Ausgangssituation

Laut WHO beruhen in entwickelten Ländern etwa 20% der Todesfälle auf kardiovaskulären Erkrankungen, die damit die Nummer eins der Todesursachen in den entwickelten Ländern darstellen. Weitere 3% beruhen auf Komplikationen von Diabetes mellitus ([1], Abb. 1). Sowohl die Anzahl der stationären Patienten in der Gefäßchirurgie als auch die Anzahl der Krankenhausbehandlungen aufgrund arterieller Gefäßerkrankungen (ICD 70–79) sind in den Jahren von 2005 bis 2010 mit 3,8% pro Jahr überdurchschnittlich gestiegen – das durchschnittliche Wachstum über alle Krankheiten und Fachabteilungen hinweg lag im Vergleichszeitraum bei 1,7% ([2], Abb. 2). Gefäßmultimorbidität ist in der Regel der gemeinsame Nenner bei Patienten mit Herz- und Gefäßkrankheiten, die mit einer Inzidenz zwischen 30 und 70% je nach Patientenkollektiv auftritt [3]. Die Komplexität der Behandlung dieser Patienten und die oft benötigte Abstimmung und Koordination mehrerer Fachdisziplinen und Spezialisten für die Entwicklung optimaler Präventions-, Behandlungs- und Nachbehandlungsschemata führte in den letzten Jahren zu einem zunehmenden Bedarf an ganzheitlichen, integrierten Versorgungskonzepten. Das „panvaskuläre Konzept“, basierend auf einem interdisziplinären, integrierten Management dieser Erkrankungen, wurde als neues Modell eingeführt [4]. Die Umsetzung solcher zukunftsweisenden Konzepte hat sich jedoch in der Praxis aufgrund mangelhafter Vorbereitung, historisch gewachsener Strukturen, begrenzter interdisziplinärer Kooperationsbereitschaft – bis hin zu einem „Revierkampf“ zwischen den betroffenen Fachdisziplinen – oftmals als schwierig gezeigt.

Abb. 1
figure 1

Top 10 Todesursachen in entwickelten Ländern laut Weltgesundheitsorganisation [1]

Abb. 2
figure 2

Entwicklung der Anzahl der stationären Fälle aufgrund ICD 70–79 (Krankheiten der Arterien, Arteriolen und Kapillaren) zwischen 2005 und 2010 gegenüber der Gesamtanzahl der stationären Fälle deutschlandweit (Statistisches Bundesamt, 2010)

Die große Herausforderung ist die erforderliche Vernetzung der Akteure verschiedener Fachdisziplinen und Versorgungsstufen, um eine optimale Betreuung der stetig wachsenden Anzahl an Gefäßpatienten sicher zu stellen. Insbesondere in universitären und anderen akademischen Einrichtungen gestaltet sich dieser integrative Ansatz aufgrund des durch Forschung und Lehre bedingt hohen Spezialisierungsgrades oftmals schwierig.

Relevante Entwicklungen

Patienten

Mit einem zunehmend älter werdenden Patientenkollektiv wachsen die Herausforderungen der ambulanten und stationären Versorgung. Ältere Patienten sind weniger mobil und benötigen oft eine geriatrische Nachbehandlung. Das stetig wachsende Kollektiv der gefäßkranken Patienten ist aufgrund des systemischen Krankheitscharakters oftmals multimorbid und erfordert daher in der Versorgung ein Hinzuziehen weiterer angrenzender Fachgebiete, was die Behandlungskomplexität erhöht. Die aktuellen Strukturen machen ein „Weiterreichen“ dieser Patienten über mehrere Fachdisziplinen notwendig, was in einer hohen Anzahl an vermeidbaren Schnittstellen mit der Gefahr des Informationsverlusts einerseits und unterschiedlichen Aussagen andererseits resultiert. Gleichzeitig kommt es zu einer unnötig hohen Belastung für die Patienten bei gleichzeitig hohen Behandlungskosten für die Leistungserstatter – Mehrfachuntersuchungen und komplizierte Behandlungswege sind keine Ausnahmen. Häufig sind gefäßkranke Patienten auch schwerer steuerbar – Nikotin- und Alkoholabusus sowie Adipositas sind oftmals Begleiter dieses Patientenkollektiv – sodass besondere Präventions-, Rehabilitations- und Schulungsmaßnahmen zur Sicherung des Outcomes erforderlich sind. Gleichzeitig sind die Patienten durch die Vielzahl mehr oder wenig wissenschaftlich fundierter Informationen vermeintlich besser über das Leistungsangebot und die verschiedenen Versorgungsmodelle informiert. Bei gleichzeitig steigenden Ansprüchen sind Patienten auch zunehmend bereit, Spezialisten außerhalb ihrer Region auszusuchen. Der Service- und Dienstleistungsgedanke gewinnt dadurch an Bedeutung, um ein möglichst breites Spektrum der Bedürfnisse dieser Patienten abdecken zu können.

Leistungserbringer

Die Kombination eines stetig wachsenden Bedarfs an Gefäßchirurgen/-medizinern und der insbesondere in den operativen Fächern abnehmenden Attraktivität der klinischen Tätigkeit als Arzt aufgrund von langen Arbeitszeiten (lange Operationszeiten, überdurchschnittlich viele Dienste, begrenzte Aus- und Weiterbildungsperspektiven) führen zu einem Nachwuchsmangel. Dass die Medizin zunehmend „weiblich“ wird – der Anteil der Absolventinnen eines Studium der Medizin liegt mittlerweile bei ≥ 60% – steigt die Bedeutung der Vereinbarung von Familie und Beruf („Work-Life-Balance“) einerseits und die Nachfrage nach Teilzeitbeschäftigung (teilweise ohne Beteiligung an Diensten) andererseits. Gleichzeitig wird das Weiterbildungsprogramm in der Gefäßchirurgie im Hinblick auf die zeitgemäße Ausbildung von „Gefäßexperten“ hinterfragt [5]. Die Möglichkeit, einen fachübergreifenden Einblick in allen relevanten gefäßmedizinischen Bereichen zu erhalten – konservativ, interventionell und chirurgisch – wirkt begrenzt. Dieses wird durch eine zunehmende Spezialisierung in getrennten Fachbereichen erschwert und damit auch die Chance begrenzt, breit gefächerte Experten auszubilden, die in der Lage sind, ein ganzheitliches Management von gefäßkranken Patienten anzubieten. Der Bedarf für eine integrierende Gefäßheilkunde war zuletzt der Grund für die Umbenennung der Fachgesellschaft für Gefäßchirurgie in Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin (DGG, 2010). Alle betroffenen Disziplinen erheben für sich den Anspruch, Experten zu sein, neigen jedoch gleichzeitig zu Abgrenzung und „Nischentum“ anstatt zur Kooperation. „Revierkämpfe“ und Besitzstandwahrung sind oftmals das Resultat.

Stationäre Versorgung

In Zeiten steigender Kosten in der Krankenversorgung und immer knapper werdender Investitionsmittel sind Mehrfachvorhaltungen von Infrastruktur (Ambulanzen, Funktionsbereiche, Interventionsräume, OP-Säle etc.) und teuren Geräten mit teilweise geringer Auslastung und dem stetig wachsenden Druck zur Anschaffung modernster Technologien auf Dauer nicht nachhaltig finanzierbar.

Nebenher ist der Trend der Zentrenbildung zur Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit eine positive und zukunftsweisende Entwicklung. Nichtsdestotrotz werden die angestrebten Modelle aufgrund der Zurückhaltung neue Strukturen und Behandlungspfade zu erproben, selten in der möglichen und notwendigen Ausprägung zur Umsetzung gebracht und „gelebt“. Die Zertifizierung zu einem „Zentrum“ verliert dadurch an Bedeutung und bleibt eine Qualitätssicherungsmaßnahme, teilweise eine Marketingmaßnahme. Das Synergiepotenzial durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit wird dabei nicht vollständig genutzt.

Panvaskuläre Medizin im Krankenhaus der Zukunft

Konzept

Unbestrittenes Ziel ist die optimale Versorgung gefäßkranker Patienten nicht nur im stationären Bereich, sondern entlang der gesamten vertikalen und horizontalen Versorgungskette – inklusive Prävention, ambulantem Sektor und gefäßmedizinischer Rehabilitation. Folgende Schritte müssen eingegangen werden, um dieses Ziel zu erreichen (Abb. 3):

  • Strategische Zielsetzung: Implementierung eines interdisziplinär integrierten Managements, sodass der Patient entsprechend seiner Pathologie und nicht seiner Eintrittspforte ins Krankenhaus behandelt wird.

  • Organisation: Umfassende Reorganisation der Fachabteilungen und Zentren in Richtung eines nicht nur kooperativen, sondern integrativen Modells zur Maximierung der Synergieeffekte sowohl für den Patienten als auch für den Behandelnden

  • Prozesse: Der lange Weg von einer historisch gewachsenen Separation (einzelne Fachkliniken) bis hin zu einer Kooperation bzw. Integration (Zentrenbildung) ist trotz des Grundsatzes „ein Patient, mehrere Experten, eine Strategie“ [4] – steinig. Denn dafür ist nicht nur eine Reorganisation, sondern auch ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess hinsichtlich der Gestaltung der Abläufe in der Krankenversorgung, Forschung und Lehre notwendig.

Abb. 3
figure 3

Gesamtstrategie für die zukünftige Versorgung gefäßkranker Patienten

Voraussetzungen

Für die Umsetzung der Vision der panvaskulären Versorgung müssen folgende drei Voraussetzungen erfüllt sein:

  • Interdisziplinäre Versorgung über die relevanten Fachdisziplinen hinweg: In der Grundform besteht ein solches Team aus Gefäßchirurgen, (interventionellen) Kardiologen sowie diagnostischen und interventionellen Radiologen. Eine Erweiterung des Teams um die Angiologie, Diabetologie, Neurochirurgie, Neurologie und Nephrologie ergänzt die erforderliche Fachexpertise für die Versorgung des gesamten Spektrums der Gefäßkrankheiten. In diesem optimalen Setting ist eine konservativ-internistische und interventionell-chirurgische Komplettversorgung von Gefäßpatienten möglich. Insbesondere im Falle von Gefäßmultimorbidität ist die enge Zusammenarbeit von besonderer Bedeutung: Während die Behandlung von demjenigen Teammitglied initiiert wird, dessen Fachbereich für das Leitsymptom der Erkrankung am ehesten infrage kommt, kann je nach Krankheitsschwere und in Abhängigkeit von der geplanten Behandlung ein Gefäß-Organ-Screening durchgeführt werden [6]. Auf Basis der Diagnosestellung kann dann bei Bedarf eine optimale, interdisziplinär abgestimmte Behandlungsstrategie abgeleitet werden.

  • Vernetzung und integrierte Versorgung: Die Einbeziehung von Experten darf sich nicht nur auf den stationären Rahmen begrenzen. Die Bedeutung der Prävention nimmt in Zeiten der epidemischen Ausbreitung des metabolischen Syndroms und des Diabetes mellitus dramatisch zu. Nicht nur die Politik muss in Richtung Präventionsprogrammen aktiver werden, sondern auch die Gefäßmedizin muss sich in diese Richtung weiter entwickeln. Eine engere Zusammenarbeit mit Ernährungswissenschaftlern, die Umsetzung von Früherkennungsprogrammen und die Definition von strukturierten Leitlinien für den Umgang mit Erstsymptomen gehören dazu. Im Rahmen der nachstationären Versorgung existiert ebenfalls Bedarf für eine stärkere Strukturierung der gefäßmedizinischen Rehabilitation. Zum Versorgungsnetzwerk gehören auch Modelle der häuslichen Pflege, innovative IT-Lösungen für ein optimales Monitoring, eine bessere Vernetzung von Experten (Telemedizin) und eine erhöhte Verfügbarkeit von Patientendaten (elektronische Patientenakte) sowie patientenorientierte Lösungen zur Verbesserung der Compliance und Transparenz über vorhandene Behandlungsoptionen (Abb. 4).

  • Entwicklung der medizinischen Ausbildung: Neben den beschriebenen Entwicklungen in der Gefäßmedizin hat vor allem die zunehmende Bedeutung von endovaskulären Verfahren dazu geführt, dass die traditionellen Weiterbildungswege in den relevanten Fachdisziplinen hinterfragt und Alternativen überlegt werden. Dies betrifft sogar die klassische Trennung zwischen konservativen und chirurgischen Fächern. Eine gemeinsame Grundausbildung von Gefäßmedizinern, die sich im Laufe der Weiterbildung für einen eher chirurgischen, internistischen oder auch radiologischen Werdegang entscheiden können, scheint ein durchaus denkbarer Weg [7]. Die Bereitschaft für solche neuen Wege zeigt auch die DGG durch Ihre Umbenennung.

Abb. 4
figure 4

Etablierung eines integrierten Versorgungsnetzes für gefäßkranke Patienten als Ziel (schematisch)

Synergiepotenziale

Die fachübergreifende Integration der verschiedenen Disziplinen kann und soll nicht nur die medizinische Qualität, sondern auch die Wirtschaftlichkeit verbessern. Für die unterschiedlichen Akteure ergeben sich folgende Synergieeffekte:

  • Patienten: Durch maßgeschneiderte, interdisziplinär abgestimmte Behandlungskonzepte verbessert sich die Prognose für die Patienten. Sie können früher und besser versorgt werden und haben auch nachstationär bei Bedarf die Möglichkeit eines direkten Anschlusses auf eine spezifische gefäßmedizinische Rehabilitation. Mehrfachdiagnostik wird reduziert und eine Versorgung an einem Standort ohne erforderlichen Transport zu einem anderen Krankenhaus oder einer anderer Station bzw. Ambulanz wird ermöglicht.

  • Leistungserbringer: Die Fachdisziplin der Gefäßchirurgie kann sich durch den integrativen Ansatz neu definieren und kritische Masse gewinnen. Die traditionell kleinen Teams werden im Rahmen der Bildung von (pan)vaskulären Teams erweitert und erlauben dadurch eine bessere Personalsteuerung hinsichtlich der erforderlichen Aufteilung (Sprechstunde, OP, Bereitschaftsdienste). Durch eine Verbreitung des Spektrums der Ausbildung in Richtung Gefäßmedizin wird das Fach an Attraktivität gewinnen. Neue Konzepte wie operationstechnische Assistenten oder zertifizierte Gefäßassistenten durch die DGG können ebenfalls die Ärzte von delegierbaren Aufgaben entlasten. Des Weiteren fördert die Arbeit in solchen Teams den Austausch zwischen Fachexperten (interdisziplinäre Gefäßkonferenzen bzw. -boards) und ermöglicht einen besseren Einblick in die Patientengeschichte (Zentrenstandards, elektronische Patientenakte und Vorbefunde).

  • Stationäre Versorgung: Die Einbettung eines (pan)vaskulären Kompetenzzentrums in die Gesamtstrategie eines Krankenhauses ist ein eindeutiger Wettbewerbsvorteil. Dadurch kann nicht nur eine Leistungssteigerung erreicht werden, sondern auch ein signifikanter Beitrag zur Kostenkonsolidierung durch die gemeinschaftliche Nutzung von infrastrukturellen (Geräte, Räumlichkeiten – Ambulanz, Funktionsbereiche, Stationen) und personellen (Pflege und medizinische Fachangestellte, Verwaltung, größere medizinische Mannschaft für Bereitschaftsdienste und Stationsversorgung) Ressourcen (Abb. 5). Im Rahmen eines Zentrums können übergreifende Patientenpfade zur besseren Steuerung der Patientenströme definiert werden. Über ein gemeinsames Bettenmanagement und interdisziplinären Einheiten können kapazitative Engpässe (OP und Intensivstation) besser gesteuert werden. Des Weiteren können größere Zentren erfolgreicher im Bereich der Drittmittelakquise auftreten. Nicht zuletzt erhöht die Standardisierung und Optimierung der Abläufe auch die angebotene Servicequalität.

Durch maßgeschneiderte, interdisziplinär abgestimmte Behandlungskonzepte verbessert sich die Prognose für die Patienten

Abb. 5
figure 5

Leistungssteigerung und Kostensenkung durch Zentrenbildung (schematisch)