Die Ottawa-Charta der WHO [33] hat vor 20 Jahren der „(New) Public Health“, insbesondere der Prävention und Gesundheitsförderung, mit einer spezifischen Definition von Gesundheitsförderung neue Anstöße geliefert, die auf soziale Alltagssettings als zentrale Orte für deren Umsetzung fokussiert. Die Betonung von Settings, also Organisationen wie Arbeitsplätzen, Schulen oder Krankenhäusern, Städten und Gemeinden als bevorzugten sozialen Systemen für Gesundheitsförderungsinitiativen, reagiert auf allgemeine Trends in spätmodernen Gesellschaften. Einerseits werden in einer „Gesellschaft von Organisationen“, auf der Basis von funktionaler Differenzierung, immer mehr Lebensvollzüge von Individuen durch die zeitweilige Übernahme von Komplementär- oder Publikumsrollen in spezialisierten Organisationen bzw. organisierten Interaktionssystemen realisiert [19, 20], andererseits werden, als Konsequenz von Globalisierung, zwar die Einflussmöglichkeiten von Nationalstaaten etwas eingeschränkt, aber gleichzeitig gewinnen lokale Kontexte an Bedeutung. Außerdem nimmt die Ottawa-Charta zur Kenntnis, dass aufgrund der Tendenz zu verstärkter Individualisierung, jeder Einzelne mehr persönliche Verantwortung für seine Gesundheit übernehmen muss, aber bei dem Bemühen, gesund zu leben, in hohem Maße auf förderliche Umwelten angewiesen ist.

Die Definition der Ottawa-Charta [33] „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“ hat Menschen und deren Gesundheit als Referenz und fordert dafür die Erhöhung von deren Selbstbestimmung durch externes Ermöglichen und Befähigen ein. Wenn es daher in diesem Schwerpunktheft der Zeitschrift Prävention und Gesundheitsförderung darum geht, Wege zur Politik und Praxis nachhaltiger Gesundheitsförderung in Organisationen und Gemeinden aufzuzeigen, so ist zunächst genau zu verstehen, was das komplexe Konzept der Gesundheitsförderung bedeutet und wie soziale Settings, insbesondere Organisationen, an das Konzept der Gesundheitsförderung anschließen und dieses nachhaltig umsetzen können.

Dazu sind neben der Klärung der Vision von Gesundheitsförderung folgende Fragen zu beantworten:

  • Inwiefern sind Organisationen bedeutsam für Gesundheit und Gesundheitsförderung, aber auch inwiefern sind Gesundheit und Gesundheitsförderung bedeutsam für Organisationen?

  • Wie können Organisationen sich erfolgreich, also effektiv, effizient und nachhaltig reorganisieren, damit sie förderlicher für Gesundheit sind?

Gesundheit und Gesundheitsförderung – eine systemtheoretische Perspektive

Gesundheit und Krankheit

Geht man von der Gesundheitsförderungsdefinition der Ottawa-Charta [33] bzw. der dort zitierten WHO-Definition von Gesundheit [34] aus, so ist zunächst der Unterschied zwischen, und in weiterer Folge dann das Verhältnis von Krankheit und (positiver) Gesundheit zu klären. Denn die WHO versteht Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit, sondern als positive Gesundheit, die eigens und unabhängig von Krankheit beobachtet und gefördert werden kann.

Phänomenologisch scheint eine Konzeptualisierung von Krankheit(en), also von negativer Gesundheit, nahe liegender und unabweisbarer zu sein. Krankheit (als spezifische Gestalt) ist erlebbar, beschreibbar und z. T. auch messbar als Abweichung von einem (unauffälligen bzw. befundfreien) Normalzustand (als Hintergrund) bzw. als eingeschränkte Leistungsfähigkeit bzw. gestörtes Wohlbefinden und kann in reduzierter Lebensqualität und -quantität resultieren. Krankheiten bzw. Krankheitszustände können zwar beträchtlich variieren, zwischen unauffällig und bedrohlich, akut und chronisch. Ab einem bestimmten Stadium, Grad oder Ausmaß der Symptomatik von Erkrankungen aber sind diese nicht mehr übersehbar und erfordern Aufmerksamkeit und ein spezifisches Krankheits-(Selbst-/Fremd-)Management. Vergleichbare Abweichungen von Normalzuständen bzw. Einschränkungen von Leistungsfähigkeit oder Wohlbefinden können auch durch Unfälle oder Alterungsprozesse verursacht sein.

Positive Gesundheit ist, verglichen mit Krankheit, unauffälliger und selbstverständlicher und wird erst sichtbar und zum Problem durch das Auftreten von Krankheit, oder wenn Ideale positiver Gesundheit formuliert und aktuelle Gesundheit beobachtet und mit diesen verglichen wird. Dimensional lässt sich auch für positive Gesundheit Funktions- bzw. Leistungsfähigkeit (Fitness bzw. „capacity“) und Wohlbefinden (Wellness) unterscheiden und ein Zusammenhang mit Lebensqualität und -quantität herstellen.

Positive Gesundheit, als notwendige Lebensvoraussetzung, kann zwischen minimal und maximal variieren. Die Herstellung positiver Gesundheit wird üblicherweise der allgemeinen Reproduktion des Lebens überlassen und nicht eigens angestrebt. Positive Gesundheit kann aber gesteigert und zum Gegenstand eines spezifischen Gesundheitsmanagements bzw. von Gesundheitsförderung gemacht werden, wenn ein idealer – optimaler – maximaler Gesundheitszustand definiert und proaktiv angestrebt wird. In der Spätmoderne scheint das zunehmend der Fall zu sein [15, 30].

Lebende Systeme und relevante Umwelten

Für eine theoretische (Re)Konstruktion des Unterschieds von Gesundheit und Krankheit, ihres Verhältnisses, ihrer Entstehung und Intervenierbarkeit, ist eine Kombination [1, 2, 25, 26, 27] der neoklassischen Systemtheorie Luhmanns [19, 20] und der Qualitätstheorie Donabedians [5] hilfreich. Dadurch können Gesundheit und Krankheit einerseits als getrennt beobachtbare spezifische Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualitäten von lebenden Systemen verstanden werden, andererseits als Folge bzw. Ergebnis der notwendigen autopoietischen Selbstreproduktion dieser Systeme, auf die gezielt (wenn auch begrenzt) Einfluss genommen werden kann.

Ausgangspunkt einer systemtheoretischen Betrachtung ist die Annahme, dass lebende Systeme sich kontinuierlich in der Zeit und zugleich abgegrenzt im Raum autopoietisch innerhalb relevanter Umwelten reproduzieren müssen (Abb. 1). Lebende Systeme sind zwar energetisch und materiell auf Austauschprozesse (Inputs und Outputs) mit ihrer Umwelt angewiesen, ihre spezifische Form oder Identität aber müssen sie durch eigene rekursive, operativ geschlossene Operationen, d. h. autopoietisch, herstellen und aufrecht erhalten und sich dabei von ihrer Umwelt abgrenzen. Sie können die Elemente, Prozesse und Strukturen, aus denen sie bestehen, nicht importieren, sondern müssen sie selbst erzeugen. Aus der Sicht des Systems lassen sich in der Umwelt salutogene, also förderliche und pathogene, also tendenziell bedrohliche Ereignisse und Zustände, Prozesse und Strukturen unterscheiden. Gleichermaßen produziert das System im Laufe seiner Reproduktion neben gesunden auch kranke Systemstrukturen, -prozesse und -ergebnisse. Die Gesundheit/Krankheit eines lebenden Systems ist also als Ergebnis seiner genetischen Grundausstattung und der Interaktionsgeschichte mit seiner relevanten Umwelt zu verstehen. Für Versuche der Beeinflussung der Gesundheit/Krankheit eines lebenden Systems heißt das, dass prinzipiell am System selber und/oder seiner Umwelt angesetzt werden kann und, dass dabei prinzipiell sowohl Gesundes gefördert, wie Krankes bekämpft werden kann.

Abb. 1
figure 1

Die Reproduktion eines lebenden Systems in Interaktion mit seinen relevanten Umwelten erzeugt positive Gesundheit und Krankheit

Was das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit eines lebenden Systems betrifft, so veranschaulicht Abb. 2 (wie bereits schon Abb. 1), dass Krankheit nur auf der Basis (eines Minimums) von Gesundheit eines lebenden Systems existieren kann und darüber hinaus, dass sich krankheits- und gesundheitsspezifische Ergebnisse und Prozesse sinnvoll unterscheiden lassen.

Abb. 2
figure 2

4 unterscheidbare Prozesse eines lebenden Systems erzeugen positive Gesundheit und Krankheit

Die Reproduktion von Gesundheit und Krankheit durch lebende Systeme und prinzipielle Strategien ihrer Beeinflussung

Hinsichtlich der Gesundheits-/Krankheitsbilanz eines lebenden Systems lassen sich vier prinzipiell unterschiedliche Prozesse unterscheiden, die zu einem bestimmten Zustand von Gesundheit/Krankheit führen (Abb. 2):

Zwei Typen von Prozessen sind krankheitsbezogen, nämlich der Verlust von Gesundheit durch Krankheitsentstehung und der Gewinn von Gesundheit durch Heilung von Krankheit. Zwei Arten von Prozessen sind auf positive Gesundheit bezogen, nämlich der Verlust durch Abbau und Gewinn durch Aufbau positiver Gesundheit. Erklärungsbedürftig ist v. a., was mit Abbau und Aufbau positiver Gesundheit gemeint sein kann. Abstrakt lässt sich das am besten mit Bezug auf die Nutzung von speziellen Funktionssystemen des lebenden Systems erklären. Unter-, Über- und Fehlnutzung führen zum Abbau, während adäquate Nutzung zum Erhalt bzw. gezieltes Training zum Aufbau positiver Gesundheit beiträgt.

Aus dieser Betrachtungsweise ergeben sich vier prinzipielle Strategien der Intervention in die Gesundheit/Krankheit von lebenden Systemen (Tab. 1). Aufgetretene Krankheiten können durch spezifische medizinische und pflegerische Maßnahmen geheilt, behandelt oder versorgt, zukünftige Krankheiten evtl. durch prophylaktische medizinische und/oder soziale Maßnahmen verhindert oder eingeschränkt werden. Aber auch positive Gesundheit lässt sich gezielt beeinflussen, vorhandene Gesundheit durch Schutzmaßnahmen vor Verlust oder Abbau schützen und durch Entwicklungsmaßnahmen, wie Training oder Übung, Rehabilitation, schrittweise (wieder)aufbauen.

Tab. 1 Spezielle Strategien zur gezielten Beeinflussung von Gesundheit

Mögen die Grenzen der Zuordnung von konkreten Maßnahmen (z. B. Rauchverbote) zu den Strategien Prävention oder Schutz im Einzelfall auch fließend sein, so ergibt sich doch eine plausible prinzipielle Abgrenzung zwischen diesen beiden Strategien und eine sinnvolle Klassifikation, wie Gesundheit durch vier sehr unterschiedliche Strategien gefördert werden kann. Wo man die Grenzen für „Gesundheitsförderung“ im eigentlichen Sinn zieht, ist dabei eher eine Geschmacksfrage: ob nur „Gesundheitsentwicklung“ subsumiert wird oder auch „Gesundheitsschutz“. Aus Sicht der individuellen Notwendigkeit, Dringlichkeit oder Dramatisierbarkeit hat im Anlassfall die reaktive Krankenbehandlung sicher Vorrang, und die drei proaktiven Strategien treten in den Hintergrund; aus der Perspektive der Volksgesundheit sind diese aber mittel- und langfristig sehr bedeutsam. Bei begrenzten Ressourcen können aber nicht alle Strategien gleichzeitig maximiert werden. Unter Rationalitätsannahmen sind evtl. auch Umverteilungen der Mittel notwendig. Dazu bedarf es des Wissens über die relative Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit der unterschiedlichen Strategien [32].

Prinzipiell können verschiedene Strategien gut miteinander verbunden werden. Deshalb ist in gesundheitsförderlichen Settings, je nach Situation, ein entsprechender Strategiemix anzustreben.

Führt man in Tab. 1 auch noch die Unterscheidung ein, ob eine Intervention am System oder an der Umwelt ansetzt, so erhält man statt vier sogar acht Strategien, um Gesundheit zu fördern. Im Falle der proaktiven Strategien sind das beim Individuum v. a. spezifische Interventionen der Gesundheitserziehung zur Beeinflussung von Lebensstilen und Verhalten in Richtung der Verbesserung des individuellen Risiko- und Ressourcenmanagements. Auf der Umweltseite geht es um Entwicklung der Lebensbedingungen bzw. der Verhältnisse in Richtung einer Verminderung von gesundheitsrelevanten Risiken und einer Verbesserung entsprechender Ressourcen und Infrastrukturen. Insgesamt ergibt sich daher für die Gesundheitsförderung in Settings ein reichhaltiges Portfolio von Interventionsmöglichkeiten mit entsprechenden Selektionsproblemen.

Somatopsychosoziale Gesundheit und Krankheit

Diese ohnehin schon sehr komplexe Situation wird weiter entfaltet, wenn man ein anderes Bestimmungsstück der WHO-Gesundheitsdefinition ernst nimmt, nämlich dass menschliche Gesundheit dreidimensional, also als somatisch, psychisch und sozial zu verstehen ist. Auch dieser Aspekt lässt sich in einem systemtheoretischen Paradigma angemessen rekonstruieren (Abb. 3). Ausgangspunkt ist ein Verständnis des menschlichen Individuums als drei miteinander strukturell gekoppelte Systeme: Körper, Psyche und sozialer Status. Alle drei Systeme müssen sich jeweils in den für sie relevanten Umwelten, nämlich in der materiellen Natur, in der symbolischen Kultur und im materiell-symbolischen „Hybridgesellschaft“, autopoietisch und zugleich miteinander verbunden, reproduzieren. Am leichtesten nachvollziehbar ist an dieser Betrachtungsweise wohl, dass Körper sich durch energetische und stoffliche Austauschprozesse in und mit ihrer materiellen Umwelt reproduzieren und dabei auch unterstützt werden können. Auch noch unmittelbar einleuchten mag, dass Psychen oder Bewusstsein sich durch Gedanken sinnhaft reproduzieren und sich dabei symbolischer Medien und Vorräte in ihrer kulturellen Umwelt bedienen, und dass diese Reproduktion durch Charakteristika der Person oder der kulturellen Umwelt befördert oder behindert werden kann.

Schwieriger zu verstehen ist der Vorschlag, die soziale Verortung von Individuen in der sie umgebenden Gesellschaft als etwas zu nehmen, was nicht einfach gegeben ist, sondern in der Zeit durch weitgehend systemgesteuerte Ereignisse, Entscheidungen und Handlungen vom Individuum reproduziert werden muss, um seine soziale Gesundheit im Sinne von z. B. Rechtsfähigkeit, Zahlungsfähigkeit oder sozialer Vernetztheit zu reproduzieren. Auch für diese Art der Reproduktion können sowohl das Individuum wie seine relevante gesellschaftliche Umwelt mehr oder weniger gut ausgestattet sein.

Abb. 3
figure 3

Das Individuum als strukturelle Koppelung dreier autopoietischer Subsysteme: Körper, Psyche und sozialer Status

Für die Gesundheitsförderung in Settings ist eine solche Ausdifferenzierung des Gesundheitskonzepts folgenschwer, weil im Sinne der Gesundheitsförderungsdefinition, Individuen nicht nur die Kontrolle ihrer körperlichen Gesundheit ermöglicht wird und sie für diese befähigt werden müssen. Gesundheitsförderung muss sich gleichermaßen auch auf die psychische und soziale Gesundheit der Individuen beziehen. Dies hat Konsequenzen für die Erweiterung der Inhalte von Gesundheitserziehung, und öffnet zugleich den Horizont gesundheitsrelevanter Umwelten, die sich nun auch auf solche erstrecken, welche die spezifischen Vorraussetzungen für eine gute Reproduktion mentaler und sozialer Gesundheit herstellen.

Handeln für Gesundheit

Zum besseren Verständnis, wie soziale Settings die Gesundheit der mit ihnen in Berührung kommenden Menschen verbessern können, kann ein einfaches Modell beitragen [25, 26]. Als eine Dimension greift das Modell (Tab. 2) die Differenz System/Umwelt auf, und folgt Kurt Lewin’s Diktum, dass Verhalten eine Funktion von Person und Umwelt ist [17]. Die andere Dimension folgt Anregungen der Theorie kollektiver Entscheidungen von J.S. Coleman [4] und spezifiziert diese in der Unterscheidung von Möglichkeit (eines Verhaltens, einer Handlung) und Wollen bzw. Präferenz (also Selektion aus unterschiedlichen Möglichkeiten).

Durch Kreuzung der beiden Dimensionen ergeben sich vier unterschiedliche Konstellationen für Verhalten oder Handlungen: Das „Können“ und „Wollen“ des Akteurs und das „Möglichsein“ in der Umwelt sowie die symbolische Unterstützung, also das „Sollen“, durch die Umwelt. Alle vier Determinanten tragen das ihre zur Entstehung einer Handlung bei. Entsprechendes Können, Wollen und Möglichsein sind unerlässlich für die erfolgreiche Durchführung einer Handlung. Das gilt nicht in gleicher Weise für den Faktor des situativ regulierten Sollens, dem im Einzelfall auch zuwidergehandelt werden kann, auch wenn es die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Handlung beeinflusst. Die (mathematische) Funktion, in der die vier Typen von Determinanten koproduktiv zusammenwirken, ist als nicht additiv anzunehmen, denn wenn einer der drei unerlässlichen Faktoren gegen null tendiert, ist eine bestimmte Handlung nicht möglich. Daraus folgt für Interventionsversuche, dass es zumeist nur wenig Sinn macht, einzelne Voraussetzungen zu optimieren, wenn die anderen nicht entsprechend gegeben sind. Man muss deshalb entweder alle vier Typen gleichermaßen und aufeinander abgestimmt zu verändern versuchen, oder zunächst ein Assessment durchführen, um zu bestimmen, welche Determinanten vorrangig verändert werden müssen, um ein erwünschtes (gesundheitsförderliches) Verhalten oder Handeln zu fördern, oder ein unerwünschtes (gesundheitsschädliches) zu verhindern.

Der große Vorteil des Settingansatzes der Gesundheitsförderung ist, dass prinzipiell auf alle vier Dimensionen von Handlungsvoraussetzungen eingewirkt werden kann und deshalb ein nachhaltigerer Effekt einer solchen Bündelung von Maßnahmen zu erwarten ist. Selbstverständlich sind für System- oder Umwelt- bzw. Struktur- oder Kulturentwicklung unterschiedliche Typen von Interventionen Erfolg versprechend.

Tab. 2 Ein einfaches Handlungsmodell

Das Modell ist aber auch im Sinne von Donabedians „Struktur-Prozess-Ergebnis-Qualitäts-Modell“ [5] interpretierbar, wobei Handlungsvoraussetzungen der Struktur entsprechen, die Durchführung der Handlung selber als Prozess zu verstehen ist und das Ergebnis der Handlung nach bestimmten Qualitätskriterien beobachtet und beurteilt werden kann. Alle drei Aspekte können, die Ergebnisse ausschließlich, beobachtet werden. Der Prozess kann von außen oder oben nur sehr begrenzt beeinflusst werden, die Strukturen aber prinzipiell relativ gut.

Im Rahmen des skizzierten Modells lassen sich die wesentlichen Teilbereiche für die Entwicklung von gesundheitsförderlichen Settings spezifizieren, wobei dem „Können“ Gesundheitskompetenzen, dem „Wollen“ Gesundheitspräferenzen (beide können auch als „health literacy“ [22] zusammengefasst werden), dem „Möglichsein“ Kapazitäten für Gesundheit und dem „Sollen“ Gesundheitsnormen entsprechen. Gesundheitsförderliche Settingentwicklung ist dann eine Kombination von gesundheitsförderlicher Struktur- und Kultur-, System- und Umweltentwicklung.

Zusammenfassend zielt die Gesundheitsförderung in Settings darauf ab, in Individuen somatopsychosoziale und in deren relevanten Umwelten materiell-kulturell-soziale, salutogene, d. h. ressourcenreiche Strukturen, Prozesse und Ergebnisse zu stärken und zu entwickeln und gleichzeitig pathogene, d. h. riskante Strukturen, Prozesse und Ergebnisse zu schwächen.

Organisationen als Settings für Gesundheitsförderung

Gesundheits(förderungs)relevante Charakteristika von Settings

Aus der Sicht der Gesundheitsförderung sind Settings aus mehreren Gründen für Gesundheitsförderungsinitiativen von besonderem Interesse:

  • Settings sind relevante Umwelten, innerhalb derer Individuen und Gruppen als Betroffene und/oder Beteiligte sich und damit ihre Gesundheit (zeitweise) reproduzieren müssen.

  • Settings sind komplexe materiosoziokulturelle Umwelten, d. h. sie beinhalten eine Vielzahl von gesundheitsrelevanten Ressourcen und Risiken.

  • Settings haben auf die Gesundheit der ihnen ausgesetzten Menschen direkten und indirekten Einfluss, direkten z. B. durch Risiken wie Lärm oder Abgase, indirekten durch die Möglichkeiten (Ressourcen und Risiken), die sie für individuelles und kollektives gesundheitsförderliches Handeln (z. B. Lärmschutz) eröffnen.

  • Settings sind nicht einfach Umwelten, sondern häufig selber im Kern organisierte soziale Systeme mit einer spezifischen, häufig hierarchischen Governance-Struktur. Sie sind damit auch kollektive Akteure, die ihre eigenen Strukturen und Prozesse, aber auch ihre inneren und äußeren Umwelten gezielt beeinflussen können.

  • Settings können daher prinzipiell ihre gesundheitsförderlichen Qualitäten gezielt, umfassend und aufeinander abgestimmt entwickeln und damit ihre Auswirkungen, d. h. ihren Impact auf Gesundheit, verbessern bzw. die ihnen zuschreibbaren Gesundheitsgewinne und -verluste, d. h. ihre Gesundheitsbilanz, optimieren.

  • Aus der Sicht der Gesundheitsförderung, „Public Health“ oder Gesundheitspolitik haben soziale Settings häufig den Vorteil, dass sie als juristische Personen, wie natürliche Personen, durch Kommunikation (Gesetze, Kampagnen etc.) angesprochen bzw. zur Verantwortung gezogen werden können, aber die dadurch veranlassten Maßnahmen Auswirkungen auf die Gesundheit einer Vielzahl von Menschen gleichzeitig haben.

Unterschiedliche Typen von Settings

Diese gesundheits(förderungs)relevanten Charakteristika gelten für eine Vielzahl von Typen von Settings. Für eine Typisierung empfiehlt sich zunächst eine Zweiteilung von sozialen Settings in „Organisationen“ und „Gebietskörperschaften“; als dritte Kategorie können Subkulturen sinnvoll sein (z. B. erlangte die schwule Subkultur als Setting in der Aidsbekämpfung eine gewisse gesundheitsförderungsrelevante Bedeutung).

  • Gebietskörperschaften, als soziale Systeme, sind territorial abgegrenzte politische Einheiten, welche die menschliche Reproduktion in vielfältiger, z. T. diffuser Weise als Rahmenbedingung beeinflussen. Gebietskörperschaften haben im Idealfall demokratische Governance-Strukturen, die eine Beteiligung der Bürger, nicht unbedingt der Einwohner, an politischen (auch gesundheitsrelevanten) Entscheidungen ermöglichen. Gebietskörperschaften lassen sich nach Ebenen unterscheiden, die ineinander verschachtelt sind wie eine Matroschka, von Bezirken in Städten bzw. Gemeinden in Bezirken, über Regionen/Bundesländer über Nationalstaaten, Staatengemeinschaften wie die EU, bis zur Weltgesellschaft der Vereinten Nationen. Am untersten Ende könnte man Haushalte platzieren bzw. auch informelle, mehr oder weniger homogene regionale Einheiten wie Quartiere (in Wien z. B. waren Grätzl der Ausgangspunkt von Gesundheitsförderungsinitiativen). Aus der Perspektive von Organisationen sind Gebietskörperschaften Metasettings, die für diese Rahmenbedingungen darstellen.

  • Organisationen sind soziale Systeme, die darauf spezialisiert sind, bestimmte Leistungen, häufig im Rahmen von Funktionssystemen moderner Gesellschaften zu erbringen. Sie inkludieren Individuen in Form von Mitgliedschaftsrollen, entweder längerfristigen Leistungsrollen oder kurzfristigeren Publikums- oder Komplementärrollen. Organisationen lassen sich unterscheiden nach der Art der Leistung, die sie erbringen, also Produktion von Gütern oder Dienstleistungen (z. B. Erziehung durch Kindergärten, Schulen, Universitäten, Krankenbehandlung durch Krankenhäuser etc.), nach ihrem Bezug zu Markt (for profit/non for profit) und Staat (governmental/non governmental) und zur Zivilgesellschaft als Kombination von „non for profit“ und „non governmental“. Im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung sind diese Unterschiede bedeutsam, weil sie unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten für Gesundheitsförderung, je nach Spezialisierung oder Bezug ermöglichen.

Im Folgenden wird auf organisationale Settings für Gesundheitsförderung fokussiert. Da Organisationen und Gebietskörperschaften als soziale Systeme und kollektive Akteure zahlreiche Charakteristika gemeinsam haben, stellen sich zahlreiche Fragen der Gesundheitsförderung für beide prinzipiell ähnlich, und vieles, was im Folgenden für Organisationen gesagt wird, kann cum grano salis auch auf Gebietskörperschaften übertragen werden.

Wie beeinflussen Organisationen Gesundheit und können diese fördern?

Organisationen beeinflussen die Gesundheit unterschiedlicher Gruppen von Menschen bzw. Stakeholdern direkt und indirekt. Prinzipiell können das sein: Mitarbeiter (und deren Angehörige), Klienten (und deren Angehörige), Bystander/Nachbarn, Betroffene (und deren Angehörige) vorher in der Produktionskette, sowie Betroffene (und deren Angehörige) nachher in der Produktionskette. Die Gesundheit dieser Gruppen von Beteiligten und Betroffenen wird durch unterschiedliche, aber prinzipiell gestaltbare Aspekte einer Organisation beeinflusst.

  • Organisationen, als „Lebensraum“ (Infrastrukturen und Kulturen für die Reproduktion von Personen), beeinflussen die Gesundheit von jenen Personengruppen, die sich dort als Mitarbeiter, Koproduzenten, Kunden, Besucher etc. mehr oder weniger lange aufhalten (müssen) und mehr oder weniger gesund somatopsychosozial reproduzieren können.

  • Organisationen, als „Arbeitsumwelt“ und Rahmenbedingung von Kernprozessen und Nebenprozessen (Einkauf, Transport, Abfallbeseitigung etc.) der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, beeinflussen die Gesundheit von Mitarbeitern in Leistungsrollen und Koproduzenten in Komplementärrollen, indem sie ein mehr oder weniger gesundes Arbeiten oder Mitarbeiten ermöglichen. Organisationen, als Lebensraum, wie als Arbeitsumwelt, können spezifische Gesundheitsförderungsangebote (Infrastrukturen und Ressourcen) quasi kompensatorisch anbieten.

  • Durch ihre geplanten und ungeplanten „Outputs“ in die Umwelt (z. B. Produkte und Dienstleistungen oder Lärm, Abgase und Abfälle) beeinflussen Organisationen die Gesundheit von Nachbarn, von Kunden und deren Angehörigen, von Dienstleistern und deren Angehörigen, die in Berührung mit deren Outputs kommen (müssen).

  • Als Bezieher von „Inputs“, z. B. Gütern und Dienstleistungen, können Organisationen indirekt Einfluss auf die Gesundheit von Vorproduzenten, Vordienstleistern und deren Angehörigen haben, indem sie Inputs mit einer mehr oder weniger günstigen Gesundheitsbilanz auswählen.

Organisationen haben prinzipiell die Möglichkeit, die gesundheitsförderliche bzw. gesundheitsschädliche Qualität ihrer selbst als Lebensraum und Arbeitsumwelt bzw. die ihrer Outputs, mitzugestalten und ihre Inputs auch nach Kriterien der Gesundheitsförderlichkeit bzw. Gesundheitsschädlichkeit auszuwählen.

Da sich Organisationen als soziale Systeme im Kern durch die Kommunikation von Entscheidungen autopoietisch reproduzieren, könnten sie, abstrakt gesprochen, ihre Gesundheitsbilanz am besten dadurch optimieren, dass sie in allen Entscheidungen auch die Kriterien gesundheitsförderlich/-schädlich verbindlich verwenden. Fraglich ist aber, warum sie das tun wollen oder sollen.

Warum sollen sich Organisationen auf Gesundheitsförderung einlassen?

Dass Organisationen als spezifische Settings aus der Sicht von und für die Implementierung von Gesundheitsförderung interessant sind, lässt sich leicht begründen. Wie die die obigen Charakteristika aufzeigen, könnten Organisationen durch organisationale Maßnahmen prinzipiell einen beträchtlichen Beitrag zur Verbesserung der Gesundheit einer Bevölkerung leisten. Aus Sicht der Gesundheitsförderung interessiert deshalb hauptsächlich, wie Organisationen am besten Gesundheitsförderung betreiben können. Aus Sicht von Organisationen ist aber zunächst entscheidend, warum sie der Dimension oder dem Wert Gesundheit überhaupt Aufmerksamkeit schenken und eigene Ressourcen in Gesundheitsförderung investieren sollen. Inwiefern und inwieweit ist für Organisationen ein entsprechender „return on investment“ für Gesundheitsförderungsinitiativen zu erwarten? Warum sollen Organisationen das Kriterium gesundheitsförderlich/gesundheitsschädlich zusätzlich zu anderen (z. B. ökonomischen oder rechtlichen) Kriterien, die sie bereits verwenden, bei allen oder ausgewählten Entscheidungen zusätzlich einführen, und damit Entscheidungssituationen noch komplexer gestalten und eventuell auch zusätzliche Kosten bei der Implementierung der Entscheidungen riskieren?

Organisationen können aus zwei sehr unterschiedlichen Gründen in Gesundheitsförderung investieren: entweder, weil zweckrational mit der Anwendung von Gesundheitsförderungsmaßnahmen vorhandene Probleme des erfolgreichen organisationalen Überlebens (gut oder besser) gelöst werden können, also Gesundheitsförderung eine spezifische neue Ressource darstellt oder, weil wertrational mit Gesundheitsförderung neue Zielsetzungen erreicht werden können, also Gesundheitsförderung ein neues Sinnkriterium oder einen spezifischen Wert darstellt oder erfüllt.

Ob Gesundheitsförderungsmaßnahmen als geeignete Problemlöser akzeptiert werden, hängt u. a. davon ab, ob es ausreichende Evidenz dafür gibt, dass sie tatsächlich erprobte, d. h. effektive, effiziente und nachhaltige Mittel zur Lösung der entsprechenden Probleme darstellen. Damit Gesundheitsförderung zur Erfüllung neuer Sinnkriterien eingesetzt wird, ist ein entsprechender Wertewandel in der Organisation und ihrer relevanten Umwelt notwendig.

Wie können Organisationen die Gesundheitsförderung nachhaltig implementieren?

Unabhängig von Gesundheitsförderung mussten sich Organisationen in den letzten Jahrzehnten an ständige und zunehmend raschere Veränderungen ihrer relevanten Umwelten anpassen. Dazu wurde eine Reihe sich z. T. überschneidender, sich z. T. unterscheidender Transformationsstrategien für Organisationen entwickelt und erprobt:

  • Organisationsentwicklung [23, 36],

  • lernende Organisation [27, 37],

  • intelligente Organisation [14, 31],

  • virtuelle Organisation [10, 18],

  • „business reengineering“ [11, 12],

  • Qualitätsmanagement [3, 16].

Sie alle wenden entsprechende Techniken des (Veränderungs-)Projektmanagements [6, 13] an.

Grundprinzipien dieser Ansätze, wie adäquater Einbezug aller Beteiligten und Betroffenen in den Veränderungsprozess, decken sich mit wesentlichen Prinzipien der Gesundheitsförderung. Daher musste der Settingansatz keine eigene Methodologie erfinden, sondern konnte sich vorhandener Methoden und Techniken der Organisationsentwicklung und des Projektmanagements bedienen, um Organisationen in Richtung von mehr Gesundheitsförderlichkeit zu entwickeln. Wie auch für anders motivierte Veränderungen gilt dabei, dass (Infra-)Strukturen häufig leichter und schneller verändert werden können, da diese prinzipiell von wenigen entscheidbar sind, wenn auch evtl. mit beträchtlichen Investitionskosten, während neue Kulturen nicht von wenigen entschieden werden können, sondern von allen internalisiert werden müssen, was ziemlich lange dauern kann. Außerdem macht es häufig Sinn, sich nicht ausschließlich auf die Umgestaltung der eigenen Organisation zu konzentrieren, sondern gleichzeitig auch, am besten zusammen mit anderen in ähnlicher Interessenlage, daran zu arbeiten, die relevante Umwelt unterstützender für Gesundheitsförderung zu entwickeln.

Die unterschiedlichen Ansätze der Organisationsentwicklung stellen so eine Ressource für Gesundheitsförderung dar, gleichzeitig sind sie aber Konkurrenten um Aufmerksamkeit und Ressourcen für organisationale Veränderungen, da sich ihre Ziele nur bedingt mit den Zielen der Gesundheitsförderung decken. Wesentlich ist daher, die prinzipielle strategische Entscheidung einer Organisation für Gesundheitsförderung und die Einrichtung von ständigen Infrastrukturen für Gesundheitsförderung (in Form von Stabsabteilungen, Beauftragten, Budgets etc.) herbeizuführen, die eine kontinuierliche und nachhaltige Auseinandersetzung der Organisation mit ihren Auswirkungen auf Gesundheit garantieren. Da die Realisierung von Gesundheitsförderung aber ebenso wenig wie die von Qualität an Spezialisten delegiert werden kann, sondern in allen (Arbeits-)Routinen verankert sein und gelebt werden muss, bedarf es der Gesundheitsförderungsspezialisten, um dies zu unterstützen und sicherzustellen.

Nicht alle Organisationen sind bereit, derartig spezifisch zu investieren. So hat es sich z. B. im Rahmen des Netzwerkes Gesundheitsfördernder Krankenhäuser bewährt, die Gesundheitsförderung, die ja auch als ein Qualitätskriterium für Strukturen, Prozesse und Ergebnisse einer Organisation verstanden werden kann, in das Qualitätsmanagement von Krankenhäusern zu integrieren. Zu diesem Zweck wurden gesundheitsförderliche Strategien und Politiken definiert [24, 28, 29], Standards und Indikatoren entwickelt und angewandt [7, 8, 9] und in Modellprojekten eine Integration von Gesundheitsförderung in das EFQM-Modell bzw. die „balanced score card“ erprobt [21, 35].

Fazit für die Praxis

Mit dem Settingansatz hat die Ottawa-Charta eine Strategie für Gesundheitsförderung und Prävention begründet, die adäquat auf die komplexen und dynamischen Lebensverhältnisse in der spätmodernen Weltgesellschaft reagiert und auch prinzipiell gut anschlussfähig an andere Reformkonzepte für die in erster Linie betroffenen Organisationen und Gebietskörperschaften ist. Das zugrunde liegende Konzept von Gesundheit und von Gesundheitsförderung ist allerdings so komplex und voraussetzungsreich, dass es einer entsprechenden Operationalisierung bedarf, um in Organisationen tatsächlich umfassend und kontinuierlich implementiert werden zu können.

Die für die Implementierung des Settingansatzes notwendigen grundlegenden Methoden und Instrumente der Organisationsentwicklung liegen vor, sie müssen aber für Gesundheit als Zielwert und Gesundheitsförderung als Prozess durch spezifische Tools inhaltlich adaptiert, institutionalisiert und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Dazu sind Investitionen in dauerhafte Gesundheitsförderungsstrukturen in Organisationen und Netzwerken notwendig. Diese werden umfassend und ubiquitär nur dann erfolgen, wenn auch die Gesundheitspolitik auf entsprechende Prioritäten und „Incentives“ für Gesundheitsförderung in organisationalen Settings setzt. Es liegt bereits derzeit genug Evidenz für die Machbarkeit und Wirksamkeit des Settingansatzes vor, die seine politische Unterstützung rechtfertigt.