathletik) offenbar von der Regulierungsmacht internationaler Organisationen (wie Fifa oder IAAF) profitieren, haben sich andere (wie der professionelle Golfsport) auch ohne einen zentralen Verband als globale Sportart etabliert. Diese Besonderheiten bedürfen eigenständiger historischer Erklärungen und lassen sich nicht ohne weiteres auf eine inhärente Globalisierungsdynamik „der Wissenschaft“ oder „des Sports“ zurückführen. Schließlich ist es drittens eine offene Frage, inwieweit die mehr oder weniger erfolgreiche Stabilisierung globaler Kommunikations- und Vergleichszusammenhänge mit faktischen Inklusions- und Exklusionseffekten einhergeht, indem z. B. lokale Wissensformen verdrängt, umgedeutet oder auf regionale Traditionen reduziert werden. Diese Offenheit zu betonen ist umso wichtiger, als es bisweilen überraschende Spielräume für widerständige Aneignungen sowie für das „decoupling“ lokaler Strukturen von globalen Erwartungen zu geben scheint (interessante Fallanalysen hierzu bei Wimmer 2001; Hafner-Burton und Tsutsui 2005).

Unser Erklärungsmodell, das auf öffentliche Vergleichsprozesse abstellt, hebt diese Probleme nicht etwa auf, sondern betont und schärft sie: Wie unterscheiden sich diese öffentlichen Globalisierungsdynamiken von solchen, denen eine oder mehrere der von uns postulierten Voraussetzungen fehlen? Welche Gräben können sich zwischen öffentlichen Vergleichs- und Globalisierungsdynamiken einerseits, geheimen, sozial oder lokal limitierten Praktiken andererseits auftun (z. B. Geheimwissenschaften, lokal spezifische und/oder kulturell codierte Sportarten, Schwarzmärkte etc.)? Legt man das hier vorgeschlagene Erklärungsmodell zugrunde, erweisen sich Zusammenhänge zwischen dem Globalisierungspotenzial und der faktischen globalen Ausbreitung dieser Felder demnach als ähnlich voraussetzungsvoll wie die Entstehung von Globalisierungsdynamiken, die, wie wir in diesem Aufsatz zu zeigen versucht haben, unwahrscheinlich, voraussetzungsvoll und folglich erklärungsbedürftig sind.