Zusammenfassung
Die Anzahl alter Patienten nimmt auch in der Notfallmedizin stetig zu. Hierbei gilt es, Besonderheiten in der Diagnostik und Therapie älterer Patienten zu kennen, um so Fehleinschätzungen vermeiden zu können. Am Fallbeispiel einer 82-jährigen Patientin mit einer Pneumonie werden einige dieser Besonderheiten im Umgang mit betagten Patienten vertieft. Neben der Anamneseerhebung, wird auf bestimmte Symptome wie Dyspnoe und Delir ebenso wie auf diagnostische Besonderheiten wie die Bewertung von Körpertemperatur und Laborwerten eingegangen.
„Geriatrics... is a term... to cover the same field in old age that is covered by the term pediatrics in childhood...“ Ignatz Leo Nascher (1863–1944).
Abstract
The number of elderly patients is constantly increasing in emergency medicine. It is important to be familiar with the particularities of the diagnostics and treatment of elderly patients in order to prevent incorrect assessments. Some of these particularities in the treatment of geriatric patients will be discussed in greater detail based on the example of an 82-year-old female patient with pneumonia. In addition to the compilation of the medical history, certain symptoms such as dyspnoea and delirium will be addressed, as will diagnostic pitfalls such as the assessment of body temperature and laboratory values.
“Geriatrics... is a term... to cover the same field in old age that is covered by the term pediatrics in childhood...” Ignatz Leo Nascher (1863–1944).
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Lernziele
Nach Lektüre dieses Beitrags
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sind Ihnen die Besonderheiten in der Anamnese älterer Patienten bekannt,
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können Sie die Bedeutung des Delirs als Symptom einer zugrunde liegenden Problematik einschätzen,
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sind Sie in der Lage, den Unterschied zwischen kalendarischem und biologischem Alter aufzuzeigen,
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können Sie die Bedeutung der Körpertemperatur beim alten Patienten im Zusammenhang mit Infekten beurteilen,
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können Sie die Bedeutung von Biomarkern in der Differenzialdiagnose der Dyspnoe begründen.
„Geriatrics... is a term... to cover the same field in old age that is covered by the term pediatrics in childhood...“ Ignatz Leo Nascher (1863–1944, [1])
Klinischer Fall (Teil 1)
Frau M., eine 82-jährige Patientin, war im betreuten Wohnen gestürzt. Sie wurde am Morgen vom Pflegepersonal auf dem Boden des Schlafzimmers liegend aufgefunden. Bei der Patientin waren keine äußeren Verletzungen vorhanden. Da sie jedoch aufgrund von Schmerzen im Rücken und an der Hüfte nicht aufstehen konnte, wurde der Rettungsdienst alarmiert.
Eine Anamneseerhebung war bei der verwirrt wirkenden Patientin nur eingeschränkt möglich. Das Pflegepersonal erwähnte, dass die Patientin bereits am Morgen vor dem Sturz wesensverändert gewesen sei. Zudem habe sie in den letzten Tagen vermehrt gehustet. Von der Patientin wurde angegeben, dass der Husten „mit dem Alter gekommen sei“. Der Blutdruck lag bei 135/85 mmHg, der Puls bei 68/min, der Blutzucker betrug 72 mg/dl und die periphere Sauerstoffsättigung 93% (Abb. 1). Die in den Heimunterlagen vorhandenen Informationen über Medikation und Nebenerkrankungen konnten aus zeitlichen Gründen nicht direkt an den Rettungsdienst übergeben werden und sollten zu einem späteren Zeitpunkt direkt an die Klinik gefaxt werden.
Die Patientin wurde in die unfallchirurgische Notaufnahme eingeliefert. Die körperliche Untersuchung zeigte außer trockenen Schleimhäuten und beidseitigen, leichten Knöchelödemen keine Auffälligkeiten. In der Röntgenuntersuchung konnte keine Fraktur nachgewiesen werden. Aufgrund der Verwirrtheit der Patientin bei unbekannter Vormedikation und Zustand nach einem Trauma wurde zusätzlich eine Computertomographie (CT) des Schädels durchgeführt, welche einen altersentsprechenden Befund ergab.
Anschließend wurde die Patientin nach der Durchführung eines Elektrokardiogramms (EKG) und der Abnahme von Blutwerten mit der Diagnose einer Dehydratation auf die Innere Medizin – Akutgeriatrie verlegt. Die Blutwerte wurden direkt an die Station versandt. In der Aufnahmeuntersuchung auf der akutgeriatrischen Station, welche mit einer zeitlichen Verzögerung erfolgte, zeigte sich die Patientin in einem deutlich reduzierten Allgemeinzustand. Sie war zunehmend agitiert und klagte über Dyspnoe, der Blutdruck nach Riva Rocci (RR) betrug 160/95 mmHg, die Herzfrequenz 100/min, die Atemfrequenz 21/min, und rektal wurde eine Temperatur von 37,6°C gemessen. Bei der Auskultation der Lunge fielen Rasselgeräusche über dem rechten Unterlappen auf. Der in der Zwischenzeit eingetroffene Laborbefund zeigte eine grenzwertige Leukozytenzahl (9800 × 109/l) bei ansonsten unauffälligem kleinem Blutbild.
Aufgrund der Dyspnoe und des klinischen Untersuchungsbefundes (Auskultation der Lunge und Knöchelödeme) bei fehlenden Entzündungszeichen wurden zunächst eine diuretische Therapie eingeleitet und ein Röntgenbild des Thorax angefordert. Zeitgleich wurden weitere Laborparameter inklusive NTpro-BNP (N-terminales „pro brain natriuretic peptide“) und CRP (C-reaktives Protein) nachbestimmt [NTpro-BNP < 200 pg/ml, CRP: 78 mg/l (Norm: < 10 mg/l)]. Das Röntgenbild bestätigte den Verdacht einer rechtsseitigen Unterlappenpneumonie . Mit einer antibiotische Therapie wurde 4 h nach dem Eintreffen in der Klinik begonnen.
Der dargestellte Fall beinhaltet eine Vielzahl von Besonderheiten des älteren Patienten, welche für die notfallmedizinische Versorgung von großer Relevanz sind. Im Folgenden sollen einige Aspekte vertieft werden.
Besonderheiten in der Anamnese älterer Patienten
Eigenanamnese
Viele ältere Notfallpatienten können gute Angaben zu ihrer Eigenanamnese machen. Allerdings ist die Anamneseerhebung bei diesem Patientenkollektiv aufgrund der multiplen Komorbiditäten und funktioneller Einschränkungen , wie einem verminderten Hör- oder Sehvermögen, häufig mit einem hohen zeitlichen Aufwand verbunden.
Wichtig ist, soweit es die aktuelle Situation erlaubt, optimale Bedingungen für eine Anamnese zu schaffen. Erforderliche Hilfsmittel, wie Brille oder Hörgerät, sollten sich am Patienten befinden und mit in die Notaufnahme gebracht werden. Eine weitere Schwierigkeit bei der Anamneseerhebung besteht darin, dass häufig von den Patienten lediglich unspezifische Beschwerden angegeben werden. Dies liegt zum einen daran, dass Symptome von den Patienten verspätet wahrgenommen oder, wie im oben genannten Beispiel der Husten, als altersbedingt abgetan und somit nicht erwähnt werden [2]. Dies birgt die Gefahr einer Fehleinschätzung der Behandlungsdringlichkeit sowie den Verlust wichtiger Informationen. In etwa der Hälfte der betagten Patienten, welche sich mit unspezifischen Symptomen in einer Notaufnahme vorstellen, kann im weiteren Verlauf eine Diagnose gestellt werden, welche eine rasche Therapieeinleitung erforderlich macht [3].
Fremdanamnese
Bei kognitiv eingeschränkten Patienten sind fremdanamnestische Angaben durch Angehörige oder Pflegepersonal häufig sehr hilfreich. Hierbei sollte auch auf Angaben hinsichtlich des vorbestehenden kognitiven und funktionellen Status des Patienten geachtet werden. Dies kann z. B. bei verwirrten Patienten helfen, zwischen einer Demenz und einem deliranten Zustand mit oder ohne zugrunde liegender demenzieller Entwicklung zu unterscheiden und somit auf eine Notfallsituation hinweisen.
Häufig sind es Kleinigkeiten, welche wichtige Informationen für das weitere Patientenmanagement darstellen. Die Aussage der Pflegekräfte des Altenheimes, dass Frau Meyer bereits „am Morgen vor dem Sturz wesensverändert“ gewesen sei und sie die Patientin noch nie in einem solchen Zustand gesehen hätten, wies darauf hin, dass es sich bei der Patientin um einen neu aufgetretenen Verwirrtheitszustand handelte, dessen Ursache nicht in dem Sturzereignis begründet war.
Vorerkrankungen und Medikation sind ebenfalls wichtige Informationen, welche im Management und der Risikoabschätzung älterer Patienten eine große Rolle spielen. Patienten über 75 Jahre sind häufig multimorbide, d. h. sie leiden durchschnittlich an 3 + x verschiedenen Begleiterkrankungen. In direktem Zusammenhang hiermit steht die Einnahme multipler Medikamente: Geriatrische Patienten nehmen im Durchschnitt 8 verschiedene ärztlich verordnete Substanzen sowie 3 bis 4 frei verkäufliche Medikamente ein [4]. Dies geht mit einer großen Anzahl potenzieller Wechsel- und Nebenwirkungen einher. Bis zu 12% aller Krankenhausaufenthalte sind auf medikamentöse Neben- und Wechselwirkungen zurückzuführen [5]. Diese Tatsache unterstreicht die Wichtigkeit aktueller Informationen über die häusliche Medikation. Auch können Angaben zur Vorgeschichte des Patienten, wie eine palliative Situation , das Patientenmanagement bereits in der Primärversorgung komplett verändern.
Allerdings ist es häufig nur schwer zu realisieren, dass ausführliche Informationen von Pflegeheimen oder Hausärzten und besonders schriftliche Informationen zu ethischen Fragen bereits bei Eintreffen des Patienten in der Notaufnahme vorliegen.
Bedeutung des biologischen Alters
Altern ist ein kontinuierlicher Vorgang. Hierzu gibt es verschiedene Definitionen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert den älteren Patienten ab einem Alter von 65 Jahren [6]. Diese Einteilung bezieht sich allerdings rein auf das chronologische Alter . In Deutschland ist der geriatrische Patient ab einem Alter von 70 Jahren (und Multimorbidität) bzw. 80 Jahren definiert (Infobox 1, [7]). Gerade ältere Patienten unterscheiden sich allerdings stark in ihrer Funktionalität. Es gibt Menschen, die sich trotz eines hohen Alters komplett selbstständig versorgen, andere sind auf die Unterstützung durch Dritte angewiesen.
Die Funktionalität eines älteren Patienten steht nicht nur in direktem Zusammenhang mit seiner Genesung, sondern ist auch für therapeutische Entscheidungen von Relevanz. Als ein Beispiel hierfür sei die Behandlung bestimmter Frakturen abhängig vom funktionellen Status des Patienten genannt. So ist es auch in der Notfallmedizin wichtig, neben dem chronologischen auch das biologische Alter eines Patienten zu kennen.
Im englischen Sprachraum werden ältere Patienten häufig nach ihrer Funktionalität in „go-go’s“, „slow-go’s“ und „no-go’s“ eingeteilt [8]. Die Beurteilung und Beschreibung des biologischen Alters eines Patienten helfen, Fehleinschätzungen zu vermeiden und dem Patienten die richtige Diagnostik und Therapie zukommen zu lassen.
Das Delir – ein medizinischer Notfall
Definition/Abgrenzung zur Demenz
Bei einem Delir handelt es sich im Gegensatz zum Vorhandensein einer demenziellen Erkrankung um eine akut aufgetretene Verwirrtheit, welche prinzipiell reversibel ist und einen lebensbedrohlichen Notfall darstellt.
In der Delirentstehung wird zwischen begünstigenden (Infobox 2) und auslösenden Faktoren unterschieden (Infobox 3). Obwohl eine vorhandene Demenz einen starken Risikofaktor für die Entstehung eines Delirs darstellt, darf keinesfalls davon ausgegangen werden, dass jeder ältere delirante Patient an einer Demenz erkrankt ist.
Bei einer Demenz handelt es sich immer um ein chronisches Krankheitsbild (Definition: Dauer > 6 Monate). Eine akute Demenz existiert nicht, allenfalls kann es sich um ein Delir im Rahmen einer demenziellen Erkrankung handeln. Die Unterscheidungskriterien hierzu sind in Tab. 1 dargestellt.
Ein Delir ist ein Syndrom, welches auf eine andere zugrunde liegende Problematik hinweist. Häufig ist bei älteren Patienten, wie auch im Fall von Frau M., ein Delir das erste und einzige Anzeichen einer ernsthaften, lebensbedrohlichen Erkrankung. Ein Delir ist neben dem Risiko eines verlängerten Krankenhausaufenthalts sowie einem Verlust der Funktionalität, deren Erhalt für ältere Patienten höchste Priorität hat, auch mit einer deutlich erhöhten Mortalität vergesellschaftet [9, 10]. Das Delir ist ein hochakuter medizinischer Notfall, die Klinikaufnahme und die sorgfältige Ursachenabklärung sind unerlässlich.
Häufigkeiten
Delirante Zustandsbilder treten Literaturangaben zufolge bei etwa 10–16% der Patienten in einer Notaufnahme auf [11]. Trotz dieser hohen Prävalenz werden delirante Patienten in der Notaufnahme, ohne Zuhilfenahme eines Screeninginstruments, in etwa 75% der Fälle nicht erkannt [11]. Dies liegt zum einen daran, dass das Syndrom aufgrund seines häufigen Auftretens nicht als gefährlich wahrgenommen wird, zum anderen an den verschiedenen Subtypen des Delirs (hyperaktiv, hypoaktiv, fluktuierende Mischformen).
Diagnostik
Besonders das hypoaktive Delir, welches die höchste Prävalenz aufweist, ist schwer zu diagnostizieren.
Die Diagnosekriterien eines Delirs sind im DSM-IV („Statistical Manual of Mental Disorders“) wiedergegeben (Infobox 4). Umgangssprachlich wird häufig von einem Durchgangssyndrom oder einem „Patienten im Durchgang“ gesprochen. Diese Begriffe sollten allerdings bei Vorhandensein klarer Diagnosekriterien keinesfalls verwendet, sondern es sollte einheitlich von einem Delir gesprochen werden.
Hyperaktiv delirante Patienten sind psychomotorisch aktiv, häufig agitiert, teilweise auch aggressiv. Oft fallen sie dadurch auf, dass sie versuchen, Katheter zu entfernen, sich unaufgefordert entkleiden oder das Krankenbett/die Patiententrage verlassen.
Hypoaktiv delirante Patienten verhalten sich eher ruhig, wirken verlangsamt, manchmal sogar apathisch. Oft zeigt sich die Verwirrtheit bei ihnen erst in einem längeren Gespräch und kann beim Stellen einfacher Fragen, welche mit ja oder nein zu beantworten sind, leicht übersehen werden. Dies erklärt die Schwierigkeiten in der Diagnosestellung und den hohen Prozentsatz undiagnostizierter Delirpatienten, welcher zum überwiegenden Teil durch hypoaktiv delirante Patienten bedingt ist. Von großer Wichtigkeit ist deshalb die Anwendung eines geeigneten Screeninginstruments , z. B. zur Erkennung des Delirs.
Für das Assessment eines Delirs existieren verschiedene validierte Instrumente, wie
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die CAM („confusion assessment method“) oder
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das DOS („delirium observation screening“) [12].
Die CAM (adaptiert nach [13, 14]) ist das am häufigsten in Klinik und Forschung verwendete Instrument und zudem aufgrund der Praktikabilität (Zeitaufwand etwa 5 min) für notfallmedizinische Patienten am ehesten geeignet. Sie beinhaltet 4 Aspekte, welche im Wesentlichen die Diagnosekriterien des DSM-IV (Infobox 4) wiedergeben. Sind Punkt 1 und 2 sowie entweder Punkt 3 oder 4 vorhanden, sind die Kriterien eines Delirs erfüllt. Prinzipiell sollte der CAM-Score bei jedem älteren Patienten angewendet werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf Patienten mit zusätzlichen Risikofaktoren gelegt werden sollte. Hierzu gehören Patienten mit einer vorbestehenden demenziellen Entwicklung und solche mit funktionellen Einschränkungen wie Schwerhörigkeit, Einschränkungen der Sehkraft und der Mobilität.
Wird bei einem Patienten ein Delir diagnostiziert, ist rasch nach möglichen zugrunde liegenden Ursachen zu suchen. Neben Infekten, zerebralen, respiratorischen, kardialen und metabolischen Gründen können auch Schmerzen Auslöser sein. Häufig liegen einem Delir jedoch mehrere Ursachen gleichzeitig zugrunde. Einer der häufigsten Gründe des Delirs bei betagten Patienten sind medikamentöse Neben- oder Wechselwirkungen. Hier kann, wie bereits erwähnt, eine genaue Erhebung der aktuellen Medikation zielführend sein [15].
Auch sollte, wie im Fall von Frau M., bei jedem Patienten mit einem Trauma und einer neu aufgetretenen Verwirrtheit eine zerebrale Bildgebung erfolgen. Viele Ursachen eines Delirs erfordern eine schnelle Behandlung , da jede Therapieverzögerung mit einer Verschlechterung des Behandlungsergebnisses einhergeht. Oft ist, wie bei Frau M., ein Delir eines der ersten Zeichen der zugrunde liegenden Erkrankung oder Verletzung und somit ein wichtiges Symptom beim älteren Notfallpatienten.
Symptomarmut und -wandel bei älteren Patienten
Akute Erkrankungen äußern sich bei einer Vielzahl betagter Patienten durch die in Büchern beschriebene typische Symptomatik. Allerdings gibt es Symptome, welche bei älteren Patienten teilweise gar nicht oder nur in abgeschwächter Form zu finden sind. Die Ursachen hierfür sind zum einen durch strukturelle und physiologische Alterungsprozesse, zum anderen iatrogen, z. B. durch die Einnahme bestimmter Medikamente (Herzfrequenz – β-Blocker), bedingt.
Fieber
Fieber, eines der Kardinalsymptome einer Infektion und nach wie vor eines der Hauptsymptome in der Notaufnahme, fehlt zu Beginn einer Infektion bei alten Patienten in etwa 20–30%der Fälle [16]. Dies spielt auch insofern eine Rolle, da Fieber nicht nur ein Symptom, sondern auch einen wichtigen Abwehrmechanismus darstellt.
Fieber ist definiert als eine Temperatur von mindestens 37,8°C/100°Fahrenheit, oral gemessen [17]. Meist wird jedoch leider die tympanale Temperatur von 38,2°C als Grenzwert zum Nachweis einer Infektion zugrunde gelegt, obwohl durchaus bekannt ist, dass altersphysiologische Veränderungen auch die Temperaturregulation betreffen können [18].
Auch Frau M. aus unserem Fallbeispiel hatte bei der Aufnahme trotz einer Pneumonie eine Körpertemperatur von 37,5°C rektal. Eigene, bisher unveröffentlichte, Daten weisen darauf hin, dass die rektale Temperaturmessung bei älteren Patienten in der Notaufnahme besser mit der Körperkerntemperatur korreliert als herkömmliche Messverfahren. Ein Herabsetzen des Schwellenwerts auf 37,2°C führt deutlich häufiger zum Erkennen einer Infektion beim älteren Patienten [19]. Die mittlere Körpertemperatur und damit auch der Fieberanstieg liegen im höheren Lebensalter um 1,1°C niedriger, was bei Männern deutlicher ausgeprägt ist als bei Frauen [20].
Ältere Menschen besitzen eine tiefere Basaltemperatur [21], daher sollte bei ihnen das in Infobox 5 dargestellte Vorgehen zugrunde gelegt werden, um eine Infektsuche zu initialisieren[22].
Durch das Vorhandensein einer normalen oder nur leicht erhöhten Körpertemperatur kommt es bei betagten Patienten oft zu einer verzögerten Diagnosestellung. Allerdings spielt gerade bei der Behandlung von Infektionen der Zeitpunkt der antimikrobiellen Therapie eine entscheidende Rolle und steht in direktem Zusammenhang mit der Sterblichkeit [23]. Für die klinische Arbeit ist es zudem wichtig, zu wissen, dass die Körpertemperatur betagter Patienten aufgrund der oben beschriebenen physiologischen Veränderungen auch bei schweren Infektionen niedriger ist als bei jüngeren Erwachsenen [24]. Eine hohe Körpertemperatur bei alten Patienten ist daher eher mit einer schwerwiegenden viralen oder bakteriellen Infektion assoziiert als bei jungen Patienten.
Diese Hintergrundinformationen sollten beim Umgang mit betagten Patienten auch in diagnostische Entscheidungen mit einbezogen werden.
Diagnostische Besonderheiten im Alter
Oft ist bei Atemwegsinfekten die akute Atemnot das führende Symptom und erschwert durch seine Unspezifität die Diagnosestellung. Eine akute Dyspnoe kann auf viele pulmonale oder extrapulmonale Erkrankungen hinweisen. Gerade bei älteren Patienten, welche zu einem hohen Prozentsatz an einer chronischen Herzinsuffizienz leiden, ist es häufig schwierig, zwischen einer akuten Dekompensation oder einer bereits bestehenden Atemwegsinfektion zu differenzieren. Oft liegen auch beide Diagnosen zugrunde bzw. bedingen sich gegenseitig.
Hilfreich ist hier der Einsatz von Laborparametern , bei deren Interpretation es wichtig ist, Besonderheiten des alten Patienten mit einzubeziehen. Beispielhaft hierfür sei ein weiteres Symptom einer Infektion, nämlich ein Anstieg der Leukozyten genannt. Wie auch im Beispiel von Frau M. dargestellt, ist eine ausgeprägte Leukozytose aufgrund altersphysiologischer Veränderungen des Immunsystems bei betagten Patienten häufig fehlend oder nur leicht ausgeprägt vorhanden. Bei den übrigen Laboranalysen, wie dem C-reaktiven Protein ist zu beachten, dass auch dieses häufig im Rahmen einer Infektion kaum oder nur mit einer beachtlichen zeitlichen Latenz ansteigt.
Durch dieses häufige Fehlen klassischer Infektzeichen wie Fieber, Leukozytose und einem deutlichen Anstieg des C-reaktiven Proteins bei alten Patienten wird der Behandlungstrigger für eine Infektion oft nicht oder nur verspätet ausgelöst.
Da die richtige Deutung des Leitsymptoms Atemnot für den Verlauf entscheidend ist und eine Unterscheidung zwischen kardialer und pulmonaler Ursache getroffen werden muss, um die richtige Initialtherapie schnell einleiten zu können, ist die Anwendung von Biomarkern hilfreich. Diese korrelieren mit der zugrunde liegenden Erkrankung und deren Schweregrad, haben einen prognostischen Wert, sind einfach bestimmbar und werden von Geschlecht, Alter und Körperkonstitution kaum beeinflusst. So können initial fehlerhaft getroffene Entscheidungen in der Notaufnahme, welche zu einer falschen Therapie und nachfolgend schlechteren Prognose für die Patienten führen, vermieden werden. Prokalzitonin bietet sich als Biomarker zur verlässlichen Detektion einer bakteriellen Infektion beim älteren Patienten an, um durch diese Intensivierung der Diagnostik Risikopatienten zu identifizieren und rasch und richtig die individuelle Initialtherapie beginnen zu können [25].
Nicht nur bei der Bewertung von Laborparametern, sondern auch bei der radiologischen Diagnostik können bei älteren Patienten Besonderheiten auftreten, welche die Befundinterpretation erschweren. Da dieses Patientenkollektiv häufig an multiplen Komorbiditäten leidet, geben radiologische Veränderungen der Lunge nicht immer den akuten Status wieder [26]. Bei Patienten mit mehreren Komorbiditäten können infiltrative Veränderungen der Lunge über Monate hinweg persistieren, sodass in der Akutsituation die Zugehörigkeit der radiologischen Veränderungen häufig nicht eindeutig geklärt werden kann.
Klinischer Fall (Teil 2)
Frau M., die Patientin aus dem Fallbeispiel (s. oben), wurde aufgrund ihrer ambulant erworbenen Pneumonie gemäß den Empfehlungen für 6 Tage mit Amoxicillin/Clavulansäure und Clarithromycin erfolgreich behandelt. Die Exsikkose wurde durch eine Volumensubstitution behoben. Unter diesen Maßnahmen besserten sich Vigilanz und Kognition rasch. Idealerweise hätte die antibiotische Behandlung bereits in der Notaufnahme begonnen werden sollen, um das therapiefreie Intervall zu verkürzen.
Der weitere stationäre Verlauf gestaltete sich komplikationslos. Frau M. konnte ohne weitere funktionelle Defizite in das betreute Wohnen zurück entlassen werden.
Fazit für die Praxis
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In der vorantibiotischen Ära bedeutete, an Altersschwäche zu sterben, in der Regel das Versterben an einer Pneumonie.
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Da heutzutage wirksame antimikrobielle Substanzen zur Verfügung stehen, ist es umso wichtiger, zeitnah die richtige Diagnose zu stellen und rasch die korrekte Initialtherapie zu beginnen.
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Im Hinblick auf geriatrische Patienten, welche zunehmend das Klientel in allen Versorgungsstufen der Akutmedizin sein werden, bedeutet dies
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eine korrekte Anamnese zu erheben,
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Symptome wie akute Verwirrtheit, Atemnot und altersphysiologische Veränderungen der Laborwerte und Körpertemperatur richtig zu deuten und
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mit dieser Expertise Sekundärkomplikationen oder gar tödliche Krankheitsverläufe zu verhindern.
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CME-Fragebogen
Wie viele ärztlich verschriebene Medikamente nehmen geriatrische Patienten im Durchschnitt ein?
Sie nehmen keine Medikamente ein.
Sie nehmen 1 bis 2 Medikamente ein.
Sie nehmen 3 bis 4 Medikamente ein.
Sie nehmen 5 bis 6 Medikamente ein.
Sie nehmen mehr als 6 Medikamente ein.
Welche Aussage zur Funktionalität älterer Patienten trifft zu?
Das chronologische Alter ist dem biologischen Alter gleichzusetzen.
Als sog. „slow-go’s“ werden Patienten mit einer sehr guten Funktionalität bezeichnet.
Besonders ältere Patienten unterscheiden sich kaum hinsichtlich ihrer Funktionalität.
Die Funktionalität eines Patienten steht in direktem Zusammenhang mit dem Outcome.
Die Alterseinteilung der World Health Organisation (WHO) nimmt Bezug auf die Funktionalität eines Menschen.
Welches, nur 5 min dauernde, Screeninginstrument eignet sich am ehesten zur Erkennung eines Delirs in der Notaufnahme?
„Confusion assessment method“ (CAM-Score)
„Mini mental status examination“ nach Folstein (MMSE)
„Delirium observation scale“ (DOS)
Uhrentest nach Shulman
„Identification of seniors at risk“ (ISAR)
Was ist eine der häufigsten Ursachen in der Delirentstehung bei betagten Patienten?
Immobilität
Hohes Alter per se
Medikamentöse Neben- oder Wechselwirkungen
Vorbestehende demenzielle Entwicklung
Zerebrale Blutungen
Welches Charakteristikum spricht bei einer Verwirrtheit am ehesten für das Vorhandensein eines Delirs?
Kontinuierlicher Verlauf
Akuter Beginn
Normale Aufmerksamkeit
Klares Bewusstsein
Unauffällige Psychomotorik
In wie viel Prozent der geriatrischen Patienten fehlt Fieber als eines der Kardinalsymptome zu Beginn einer Infektion?
< 2%
< 10%
20–30%
> 50%
Nahezu 100%
Wie ist Fieber definiert?
Körpertemperatur von 37,8°C, tympanal gemessen
Körpertemperatur von 38,5°C, rektal gemessen
Körpertemperatur von 39,0°C, oral gemessen
Körpertemperatur von 37,5°C, tympanal gemessen
Körpertemperatur von 37,8°C, oral gemessen
Bei welcher Körpertemperatur ist eine Infektsuche beim alten Menschen indiziert?
3 Messwerte > 37,8°C bei mehrmaliger Messung
2 oder mehr Messwerte > 37,2°C bei mehrmaliger Messung
1 Messwert > 37,2°C bei einmaliger Messung
Abfall der Köpertemperatur um mehr als 1,1°C gegenüber dem Basalwert
1 Messwert > 38,5°C bei einmaliger Messung
Welches Symptom ist bei Infekten des betagten Patienten regelhaft vorhanden?
Schmerzen
Leukozytose
Fieber
Hoher CRP-Anstieg
Kein Symptom ist regelhaft vorhanden.
Welche Besonderheiten sind bei der Anamneseerhebung betagter Patienten zu beachten?
Symptome werden von den Patienten oft durch das Alter erklärt und daher nicht erwähnt.
Symptome werden von den Patienten meist sehr früh wahrgenommen und detailliert beschrieben.
Die Angabe unspezifischer Symptome deutet auf eine geringe Erkrankungsschwere hin.
Angaben zur körperlichen Funktionalität spielen in der Anamnese keine Rolle.
Bei alten Patienten sollte generell eine Fremdanamnese durchgeführt werden.
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Die korrespondierende Autorin weist für sich und ihren Koautor auf folgende Beziehung hin:
Der Autor H.J. Heppner ist Stipendiat des Forschungskollegs Geriatrie der Robert Bosch-Stiftung.
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Singler, K., Heppner, H. Besonderheiten des älteren Notfallpatienten . Notfall Rettungsmed 15, 255–264 (2012). https://doi.org/10.1007/s10049-012-1591-8
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