Viele akademisch ausgebildete Menschen empfinden im Rückblick – oft ein wenig verklärt – die Studienzeit als die schönste Zeit in ihrem Leben. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung überwiegt oft (immer noch) der Eindruck, StudierendeFootnote 1 führten ein unglaublich privilegiertes Leben, sie könnten sich entsprechend ihrer individuellen Interessen entfalten, lebten sich sexuell ungezügelt aus und hätten freie Zeit und Müßiggang in Hülle und Fülle. Keine Frage, ein Studium bietet sicher eine Menge Freiheiten. Gleichwohl konfrontiert die Studienphase junge Menschen auch mit Anforderungen, die nicht immer leicht zu bewältigen sind, weil sie zahlreiche Risiken des Scheiterns bergen und in der Konsequenz zur Entstehung psychischer Krisen beitragen können.

In diesem Beitrag sollen die psychosoziale Lage Studierender und die darauf bezogene aktuelle Forschung dargestellt sowie ein praxisbezogener Einblick in die Situation der psychologischen Beratungsdienste an den bundesdeutschen Hochschulen gegeben werden. In Hinblick auf die mit der Einführung des Bachelor-/Master-Systems massiv verschärften Leistungsanforderungen soll auch diskutiert werden, wie sich das Aufgabenspektrum der psychotherapeutischen bzw. psychologischenFootnote 2 Studierendenberatung (PSB) verändert hat bzw. zukünftig verändern wird.

„Ewige Probleme“ von Studierenden

Es gibt eine Reihe von Problemen, die – unabhängig vom jeweiligen Studiensystem – charakteristisch für die Lebensphase Studium sind. Entwicklungspsychologisch betrachtet, sind junge Menschen im Zusammenhang mit der Aufnahme, aber auch dem Abschluss eines Studiums schon immer mit vielschichtigen Aufgaben konfrontiert [10, 20]. Sie sind gefordert, die krisenanfällige biographische Übergangsphase zwischen Jugendalter und endgültigem Erwachsenenstatus zu bewältigen, in der Orientierungssuche und Identitätsbildung eine wichtige Rolle spielen. Neben der Ablösung von der Familie und dem Aufbau eines eigenen sozialen Netzes müssen sie eigenverantwortlich mit ihrer Zeit und mit ihrem Geld umgehen. Viele von ihnen machen erste Erfahrungen mit Partnerschaft, mit dem Alleinleben oder auch mit dem Leben in einer Wohngemeinschaft. Nicht zuletzt müssen sie sich den Spielregeln und Leistungsanforderungen der Institution Hochschule stellen und gegen Ende des Studiums ein Bewusstsein von ihrer fachlichen Kompetenz ausbilden, um sich den Abschluss und die Einmündung in das Berufsleben zutrauen zu können.

Während die Mehrzahl der Studierenden die notwendigen Anpassungsleistungen aus eigener Kraft erbringen kann, geraten ca. 20% aller Studierenden [12, 13, 15, 17, 18] mindestens einmal im Verlaufe ihres Studiums an die Grenzen ihrer Bewältigungsmöglichkeiten. Oft sind es gerade besonders begabte, bisher auch meist leistungsstarke junge Frauen oder Männer, die sich plötzlich oder schleichend überfordert fühlen und merken, dass ihre zuvor vielleicht noch durchaus brauchbaren Strategien in der aktuellen Situation nicht mehr greifen.

Spezifika und Folgen der aktuellen Studienbedingungen

Der vielschichtige Neu- und Umstrukturierungsprozess, der an den bundesdeutschen Hochschulen seit einigen Jahren im Gange ist, hat die kritischen Momente der Übergangsphase Studium verschärft und z. T. neue Problemlagen hervorgebracht. Bevor diese beschrieben werden, sollen hier kurz die wichtigsten Eckpunkte der gegenwärtigen Studiensituation benannt werden:

  • die Umstellung auf das neue Bachelor-/Master-System im Rahmen des Bologna-Prozesses,

  • die Einführung von Studiengebühren,

  • die Etablierung von Elitehochschulen,

  • die weitgehende Übertragung des Rechts der Studierendenauswahl auf die Hochschulen,

  • der Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung schon nach 12 Schuljahren,

  • geburtenschwache Abiturientenjahrgänge in Ostdeutschland und Kampagnen zur Anwerbung westdeutscher Schulabgänger.

Den ersten 4 Maßnahmen gemeinsam sind die stärkere Akzentuierung des Leistungsgedankens an den Hochschulen und das Bemühen um eine Beschleunigung des Studiums. Dies verändert die alltägliche Lebens- und Lernsituation von Studierenden gravierend.

Studierende im Bachelor-/Master-System sehen sich mit der Situation konfrontiert, dass ihre Leistungen schon vom 1. Semester an für ihre Endnote relevant sind. Um nach dem Bachelor-Abschluss in das Master-Studium zu gelangen, ist entweder ein bestimmter Notendurchschnitt Voraussetzung oder es werden Quoten festgelegt, die den Anteil eines Jahrgangs, der für den Master zugelassen wird, bestimmen. Dies hat zur Konsequenz, dass die Kohorte der Studierenden, die gemeinsam das Studium beginnt, von vornherein unter einem massiven Konkurrenzdruck steht. Denn der Bachelor soll zwar ein berufsqualifizierender Abschluss sein, doch der überwiegende Anteil der Studierenden hat den Master-Abschluss zum Ziel [2], der zudem für eine ganze Reihe beruflicher Laufbahnen, wie z. B. für das Lehramt, obligatorisch ist.

Studiert wird in Modulen, die oftmals nur im Jahreszyklus angeboten werden. Deshalb kann ein Scheitern in einem Modul eine Studienverzögerung nicht nur um ein Semester, sondern gleich um ein ganzes Jahr zur Folge haben.

In einigen Bundesländern wird der Druck, gut und schnell zu studieren, durch die Einführung von Studiengebühren verschärft. Das Wissen, dass jedes zusätzliche Semester nicht nur den angestrebten lückenlosen Lebenslauf beschädigt, sondern auch noch finanzielle Mittel verschlingt, lässt vielen Studierenden Studienverzögerungen als eine nicht zu akzeptierende Katastrophe erscheinen. Nach aktuellen Befragungen fühlen sich 36% der Bachelor-Studierenden durch Prüfungen stark belastet, 27% durch die im Studium zu erbringenden Leistungen und 28% geben an, dass sie durch ihre ökonomische Situation im Studium stark beeinträchtigt sind [3].

Während die beschriebenen Innovationen nichts an den mit dem Erwachsenwerden verbundenen Entwicklungsaufgaben verändert haben, geht die heutige Generation offenbar anders mit diesen Herausforderungen um. In früheren Zeiten versuchten Studierende oftmals, ihre Identität durch die kritische Abgrenzung von Eltern und Autoritäten zu festigen. Auch die Hochschulen erlebten in diesem Kontext vielfältige Formen von Protest und Auseinandersetzung, in denen Studierende mit der Alma Mater darum rangen, auf welchen Werten wissenschaftliches und gesellschaftliches Handeln beruhen sollten.

Dagegen sind wir in den letzten Jahren in der Beratung zunehmend mit jungen Menschen konfrontiert, die die Hochschule nur noch als Ausbildungsinstitution, aber kaum mehr als Lebenswelt mit vielfältigen Möglichkeiten kulturellen und politischen Engagements wahrnehmen. Ihr oberstes Ziel ist es, diese Institution möglichst schnell und mit guten Noten zu durchlaufen, um ihre Teilhabe an gesellschaftlichen Karriereversprechen zu sichern [3].

Der frühere Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung wird für die Beratungseinrichtungen zweierlei Effekte mit sich bringen:

  • Einerseits ist zu erwarten, dass Schulabsolventen, die heimatnah vom Elternhaus aus studieren, in verstärktem Maße während des Studiums bei ihren Familien wohnen bleiben. Die Bindung an das Elternhaus bliebe bei dieser Gruppe länger bestehen, so dass sich das für den Individuationsprozess notwendige Ablösungsgeschehen verzögern oder auch komplizieren könnte. Die Erfahrung, dass Studierende, die noch stark in die Herkunftsfamilie eingebunden sind, einen besonders hohen Legitimationsdruck gegenüber ihren Angehörigen empfinden, würde sehr viel mehr junge Menschen betreffen. Schon heute müssen Berater häufiger Anrufe und Anfragen besorgter Eltern beantworten, weil z. B. Fehlentscheidungen bei der Studienfachwahl oder Fehlschläge und Umwege im Studium als gesamtfamiliäre Katastrophen wahrgenommen werden.

  • Auf der anderen Seite wird die absehbare demografische Entwicklung dazu führen, dass Hochschulen verstärkt um die abnehmende Zahl junger Menschen mit Hochschulzugangsberechtigung konkurrieren werden. Dies wird dazu führen, dass Studierende vermehrt nicht mehr nur aus der näheren Region, sondern aus weiter entfernten Gebieten angeworben werden (bei der von ostdeutschen Hochschulen initiierten Kampagne „Studieren in Fernost“ ist dies schon heute der Fall). In Verbindung mit dem jüngeren Eintrittsalter ins Studium wird somit für eine Teilgruppe von Studierenden die Notwendigkeit, sich von der Herkunftsfamilie zu lösen, zu einem früheren Zeitpunkt virulent, was sicher einen erhöhten Bedarf an Beratung und Begleitung zur Folge haben wird.

Die gegenwärtige psychosoziale Situation Studierender

Auch wenn es noch keine systematische Forschung bezüglich der Konsequenzen der jüngsten hochschulpolitischen Entwicklungen gibt, liegen einige Arbeiten vor, die sich (differenzierter als die großen, vom Deutschen Studentenwerk in Auftrag gegebenen Studien [12, 17, 18]) mit der psychosozialen Befindlichkeit Studierender beschäftigen.

Eine aktuelle Untersuchung von Holm-Hadulla et al. [15] bestätigt die bereits mehrfach replizierten Ergebnisse [13, 17, 18], nach denen sich ein Fünftel aller Studierenden als psychisch stark belastet einschätzen. Seit einigen Jahren schlagen auch die Krankenkassen Alarm, weil psychische Erkrankungen bei jungen Erwachsenen zunehmen. So heißt es im DAK-Gesundheitsreport 2005:

„Zwischen 1997 und 2004 wiesen die jüngeren Altersgruppen zum Teil sogar eine Verdoppelung der Erkrankungsfälle auf (…) Angststörungen und Depressionen werden immer mehr zu Volkskrankheiten der Zukunft“ [7].

Aktuelle Daten der Barmer Ersatzkasse belegen, dass der Aufwärtstrend bei psychischen und Verhaltensstörungen in der Gesamtbevölkerung unverändert anhält [5]. Dieser Trend macht auch vor den Hochschulen nicht halt. Selbst wenn man konstatieren muss, dass Studierende nicht stärker gesundheitlich belastet sind als das Gesamt ihrer Altersgruppe, gibt es jedoch einige Spezifika hinsichtlich der von ihnen angegebenen Beschwerden, wie die Ergebnisse einer 2006 und 2007 in Nordrhein-Westfalen an über 3300 Studierenden durchgeführten Untersuchung der der Universität Bielefeld in Kooperation mit der Techniker Krankenkasse und der Landesunfallkasse Nordrhein-Westfalen zeigen. So berichtet die TKK:

“(…) dass viele Studierende vor allem im mentalen Bereich gesundheitliche Beschwerden haben. Mehr als jeder Dritte gab an, unter Konzentrationsstörungen und Nervosität zu leiden, bei jedem Vierten kommen zudem noch Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen hinzu (…). Der Anteil der Studierenden, die Antidepressiva bekommen, nimmt mit dem Alter zu. Von den 30- bis 34-Jährigen bekommen mehr als 3% der Studenten und fast 6% der Studentinnen Medikamente gegen Depressionen verordnet“ [27, 28].

Im Juli 2009 veröffentlichte die Techniker Krankenkasse Hochrechnungen zum Anteil von Studierenden, die psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen:

„Dass Sorgen und Stress zugenommen haben, zeigt auch eine aktuelle Auswertung der TK unter ihren Versicherten: In Bayern gehen jährlich rund 1300 Studenten zur Psychotherapie – bundesweit sind es über 10.000. Hochgerechnet auf alle Studierenden in der Bundesrepublik werden pro Jahr rund 90.000 Studierende psychotherapeutisch betreut. (…) Häufige Behandlungsgründe sind Depressionen und Angststörungen, wobei auffällt, dass gerade Reaktionen auf schwere Belastungen sowie Anpassungsstörungen – beispielsweise infolge von Misserfolg – zunehmen. Zwischen 2004 und 2007 nahm die Anzahl der Psychotherapien unter den TK-versicherten Studenten um 15 Prozent zu“ [28].

Eine von Basten et al. [6] in den ersten beiden Jahren nach der Wiedervereinigung durchgeführte Erhebung hatte zunächst den Eindruck vermittelt, dass Studierende in den neuen Bundesländern psychisch stabiler seien als ihre Kommilitonen aus den alten Bundesländern. Im Rahmen einer 10 Jahre später replizierten Vergleichsstudie an Dresdner und Marburger Studentinnen fanden Dinkel et al. [8], dass die psychische Belastung ostdeutscher Studierender seit der Nachwendezeit zugenommen hatte. So gab es keine Unterschiede mehr hinsichtlich der Depressivitätsraten. Ostdeutsche Studentinnen gaben signifikant mehr Angstsymptome an, zeigten ein höheres Potenzial hinsichtlich der Entwicklung einer Essstörung und wiesen in allen Erhebungsverfahren höhere Mittelwerte als die westdeutsche Vergleichsgruppe auf [8]. Gestützt auf Forschungsarbeiten, die sich auf andere ostdeutsche Bevölkerungsgruppen bezogen hatten [9, 19], vermuteten die Autoren Zusammenhänge zwischen dem höheren Angstniveau bei ostdeutschen Studierenden und dem Ausmaß der Veränderungen und Identitätserschütterungen, die ostdeutsche Familien seit der Wende zu bewältigen gehabt hätten [8].

Eine Studie von Seliger und Brähler [25] befragte im Wintersemester 2004/2005 390 Leipziger Medizinstudenten mit dem „Patient Health Questionnaire“ (PHQ). Danach fanden sich bei den Studierenden signifikant höhere Werte als in einer Vergleichsstichprobe, die an Altersgenossen aus der Normalbevölkerung vorgenommen wurde. Weibliche Medizinstudierende wiesen sowohl in Bezug auf die Vergleichsgruppe als auch auf ihre männlichen Kommilitonen signifikant höhere Werte in den Bereichen Depressivität, „somatische Symptome“ und Stressbelastung auf. Auch die Arbeit von Kurth et al. [19] untersuchte den psychischen Gesundheitszustand von Medizinstudierenden. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Studierenden ihre psychosoziale Befindlichkeit deutlich schlechter einschätzten als die Normpopulation [19]. In dieser Studie schnitten Studentinnen auf der Skala „psychisches Wohlfinden“ ebenfalls schlechter als ihre männlichen Kommilitonen ab. Die Autoren fanden überraschenderweise, dass sich Studierende mit Partner insgesamt belasteter zeigten und weniger abschalten konnten als Singles, was sie im Hinblick auf die von der Mehrzahl der Studenten angegebene hohe Arbeitsbelastung auf Rollenkonflikte (Partnerin/Studentin) und Probleme mit der zeitlichen Strukturierung des Alltags zurückführten.

Psychotherapeutische bzw. psychologische Studierendenberatungsstellen als Institutionen der Sekundärprävention

Die ersten in die Hochschulen integrierten psychologischen Beratungsdienste speziell für Studierende wurden in der BRD in den 1970er Jahren gegründet (vgl. dazu ausführlich [23]). Nicht zuletzt aufgrund einer hohen Anzahl studentischer Suizide wurde die Öffentlichkeit damals auf das bis dato unterschätzte Ausmaß psychischer Probleme bei Studierenden aufmerksam. Es war deutlich, dass niedrigschwellig konzipierte Beratungseinrichtungen notwendig waren, um Studierenden in psychischen Krisen Ansprechpartner im unmittelbaren Umfeld zu bieten [23, 26].

Mittlerweile gibt es an fast allen größeren deutschen Hochschulen psychologische Beratungsdienste für Studierende und ganz langsam entwickelt sich das Bewusstsein, dass eine Institution, die die ihr anvertrauten Individuen mit zunehmend stärkeren Leistungsanforderungen konfrontiert, eine Fürsorgepflicht gegenüber denjenigen hat, die aufgrund persönlicher Schwierigkeiten darin eingeschränkt sind, ihre Chancen voll zu nutzen. Einige der fast 400 in Deutschland existierenden Hochschulen bekennen sich auch in Ihren Leitbildern ausdrücklich zu dem Anliegen, die persönliche Entwicklung ihrer Studierenden zu fördern – hier ist das Vorhalten psychologischer Beratung sicher ein nicht unwesentlicher Beitrag.

Die psychologischen Beratungseinrichtungen befinden sich überwiegend in Trägerschaft der 58 regionalen Studentenwerke, seltener in der Trägerschaft von Universitäten. Darüber hinaus gibt es immer öfter das Modell, dass beide Institutionen Kooperationsvereinbarungen getroffen haben und gemeinsame Einrichtungen in diesem Tätigkeitsfeld betreiben.

Zeigen sich hinsichtlich der Akzeptanz und Notwendigkeit psychologischer Beratungsdienste an den Hochschulen in den letzten Jahren durchaus positive Entwicklungen in der öffentlichen Wahrnehmung und bei maßgeblichen Entscheidungsträgern, so weist die personelle Ausstattung der psychologischen Beratungseinrichtungen nach wie vor gravierende Unterschiede auf. Verglichen mit den personellen Ressourcen im angloamerikanischen Bereich erscheint Deutschland geradezu als Entwicklungsland. Vielerorts besteht eine eklatante Unterversorgung, und während in den USA mit einer Beraterstelle durchschnittlich 3000 Studierende versorgt werden [24], realisieren deutsche Hochschulen nur in Ausnahmefällen eine Relation von 1 Beraterstelle/10.000 Studierende. Regelmäßig ist zu beobachten, dass die vorhandenen Beratungsangebote eher an den Universitäten als an den Fachhochschulen angesiedelt sind. Darüber hinaus findet sich ein starkes West-Ost-Gefälle. An einigen Standorten in den neuen Bundesländern werden gerade erst Beratungsdienste etabliert. Insgesamt liegt die BRD weit hinter den Ausstattungsstandards zurück, die im angloamerikanischen Bereich seit langem selbstverständlich sind. Der schon von Hahne [12] ermittelte Bedarf, der mit den letzten beiden HIS-Studien [17, 18] noch einmal bestätigt wurde, kann bis heute an kaum einer Hochschule gedeckt werden. Immerhin würden danach 5–8% aller Studierenden psychotherapeutische bzw. psychologische Beratung in Anspruch nehmen, wenn sie verfügbar wäre.

Vor diesem Hintergrund liegen die Aufgabenschwerpunkte der Psychotherapeutischen Studierendenberatung in der Krisenintervention bzw. der professionellen Begleitung Studierender bei der Bearbeitung akuter Schwierigkeiten. Wie Holm-Hadulla et al. [15] in einer aktuellen Studie mit Hilfe der Symptomcheckliste SCL-90-R und 5 weiteren Messinstrumenten erneut aufzeigen konnten, unterscheiden sich Klienten einer psychotherapeutischen Beratungsstelle an der Universität (hier Heidelberg) hinsichtlich der Stärke ihrer Beeinträchtigung in allen Dimensionen signifikant von ihren Kommilitonen, die im Rahmen einer Feldstichprobe untersucht worden waren. Im Vordergrund stehen bei den Beratungsklienten depressive Verstimmungen, Selbstwertprobleme und diffuse Ängste sowie studienbezogene Beschwerden wie Prüfungsängste und Arbeits- und Konzentrationsschwierigkeiten. Die Autoren betonen, dass im Vergleich zu ihrer 15 Jahre zurückliegenden Studie [13] die Zahl der von Prüfungsangst Betroffenen signifikant zugenommen habe, während die Anteile aller anderen präsentierten Beschwerden etwa gleich geblieben seien. Sie führen dies vorsichtig auf veränderte Selbstansprüche der Studierenden, aber auch auf die Tatsache zurück, dass nicht wenige Studentinnen und Studenten neben dem Studium arbeiten. So zeige sich in ihrer Studie, dass Klienten mit Nebenjob wesentlich stärker belastet zu sein scheinen als jene ohne Nebentätigkeit.

Auch in unserer eigenen Beratungspraxis beobachten wir Verschiebungen, die den Tendenzen der wissenschaftlichen Befunde entsprechen: Während die „klassischen“ Beratungsthemen, die sich vornehmlich als Identitäts- und Selbstwertprobleme, Beziehungsschwierigkeiten, neurotische und psychosomatische Symptomatiken oder auch Suizidgedanken zeigen, unverändert oft präsentiert werden, haben die Anfragen wegen Leistungsstörungen, Prüfungsangst, Stressbeschwerden und Problemen mit dem Zeitmanagement stetig zu genommen. In der Vergangenheit kamen Studierende eher in der Endphase des Studiums in die Beratung. Inzwischen wird diese immer häufiger schon zu Studienbeginn aufgesucht. An der Universität Oldenburg ist die Anzahl der Langzeitstudierenden, die in früheren Jahren einen nicht unerheblichen Anteil an der Beratungsklientel ausgemacht hatte, seit der Einführung von Strafgebühren stark rückläufig. In der Magdeburger PSB haben in den letzten Jahren sowohl die Prozentzahlen derjenigen, die ein überdurchschnittliches Alter und hohe Semesterzahlen aufweisen als auch die der sehr jungen Studierenden in den ersten Semestern stark zugenommen.

Während viele Langzeitstudierende durch die Gebührenforderung offenbar nicht länger ignorieren können, dass sich ihre Studienprobleme nicht durch Aufschieben und Vermeiden lösen lassen, scheint sich ein großer Teil der Studienanfänger schon vom ersten Semester an stark unter Druck zu setzen, das Studium zielstrebig und mit maximalem Erfolg zu absolvieren. Schwierigkeiten werden oft vorschnell als persönliche Misserfolge gedeutet, was sich häufig in grundsätzlichen Zweifeln an der fachlichen Eignung oder an der generellen Studierfähigkeit niederschlägt. Hier ist es wichtig, Studierende dabei zu unterstützen, ihr Selbstvertrauen zu bewahren und ihnen zu vermitteln, dass Anpassungsprobleme beim Einstieg in eine neue Lebenssituation nicht ungewöhnlich sind.

Veränderungen in der Beratungsarbeit

Die Kernaufgaben der psychologischen bzw. psychotherapeutischen Studierendenberatung liegen nach wie vor in der individuellen Begleitung bei der Bewältigung persönlicher Probleme bzw. psychischer Krisensituationen. Meistens geht es auch darum, die Klienten beim Aufbau eines tragfähigen sozialen Netzes zu unterstützen und sie bei der Entwicklung von Bewältigungsstrategien für einen gesunden Umgang mit den spezifischen, aus dem Studium resultierenden psychischen und physischen Belastungssituationen zu fördern.

Auf der institutionellen Ebene ergibt sich aus dem gestiegenen Druck, dem Studierende heute ausgesetzt sind, dass sich die Beratungsstellen nicht länger hauptsächlich auf die herkömmliche Fallarbeit konzentrieren dürfen. Stattdessen sollten sie sich in weit größerem Umfang als bisher auf dem Felde der primärpräventiven Arbeit engagieren. Vorbild könnten hier die an den US-Hochschulen etablierten „Mental-Health-Center“ sein. Erste konkrete Schritte könnten darin bestehen, über den Internetauftritt der jeweiligen Beratungsstelle oder auch durch hochschulöffentliche Vorträge eine größere Anzahl Studierender mit gezielten Informationen über erwartbare Schwierigkeiten im Studium und über angemessene Bewältigungsstrategien zu versorgen. Darüber hinaus könnten vielfältige Kursangebote zur Optimierung der Arbeitsorganisation oder zur Vermittlung von Entspannungsverfahren und Stressmanagement dazu beitragen, dass mehr Studierende zu einem frühen Zeitpunkt ihre Selbstwahrnehmungs- und Selbstregulationskompetenzen so verbessern, dass sie ihr Studium trotz hoher Anforderungen gesund durchlaufen. Durch die Schulung und die Supervision studentischer Tutoren könnte zusätzlich ein wichtiges multiplikatorisches Potenzial für die Insemination psychoedukativer Maßnahmen entfaltet werden.

Im neuen Studiensystem sind jene Studierende auf der Gewinnerseite, die sich frei von finanziellen Nöten oder anderen Sorgen und Verpflichtungen ausschließlich ihrem Studium widmen können. Die Beratungsdienste tragen eine besondere Verantwortung für all jene Studierendengruppen, die dem Ideal des Vollzeitstudierenden nicht gerecht werden und angesichts der gegenwärtigen Studienbedingungen Gefahr laufen, zu einer unerwünschten Randgruppe zu werden. Neben den Studierenden, die ihr Studium ausschließlich oder weitgehend selbst finanzieren, gehören hierzu vor allem Studierende mit Kind(ern), die laut der 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks [18] immerhin 7% der Gesamtstudierendenschaft ausmachen. Die Quote derer, die im Rahmen der genannten Erhebung eine gesundheitliche Schädigung angeben, ist innerhalb von 6 Jahren von 15% auf 19% angewachsen. Bei etwa einem Fünftel dieser Studierenden wirkt sich die körperliche oder psychische Beeinträchtigung mittelmäßig bis stark auf die Studierfähigkeit aus. Dies korrespondiert mit der Tatsache, dass 2008 ca. 60% der Klienten der Magdeburger PSB über mittlere bis starke gesundheitliche Beschwerden geklagt haben [1].

Vor dem Hintergrund der stärkeren Verschulung der Bachelor- und Master-Studiengänge sollte es den Beratungsdiensten auch ein Anliegen sein, unangepassten jungen Menschen, die mit dem neuen, stark normierten System in Konflikt geraten, dabei zu helfen, individuelle Gestaltungsmöglichkeiten für ihr Studium zu entdecken und zu entfalten.

Während die Einzelberatung nach wie vor als das Setting gelten kann, das am häufigsten nachgefragt wird, hat sich die Form dieses Angebots in den letzten Jahren verändert. So hat sich die Dauer der Beratungsprozesse verkürzt und es kommt häufiger vor, dass Studierende die PSB im Verlaufe ihrer Studienzeit mehrmals aufsuchen, um jeweils punktuell im Rahmen von 2–3 Gesprächen aktuelle Probleme zu bearbeiten. In zunehmendem Maße kommen Studierende mit ganz klar begrenzten Problemstellungen und Zielvorgaben in die Beratung. Sie erhalten ein entsprechendes Coaching, das sich als eine fokussierte und strukturierte Begleitung bei der Umsetzung ihrer Ziele versteht. Es ist absehbar, dass Trainings- und Coachingelemente sowie kurzfristige, pragmatische und phänomenorientierte Interventionen zur Bewältigung von Lern- und Arbeitsstörungen in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen werden. Dabei geht es keineswegs darum, den Bereich der eher psychotherapeutisch orientierten Beratung aufzugeben, sondern um eine Erweiterung der beraterischen Zuständigkeiten, eine Ergänzung des Methodenspektrums und eine generelle Erleichterung des Zugangs zu Beratung an der Hochschule.

Als Resonanz auf den Zuwachs an sehr jungen Studienanfängern und auf die angestrebte Mobilität bei der Wahl des Hochschulortes müssen sich psychologische Berater vermutlich auch Gedanken über Elternarbeit als neuen Tätigkeitsaspekt machen. Im US-amerikanischen Hochschulsystem gibt es hierfür bereits Modelle: So finden sich in den Internetpräsenzen der Beratungsstellen umfangreiche Hinweise für Eltern, wie sie ihre studierenden Töchter und Söhne am besten unterstützen können, welche Symptome eventuell auf psychische Probleme hindeuten und wie sie sich im Falle einer Betroffenheit ihres Kindes verhalten können [29].

Gesellschaftliche Verantwortung der psychosozialen Studierendenberatung

Aus den jüngsten Hochschulreformen resultiert für viele Studierende eine höhere Belastung. Ob diejenigen, die das System reibungslos durchlaufen, im Rahmen ihrer Hochschulkarriere ihr menschliches Potenzial optimal entfalten können, ist zu hinterfragen. Auch hier könnten psychotherapeutische und psychosoziale Beratungsstellen z. B. mit studienergänzenden Gruppenangeboten verhindern helfen, dass die zukünftigen Verantwortungs- und Entscheidungsträger nach Abschluss ihres Studiums zu einseitig auf Leistung, Erfolg und Ergebnisse ausgerichtet sind.

In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick in die Vereinigten Staaten. Dort stehen die Hochschulen traditionell in der Pflicht, die Studierenden bis zur Erlangung des (teuer bezahlten) Abschlusses optimal zu unterstützen. Entsprechend ist dort eine enge Begleitung durch die Lehrenden ebenso selbstverständlich wie die Bereitstellung von psychologischen Beratungsangeboten, „career services“ und sonstigen studienspezifischen Beratungsdiensten, die als unerlässliche Rahmenbedingungen für ein Gelingen des Studiums gewertet werden. Die Studierenden selbst fühlen sich durch die Inanspruchnahme einer psychologischen Beratung keineswegs – so, wie wir es noch häufig an deutschen Hochschulen erleben – stigmatisiert, sondern nutzen diese Möglichkeit selbstbewusst als Teil der Serviceleistungen ihrer Hochschule. Dass sich ein entsprechendes Bewusstsein in der deutschen Hochschullandschaft nicht nur an Privatuniversitäten [11] etabliert, sollte ein vordringliches Ziel sein. Hier haben alle in der Studierendenberatung Tätigen eine wichtige Pionierfunktion.

Fazit für die Praxis

Die in der Beratung Tätigen müssen neue Entwicklungs-, Expansions-, Phantasie- und Vernetzungsaktivitäten entfalten, um ihr Expertenwissen hinsichtlich der sensiblen Lebensphase Studium in Reform- und Umstrukturierungsprozesse einzubringen. Eine derartige Einmischung sollte sowohl auf lokaler Ebene am Hochschulstandort als auch auf globaler Ebene im Rahmen bildungspolitischer Diskurse stattfinden.

Nachdem zur Zeit die Ressourcen der psychotherapeutischen bzw. psychologischen Studierendenberatung hauptsächlich in die Einzelberatung fließen, wäre nicht nur die Mitgestaltung hochschulpolitischer Entwicklungen, sondern v. a. auch der notwendige Ausbau der primärpräventiven Angebote unbedingt an eine bessere personelle Ausstattung der Einrichtungen gebunden. Diese kann als Investition in die Zukunft gesehen werden: Wenn mehr Studierende zu einem frühen Zeitpunkt lernen, trotz der Konfrontation mit Leistungsansprüchen Stress zu kompensieren und eine ausgewogene „work-life-balance“ zu finden, wird sich die Zahl derjenigen, die während des Studiums in eine tiefe Krise geraten und/ oder sogar die Hochschule ohne Abschluss verlassen, mit Sicherheit verringern.