Chronische Schmerzen des Bewegungssystems sind häufig. Die Mehrzahl dieser Schmerzsyndrome hat einen multifaktoriellen Hintergrund [1, 2, 3, 4, 5]. Die Behandlungen spiegeln diesen Aspekt jedoch oft nicht wieder. Häufig werden monomodale Behandlungsstrategien, die z. T. weniger von der Befundlage als von den jeweiligen Präferenzen des behandelnden Arztes bestimmt werden, angewendet [6, 7, 8, 9]. Neben deutlich gestiegenen Operationszahlen, z. B. im Bereich der Wirbelsäule, sind verschiedenste Injektionsverfahren weitverbreitet [6, 10]. Für die meisten interventionellen Verfahren sind nur kurzfristige Wirkungen nachweisbar oder es gibt keine positive, z. T. sogar eine negative wissenschaftliche Evidenzlage [11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20]. Psychosoziale Einflussfaktoren auf chronische Schmerzsyndrome sind wissenschaftlich gut evaluiert. So sind beispielsweise die Tendenz zur Somatisierung, dysfunktionale Krankheitskognitionen und externale Kontrollüberzeugungen gute Prädiktoren für das Behandlungsoutcome beim chronischen Rückenschmerz [4, 20, 21, 22, 23]. Im Zusammenhang mit negativen sozialen Einflussfaktoren wie sekundärem Krankheitsgewinn zeigen interventionelle Schmerztherapien oder Wirbelsäulenoperationen schlechtere Ergebnisse im Vergleich zu konservativen Behandlungen [24, 25].

Ob interventionelle Schmerztherapien Risikofaktoren für die Schmerzchronifizierung darstellen oder somatisierende Faktoren sind, wurde nach Kenntnis des Autors bisher nicht untersucht. Bekannt ist, dass psychische Faktoren das Outcome von wirbelsäulenchirurgischen Eingriffen beeinflussen [26, 27]. Weiterhin gibt es Hinweise, dass Wirbelsäulenoperationen im Vergleich zu anderen Operationen häufiger zu einem chronischen Schmerzsyndrom führen [28].

In der vorliegenden Studie sollte untersucht werden, inwiefern über Jahre wiederholte stationäre Komplexprogramme mit den Schwerpunkten interventionelle Schmerztherapie und passive Behandlungsmaßnahmen das Langzeitoutcome von Patienten mit chronischen Schmerzsyndromen des Bewegungssystems beeinflussen.

Material und Methoden

Retrospektive Verlaufsstudie

In Vorbereitung einer randomisierten, kontrollierten Studie (RCT) zur Evaluierung von Effekten der Proliferationstherapien bei Patienten mit chronischen Schmerzsyndromen des Bewegungssystems wurden die Akten von Patienten herangezogen, die in den Jahren 2009 und 2010 zur stationären Schmerztherapie aufgenommen wurden und sich zuvor mindestens 5 stationären Komplexbehandlungen unterzogen hatten. Aus den 389 Patientenakten wurden 38 Patientenakten randomisiert (Losverfahren) ausgewertet.

Aktenstudium

Das Aktenstudium erfolgte systematisch. Folgende Daten wurden in eine SPSS-Datei aufgenommen:

  • einmalig (erster Behandlungszyklus):

    • Patientennummer,

    • Patientenalter und -geschlecht;

  • über alle Behandlungszyklen:

    • Aufenthaltsdauer,

    • Anzahl der infiltrierten Regionen/angewendeten Injektionstechniken;

  • erster und letzter Behandlungszyklus:

    • Hauptdiagnose,

    • Analgetikaeinnahme,

    • Anzahl der Operationen am Bewegungssystem,

    • Anzahl schmerzhafter Regionen,

    • anamnestische Daten für Mainzer Schmerzstadien [Mainz Pain Staging System (MPSS)] bzw. Schmerzdauer,

    • ICD-10-Hauptdiagnose,

    • ICD-10-Diagnose aus dem Kapitel „Psychische und Verhaltensstörungen“,

    • Daten zur Erwerbsfähigkeit,

    • Häufigkeit der stationären Komplexbehandlung.

Auswertung der interventionellen Schmerztherapien

Bei der Auswertung wurden folgende Injektionstechniken gewertet:

  • peridurale Injektionen;

  • periradikuläre Therapien;

  • Proliferationstherapie:

    • Facettengelenke,

    • interspinöse Bänder,

    • Beckenbänder,

    • andere Gelenke;

  • Injektionen an das autonome Nervensystem (Ganglien, Grenzstrang);

  • Blockaden peripherer Nerven.

Infiltrationen in folgenden Regionen wurden bewertet:

  • Kopf-Gesichts-Bereich,

  • Halswirbelsäule/Nacken,

  • Brustwirbelsäule/Thorax,

  • Lendenwirbelsäule/Abdomen,

  • Becken,

  • obere Extremität,

  • untere Extremität.

Unterschiedliche Injektionstechniken in einer Region – z. B. die Proliferationstherapie der Facettengelenke und periradikuläre Therapie der Lendenwirbelsäule oder des Abdomens – und gleiche Injektionsarten in verschiedenen Regionen – z. B. die Proliferationstherapie der interspinösen Bänder in der Halswirbelsäulen-/Nackenregion und Lendenwirbelsäulen-/Abdomenregion – wurden jeweils extra bewertet. In den meisten Fällen wurden Infiltrationsserien von jeweils 3 Behandlungen mit durchschnittlich 6 Infiltrationen durchgeführt. Diese wurden dann als eine interventionelle Therapie gewertet. Quaddeln, therapeutische Lokalanästhesien und Infiltrationen peripherer Gelenke wurden nicht gewertet.

Auswertung der schmerzhaften Regionen

Für die Schmerzausbreitung wurden in den Akten angefertigte Schmerzzeichnungen bzw. Schmerzprotokolle mit Regionsangabe herangezogen. Insgesamt wurden 9 Regionen festgelegt:

  • Kopf-Gesichts-Bereich,

  • Halswirbelsäule/Nacken,

  • Brustwirbelsäule/Thorax,

  • Lendenwirbelsäule/Abdomen,

  • Becken,

  • obere Extremität,

  • untere Extremität.

Behandlungsprogramm

Neben den interventionellen Therapien, die im Mittelpunkt der Behandlung standen, wurden andere therapeutische Maßnahmen durchgeführt:

  • manuelle Medizin/Osteopathie,

  • Akupunktur,

  • manuelle Therapie,

  • Physiotherapie,

  • physikalische Maßnahmen,

  • Entspannungsverfahren,

  • z. T. psychotherapeutische Einzelgespräche,

  • medikamentöse Therapien.

Statistische Auswertung

Die Statistik erfolgte mit SPSS-Software. Es wurden ein T-Test für gepaarte Stichproben und der Wilcoxon-Test angewendet.

Ergebnisse

Es wurden 38 Patientenaktenverläufe untersucht. Im Mittel wurden 10 (5–20) stationäre interventionelle Komplexbehandlungen (Behandlungszyklen) bei den Patienten durchgeführt. Beim ersten stationären Behandlungszyklus lag das Alter der Patienten im Mittel bei 54,5 Jahren (28–80 Jahre), beim letzten bei 65,5 Jahren (38–88 Jahre). Ein Anteil von 70% der untersuchten Patienten war weiblich, 30% waren Männer. Die Schmerzchronifizierung nach dem MPSS wurde während des ersten stationären Behandlungszyklus nicht in den Akten dokumentiert. Im Mittel gaben die Patienten beim ersten Aufenthalt eine Schmerzdauer von 11 Jahren (1–39 Jahre) an. Beim letzten stationären Behandlungszyklus lag die Schmerzchronifizierung nach dem MPSS (n=37) bei allen Patienten auf Stufe 3.

Die mittlere Gesamtbehandlungsdauer lag bei 12 Jahren mit 1–3 stationären Aufenthalten pro Jahr. Die Schmerzstärke für den ersten stationären Behandlungszyklus war nicht in den Akten dokumentiert, beim letzten stationären Behandlungszyklus lag sie auf der numerischen Rating-Skala (NRS) im Durchschnitt bei 7 (4–10). Die Dauer der einzelnen stationären Behandlung lag durchschnittlich bei 22,5 Tagen (16–39 Tage). Schon beim ersten Aufenthalt war die Mehrzahl der Patienten >6 Wochen arbeitsunfähig bzw. erwerbsunfähig (Abb. 1). Beim letzten Aufenthalt waren 64% der Patienten in der Altersrente und 18% erwerbsunfähig berentet.

Abb. 1
figure 1

Erwerbsfähigkeit der Patienten im ersten stationären Behandlungszyklus. AU Arbeitsunfähigkeit

Patienten wurden im Mittel in 6 Regionen bzw. Injektionstechniken (2–7) interventionell behandelt. Die meisten interventionellen Verfahren wurden als Behandlungsserie von 3 Behandlungen mit durchschnittlich 6 Infiltrationen pro stationären Behandlungszyklus durchgeführt. Es ergaben sich im Mittel 107 Injektionen pro Patient und Behandlungszyklus. Über die stationären Behandlungszyklen kam es zu einer statistisch nicht signifikanten Zunahme der Infiltrationen (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Zunahme der infiltrierten Regionen in Abhängigkeit von der Zahl stationärer Behandlungszyklen

Die Anzahl der von den Patienten als schmerzhaft angegebenen Regionen stieg von 4,1 (1–8) im ersten Behandlungszyklus auf 7,6 (2–9) Regionen im letzten Behandlungszyklus (Abb. 3). Es kam zu einer statistisch signifikanten Zunahme von durchschnittlich 3,5 schmerzhaften Regionen (p<0,001; Effektstärke: 1,6). Dies spiegelt sich auch in der Zunahme von ICD-10-Diagnosen wieder, die ein generalisiertes Schmerzsyndrom anzeigen (erster Behandlungszyklus: 20%, letzter Behandlungszyklus: 80%).

Abb. 3
figure 3

Anzahl der als schmerzhaft angegebenen Regionen im ersten und letzten stationären Behandlungszyklus

Zwischen dem ersten und letzten Behandlungszyklus kam es zu einer statistisch signifikanten Veränderung in der Analgetikaeinnahme (p<0,001). Patienten, die erstmalig behandelt wurden, nahmen mehrheitlich keine oder WHO-I-Analgetika ein, während die Zahl der Patienten, die beim letzten Aufenthalt WHO-II- oder WHO-III-Medikamente einnahmen, deutlich zunahm (Abb. 4). Weiterhin kam es zu einer leichten, aber statistisch nicht signifikanten Zunahme der Einnahme einer antidepressiven Medikation.

Abb. 4
figure 4

Medikamenteneinnahme im ersten und letzten stationären Behandlungszyklus

Im Behandlungsverlauf kam es weiterhin zu einer statistisch signifikanten Zunahme der Zahl der durchgeführten Operationen an der Wirbelsäule (p=0,009) und der Gelenkersatzoperationen bei den Patienten (p=0,003).

Eine negative psychosoziale Entwicklung im Verlauf der Behandlung und der stationären Aufenthalte zeigte sich auch in der ICD-10-Codierung. Im ersten Behandlungszyklus hatten 21% der Patienten eine Diagnose aus dem ICD-10-Kapitel „Psychische und Verhaltensstörung“, im letzten dagegen 85%.

Diskussion

In der vorliegenden Studie wurde retrospektiv eine Behandlungsstrategie mit einem hohen Anteil an interventionellen Schmerztherapien und passiven Behandlungsmaßnahmen untersucht. Schon beim ersten Aufenthalt zeigte sich ein chronifiziertes Patientengut mit einer im Mittel 11 Jahre andauernden Schmerzanamnese und langen Arbeitsunfähigkeiten. Aufgrund dieser chronifizierten Schmerzsymptomatik wurde mindestens einmal pro Jahr ein interventionelles Schmerztherapiekonzept mit jeweils etwa 107 Einzelinjektionen und einer Vielzahl an passiven Behandlungsmaßnahmen durchgeführt. In der Anamnese gaben die Patienten meist kurz- bis mittelfristige Schmerzlinderungen (1–12 Monate) an. Funktionelle Aspekte wie die allgemeine Leistungsfähigkeit wurden nicht erfragt.

Während zu Beginn der Behandlung in der Mehrzahl der Fälle ein regionales Schmerzsyndrom im Vordergrund stand, zeigte sich im Verlauf eine zunehmende Schmerzgeneralisierung, wobei sich die Zahl schmerzhafter Körperregionen nahezu verdoppelte. Die Steigerung der schmerzhaften Körperregionen ist statistisch signifikant und von großer klinischer Relevanz [29]. Die Schmerzzentralisierung und -generalisierung durch periphere und zentrale Sensibilisierung ist ein in der Literatur beschriebenes Phänomen [30]. Funktionelle und psychosoziale Einflussfaktoren werden hierfür verantwortlich gemacht [1, 3, 4, 5]. Die wiederholte interventionelle und passive Komplexbehandlung, z. T. verbunden mit der Vorstellung, durch die Verminderung des nozizeptiven Einstroms die zentrale Sensitivierung [30] verhindern zu können, hat den Prozess der Schmerzgeneralisierung nicht nachweisbar positiv beeinflusst. Es stellt sich die Frage, ob die in dieser chronifizierten und zum großen Teil arbeitsunfähigen Patientengruppe durchgeführte, hoch interventionelle und betont passive Therapie möglicherweise eine Somatisierung und dysfunktionale Krankheitskognitionen gefördert und aktive Krankheitsbewältigungsstrategien verhindert hat. Aus den vorliegenden Daten kann dies nicht endgültig beantwortet werden.

Des Weiteren werden von den Befürwortern dieser Behandlungsstrategie immer wieder ein geringerer Medikamentenbedarf und die Verhinderung operativer Eingriffe angeführt. In der Rückschau lässt sich jedoch eine signifikante Steigerung der Schmerzmedikation nachweisen. Bei den operativen Verfahren kommt es ebenfalls zu einer signifikanten Steigerung. Hier ist jedoch auch die Alterung der Patienten, die zumindest eine Zunahme in den Gelenkersatzoperationen begründet, zu berücksichtigen.

Im Verlauf der Behandlung kommt es zu einer Zunahme von Diagnosen aus dem ICD-10-Kapitel „Psychische und Verhaltensstörungen“ und aufgrund der Alterung der Patienten zu einer deutlichen Zunahme an Altersrentnern. Zusätzlich nimmt auch die Zahl der erwerbsunfähig Berenteten zu. Am Ende des untersuchten Behandlungszyklus ist fast kein Patient mehr arbeitsfähig.

Hinsichtlich der Diagnosen aus dem ICD-10-Kapitel „Psychische und Verhaltensstörungen“ ist es entweder unter der langfristigen Behandlung zu einer deutlichen Zunahme der psychischen Komorbidität gekommen oder es wurden initial vorhandene psychische Einflussfaktoren nicht berücksichtigt. Die Feststellung von psychosozialen Einflussfaktoren führte auch nicht zu einer Veränderung der Therapiestrategie.

Insgesamt ist eine deutliche Zunahme der Schmerzchronifizierung und Verschlechterung der psychosozialen Situation bei den Patienten zu verzeichnen. Ob die Behandlung die negativen Entwicklungen befördert hat, ist aus den vorliegenden Daten nicht zu eruieren. Andere Behandlungsprogramme mit einem eher funktionell orientierten Therapieansatz zeigen jedoch bei einem vergleichbaren Patientengut deutlich bessere Behandlungsergebnisse [30, 31]. Es kann daher vermutet werden, dass bei den untersuchten, schon stark chronifizierten Patienten interventionelle und passive Therapieverfahren dysfunktionale Krankheitsmodelle wie externale Kontrollüberzeugungen und „fear avoidance“ und damit die weitere Schmerzchronifizierung fördern.

Die Untersuchungsergebnisse müssen vor dem Hintergrund des retrospektiven Designs der Studie und der sich hieraus ergebenden negativen Patientenauswahl kritisch betrachtet werden. In weiteren Untersuchungen zu interventionellen Verfahren sollte nicht nur die Schmerzstärke, sondern auch Funktionalität und Lebensqualität und Faktoren wie Somatisierung, Kontrollüberzeugungen und Schmerzkognitionen im Langzeitverlauf untersucht werden. Die Durchführung von RCT zur Evaluation interventioneller Verfahren wie der Proliferationstherapie ist dringend geboten.

Fazit für die Praxis

Zusammenfassend erscheinen die durchgeführten interventionellen und passiven Komplexbehandlungen für die beschriebene hoch chronifizierte und chronifizierungsgefährdete Patientenklientel nicht geeignet.

Die häufige Anwendung interventioneller Schmerztherapien ist wissenschaftlich nicht fundiert und birgt möglicherweise das Risiko, die Schmerzchronifizierung und -generalisierung zu fördern. Eine enge Indikationsstellung zur interventionellen Therapie, möglichst im interdisziplinären Team, sollte daher angestrebt werden. Häufig wiederholte Interventionen lassen sich wissenschaftlich nicht begründen.