Hintergrund

Rund 90% aller Erwachsenen suchen mindestens einmal im Jahr einen Arzt auf [15]. Anlass sind u. a. akute Beschwerden und chronische Krankheiten, die sie in Sorge um ihre Gesundheit versetzen und damit besonders empfänglich für Ratschläge und konkrete Empfehlungen präventiven Inhalts machen. Der Arzt kann eine solche „Gunst der Stunde“ nutzen und seine medizinische Kompetenz und das günstigstenfalls über Jahre gewachsene Vertrauen in seine Person einsetzen, um eine größtmögliche Wirkung seiner präventiven Intervention zu erreichen. Vor diesem Hintergrund wird Hausärzten allgemein eine wichtige Rolle in der Prävention zuerkannt [10, 14, 17].

Gemessen an diesen positiven Ausgangsbedingungen bleibt die präventive Praxis der Hausärzte nach den Ausführungen verschiedener Autoren häufig hinter den Erwartungen zurück. Einige stellen ein geringes Engagement der Ärzte fest [4, 19], andere weisen auf ein geringes Inanspruchnahmeinteresse der Patienten hin [11]. Darüber hinaus leide die Effizienz der ärztlichen Bemühungen u. a. an fachlichen Defiziten auf dem Gebiet der gesundheitspsychologischen Motivationsförderung [8, 18].

Die Ärzte selbst sehen die Wirksamkeit medizinischer Argumente bei ihren präventiven Bemühungen eher skeptisch. Nur knapp ein Drittel (31%), war nach den Ergebnissen einer telefonischen Befragung von 500 Ärzten der Meinung, dass sie „sehr viel“ oder „eher viel“ bewirkten, 55% antworteten mit „eher wenig“, 13% mit „sehr wenig“ [16].

Bei näherer Betrachtung beziehen sich die genannten Aussagen allerdings weitgehend auf einen Bereich, den Abholz [1] als „Prävention in der Hausarztpraxis“ bezeichnet hat. Bei Screenings oder allgemeiner Gesundheitsaufklärung, etwa im Rahmen der Gesundheitsuntersuchung „Check-up 35 + “, ist die Praxis in erster Linie der Ort eines präventiv orientierten Geschehens, das ebenso gut in anderer Umgebung stattfinden und größtenteils auch von nichtärztlichem Personal ausgeführt werden kann. Die mehr kollektive als individuelle Ausrichtung dieser Maßnahmen lässt sie sogar als der hausärztlichen Handlungsweise tendenziell eher wesensfremd erscheinen [2].

Fred Epstein, ein Pionier der Epidemiologie von Herz-Kreislauf-Krankheiten, hat die Probleme einer allgemeinen Gesundheitsaufklärung durch Ärzte schon vor 40 Jahren mit folgender Anekdote treffend charakterisiert: „Ein Mann geht zum Arzt. Der Arzt sagt zu ihm: ‚Rauchen Sie nicht, essen Sie nicht zuviel, es ist nicht gut, dass Sie den Tag am Schreibtisch, den Nachhauseweg im Auto, den Abend vor dem Fernseher verbringen, bewegen Sie sich mehr.‘ Der Mann antwortet darauf: ‚Was brauche ich dazu einen Arzt, das hätte mir auch meine Großmutter sagen können“ [16]. Mit anderen Worten: Alle eingangs angeführten Stärken des hausärztlichen Settings müssen eher wirkungslos bleiben, wenn der Arzt nur solche allgemeinen Empfehlungen formuliert. Das gilt heute mehr denn je, da diese Botschaften inzwischen auch durch ihre mediale Omnipräsenz jeglicher Originalität beraubt sind.

Wer nur diesen Ausschnitt betrachtet, übersieht allerdings, dass ein Großteil der präventiven Beratung durch Hausärzte integraler Bestandteil des Gesprächs mit Patienten im Rahmen der täglichen Sprechstunden ist. Abholz [1] nennt diesen Bereich „Spezifische Hausärztliche Prävention“ und charakterisiert sie durch ihre individuelle Ausrichtung. Jeder Patient wird „unter Würdigung seiner gesundheitlichen Bedürfnisse und seiner speziellen gesundheitlichen Stärken und Schwächen sowie unter Berücksichtigung der medizinischen, psychischen und sozialen Problematik präventiv behandelt und zu Gesundheitsförderung angesprochen“.

Die Inhalte und die didaktische Form der „Spezifisch Hausärztlichen Prävention“ sind bisher noch nicht empirisch untersucht worden. Somit fehlen auch jegliche Ansätze für eine systematische Erschließung dieses Handlungsfelds. Die vorliegende Studie hatte deshalb zum Ziel, wesentliche Inhalte explorativ mit qualitativer Methodik zu erfassen und einen ersten Vorschlag zur Strukturierung zu formulieren.

Methode

Im Zeitraum Juni bis August 2009 wurden insgesamt 100 zufällig ausgewählte Ärzte der Fachrichtung Allgemeinmedizin im Raum Düsseldorf angeschrieben und um ihre Teilnahme an einer Studie zur „Bestandsaufnahme und Analyse von Gesprächsinhalten in der hausärztlichen Praxis“ gebeten. Zur Erläuterung der Ziele des Vorhabens wurde ein allgemeines Interesse an den Inhalten der alltäglichen Arzt-Patienten-Kommunikation angeführt. Das spezielle Interesse an Gesprächsinhalten mit präventiver Ausrichtung wurde nicht mitgeteilt, um das ärztliche Kommunikationsverhalten nicht zu beeinflussen.

Die teilnehmenden Ärzte wurden gebeten, nach Studienvorgaben an einem festgelegten Tag alle Patientengespräche in zwei Mitschnitten von je 45 min Dauer (10:30–11:15 h und 15:00–15:45 h) mit einem kleinen digitalen Aufzeichnungsgerät aufzunehmen. Mit diesem Verfahren sollte eine Zufallsauswahl der Arzt-Patienten-Gespräche erreicht werden. Die mündliche Zustimmung des Patienten bzw. der Patientin wurde jeweils zu Beginn des Gesprächs eingeholt und in der Aufzeichnung akustisch dokumentiert.

Die Aufzeichnungen sind von den Autoren dieses Beitrags unabhängig voneinander auf den jeweiligen Konsultationsanlass sowie auf präventive Inhalte und die kommunizierten Begleitumstände ihrer Vermittlung analysiert worden. Die Analyse wurde weder offen am Material, etwa nach den methodischen Regeln der „grounded theory“ [7], noch auf der Basis einer vorgegebenen Liste vorab definierter Präventionstatbestände durchgeführt. Vielmehr verwendeten die Autoren zentrale Kategorien und Definitionen der einschlägigen Literatur [20]. Dies waren im Wesentlichen: Primär-, Sekundär-, Tertiär- oder Quartiärprävention bzw. auf anderer Ebene: Mobilisierung und Unterstützung individueller Ressourcen, soziale Unterstützung und Förderung der Selbstständigkeit des Patienten. Diesen „Oberkategorien“ wurden dann die erst neu zu entdeckenden Konkretisierungen in Form von Subkategorien zugeordnet. Um den Grad subjektiver Verzerrungen zu vermindern, wurden die Analyseergebnisse in Fallbeschreibungen verschriftlicht und nach Abgleichung der beiden Untersucher untereinander einem Review-Verfahren unterworfen, bei dem insgesamt fünf Lehrärzte des Institutes für Allgemeinmedizin der Medizinischen Fakultät der Universität Düsseldorf die schriftlichen Begründungen zum präventiven Charakter von Gesprächen und die gefunden Kategorien auf ihre Plausibilität überprüften.

Ergebnisse

Die ersten fünf der angeschriebenen 100 Ärzte, die sich zur Aufzeichnung ihrer Arzt-Patienten-Gespräche bereit erklärten, wurden eingeschlossen; drei Frauen und zwei Männer. Aufgezeichnet wurden insgesamt 62 Arzt-Patienten-Gespräche, nur in ganz wenigen Ausnahmen haben Patienten die Aufzeichnung abgelehnt. In etwa einem Drittel der Gespräche konnten Ausführungen präventiven Charakters identifiziert werden. Da auf eine schriftliche Begleitdokumentation der Konsultationen verzichtet wurde, können keine exakten Angaben zum Alter der Patienten (in der nachfolgenden Fallbeispielen teilweise aus Kontextinformationen geschätzt), zur Dauer des hausärztlichen Betreuungsverhältnisses oder zu den ärztlichen Diagnosen gemacht werden (Tab. 1).

Tab. 1 Arzt-Patienten-Gespräche der teilnehmenden Ärzte

Die in der Übersicht aufgeführten Themen der präventiven Gesprächsschwerpunkte sollen im Folgenden durch je ein Fallbeispiel veranschaulicht und durch eine kurze Interpretation ihres präventiven Gehalts erläutert werden.

Entlastende Aufklärung über die medizinische Bedeutung von Beschwerden (Fallbeispiel 1)

Eine Patientin mittleren Alters (ca. 30–40 Jahre) erscheint im Rahmen der Hormonbehandlung ihres Schilddrüsenleidens zur Routinebesprechung. Auf die Frage nach ihrem aktuellen Befinden erklärt sie, es gehe ihr „eigentlich gut“, sie leide allerdings gelegentlich unter nächtlichem „Herzstolpern“ und einem weiterhin anhaltenden Haarausfall. Zur Aufklärung der möglichen Ursachen des „Herzstolperns“ habe sie bereits einen Orthopäden und einen Kardiologen konsultiert. Beide konnten aber diesbezüglich nichts finden.

Im Verlauf des knapp viertelstündigen Gesprächs lassen verschiedene Äußerungen der Patientin eine angespannte psychische Verfassung erkennen. Sie versucht einer Interpretation ihrer Beschwerden als psychosomatisch bedingt allerdings vorzubeugen, indem sie sich unaufgefordert als „innerlich nicht erregt“ bzw. „ausgeglichen“ beschreibt. Auch habe sie bei Auftreten der nächtlichen Störungen durchaus keine Todesängste.

Der Hausarzt geht dessen ungeachtet auf die Wahrscheinlichkeit psychischer Verursachungsfaktoren ein und schließt andere, seitens der Patientin geäußerte Möglichkeiten (Herzklappeninsuffizienz, Wirbelsäulendegeneration) in ausführlicher Darstellung der Gegenargumente aus. Seine Vermutung möglicher beruflicher Stressfaktoren und auch die eines Zusammenhangs mit den nächtlichen Rhythmusstörungen stoßen am Ende auf spontane Zustimmung. Sie habe zuletzt tatsächlich „eine turbulente Woche“ erlebt, sagt die Patientin. Daraufhin bezeichnet der Arzt das „Herzstolpern“ mit Nachdruck als „lästig aber harmlos“ und empfiehlt ihr, die zeitliche Abfolge von beruflichem Stress und nächtlichen Störungen genauer zu beobachten. Des Weiteren bestärkt er sie in ihrem Bemühen, regelmäßig Laufsport zu betreiben und empfiehlt zusätzlich den Besuch eines Entspannungstrainings, was gleichfalls auf positive Resonanz stößt.

Weite Strecken des Gesprächs betreffen eine medizinische Aufklärung über die Ursachen und Risiken der vorgetragenen Beschwerdesymptomatik und dienen vorrangig dem Ziel, vorhandene Ängste bezüglich möglicher organischer Ursachen auszuräumen. Der Arzt kann die Patientin mit seiner medizinischen Kompetenz von der Irrelevanz ihrer Vorstellungen überzeugen. Die psychosomatische Interpretation der Beschwerden trifft zwar zunächst auf latente Ablehnung, wird aber durch ausführliche Erklärungen dessen, was nicht infrage kommt, erleichtert.

Die aus der Interpretation der Beschwerden abgeleiteten Maßnahme-Empfehlungen, Eigenbeobachtung und Selbstkontrolle sowie Ausgleich durch körperliche Bewegung/Sport und Entspannungsübungen, sind geeignet, eine Lebensumstellung mit nachhaltiger Wirkung einzuleiten und einer Medikalisierung der Probleme vorzubeugen.

Initiative Ansprache von Belastungsursachen (Fallbeispiel 2)

Eine Patientin sucht den Hausarzt auf, um sich ein Asthmaspray verordnen zu lassen. Sie erklärt, es nur bei Bedarf benutzen zu wollen. Sie sei schon lange Allergikerin, u. a. habe sie eine Allergie gegen Katzenhaare. Das Spray möchte sie prophylaktisch zu Bekannten mitnehmen, die eine Katze besitzen. Die ärztliche Empfehlung eines aktuellen Allergietests weist die Patientin zurück. Den wolle sie zurzeit nicht machen. Der Arzt stellt das gewünschte Rezept über ein Asthmaspray aus.

Anschließend fragt er nach sonstigen Beschwerden, worauf die Patientin angibt, hin und wieder unter Nackensteifigkeit zu leiden. Vor ein paar Tagen habe sie einen „Hörsturz“ gehabt, den habe sie „öfter“. Auf Nachfrage erklärt sie, sie habe „Stress bei der Arbeit“. Es schließt sich ein ausführliches Gespräch über die berufliche Belastungssituation und mögliche Entlastungsmaßnahmen an. Verfahren der Entspannungstherapie steht die Patientin eher ablehnend gegenüber, sie äußert, damit schlechte Erfahrungen gemacht zu haben. Der Arzt schlägt vor, einen gesonderten Termin zur Besprechung individueller Entlastungsmaßnahmen zu vereinbaren. Auf diesen Vorschlag geht die Patientin am Ende der Konsultation ein.

Das dargestellte Gespräch kann als Musterbeispiel für eine Nutzung primärärztlicher Kontakte zu präventiven Zwecken gelten. Auf Initiative des Arztes entwickelt sich ein Gespräch über die allgemeine Belastungssituation und berufliche Stressfaktoren. Dabei wird der Zugang zu psychosozialen Belastungen durch die Ansprache anderer körperlicher Beschwerden geebnet. Der Arzt versucht der Patientin zu verdeutlichen, dass er ein Nachdenken über Möglichkeiten, „etwas für sich zu tun“ für wichtig hält, sieht aber offensichtlich ein, dass er mehr Zeit für ein solches Gespräch benötigt und dass die Patientin ebenso Zeit braucht, um sich auf dieses Gespräch einzustellen.

Eine besondere Hervorhebung verdient folgender Aspekt: Das Thema Prävention wird nicht aufgrund einer „externen“ Präventionsagenda des Arztes angesprochen, so wie es im Rahmen einer speziellen Kampagne vorstellbar wäre, bei der alle in Frage kommenden Patienten routinemäßig auf ein spezielles Präventionsprogramm (z. B. Hüftfrakturprophylaxe) aufmerksam gemacht werden. Vielmehr tastet sich der Arzt fragend an eine zunächst nicht artikulierte, individuelle Problemlage der Patientin heran, um im weiteren Gespräch präventive Verhaltensmöglichkeiten anzusprechen.

Empathische Zuwendung im Leid (Fallbeispiel 3)

Ein Patient mittleren Alters konsultiert den Hausarzt wegen psychosomatischer Beschwerden. Er klagt über Magenkrämpfe und immer wiederkehrendes Lidzucken. Grund sei seine Arbeitssituation: Seit seiner Kündigung werde er von Kollegen und Chefs am Arbeitsplatz permanent gemobbt und stoße nur noch auf Probleme.

Verschiedene Äußerungen von Arzt und Patient lassen erkennen, dass es schon mehrere Gespräche über die berufliche Situation des Patienten gegeben haben muss. Auch jetzt gibt der Arzt dem Patienten ausführlich Gelegenheit – das Gespräch dauert 30 min – sich auszusprechen. In dessen Verlauf erfährt der Patient einfühlsame Bestätigung. Der Hausarzt bietet ihm eine Krankschreibung von einer Woche an, verbindet dies aber mit der Empfehlung, mit seinem Chef eine Freistellung für die Restzeit des auslaufenden Arbeitsverhältnisses auszuhandeln. Er solle die Woche der Krankschreibung dazu nutzen, sich diesen Schritt in Ruhe zu überlegen.

Durch das ausführliche Gespräch erscheint der Patient beruhigt, aber auch ermutigt, sich der Situation zu stellen. In der „freien“ Woche will er sich Zeit zum Nachdenken nehmen und entscheiden, wie er weiter vorgehen wird.

Dieses Gespräch dient der unmittelbaren Entlastung eines psychisch offensichtlich höchst angespannten Patienten. Ein kurzfristig präventives Potenzial hat insbesondere die ärztliche Empfehlung, das auslaufende Arbeitsverhältnis durch Aushandlung einer Freistellung sofort zu beenden und auf diese Weise die Ursache der aktuellen Belastung auszuschalten.

Zwei Punkte sind darüber hinaus beachtenswert. Die Ausführlichkeit, mit der der Patient seine Probleme ansprechen kann, macht einen Raum deutlich, der hier durch den Arzt angeboten wird und der ansonsten oft nicht mehr vorhanden ist. Zugleich drückt sich in der Bereitschaft, sich dem Hausarzt so detailliert zu offenbaren, ein besonderes Vertrauen aus, dass es diesem erleichtert, mit seinen Empfehlungen zur Problembewältigung Gehör zu finden.

Psychosomatische Beschwerden, wie die hier genannten Magenkrämpfe sind als Vorformen einer ernsteren Erkrankung zu bewerten. Das ärztliche Bemühen um eine psychische Stabilisierung ist präventiv darauf gerichtet, eine solche Erkrankung zu vermeiden. Darüber hinaus bietet sein Vorschlag zur Krisenbewältigung die Chance eines Lernprozesses, der über den aktuellen Konflikt hinausweist, indem er den Patienten in die Lage versetzt, in zukünftigen Konflikten mehr Zeit für die Reflexion der eigenen Handlungsmöglichkeiten aufzuwenden und eine aktivere Rolle bei dem Versuch einer Konfliktlösung zu übernehmen.

Begleitung in familiär schwierigen Situationen (Fallbeispiel 4)

Eine Patientin im Alter von ca. 45–60 Jahren (berufstätig und Mutter einer ebenfalls berufstätigen Tochter), betont gleich in ihrer ersten Äußerung zum aktuellen Befinden, völlig erschöpft zu sein. Die Hausärztin fällt ihr mit einer Bemerkung fast ins Wort, die erkennen lässt, dass sie hinsichtlich der Gründe genauestens im Bilde ist, da sie neben der Patientin inzwischen auch die Tochter betreut. Im weiteren Verlauf des ca. viertelstündigen Gesprächs bis zum Beginn einer Akupunkturbehandlung wird deutlich: Die Mutter-Tochter-Beziehung ist von starken Spannungen geprägt, welche die Mutter als eine Folge ihrer eigenen familiären Sozialisation (problematische Beziehung zum Vater) interpretiert und mit viel Verständnis und Behutsamkeit – allerdings äußerst kräftezehrend – zu bewältigen versucht. Die Hausärztin erkennt dieses Bemühen an und spricht von sichtbaren Fortschritten seit einem Nervenzusammenbruch der Tochter, der in Zusammenhang mit akuten Beschwerden stand, die von anderen Ärzten mit Antibiotika behandelt („wochenlang in sie hineingestopft“) wurden und mangels Erfolg eine massive Angst vor einer Krebserkrankung hervorriefen. Der Zusammenbruch wird als Anfang einer neuen Phase der Mutter-Tochter-Beziehung und Voraussetzung für eine Psychotherapie der Tochter angesehen (letztere wird allerdings – aus Angst um eine bevorstehende Verbeamtung – aktuell noch nicht in Erwägung gezogen). Einstweilen will die Hausärztin die Tochter an einer Gesprächsgruppe teilnehmen lassen.

Das Gespräch endet mit der Vorbereitung einer unmittelbar anschließenden Akupunkturbehandlung, bei der die Ärztin die Nadeln auf einen „Los-lass-Punkt“, einen Punkt „gegen den Kummer“ und „stützende Punkte“ an den Beinen setzen will.

Wie bereits im vorangegangenen Beispiel ist die Gesprächsführung der Hausärztin auch hier stark auf eine psychische Unterstützung und Stabilisierung der Patientin ausgerichtet. Dies äußert sich u. a. in Appellen, „etwas für sich zu tun“ und nach Quellen für eine Wiedergewinnung der Kräfte („Tankstellen zum Auftanken“) zu suchen. Der vertrauensvolle Ton in den Äußerungen der Patientin lässt erkennen, dass sie in der Hausärztin eine Person sieht, die Verständnis aufbringt und Beistand leistet, ohne dafür immer wieder ausführliche Erklärungen zu benötigen. Voraussetzung hierfür ist – abweichend zum vorherigen Beispiel – ein lang währendes, familienmedizinisches Betreuungsverhältnis, das einen deutlich erweiterten Informationshintergrund bietet.

Die parallele Behandlung von Mutter und Tochter sowie die Kenntnis der familiären Beziehungen über das Mutter-Tochter-Verhältnis hinaus werden so zu einer wichtigen Voraussetzung für präventive Bemühungen, die primär darauf gerichtet sind, eine Eskalation der Probleme zu verhindern. Davon profitiert dem Gesprächsverlauf zufolge vor allem die Tochter der Patientin. Es profitiert aber auch die Patientin selbst, indem sie eine positive Bestätigung ihres Verhaltens und die Anerkennung der erreichten Fortschritte beim Aufbau einer entspannteren Mutter-Tochter-Beziehung erfährt.

Anstoß zu bzw. Unterstützung von präventiv ausgerichteter Eigeninitiative (Fallbeispiel 5)

Eine Schülerin möchte von der Hausärztin eine Krankschreibung für den Schulsport, da sie wegen geschwollener Beine nicht laufen könne. Bei der körperlichen Untersuchung fällt keine Schwellung der Beine auf, allerdings ist der Blutdruck erhöht. Eine Blutabnahme lehnt die Patientin zurzeit ab, diese wird auf später verschoben. Während der Untersuchung spricht die Ärztin das Gewicht der Patientin an, das mit 110 kg bei 1,70 m Körpergröße zu hoch ist. Die Patientin erklärt sie versuche schon Diät zu machen, mehr Sport zu treiben, bisher ohne Erfolg. Die gesamte Familie der Patientin sei übergewichtig. Es wird deutlich, dass die Patientin eine dauerhafte Gewichtsabnahme ohne Unterstützung wohl nicht erreichen kann. Das verlangte Attest zur Nichtteilnahme am Schulsport erhält sie dennoch nicht. Die Ärztin erklärt, dass sie keinen Grund sehe, warum die Patientin nicht am Lauftraining in der Schule teilnehmen könne, Beinödeme lägen keine vor.

Bezüglich des Übergewichts und des erhöhten Blutdruckes folgt dann ein ausführliches Gespräch über die Möglichkeiten der Gewichtsreduktion. Die Hausärztin geht auf die speziellen Möglichkeiten der jungen Frau ein, versucht auch, die Patientin zu motivieren, zusammen mit der Familie über das Problem zu sprechen. Schließlich verweist sie auf mögliche Hilfestellungen durch die Krankenkasse, auf Kurmaßnahmen und bietet ein wöchentliches Wiegen in der Praxis an.

In diesem Fallbeispiel tauchen erneut verschiedene, bereits zuvor dargestellte Elemente einer hausärztlichen Prävention auf: Die Ärztin erkennt hinter dem Wunsch nach einem Freistellungsattest eine Scham der Patientin und nutzt die günstige Gelegenheit zum Angebot von Hilfen bei ihrem Gewichtsproblem. Dabei werden die individuellen Ressourcen der Patientin und familiäre Anknüpfungsmöglichkeiten angesprochen. Die Angebote schließen hausärztliche Aktivitäten, insbesondere aber die Unterstützung bei der Inanspruchnahme externer Hilfen ein.

Diskussion und Ausblick

Die aufgeführten Beispiele verdeutlichen, wie eng die hausärztliche Tätigkeit mit präventiven Funktionen verflochten ist. Es sind verschiedene Grundzüge allgemeinmedizinischer Arbeitsweise, welche diese Verflechtung begünstigen, wenn nicht gar erzeugen: die Sicht auf die ganze Person des Patienten in ihrem psychosozialen Kontext, die Bedeutung der sprechenden Medizin, die Nutzung von Patientenressourcen in der Vorgehensweise, die Nutzung von Kenntnissen aus einer langjährigen Betreuung („erlebte Anamnese“), insbesondere im Falle der Begleitung von Patienten im Verlauf ihrer chronischen Krankheiten.

Die Aufklärung über die medizinische Bedeutung gesundheitlicher Beschwerden gehört zweifellos zu den Kernaufgaben ärztlicher Tätigkeit bzw. Kommunikation [9], deren präventive Ausrichtung in Fallbeispiel 1 deutlich hervortritt.

Wie andere von uns aufgezeichneten Gespräche ähnlichen Typs und weitere Veröffentlichungen zeigen, werden sie nicht nur bei unspezifischer Symptomatik sondern auch bei Vorliegen von definierten akuten und chronischen Krankheiten in vergleichbarer Weise geführt [3, 5].

Das Herantasten an eine zunächst nicht artikulierte, individuelle Problemlage in Fallbeispiel 2 fördert einen kommunikativen Prozess mit dem Ergebnis einer „emerging agenda“ [13]. Diese Vorgehensweise macht einen wichtigen Unterschied zwischen einer „Prävention in der Hausarztpraxis“ und der „Spezifisch Hausärztlichen Prävention“ aus.

Lebensumstände, die durch soziale Isolation, im Fallbeispiel 3 darüber hinaus durch Mobbing gekennzeichnet sind, weisen dem hausärztlichen Kontakt eine wichtige Kompensationsfunktion zu. In solchen Fällen ist es wohl besonders gerechtfertigt, der kontinuierlichen und individuelle Beziehung des Hausarztes zu seinen Patienten per se eine präventive Wirkung zuzuschreiben [12].

Eine Aufklärung des familiären Hintergrunds von Beschwerden und Krankheiten gehört zum Standardinventar hausärztlicher Betreuung, weshalb die Allgemeinmedizin, insbesondere im angelsächsischen Sprachraum auch als Familienmedizin bezeichnet wird. Eine familienmedizinische Tätigkeit des Hausarztes bietet erweiterte Möglichkeiten, Verhaltensanpassungen oder gar Lebensumstellungen mit Rücksicht auf den sozialen, insbesondere familiären Kontext zu empfehlen. Das vorgestellte Fallbeispiel 4 illustriert diesen Zusammenhang von familienmedizinischer Tätigkeit und Prävention.

Fallbeispiel 5 steht stellvertretend für eine präventive Hilfestellung, bei der es darum geht, Patienten wie auch Angehörige durch professionelle Dienstleistungen unterschiedlicher Art (Pflegedienste, hauswirtschaftliche Hilfen, Sportvereine mit speziellen Angeboten usw.) präventiv zu entlasten. Die Kenntnis der Situation des Patienten erlaubt die Berücksichtigung individueller Ressourcen und kann ggf. an Eigenbemühungen anknüpfen. Dabei wird oft (wie im Beispiel) darauf gebaut, was der Patient selbst schon gewählt hat oder erwägt zu wählen. Dies geschieht im offensichtlichen Vertrauen auf das Finden salutogener Ressourcen durch den Patienten selbst.

Abschließend ist auf verschiedene Limitationen der Studie hinzuweisen. An erster Stelle ist die schmale empirische Basis zu nennen. Die geringe Teilnahmequote lässt einen hohen Selektionseffekt vermuten, bei dem im Ergebnis vorrangig Ärzte mit besonderer Wertschätzung der „sprechenden Medizin“ in die Studie einbezogen wurden. Bei aller Unauffälligkeit der eingesetzten Technik ist darüber hinaus ein Einfluss der Aufzeichnungssituation auf das Gesprächsverhalten anzunehmen. Damit steht außer Frage, dass die vorgestellte Empirie keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben kann.

Ebenso wenig erheben die aufgeführten Beispiele einen Anspruch, den Bereich der „Spezifischen Hausärztlichen Prävention“ vollständig zu umreißen. So ist einer Befragung von niedergelassenen Allgemeinärzten in der Region Hannover zu entnehmen, dass Hausbesuche gleichermaßen zur Beratung von Patienten und Angehörigen genutzt werden. Die Autoren der Studie präsentieren eine unsortierte Liste von 26 Einzelthemen, die den Eindruck einer breiteren Themenpalette als hier dargestellt vermittelt. Ein Vergleich mit unseren Ergebnissen ist aber nicht möglich, da die Themen nur als Stichworte ohne Erläuterungen aufgeführt werden [6]. Gerade aber hier sehen wir die Stärke unserer Studie: Komplexe, zudem noch sehr individualisierte Interventionen sind nur über eine detaillierende Darstellung wirklich vermittelbar.

Die vorgeschlagene Strukturierung ist primär anlassbezogen konzipiert und reflektiert damit die Ausrichtung der „Spezifischen Hausärztlichen Prävention“ auf die individuelle Situation des Patienten. Darunter leidet die Trennschärfe in der wechselseitigen Abgrenzung der verschiedenen Aktivitäten. Im Ergebnis können sie nur durch besondere Schwerpunkte charakterisiert werden. Versuche, den komplexen Handlungsraum mit trennscharfen Kategorien zu erfassen, scheitern u. E. an der Multidimensionalität des Geschehens. Damit soll jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass andere Strukturierungsversuche zu einer besseren Abgrenzung führen können.

Fazit für die Praxis

Ungeachtet der genannten Limitationen belegen die präsentierten Ergebnisse die Fruchtbarkeit des Ansatzes einer Suche nach „Spezifischer Hausärztlicher Prävention“ in der Routinekommunikation von Ärzten und Patienten. Auch die Methode der Erfassung von Gesprächen im Rahmen einer zeitlich definierten Stichprobe (Momentaufnahme) hat sich als praktikabel erwiesen. Allerdings wäre zu überlegen, wie die Teilnahmebereitschaft der Ärzte zukünftig erhöht und damit repräsentativer gemacht werden kann.