Hintergrund

„Wann immer ich das salutogenetische Modell mündlich vorgestellt habe, war eine der vor allem von Menschen aus helfenden Berufen am häufigsten gestellten Fragen, inwieweit das SOC geplant und absichtlich verändert werden kann. Besonders die, die sich zu dem Modell hingezogen fühlen, die einen systematischen Zugang zum Verstehen von Stärken und nicht nur von Risikofaktoren suchen, fanden es sehr verwirrend zu hören, dass jemand mit einem starken SOC solche Helfer nicht wirklich braucht und dass jemandem mit einem schwachen SOC von einem temporären Begleiter nicht wirklich geholfen werden kann“ [2].

Trotz dieses Hinweises, mit dem Aaron Antonovsky das Kapitel über die Möglichkeiten intentionaler Modifikation des Kohärenzempfindens (sense of coherence, SOC) beginnt, sind die Konzepte der Gesundheitsförderung von der Idee der Salutogenese durchdrungen. Die Idee, nach der Entstehung von Gesundheit zu fragen, hat im wissenschaftlichem Umfeld, insbesondere in der Public-Health-Szene Nord- und Osteuropas, Nordamerikas und Israels, Australiens und Neuseelands hohe Aufmerksamkeit erhalten, weist Gemeinsamkeiten mit den WHO-Konzepten zur Gesundheitsförderung auf und gehört zum Gegenstandskatalog gesundheitswissenschaftlicher Ausbildung von Gesundheitsberufen. Das Modell der Salutogenese ist gerade unter interventionellen Gesichtspunkten hoch relevant.

Faltermaier [8] konstatiert, dass die Rezeptionsgeschichte des Modells einiges über Beharrungstendenzen und dominante Denkstrukturen in den Gesundheitswissenschaften aussagt. Hinsichtlich der Auswirkungen des Modells für berufliche Praxis zeigen sich solche Tendenzen in differierenden Argumentationslinien: Das Modell wird insgesamt als für Intervention wenig bedeutend eingeschätzt sowie in seinen theoretischen Unklarheiten, der mangelnden empirischen Absicherung und der mangelnden Exklusivität seiner Gedanken kritisiert [4, 13]. Die Möglichkeit der Modifikation des SOC wird ausschließlich auf Kindheit und Jugend bezogen und in einem engen Zusammenhang mit Persönlichkeitsmerkmalen und dem Identitätskonstrukt diskutiert [8]. Die beschränkten Möglichkeiten, die Antonovsky zur gezielten Modifikation des SOC aufzeigt, werden hinsichtlich ihrer Dehnfähigkeit ausgelotet, nicht zur Kenntnis genommen oder als überholt beschrieben [5, 7, 23].

Demgegenüber wird im Folgenden die Auffassung vertreten, dass das Modell der Salutogenese die beste vorhandene theoretische Basis der Gesundheitsförderung darstellt, auch wenn der Forschungsstand dazu nach wie vor nicht befriedigend ist.

Lindström u. Eriksson [18] kommen in ihrem Überblick über mehr als 25 Jahre Forschung zur Salutogenese zu dem Ergebnis, dass das Modell der Gesundheitsförderung einen festen theoretischen Rahmen geben kann. Die interventionellen Implikationen des Modells können überall dort eine Leitorientierung der beruflichen Praxis darstellen, wo Gesundheit gefördert werden kann. Eine solche Leitorientierung wird aber nur bedingt eine intentionale Modifikation des SOC von Individuen anstreben, vielmehr Lebensbedingungen modifizieren und Erfahrungen der Teilhabe an sozial anerkannten Aktivitäten ermöglichen wollen.

Wissenschaftlicher und historischer Entstehungskontext des Modells

Antonovsky war Zeit seines Lebens biographisch und beruflich mit gesellschaftlichen Entwicklungen konfrontiert, die sich mit dem Begriff „widrig“ nur sehr unzureichend umschreiben lassen. Seine Kindheit war von dem Leben russisch-jüdischer Migranten in Brooklyn, der Armut gerade dieser Gruppe während der Weltwirtschaftskrise bis zur Mitte der 1930er Jahre und dem Wiederaufleben des Rassismus in breiten Bevölkerungsschichten in USA geprägt. Das Studium in Yale hatte Antonovsky für den Dienst in der US-Armee im Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Seine späteren Arbeiten in der gemeindeorientierten medizinischen Fakultät an der Ben-Gurion-Universität in Israel waren von der von militärischen Interventionen durchsetzten Geschichte des Staates Israel beeinflusst und mit den gesundheitlichen Folgen jüdischen Überlebens im Antisemitismus konfrontiert. Antonovsky war aber weder in den USA noch in Israel mit der politischen Linie des Landes kritiklos identifiziert.

Als Soziologe interessierte sich Aaron Antonovsky für gesellschaftliche Zusammenhänge und für das Handeln von Menschen in sozialen Kontexten sowie dessen Auswirkungen auf Gesundheits- und Krankheitsprozesse. Beeinflusst u. a. von der Sozialpsychologie, die in den USA nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von sozialkritischen Emigranten aus Europa, darunter Lazarsfeld [15], weiterentwickelt wurde und soziale Determinanten psychischer Gesundheit erforschte, ging es ihm immer auch um eine anwendungsorientierte, die Praxis gesellschaftlicher Entwicklung beeinflussende Forschung und um sozialkritisches Handeln. Dies gilt gleichermaßen für die Entwicklungspsychologin Helen Antonovsky, deren Anteil an der Entstehung des Modells nicht unterschätzt werden darf [3]. Die mentale Gesundheit war für beide nicht unabhängig von gesellschaftlich bedingten Lebenserfahrungen denkbar.

In der deutschsprachigen Rezeption des Modells der Salutogenese überwiegt dagegen die individualpsychologische Sicht [4, 8, 10]. Möglicherweise ist es diesem Umstand geschuldet, dass sich die Diskussion interventioneller Fragen in Deutschland zu eng um die Möglichkeit individueller Modifikationen des SOC dreht.

Angesichts der Erfahrungen von Armut, Krieg, Rassismus und Antisemitismus und deren Folgen wird verständlich, dass Antonovsky Gesundheit nicht als homöostatischen Normalzustand beschreiben kann, der durch störende Reize oder falschen Lebenswandel aus der Balance geraten kann. Gesundheit ist für ihn keine Selbstverständlichkeit, sondern angesichts der Omnipräsenz von Stressoren ein höchst erfreuliches Phänomen, eine mögliche Entwicklungsrichtung auf einem Kontinuum. Gesundheit ist für Antonovsky auch unabhängig vom Krankheitsstatus möglich.

Antonovskys Modell wurde auch durch seine empathische Grundhaltung gegenüber Menschen geprägt, die die dramatischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts überstanden hatten. In seiner Studie über die Adaption von Frauen aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen in Israel an das Klimakterium zeigte sich, dass unter denjenigen mitteleuropäischen Frauen, die an der Studie teilnahmen, etwa 300 waren, die während des Nationalsozialismus ein Konzentrationslager überlebt hatten, dann jahrelang als „deplaced person“ gelebt hatten, sich ein neues Leben in Israel aufgebaut hatten, dort 3 Kriege erlebt hatten und trotz solcher Erfahrungen im Prinzip eine gute psychische und physische Gesundheit aufwiesen.

Diese von Antonovsky [3] erzählte Geschichte der Entdeckung seiner Forschungsfrage wird oft verkürzt wiedergegeben. So heißt es z. B. bei Bengel et al. [4] „29%(!) der inhaftierten Frauen“ hätten über eine relative gute Gesundheit berichtet. Das ist höchst missverständlich formuliert. Die Zahl 29% bezieht sich auf einen Anteil des spezifischen Ausschnitts unter denjenigen Frauen, die trotz solcher 25 Jahre zurückliegender Lebenserfahrungen überhaupt physisch und psychisch in der Lage waren, an der Studie teilzunehmen und in Israel lebten. Es handelte sich keineswegs um eine Querschnittstudie zu den Überlebenschancen eines KZ-Aufenthalts!

Die Betrachtung von Personen mit hohen Stresswerten, die dennoch nicht krank werden, ist Teil des Zeitgeist der 1970er Jahre, der sich in der Ähnlichkeit des Konstruktes des „sense of coherence“ mit anderen Konzepten [10, 12] spiegelt, die in das Modell der Salutogenese integrierbar sind. Zugleich hat das Modell eine hohe Erklärungskraft für Phänomene, die sozialwissenschaftlich ausgerichtete Gesundheitswissenschaftler/innen stark interessieren, etwa für das Phänomen sozial ungleich verteilter Gesundheitschancen.

Das Modell der Salutogenese und der Forschungsstand

Das Modell besagt, dass Stressoren auf das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in krank machender, neutraler oder gesundheitsfördernder Richtung wirken, je nach dem, wie die Spannungsbewältigung (Coping) erfolgt. Die Spannungsbewältigung ist zunächst davon abhängig, welche generalisierten Widerstandsressourcen (generalized resistance ressource, GRR) zur Verfügung stehen und inwiefern diese in der jeweiligen Situation auch genutzt können. GRR (u. a. materielle Vorraussetzungen, Selbstidentität, soziale Unterstützung, kulturelle Stabilität oder Gesundheitsbewusstsein) sind nicht ohne den historischen soziokulturellen Kontext denkbar. Ob vorhandene Ressourcen für Bewältigungsstrategien nutzbar gemacht werden, darüber entscheidet das Empfinden von Kohärenz (SOC). Das SOC ist kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern eine grundlegende Lebensorientierung, und umfasst die Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit, wobei prospektiv letztere die wichtigste Komponente zu sein scheint. Das SOC könnte prinzipiell im Sinne der körperlichen Stressreaktion unmittelbar auf die physische und psychische Gesundheit einwirken. Es könnte u. U. Gesundheitshandeln beeinflussen. Es wird aber vor allem über die Aktivierung der GRR wirken (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Vereinfachtes Modell der Salutogenese

Verkürzt formuliert, sind Menschen mit einem starken SOC besser in der Lage, GRR zur Bewältigung unterschiedlichster Stresssituationen für sich zu nutzen und entwickeln sich deshalb auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum eher in Richtung Gesundheit. Dabei ist ein starker SOC nicht mit bestimmten Bewältigungsstrategien verbunden, sondern mit einer hohen Flexibilität in der Wahl der Strategien, die situative Bedingungen berücksichtigt. Ein schwacher SOC wird eher mit starren Strategien verbunden sein [10].

Die besondere Bedeutung von immer auch gesellschaftlich gestalteten Lebensbedingungen für das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum wird hier deutlich: Lebensbedingungen entscheiden über die Art der Stressoren und über die Bewältigungsstrategien, die zur Verfügung stehen. Sie sind die entscheidende Komponente des Kontinuums von GRR und Widerstandsdefiziten (generalized resitance deficit, GRD) und beeinflussen entscheidend die Chancen auf solche Lebenserfahrungen unter denen ein starkes SOC ausgebildet werden kann.

Interventionen im Sinne des Modells der Salutogenese können entsprechend die Lebensbedingungen und deren Veränderung nicht außen vor lassen. Sie können sich nicht in psychotherapeutischen Interventionen der Stabilisierung eines vermeintlichen Persönlichkeitsmerkmals bei Individuen erschöpfen. Dies stand für Antonovsky nicht in Frage [3].

Monica Eriksson u. Bengt Lindström [6] publizierten kürzlich die Ergebnisse ihres systematischen Reviews, das 458 Studien und 13 Dissertationsschriften in Englisch oder einer skandinavischen Sprache aus den Jahren 1992–2003 einschloss, die mit dem Fragebogen zum SOC gearbeitet haben. Sie resümieren, dass das SOC einen engen Zusammenhang mit der wahrgenommenen Gesundheit, insbesondere der psychischen Gesundheit zeigt. Hinsichtlich des Einflusses auf Gesundheit ist der SOC ein Hauptfaktor oder hat einen die Richtung oder Stärke verändernden Effekt und scheint Gesundheit voraussagen zu können. Das SOC scheint einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung von Gesundheit zu haben, aber nicht Gesundheit alleine erklären zu können.

Faltermaiers Feststellung [8], dass die vielen Querschnittsstudien zum korrelativen Zusammenhang zwischen SOC und einzelnen Variablen die Forschung in der Bewertung des Modells nicht mehr weiterbringen, dagegen Längsschnittstudien fehlen, stimmt allerdings auch 6 Jahre nach dessen Aussage noch und wirft insbesondere für die hier interessierende Fragestellung nach der interventionellen Bedeutung Probleme auf.

Über verschiedene Analysen zum Forschungsstand hinweg [4, 8, 10, 22] wurde immer wieder eine hohe Übereinstimmung zwischen SOC und psychischer Gesundheit festgehalten, so hoch, dass sogar die Frage nach Überschneidungen zwischen den Konstrukten SOC und psychische Gesundheit gestellt wurde [4, 8]. In einer für Kanada repräsentativen Studie zeigten Richardson u. Ratner [22] kürzlich erneut, dass der SOC die Auswirkungen stressvoller Lebensereignisse auf die subjektive Gesundheit abfedern zu können scheint. Weit weniger eindeutig sind Zusammenhänge zu extern beschreibbarer physischer Gesundheit.

Surtees et al. [27] konnten in einer prospektiven Kohortenstudie zeigen, dass ein hoher SOC die Sterblichkeit bei Risikofaktoren für chronische Erkrankungen senkt. Dagegen kommen Flensborg-Madsen et al. [9] in ihrem Review von 50 Studien zur Aussage, dass ein Zusammenhang zwischen SOC und körperlicher Gesundheit nicht nachweisbar ist, während auch in diesem Review ein Zusammenhang zu psychischen Aspekten zu finden war.

Hier entsteht für die Forschung die Schwierigkeit, dass von Antonovsky Gesundheit nicht eindeutig definiert wurde [10]. Diese lässt sich auflösen, wenn man seine Differenzierung von „disease“ und „dis-ease“ einbezieht. Nur „dis-ease“ findet sein Forschungsinteresse [1]. Geht man von der Idee des Kontinuums zwischen „dis-ease“ und „healt-ease“ aus, so ist eine Entwicklung in Richtung Gesundheit von jeder Position aus möglich, d. h. selbst in einer palliativen Situation. Antonovsky schließt weder Krankheit noch Tod aus [10] und hat m. W. niemals behauptet, Menschen mit einem hohen SOC könnten nicht erkranken. Vielmehr sind Menschen mit einem starken SOC eher in der Lage, mit den Stressoren, die mit Krankheit und ihrer Behandlung verbunden sind, angemessen umzugehen. Das muss z. B. krebskranke Menschen nicht zwingend vor Metastasen schützen, könnte aber nach Antonovsky auch direkte physiologische Konsequenzen haben, etwa im Sinne eines Einflusses auf neuroendokrine oder neuroimmunologische Prozesse. Bereits Faltermaier [8] kritisiert, dass Forschung, die mit Krankheitsmassen als Indikatoren von Gesundheit arbeitet, das Kontinuumskonzept nicht umsetzt und damit eine zentrale Komponente des Models ignoriert.

Ähnlich können inkonsistente Forschungsergebnisse zum Bezug von Gesundheitsverhalten und SOC damit erklärt werden, dass die Forschungsfragen nicht genau mit dem Modell der Salutogenese übereinstimmen. Antonovsky [3] sieht keinen direkten Zusammenhang zwischen Gesundheitsverhalten und SOC. Er ist lediglich der Überzeugung, dass Menschen mit einem starken SOC eher in der Lage sein werden, auf Stresssituation mit weniger riskanten Verhaltensweisen und mehr Rücksicht auch auf ihr körperliches Wohlbefinden zu reagieren. Studiendesigns zum Zusammenhang zwischen SOC und dem Ernährungsverhalten [17], SOC und positiver Einstellung zu körperlicher Aktivität [26], SOC und Alkoholkonsum [19], SOC und Mundhygiene [25] müssen in ihrem Design entsprechend vorsichtig betrachtet und die Ergebnisse sorgsam diskutiert werden.

Das Modell der Salutogenese erklärt weder wie Krankheit vermieden werden kann, noch wie Gesundheitsverhalten entsteht und taugt insofern nicht als theoretische Basis für einen präventiven Ansatz. Es liefert dagegen die Basis für die Gesundheitsförderung, die unabhängig vom Krankheitsstatus eines Menschen möglich ist. Erst nach dieser konzeptionellen Trennung kann darüber nachgedacht werden, wie die Ziele und Arbeitsformen der Gesundheitsförderung in präventive wie in kurative, rehabilitative, palliative und pflegerische Versorgung integriert werden können. Interventionsstudien zur Veränderbarkeit des SOC scheinen derzeit allerdings nicht in einer fachlich und methodisch angemessenen Form vorzuliegen.

Interventionelle Implikationen

Nach dem Modell der Salutogenese ist der zentrale Ansatz der Gesundheitsförderung die Veränderung des SOC durch die Veränderung von Lebenserfahrungen. Die Entstehung des SOC ist mit spezifischen Lebenserfahrungen verbunden, die jeweils einer der drei Komponenten zugeordnet sind: Erfahrungen der Beständigkeit führen zur Entwicklung der Komponente Verstehbarkeit, wobei Verstehbarkeit (comprehensibility) nicht mit Verständlichkeit verwechselt werden darf. Erfahrungen, ausreichend Ressourcen zur Bewältigung von Anforderungen zur Verfügung zu haben, stärken die Komponente Handhabbarkeit (manageability). Die Stärkung und Unterstützung von Ressourcen ergibt sich hier als wichtiges Handlungsfeld. Erfahrungen der Teilhabe an Entscheidungsprozessen in sozial anerkannten Aktivitäten, stärken die Komponente Bedeutsamkeit (meaningfulness). Dabei geht es nicht um Teilnahme, auch nicht um Kontrolle über, sondern um die Mitentscheidung an den Dingen, die das Leben berühren und sozial anerkannt sind (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Entstehung des SOC

Alle drei Lebenserfahrungen sind miteinander verbunden, wie dies die Komponenten des SOC sind. Aus Antonovksys Überlegungen zur Dynamik des SOC lässt sich aber ableiten, dass die Komponente Bedeutsamkeit über die Weiterentwicklung des SOC entscheidet. Demnach ist der Teilhabe an sozial anerkannten Aktivitäten in Bezug auf die Förderung des SOC die höchste Priorität zuzusprechen. Daraus lässt sich folgern, dass für jede Interventionsebene der Gesundheitsförderung die Mitgestaltung und die Teilhabe an zentralen Entscheidungen das wichtigste Prinzip darstellt.

Genau dieses Prinzip findet sich in allen strategischen Papieren der WHO und allen Settingansätzen der Gesundheitsförderung wieder. Das Leitprinzip betrieblicher Gesundheitsförderung ist die Teilhabe der Beschäftigten an den Entscheidungen der Entwicklung der Organisation, für die sie tätig sind. Das Leitprinzip der Gesundheitsförderung in der Schule kann nur die Partizipation von Schüler/innen und Lehrer/innen an der Entwicklung der Schule, an Unterrichts- und Pausengestaltung sein, so utopisch dies auch anmuten mag. Eben deswegen gehören Gesundheitszirkel zu den wichtigsten Instrumenten der Settingarbeit. Das Leitprinzip einer gesundheitsfördernden Gesundheitsversorgung ist die gemeinsame Entscheidungsfindung (shared decision making) über Prävention, Diagnose, Behandlung oder Pflege, auf einer umfassend informierten Basis und bei einem ressourcenorientierten Ansatz. Partizipation ist die zentrale Strategie der Gesundheitsförderung.

Da nach Antonovsky die Verstehbarkeit eine Voraussetzung für Handhabbarkeit ist, ist das Prinzip der Beständigkeit, der Nachhaltigkeit förderlicher Lebenserfahrungen, das zweitwichtigste Prinzip. Gesundheitsförderung kann sich demnach nicht in immer wieder neuen Projekten erschöpfen, sondern muss dauerhafte und verlässliche Strukturen aufbauen.

Einschränkend ist allerdings zu sagen, dass wir nichts darüber wissen, ob Interventionen einer partizipativen Gesundheitsförderung auf Menschen mit unterschiedlich starkem SOC verschieden wirken. Es wäre durchaus denkbar, dass solche Interventionen bei Menschen mit schwachem SOC kontraproduktive Wirkungen zeigen, während sie auf Menschen mit starkem SOC weiter stabilisierend wirken. Hier wären Interventionsstudien dringend nötig, die der erwarteten Dauer von Veränderung und der erhofften Nachhaltigkeit solcher Interventionen entsprechen.

In dem eingangs erwähnten Kapitel über die intentionale Modifikation des SOC zeigt Antonovsky [1] nach seiner anfänglichen Warnung drei Ebenen der Modifikation auf:

  1. 1.

    Professionelle Helfer agieren häufig in Krisensituationen, die eine vorübergehende Irritation des SOC bedingen. In diesen Phasen der Fluktuation um einen Mittelwert können sie Begegnungen so gestalten, dass kein temporärer Schaden entsteht, der SOC stabilisiert werden kann. Antonovsky hält es weitergehend für möglich, dass Begegnungen so gestaltet werden können, dass sogar ein bescheidener und temporärer Gewinn erzielt werden kann. Diese temporäre Modifikation des SOC in bescheidenem Umfang ist m. E. primär der notwendige, gesundheitsfördernde Ansatzpunkt aller individual-therapeutisch oder pflegerisch tätigen Health Professionals.

  2. 2.

    Antonovsky hält ein therapeutisches Vorgehen nicht für ausgeschlossen, das eine lang anhaltende, konsistente Veränderung in den realen Lebenserfahrungen, die Menschen machen, erleichtert. Diese Veränderung erfolgt nicht alleine durch die Neuinterpretation von Erfahrungen, sondern v. a. dadurch, dass Menschen das Rüstzeug in die Hand gegeben wird, innerhalb ihres Lebensbereichs etwas ausfindig zu machen, das ihnen andere Lebenserfahrungen ermöglicht. Dies ist der Aufgabenbereich der psychosozialen Interventionen, die so unterschiedliche Felder wie Streetworking, Betreuung im Frauenhaus, Studienberatung oder Psychotherapie umfassen könnte. Das Konzept des Empowerment [21] kann die hier notwendige professionelle Grundhaltung beschreiben.

  3. 3.

    Immer dort, wo über eine lange Zeitspanne ein beträchtliches Ausmaß an Kontrolle über die Lebenssituation der Klientinnen und Klienten besteht, können nach Antonovsky [3] tiefer greifende Veränderungen erfolgen. Eine solche Kontrolle besteht zunächst einmal in totalen Institutionen [11] wie Altenpflegeheimen, psychiatrischen Einrichtungen, partiell auch anderen stationären Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, Kasernen oder Gefängnissen. Von ihrer Struktur her neigen solche Institutionen dazu, Lebenserfahrungen der Teilhabe an sozial anerkannten Aktivitäten möglichst auszuschließen. Sie wären zunächst so umzustrukturieren, dass sie dem SOC nicht schaden, weder bei den Internierten noch ihren Bewachern oder Pflegekräften. Aber auch Betriebe und Bildungsinstitutionen kontrollieren die Lebenssituation ihrer Beschäftigten ganz erheblich und können zur Stärkung des SOC beitragen, indem sie Teilhabe an Entscheidungsprozessen ermöglichen. In diesen und ähnlichen Settings solche Prozesse zu ermöglichen und zu moderieren, kann als originäre Aufgabe von für das Management von Gesundheitsförderungsprozessen qualifizierten Personen beschrieben werden. Sie stehen immer auch in dem Dilemma, dass sich gesundheitsfördernde Interventionen nur dann erfolgreich umsetzen lassen, wenn dies den aktuell geltenden Strategien zur Erreichung der Kernziele des jeweiligen Settings entspricht. So verweisen etwa Lenhardt u. Rosenbrock (2004) [16] darauf, dass betriebliches Entscheiden und Handeln nicht primär von gesundheitlichen sondern ökonomischen Interessen bestimmt wird.

Die Arbeiten von Helen Antonovsky könnten v. a. Erzieherinnen, Lehrern, Sozialpädagoginnen und Eltern Anregungen für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen bieten. Prinzipien einer gesundheitsfördernden Erziehung wären aus ihrer Sicht die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an sozial Anerkanntem und das damit verbundene Gefühl von Zugehörigkeit, außerdem Beständigkeit und feste, aber nicht starre Strukturen, emotionale Nähe und eine Balance von Anforderungen und Ressourcen zu ihrer Bewältigung. Eine retrospektive Studie von Shifra Sagy u. Helen Antonovksy aus dem Jahr 2000 [24] befasst sich mit der Entstehung des SOC in der Kindheit. In teilstandardisierten Interviews mit 89 Rentnern, die statistisch ausgewertet wurden, zeigte sich, dass die Teilhabe in der Kindheit den stärksten Einfluss auf die Entstehung des SOC hatte.

Aber gilt dies nicht nur für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene? Ist Antonovsky nicht selbst der Auffassung, das SOC sei nach dem 30. Lebensjahr kaum mehr zu verändern? Antonovsky vertritt die Ansicht [3], dass nach Abschluss der 3. Lebensdekade eine Reihe von Entscheidungen über die Biographie getroffen sind und die Menschen dann jahrelang einem Muster von Lebenserfahrungen ausgesetzt sind und eine Vorstellung der Welt entwickelt haben. Unter dieser Bedingung ist die weitere Entwicklung des SOC davon abhängig, welcher Stand bis dahin erreicht wurde. Menschen mit einem hohen SOC haben die Tendenz, ihren SOC zu stabilisieren, Menschen mit einem niedrigen SOC die Tendenz, diesen nach unten zu entwickeln. Zwar hält Antonovsky Krisen wie z. B. Verlust des Arbeitsplatzes, erzwungene Umzüge, erworbene Behinderungen, Tod des Partners für nicht unwahrscheinlich, nimmt aber an, dass solche Krisen von Menschen mit einem starken SOC nach vorübergehender Irritation bewältigbar sind, während sie bei Menschen mit schwachem SOC zu einer weiteren Schwächung beitragen.

Zwei relativierende Überlegungen sind an dieser Stelle angebracht:

  • In seinen theoretischen Überlegungen hat Antonovsky möglicherweise zu wenig deutlich formuliert, dass auch jenseits der 30 noch selbstgewählte, grundsätzlich neue Orientierungen möglich sind, die zur Stärkung des SOC beitragen können.

  • Empirisch müsste die von ihm angenommene Dynamik in Langzeitstudien zeigen, dass der SOC mit dem Älterwerden allenfalls gleich bleibt, bei einer gesamten Kohorte tendenziell insgesamt abnimmt. Dazu gibt es keine klaren Ergebnisse.

Bengel et al. [4] entnehmen aus ihrem Review Hinweise, dass das SOC mit dem Alter an Stärke zunimmt, verweisen aber auf das Fehlen von Längsschnittstudien. Ähnlich argumentiert Franke [10]. In einer etwas älteren Querschnittstudie von Larsson und Kallenberg [14] stiegen die SOC-Werte mit dem Alter, damit waren aber unterschiedliche Kohorten gemeint. Eine der wenigen Längsschnittstudien [20] scheint die zurückhaltenden Aussagen zur Veränderung des SOC mit dem Älterwerden zu bestätigen. In den Jahren 1994 und 1999 zeigte sich eine Abnahme des SOC der nordschwedischen Bevölkerung aufgrund persönlicher Bedingungen und sozialer Veränderungen. Nur Personen mit einem hohen SOC konnten diesen stabil halten, Personen mit niedrigem SOC zeigten die stärksten Veränderungen. Aber diese Veränderungen sind in Verbindung mit soziokulturellen Veränderungen während dieser Jahre in Nordschweden zu betrachten. Die Studie kann vielmehr anmahnen, dass sozialer Abbau sich auch auf das SOC negativ auswirken kann und verweist somit auf die politischen Interventionsebenen von „Public Health“ und Gesundheitsförderung. Gerade in Phasen politischer Entscheidungen, die soziale Ungleichheiten und damit gesundheitliche Ungleichheiten verschärfend wirken, kann sich die Gesundheitsförderung eben nicht auf individuelle Interventionsebenen zurückziehen, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren will.

Fazit für die Praxis

Trotz positiver Ansätze, trotz weltweit bekannter, gut entwickelter Strategien, trotz verbalem Bezug zur Salutogenese fehlt der Praxis der Gesundheitsförderung nicht nur in Deutschland weitgehend eine klare theoretische Orientierung an dem Modell der Salutogenese. Eine Weiterentwicklung von Praxis und Theorie setzt voraus, dass geeignete Projekte in dem Modell angemessenen Studiendesigns evaluiert werden.

Besondere Relevanz für die Praxis hätten die Fragen danach, ob und unter welchen Bedingungen Interventionen einer so ausgerichteten Gesundheitsförderung den SOC tatsächlich nachhaltig stärken können, ob solche Interventionen auf Menschen mit unterschiedlich starkem SOC unterschiedlich wirken und wie kontraproduktive Wirkungen verhindert werden können und ob sich so soziale Ungleichheiten von Gesundheitschancen damit ungewollt verfestigen oder relativieren lassen.