Leitstellendisponenten stehen bei der Notrufabfrage vor dem Problem, aus einem Hilfeersuchen eine erste Verdachtsdiagnose zu formulieren. Dies ist im dualen Rettungsdienstsystem Deutschlands, in dem entweder ausschließlich ein Rettungswagen (RTW) oder zusätzlich ein Notarzt entsendet wird, von entscheidender Bedeutung. Am Beispiel des akuten Schlaganfalls wurde daher untersucht, inwieweit die Implementierung eines standardisierten Interviews auf der Rettungsleitstelle hilft, den akuten Schlaganfall im Rahmen der Notrufabfrage sicher zu erkennen.

Methodik

Für einen Zeitraum von 11 Monaten (02/2007–01/2008) wurden die Notrufabfragen auf der Rettungsleitstelle Münster von geschulten Mitarbeitern als standardisiertes Interview in Form von Ja/Nein-Fragen durchgeführt. Hierzu wurden Voraussetzungen definiert, unter denen ein standardisiertes Interview im Rahmen einer systematischen Notrufabfrage erfolgte:

  • Eine Verständigung zwischen dem hilfesuchenden Anrufer und dem Leitstellendisponenten muss möglich sein. Dies setzt das Sprechen der gleichen Sprache und das Finden einer gemeinsamen Sprachebene voraus.

  • Der Anrufer gibt nicht unvermittelt Hinweise zum Patientenzustand oder zur Situation.

  • Der Anrufer muss sich auf die Interviewsituation einlassen und mit ja oder nein auf die gestellten Ja/Nein-Fragen antworten.

  • Der Anrufer muss sich in unmittelbarer Nähe des Betroffenen befinden oder selbst der Betroffene sein.

  • Es dürfen keine Hinweise dafür vorliegen, dass der Anrufer das Interview manipulieren möchte.

  • Der Anrufer muss geschäftsfähig – im Sinne kognitiver Fähigkeiten – sein. Anrufer unter offensichtlichem Alkohol- oder Drogeneinfluss oder beispielsweise sehr junge Kinder erfüllen die Voraussetzungen für das standardisierte Interview nicht.

Wurden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, führte der Leitstellendisponent die Notrufabfrage durch, ohne auf die Ja/Nein-Fragen des standardisierten Interviews zurückzugreifen. Es flossen nur systematisch geführte Interviews in die Auswertung mit ein. Bevor schlaganfallspezifische Fragen gestellt wurden, erfolgte zunächst die Erfassung eingeschränkter Vitalfunktionen. Der Notarztindikationskatalog (NAIK) der Bundesärztekammer (BÄK) fordert den Einsatz eines Notarztes bei Verdacht auf fehlende oder deutlich beeinträchtigte Vitalfunktionen folgender Systeme [9]:

  • Bewusstsein und/oder

  • Herz/Kreislauf und/oder

  • Atmung.

Die Ja/Nein-Fragen der systematischen Notrufabfrage tragen dem NAIK und dem Gefährdungspotenzial der Patienten Rechnung und wurden wie nachstehend formuliert:

  1. 1.

    Zum Ausschluss einer Bewusstlosigkeit: Reagiert der Patient auf Rütteln und Schütteln – ja oder nein? Bei Beantwortung der Frage mit nein wurde eine vorliegende Bewusstlosigkeit vermutet, RTW und Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) wurden alarmiert.

  2. 2.

    Zur Prüfung, ob ein akutes Koronarsyndrom vorliegt: Hat der Patient Brustschmerzen – ja oder nein? Bei Beantwortung der Frage mit ja wurde ein vorliegendes akutes Koronarsyndrom vermutet und RTW und NEF wurden alarmiert.

  3. 3.

    Zur Prüfung, ob eine Atemstörung vorliegt: Hat der Patient Luftnot – ja oder nein? Bei Beantwortung der Frage mit ja wurde eine vorliegende Atemstörung vermutet, RTW und NEF wurden alarmiert.

Ließen sich keine Hinweise für eine akute Lebensgefahr ermitteln, fuhr der Leitstellendisponent mit standardisierten Interviewfragen fort, die einen akuten Schlaganfall antizipieren sollen. Für die Identifikation eines Schlaganfalls wurden die Fragen des Face-, Arm-, Speech-Tests (FAST) in das standardisierte Interview der Notrufabfrage modifiziert übernommen. Der FAST [6] ist ein klinischer Test zur Schlaganfalldiagnostik und wurde für die präklinische Anwendung durch Rettungsassistenten validiert [1]. Bei Beantwortung von mindestens einer der drei Fragen dieses modifizierten FAST mit ja wurde ein akuter Schlaganfall vermutet und es erfolgte die Alarmierung von RTW und NEF. Bei Beantwortung aller drei Fragen mit nein galt das Vorliegen eines akuten Schlaganfalls als unwahrscheinlich. In diesem Fall führte der Leitstellendisponent die Notrufabfrage ohne standardisierte Interviewfragen fort, um die medizinische Lage am Einsatzort zu ermitteln und das geeignete Rettungsmittel zu disponieren (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Schema zum Abfragealgorithmus

Die Interviewfragen zur systematischen Identifikation des Schlaganfalls sind an die Untersuchungsschritte des FAST angelehnt:

  1. 1.

    Ist das Gesicht verändert, hängt der Mundwinkel – ja oder nein?

  2. 2.

    Ist ein Arm schwach oder gelähmt – ja oder nein?

  3. 3.

    Hat der Patient Probleme beim Sprechen – ja oder nein?

Die Notrufabfragen wurden mit dem Einsatzleitsystem CELIOS (CKS Systeme, Meppen) erfasst. Zu den Einsätzen wurden die zugehörigen DIVI-Notarzteinsatzprotokolle erfasst und hinsichtlich der Übereinstimmung von Disposition (Einsatzstichwort) und Notarztdiagnose(n) verglichen.

Vitale Bedrohung

Die Grenzwerte der Vitalparameter zur Beschreibung der potenziellen vitalen Bedrohung wurden in Anlehnung an die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und den Mainz Emergency Evaluation Score (MEES) festlegt (Glasgow Coma Scale ≤9, Sauerstoffsättigung <90% trotz 6 l/min Sauerstoffvorlage, systolischer Blutdruck ≥210 mmHg oder ≤80 mmHg, Plasmaglukose <40 mg/dl, [8]).

Zusätzlich wurden vom Notarzt durchgeführte Maßnahmen (kardiopulmonale Reanimation oder endotracheale Intubation) als Zeichen eines akut lebensbedrohlichen Gesundheitszustands und die Vitalparameter hinsichtlich einer potenziellen vitalen Bedrohung geprüft.

Alle Einsätze, bei denen mindestens eine Antwort im modifizierten FAST der Notrufabfrage positiv war, gingen in die Auswertung ein.

Es erfolgte ein Vergleich der Daten mit den Notrufabfragen des Vorjahreszeitraumes mit dem Einsatzstichwort Schlaganfall, die nichtstandardisiert durchgeführt wurden.

Zur Auswertung kam der χ2-Test zum Vergleich unabhängiger Stichproben zur Anwendung. Der Exakte Fisher-Test wurde für Stichprobengrößen <5 genutzt. Das Signifikanzniveau wurde auf 0,05 festgesetzt.

Ergebnisse

Im Zeitraum von 02/2007 bis 01/2008 (11 Monate) wurde die Notrufabfrage systematisch durchgeführt. Notarzteinsatzprotokolle von 109 Einsätzen, die unter dem Einsatzstichwort Schlaganfall disponiert wurden, konnten ausgewertet werden. In 84 Fällen (77%) konnte der auf der Leitstelle antizipierte Schlaganfall durch die Notarztdiagnose bestätigt werden.

Im Vorjahreszeitraum (02/2006 bis 01/2007, 11 Monate) wurde die Notrufabfrage unsystematisch durchgeführt. Notarzteinsatzprotokolle von 274 Einsätzen, die unter dem Einsatzstichwort Schlaganfall disponiert wurden, konnten ausgewertet werden. In 191 Fällen (70%) konnte der auf der Leitstelle antizipierte Schlaganfall durch die Notarztdiagnose bestätigt werden.

Der Anteil der auf der Leitstelle antizipierten Schlaganfälle, der mittels Notarztdiagnose bestätigt werden konnte, stieg von 70% auf 77% (p=0,146; χ2-Test; Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Übereinstimmung von Notrufabfrage und Notarztdiagnose

Die Auswertung der erhobenen Vitalparameter zeigte im Untersuchungszeitraum bei 17 von 109 Patienten (16%) eine potenzielle vitale Bedrohung oder akute Lebensgefahr, im Vorjahreszeitraum war dies bei 55 von 274 Patienten (20%) der Fall (p=0,386; Abb. 3). Eine genauere Aufschlüsselung der Vitalparameter gibt Tab. 1. Durch das Vorliegen mehrerer Vitalparameter außerhalb der gesetzten Grenzen bei einzelnen Patienten ist die Summe der Einzelwerte größer als die Patientenzahl.

Abb. 3
figure 3

Anteil vital bedrohter und akut lebensgefährdeter Patienten

Im Untersuchungszeitraum waren bei keinem Patienten unmittelbare notärztliche Maßnahmen (kardiopulmonale Reanimation, Intubation) erforderlich, im Vorjahreszeitraum war dies bei 4 Patienten der Fall (p=0,068).

Tab. 1 Erhobene Vitalparameter als Ausmaß der vitalen Bedrohung

Interpretation

Es ist Aufgabe der Rettungsleitstelle, bei medizinischen Notfällen ein geeignetes Rettungsmittel zu disponieren. Hierbei hilft der Notarztindikationskatalog zur Unterscheidung zwischen Einsätzen bei vital bedrohten Patienten und Einsätzen für den Rettungsdienst ohne notärztliche Versorgung.

Durch Einführung eines standardisierten Interviews in die Notrufabfrage sollte für das Krankheitsbild des Schlaganfalls überprüft werden, ob sich eine valide Dispositionsentscheidung treffen lässt. Die Krankheitsschwere wurde im Vergleich zum Gesamtkollektiv aller Notarzteinsätze retrospektiv analysiert.

Es konnte gezeigt werden, dass für den akuten Schlaganfall eine hohe Übereinstimmung zwischen dem Einsatzstichwort und der Notarztdiagnose besteht. Die systematische Notrufabfrage führt gegenüber einer unsystematischen Notrufabfrage jedoch nicht zu einer höheren Übereinstimmung von Einsatzstichwort und Notarztdiagnose.

Aus Studien zur Identifikation des akuten Schlaganfalls zeigt sich ebenfalls eine hohe Übereinstimmung der Notrufabfrage mit den Klinikdiagnosen [2, 3]. In einer vorangehenden Untersuchung unserer Arbeitsgruppe konnte gezeigt werden, dass die Notarztdiagnose akuter Schlaganfall mit sehr hoher Übereinstimmung von den aufnehmenden Kliniken bestätigt wird [7].

Für andere Krankheitsbilder lässt sich auch mit einer standardisierten Notrufabfrage nur eine geringe Übereinstimmung erreichen. In einer Arbeit aus Großbritannien lag der positive prädiktive Wert zur Erkennung eines akuten Koronarsyndroms mittels standardisierter Notrufabfrage bei lediglich 5,6% [4].

Es lässt sich durch die Anwendung der systematischen Notrufabfrage eine Reduktion akut vital bedrohter Patienten für das Einsatzstichwort akuter Schlaganfall erreichen. Es ist davon auszugehen, dass akut vital bedrohte Patienten unabhängig vom Krankheitsbild über die Fragen nach Bewusstlosigkeit, Brustschmerz und Atemnot vorzeitig erkannt wurden.

Die Verwendung einer standardisierten Notrufabfrage ließ sich im Bereich der Leitstelle Münster mit niedrigem Schulungsaufwand realisieren. Das Interview zeigte eine hohe Akzeptanz bei den Leitstellendisponenten.

Die Versorgung von Patienten mit akutem Schlaganfall erfolgt in Deutschland derzeit uneinheitlich: Während in einigen Rettungsdienstbezirken bei Verdacht auf Schlaganfall grundsätzlich der Notarzt alarmiert wird, wird in anderen Bereichen nur bei Hinweisen auf zusätzliche Bewusstseinsstörungen der Notarzt alarmiert – der vital stabile Schlaganfallpatient wird von der Besatzung eines Rettungswagens versorgt.

Durch eine Analyse der Vitalparameter als Ausmaß der vitalen Bedrohung der Patienten sollte die Notarztindikation auch unter dem Aspekt des Kostendruckes im Gesundheitswesen und des Notarztmangels kritisch hinterfragt werden.

Die Praxis, einen Rettungswagen zu alarmieren, ist konform mit den AWMF-Leitlinien zur Versorgung des akuten Schlaganfalls, in denen es heißt:

„Beim Verdacht auf einen Schlaganfall jedes Schweregrades soll der Rettungsdienst, bei schwerem Schlaganfall mit Bewusstseinsstörung der Notarzt gerufen werden“ [5].

Der NAIK der BÄK fordert ein strengeres Vorgehen,

„bei Verdacht auf fehlende oder deutlich beeinträchtigte Vitalfunktion den Notarzt einzusetzen“

und zählt hierzu

„plötzliche Lähmungen (halbseitig)“ [9].

Aufgrund dieser Forderung erfolgt in Münster bei Verdacht auf Schlaganfall durch die Leitstelle grundsätzlich die Alarmierung eines RTW und NEF. Bei einem städtischen Rettungsdienst mit kurzen Einsatzzeiten (im Mittel 63 min) und zwei Stroke Units im Stadtgebiet ist eine solche niederschwellige Notarztindikation möglich, ohne dass der Notarzt das Einsatzgebiet zur Begleitung eines Patienten verlassen muss. Darüber hinaus besteht bei kurzen Transportzeiten die Möglichkeit einer Diagnosestellung und Herstellung der Transportfähigkeit des Patienten ohne zwingende Notarztbegleitung. Bei paralleler Alarmierung des Notarztes und vital stabilem Patienten wird der Transport von der Besatzung des Rettungswagens begonnen, ohne das Eintreffen des Notarztes abzuwarten. Ebenfalls sieht eine Verfahrensanweisung vor, dass bei vital stabilen Patienten mit akutem Schlaganfall das Eintreffen des Notarztes nicht abgewartet wird, sondern der Patient bei diesem zeitkritischen Krankheitsbild von der Besatzung des Rettungswagens in die nächstgelegene Stroke Unit transportiert wird. In ländlichen Gebieten muss dieses Vorgehen ggf. anders bewertet werden.

Betrachtet man den Anteil vital bedrohter Patienten für das Einsatzstichwort akuter Schlaganfall, so zeigt sich, dass dieser ähnlich hoch ist wie der Anteil vital bedrohter Patienten an der Gesamtheit der Notarzteinsätze in der Stadt Münster (15,1% für den Zeitraum 02/2003 bis 05/2007).

Eine Abkehr vom Konzept der notärztlichen Versorgung bei akutem Schlaganfall wird durch unsere Daten nicht gestützt. In der Notfallmedizin fehlen systematische Untersuchungen zur Disposition des Notarztes durch die Leitstelle. Die Verwendung standardisierter Interviews zur Notrufabfrage stellt einen Ansatz dar, einzelne Krankheitsbilder hinsichtlich der Notarztindikation zu kategorisieren.