Bei der Adipositas handelt es sich um ein sehr heterogenes Zustandsbild, welches – fast – immer multifaktoriell („bio-psycho-sozial“) bedingt ist. D. h. es gibt nicht den Adipösen, sondern die Adipösen, sodass sich viele Aussagen über adipöse Menschen nur auf bestimmte Untergruppen beziehen könnten. Die einzelnen Faktoren, die besonders zur Entwicklung der Adipositas beitragen, sind genetische Prädisposition, das Lebensumfeld, der jeweilige Lebensstil usw., welche in individuell unterschiedlicher, meist komplexer Weise zusammen wirken. Auch wenn es sich bei der Adipositas nicht um eine psychische Erkrankung handelt, welche generell als minderwertige Krankheiten in der „Rangordnung von Krankheiten“ (N. Balint) gelten, teilt sie deren Schicksal, nämlich einerseits mit den Einschränkungen und Folgen der Krankheit selbst und andererseits mit der negativen Bewertung durch die Umwelt konfrontiert zu sein. So werden Übergewicht und Adipositas meist als selbstverschuldete Leiden, vor allem als Folge eines gestörten Essverhaltens und eines Mangels an Bewegung, eingestuft, also verursacht durch äußere Bedingungen, die als kontrollierbar angesehen werden [1]. Solche Kausalattributionen spielen bei der Entwicklung stigmatisierender Einstellungen gegenüber Menschen mit Adipositas eine Rolle, ohne dass aber die diesen Zuschreibungsprozessen zugrunde liegenden Vorannahmen genau bekannt sind [2]. Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts löste Körperfülle weitgehend positive Assoziationen aus, im Laufe der achtziger Jahre haben sich aber die Bewertungen übergewichtiger, besonders adipöser Menschen in negativer Richtung verschoben [3].

Die psychischen Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten, die bei Adipösen im Vergleich zu Normalgewichtigen gehäuft gefunden werden (z. B. Depressionen, soziale Phobien, Selbstwertprobleme), sind meist eher sekundärer Natur, d. h. die Folge der Adipositas und weniger die Ursache der Adipositas. Auch wirkt sich die Adipositas bei Kindern und Jugendlichen unterschiedlich auf die Betroffenen aus, wobei für die Auswirkungen die soziale Unterstützung, der sozioökonomische Status und Coping-Mechanismen eine entscheidende Rolle spielen.

Stigmatisierung

Ein Stigma ist der Sonderfall eines sozialen Vorurteils gegenüber bestimmten Personen, durch das diesen Personen negative Eigenschaften (z. B. abweichend, auffällig, beeinträchtigt) zugeschrieben werden [4]. Es handelt sich dabei typischer Weise um Eigenschaften, die von einer Mehrheit oder dem Ideal abweichen, wie etwa körperliche Besonderheiten (z. B. Übergewicht, Behinderung). Die Wahrnehmung des Merkmals ist dann mit Vermutungen über andere, vorwiegend unvorteilhafte Eigenschaften der Person gekoppelt (z. B. Passivität, gestörtes Essverhalten). Stigmatisierende Einstellungen gegenüber adipösen Menschen beinhalten vor allem Zuschreibungen negativer Bewertungen (z. B. faul, passiv, gefräßig) aufgrund des Übergewichts [5]. Gewichtsbezogene Diskriminierungserfahrungen sind dabei häufige Erfahrungen Adipöser in vielen Lebensbereichen (z. B. Arbeitsplatz, persönliche Beziehungen, Gesundheitswesen). Besonders junge Frauen, welche die typischen Stereotypien adipöser Individuen internalisiert haben, zeigen eine reduzierte psychische und psychosoziale Befindlichkeit [6].

Adipositas wird von einem Großteil der Bevölkerung, vor allem von den Normalgewichtigen, als Folge von chronischem Überessen angesehen. Überessen ist das Gegenteil von Askese. Während die Askese, die Enthaltsamkeit, in fast allen Religionen, vor allem in der christlichen Religion, als Zeichen der Beherrschung, der Selbstkontrolle, der Fähigkeit zu Verzicht u. a. m. angesehen wird, wird Überessen, besonders Völlerei, und oft damit verbunden Übergewicht als Zeichen von Maßlosigkeit, mangelnde Selbstbeherrschung, auch als Sünde angesehen, woraus häufig Insuffizienzgefühle und Gefühle des Versagt-habens entstehen, die wiederum – gelegentlich über kurzfristige Diäten – ein gestörtes Essverhalten und Essanfälle begünstigen.

Die Stigmatisierung, d. h. die Diskreditierung bestimmter Menschen durch andere Individuen mittels der Zuschreibung bestimmter negativer Merkmale und Eigenschaften [4], fördert einerseits Ausgrenzung und führt andererseits bei den Betroffenen häufig im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu einer Identifizierung mit den zugeschriebenen negativen Eigenschaften, wobei sich nicht selten das Selbstbild den Zuschreibungen sowie den Bedingungen ihrer sozialen Situation anpasst [4]. Es kommt zu Selbststigmatisierungen, welche weitgehend identisch und z. T. noch stärker ausgeprägt sind als die der Umwelt. Diese negativen Fremd- und Selbstbilder, Diskriminierungen (z. B. Hänseleien) und – wie oben erwähnt – Insuffizienzgefühle begünstigen wiederum in einem Circulus vitiosus ungünstige Coping-Strategien wie sozialen Rückzug, weniger Bewegung bzw. geringere sportliche Aktivitäten, aber auch gestörtes Essverhalten wie Frustessen und Essanfälle.

Dicksein wird generell mit negativen Eigenschaften der betreffenden Personen assoziiert, wobei die Assoziationen verschiedene Ebenen berühren wie das Sozialverhalten (faul, Leistung verweigernd), kognitive Fähigkeiten (dumm, wenig Coping-Strategien), Persönlichkeitsstruktur (geringe Selbstkontrolle, willensschwach), Aussehen (unattraktiv). Diese Diskriminierung ist nicht in allen Gesellschaftsschichten gleich ausgeprägt. Meist ist sie in niedrigen sozioökonomischen Schichten weniger stark vorhanden, was einerseits das Problem der Ausgrenzung und Abwertung vermindert, andererseits die Motivation schwächt, gegen das Übergewicht anzukämpfen. Diese sozialschichtspezifischen Unterschiede sind bei Männern sehr viel geringer ausgeprägt als bei Frauen. Menschen aus niedrigen sozioökonomischen Gesellschaftsschichten sind außerdem meist mit einer Fülle anderer Probleme in verschiedenen Lebensbereichen konfrontiert. Deshalb hat das Übergewicht, auch bei Kindern und Jugendlichen, in der Hierarchie der zu bewältigenden Alltagsprobleme oftmals keine Priorität [7].

Eine Repräsentativerhebung deutscher Bundesbürger betreffs der Einstellung gegenüber adipösen Menschen zeigte, das etwa ein Viertel explizite stigmatisierende Einstellungen zu diesen haben und mehr als die Hälfte stigmatisierenden Einstellungen nicht widersprechen [8]. Eine amerikanische Studie belegt, dass Adipöse die schlimmsten Stigmatisierungen durch enge Bezugspersonen (Freunde, Eltern, Ehepartner) erleben [9].

Eine negative Einschätzung Adipösen gegenüber findet man nicht nur bei den Normalgewichtigen, auch übergewichtige Personen haben überwiegend eine negativere Meinung von Übergewichtigen, woraus sich großteils das niedrige Selbstwertgefühl und das negative Körperbild besonders junger adipöser Erwachsener erklären lässt [10]. Mit zunehmendem Körpergewicht nehmen auch psychische Auffälligkeiten zu, vor allem Selbstwertprobleme im Sinne eines negativen Selbstkonzeptes im Bereiche der körperlichen Aktivität und Attraktivität [11].

Adipöse Menschen sind auch im Gesundheitswesen nicht gerne gesehen, und dies sowohl bei den Ärzten als auch den Psychotherapeuten:

  • Ärzte weisen adipöse Patienten nicht selten in abwertender Weise darauf hin, dass sie „einfach zu dick“ sind. Ein solcher Hinweis stellt für den Adipösen aber keine neue hilfreiche Erkenntnis dar, sondern erhöht nur das Gefühl von Scham und fördert eher Vermeidungsverhalten. D. h. Stigmatisierung und Diskriminierung gefährden eher die Gesundheit und untergraben effektive Interventionsstrategien gegen die Adipositas.

  • Psychotherapeuten haben oft nur wenig Erfahrung mit Adipösen und unterstellen häufig dahinter liegende massive seelische Konflikte („genito-orale Verschiebung“), Willensschwäche, mangelnde Selbstkontrolle und Motivationsschwäche („adipös = adibös“).

Da ein Großteil der Stereotypien und Diskriminierungen adipöser Menschen auf wenig Wissen über die Ätiologie und Pathogenese der Adipositas beruhen, sind entsprechende Aufklärungskampagnen zur Reduzierung stigmatisierender Haltungen sinnvoll.

Body Image, Körperunzufriedenheit

Der Körper wird in der Gesellschaft als Beleg der individuellen Fähigkeit zur Selbstkontrolle, Eigenverantwortlichkeit und Leistungsbereitschaft gesehen und als sozialer Ausdruck dafür, ob die betreffende Person die gesellschaftlichen Erwartungen erfüllt oder nicht [7]. Unter Körperbild (= Body image) versteht man den psychologisch-phänomenologischen Teilbereich der Körpererfahrung; er umfasst alle emotional-affektiven Leistungen des Individuums bezüglich des eigenen Körpers [12]. Es ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers, das Vorstellungsbild, das jedes Individuum von sich selber hat. Das Körperbild beeinflusst stark das Selbstbild des Individuums und umgekehrt. Als Körperbildstörung wird ein vom Individuum definierter Belastungszustand bezeichnet, der zeigt, dass der Körper nicht mehr länger das Selbstwertgefühl einer Person unterstützt, sondern sich störend auf eine Person auswirkt, indem er ihre sozialen Beziehungen begrenzt (z. B. sozialer Rückzug). Menschen regulieren ihren Selbstwert auch durch den Vergleich mit anderen. Übergewichtige vergleichen sich auch stark mit anderen Menschen und stellen fest, dass sie körperlich üppiger sind und nicht den sozialen Erwartungen entsprechen. Daraus schließen nicht wenige Übergewichtige selbst und die soziale Umwelt auf eine mangelnde soziale Kompetenz (Dicksein = Versagen).

Besonders in der westlichen Gesellschaft besteht ein ausgeprägtes Jugend- und Schönheitsideal, wobei Schlankheit mit Attraktivität und Dicksein mit Hässlichkeit weitgehend gleichgesetzt werden. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Körpergewicht, Körperunzufriedenheit und Selbstwertgefühl. Übergewicht löst bei den Betroffenen schon in der Kindheit und Jugend einen starken Leistungsdruck aus und ist meist verbunden mit Scham und sozialem Rückzug. Viele, aber nicht alle adipösen Personen leiden unter einer Körperbildstörung [13]. Adipöse, die häufig einer negativen Beurteilung wegen ihres Übergewichts ausgesetzt sind, scheinen besonders stark betroffen zu sein.

Zufriedenheit mit sich selber, also das Einverstanden-Sein mit den gegebenen Verhältnissen bzw. die weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Ist-Zustand und dem Soll-Zustand hängt nur bis zu einem bestimmten Grad vom Körpergewicht ab. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körpergewicht und damit meist verbunden mit dem Aussehen führt häufig zu einer Veränderung des Essverhaltens, meist zu einem gezügelten oder kontrollierten Essen [3], kann aber auch Frustration und Verhaltensweisen begünstigen, die Übergewicht eher fördern (z. B. körperliche Passivität).

Studien adipöser Frauen haben gezeigt, dass die Zunahme adipöser Menschen in den letzten Jahrzehnten nicht zu einer größeren Akzeptanz bzw. nicht zu einer Verminderung der Stigmatisierung Adipöser in der Gesellschaft geführt hat [14]. Besonders Mädchen und Frauen erleben sich durch ihr Übergewicht stärker sozial ausgegrenzt und als Opfer von Hänseleien und negativer Stereotypien. Für die Aufrechterhaltung der negativen Körperbilder spielen die Medien, vor allem die Modejournale und Fernsehsendungen, eine nicht unbedeutende Rolle. Frauen, welche häufig einschlägige Zeitschriften lesen, finden ihren Körper fetter und haben eine negativere Assoziation bezüglich ihres Aussehens als Frauen, die solche Zeitschriften nicht lesen [15].

In einer eigenen Studie von operierten morbid adipösen Frauen konnte gezeigt werden, dass viele Adipöse auch sexuelle Probleme aufweisen, die vor allem das Resultat des geringen Selbstwertgefühls, der Fremd- und Selbststigmatisierung und unbefriedigender Partnerschaften sind [16].