Häufig werden die Anwendung nichtmedikamentöser Verfahren, physiotherapeutische Maßnahmen und physikalische Therapie als wirksame Behandlungsstrategien der Migräne, empfohlen. Diese Verfahren finden unter den Patienten weite Verbreitung [15]. Unter Physiotherapie werden im weitesten Sinne die klassische Krankengymnastik mit aktiven und passiven Bewegungsübungen, Massagen, manuelle Therapie einschließlich manipulativer Verfahren (Chiropraktik) verstanden; weitere Verfahren der physikalischen Therapie (Anwendung von Kälte, Wärme, Strom) werden hier nicht dargestellt. Fokussiert wird auf physiotherapeutische Verfahren, deren hauptsächliches Ziel die (Wieder-)Herstellung physiologischer Muskelfunktionsketten und das Erlernen physiologischer Bewegungsabläufe bei koordinativen bzw. neuromuskulären Funktionsstörungen ist.

Datenlage zur Wirksamkeit von Physiotherapie, Massage und Lymphdrainage bei Migräne

Zur Wirksamkeit von Physiotherapie, Manualtherapie und Massagen existieren Einzelfallbeschreibungen, Erfahrungsberichte und kleine Fallserien, jedoch nur wenige randomisierte kontrollierte Studien, die den Empfehlungen zur Evaluation solcher Verfahren genügen [4, 11, 12]. Eine ähnliche Situation findet sich in der Bewertung der Wirksamkeit von regelmäßigem Ausdauersport in der prophylaktischen Behandlung der Migräne [8, 9]. Es wurde postuliert, dass die Ansprechraten auf Manualtherapie bei Migräne „übereinstimmenden Berichten“ zufolge zwischen 30 und 50% lägen und dass Blockaden des Atlantoaxialgelenkes „in mindestens 40% aller Fälle die Ursache von Migräne“ und somit manuell therapierbar seien [4]. Angaben, worauf sich diese Annahmen und Häufigkeitsangaben begründen, finden sich jedoch nicht. Bedacht werden muss, dass bei der Behandlung der Migräne sowohl in der Akuttherapie als auch in der Intervallprophylaxe Placeboansprechraten von 20% und mehr gezeigt wurden [24]. Nicht verwunderlich ist es, dass bei einer Erkrankung, die in ihrer Intensität deutlich fluktuiert, auf dem Gipfel einer vorübergehenden Verschlechterung praktisch alle Maßnahmen (scheinbar interventionsbezogen) zur Verbesserung führen [26] und dass es immer wieder auch zu Verbesserungen im Spontanverlauf kommt. Die Anzahl der Veröffentlichungen zum gesamten Gebiet der Physiotherapie und Kopfschmerzen ist kaum zu überschauen, diese sind häufig in schwer zugänglichen Journals publiziert. Soweit Physiotherapie in gängigen Handbüchern zum Kopfschmerz empfohlen wird, sind die Literaturangaben meist spärlich. Die vorhandenen Studien lassen sich schwer hinsichtlich ihrer tatsächlichen Evidenz einordnen. Grundlage einer evidenzbasierten Aussage können jedoch nur Studien sein, deren Protokolle den Anforderungen einer nach modernen Gesichtspunkten konzipierten kontrollierten Studie entsprechen. Die Erfolgskriterien müssen sich mit denen von klinischen Studien zur pharmakologischen Intervention vergleichen lassen, d. h., in der Prophylaxe ist als Ziel die Halbierung der Kopfschmerztage pro Monat bei 50% der Patienten zu fordern [33]. Aktuell existieren 3 umfangreiche Übersichtsarbeiten zur Studienlage unterschiedlicher physiotherapeutischer Maßnahmen bei der Migräne nach den derzeit gültigen Kriterien [1, 5, 6, 18, 31].

Methoden: selektive Literaturrecherche und narratives Review mit Bewertung von Einzelarbeiten nach Kriterien der evidenzbasierten Medizin

Grundlage dieser Arbeit ist eine Aufarbeitung selektiv recherchierter Literatur in den Datenbanken Pub Med und current contents (mit den Stichworten: „physical therapy“, „chiropractic therapy“ „spinal /cervical manipulation“ „massage“ und/sowie „headache“ oder „migraine“ oder „head pain“) sowie in physiotherapeutischen Publikationen (z. B. Physiosciences), die in diesen Datenbanken nicht erfasst werden. Die Recherche umfasste Publikationen für den Zeitraum 1962–2009. Zusätzlich wurden die gängigen Handbüchern der internationalen Kopfschmerzliteratur sowie Standardwerke der Physiotherapie und physikalischen Medizin gesichtet. Enthalten sind in der Übersicht sowohl offen-kontrollierte Studien als auch Beobachtungsstudien. Expertenmeinungen, die häufig als wissenschaftliche Evidenz zitiert wurden, sind nicht berücksichtigt, da sie keine zusätzlichen Informationen liefern.

Da sich über die Wirksamkeit der eingesetzten Einzelverfahren keine ausreichenden Aussagen machen lassen, werden Studien, die physiotherapeutische oder manualtherapeutische Maßnahmen, Krankengymnastik oder Massagen im Rahmen multimodaler Therapiekonzepte untersuchten, zur Einschätzung eines singulären therapeutischen Effektes der Physiotherapie nicht berücksichtigt. Ausgeschlossen wurden Arbeiten zum Spannungskopfschmerz, zervikogenen Kopfschmerz und Anstrengungskopfschmerz. Die Einstufung der klinischen Evidenz erfolgte nach den EBM-Qualitätskriterien für klinische Therapiestudien. Hierzu wurden die Studien bezüglich ihres Evidenzlevels („level of evidenz“, LoE) graduiert und bewertet [18, 27, 31]. LoE I entspricht hierbei kontrollierten, randomisierten Studien mit Verblindung, LoE IIa einer randomisierten, kontrollierten Studie ohne Verblindung, LoE IIb ohne Randomisierung, LoE III Kohortenstudien ohne Vergleichsgruppe und LoE IV der sog. Expertenmeinung.

Konzepte der Physiotherapie in der Therapie der Migräne

Zu diskutieren ist, wie physiotherapeutische Verfahren durch Behandlung von Muskeln, Bändern, Gelenken, Lymphgefäßen u. Ä. auf den Verlauf der Migräne wirken können, handelt es sich doch um eine Erkrankung primär neuronalen Ursprungs. Zugrunde liegt die Annahme, dass Störungen der Muskelspannung und des Halteapparates (Halswirbelsäule mit ihren Bändern und Muskeln) zur Verstärkung primärer Kopfschmerzerkrankungen beitragen können. Ein pathophysiologischer Zusammenhang zwischen muskulärer Dysbalance und Kopfschmerzen ist aufgrund anatomisch-neurophysiologischer Erkenntnisse vorstellbar: Eine Aktivierung im trigeminalen schmerzverarbeitenden System kann über zentrale Konvergenz und Verbindungen zu den Nervenwurzeln C1–C3 zu einer Koaktivierung und Schmerzwahrnehmung auch im Bereich der HWS und der perikraniellen Muskulatur insbesondere des Nackens führen. Dieser „cross talk“ afferent-nozizeptiver Nerven trigeminaler und okzipitaler Herkunft auf zervikaler Höhe ist neurophysiologisch in Studien belegt worden [2, 3, 7, 10]. Anatomische Konvergenz verschiedener Nerventerritorien kann so auch das Auftreten orofazialer sowie extratrigeminaler Formen der Migräne und des Clusterkopfschmerzes erklären [16, 17]. Die Wahrnehmung eines aus dem Nacken aufsteigenden Ziehens, aus dem sich dann der Migränekopfschmerz entwickelt, ist konzeptionell nachvollziehbares Korrelat einer Schmerzübertragung [3, 14]. Andererseits stellt das Konzept des trigeminozervikalen Komplexes eine Erklärung für die von Patienten berichtete Auslösung von Migräneattacken durch manipulative Therapien im Bereich der Halswirbelsäule dar, umgekehrt berichten einige Patienten auch eine positive Beeinflussung ihrer Beschwerden durch eine solche Behandlung. Prädiktoren zur Einschätzung einer potenziellen Verstärkung oder Verbesserung der Schmerzen durch Physiotherapie bei der Migräne sind bislang nicht bekannt. Inwieweit Physiotherapie tatsächlich über zentrale Effekte im trigeminozervikalen Komplex oder eher peripher auf etwaige muskuläre Verspannung wirkt, ist offen [29].

Manualtherapie zur Behandlung der Migräne

Theoretische Konzepte

Eine häufig zitierte Rationale für die Anwendung von Chirotherapie oder Manualtherapie bei HWS-Beschwerden/Schmerzen ist das Auftreten einer peripheren artikulären Dysfunktion, die zu Funktionsstörungen der Gelenke [Subluxation oder Hypomobilität: erhöhtes oder vermindertes Gelenkspiel („joint play“), reversible segmentale Dysfunktion, Blockierung] als Auslöser von Störungen in Bewegungsabläufen sowie den Schmerzen im Bereich des Hinterkopfs und/oder Nackens führt. Durch manualtherapeutische Behandlung mittels Traktion, translatorischem Gleiten und Weichteilbehandlung wird versucht, das physiologische Gelenkspiel wiederherzustellen und den Kopf- und Nackenschmerzen entgegenzuwirken. Aus neurologischer Sicht stehen Methoden mit hoher und rascher Kraftentfaltung bei solchen Behandlungsgriffen unter dem Verdacht, eine Dissektion hirnversorgender Gefäße auslösen zu können, und sind schon aus diesem Grunde zurückhaltend einzusetzen [30, 32]. In Deutschland ist Physiotherapeuten nur die Mobilisation von Gelenken erlaubt, Manipulationen (also Techniken mit schneller Kraftentfaltung) sind Ärzten vorbehalten, in anderen Ländern (z. B. Australien) sind Physiotherapeuten diese Techniken erlaubt. Bei der Sichtung der Literatur muss dies jeweils berücksichtigt werden, und es kommt teilweise zu Unklarheiten über die tatsächlich angewandten Techniken.

Studien zur spinalen manipulativen Therapie

Die Daten zur Manipulation und Mobilisation der HWS bei primären Kopfschmerzen wurden in mehreren Reviews ausgewertet. Problematisch ist die Inhomogenität der Diagnosen. Trotz kleiner Fallzahlen wurden unterschiedliche Kopfschmerzerkrankungen eingeschlossen, was die Aussagekraft weiter reduziert. Die geeigneten Studien wurden in Tab. 1 zusammengestellt. Fernandez-de-las-Penas et al. [13] bewerteten 2 Studien an Migränepatienten in ihrem Review [25, 36]. Diese beiden Migränestudien erfassten die Kopfschmerzintensität, die Kopfschmerzfrequenz und die Arbeit von Tuchin auch die Kopfschmerzdauer der Teilnehmer. Nur die Studie von Nelson et al. enthielt eine Placebogruppe. Keine Studie berichtete über die Berufserfahrung der Therapeuten. Methodisch problematisch ist, dass es kaum umsetzbar scheint, eine verblindete Behandlung anzubieten. Keine der Arbeiten berichtet ein Follow-up von mehr als 6 Monaten [13]. Ein weiteres Review zur spinalen Manipulation erfasste Studien zum Kopfschmerz vom Spannungstyp, zum zervikogenen Kopfschmerz und zur Migräne [1]. Drei Studien zur Migräne wurden als methodisch ausreichend identifiziert und flossen in die Bewertung ein [25, 28, 36].

Tab. 1 Übersicht über Studien mit Physiotherapie, Massage und physikalischer Therapie bei Migräne

Bewertung der Studien

Letztlich kann aufgrund der vorliegenden Daten keine abschließende Bewertung dieser Therapieverfahren erfolgen, auch wenn es einige Hinweise zur Wirksamkeit gibt. Dies ist in den methodischen Mängeln der Studien (Inhomogenität der Diagnosen, Fehlen von Kontrollinterventionen, Unmöglichkeit einer Placebobehandlung, unzureichende Definition der Zielparameter, kurze Nachbeobachtungszeit, kleine Fallzahlen, hohe Dropoutraten) begründet. Schwierig ist, dass zwischen einer spezifischen Wirkung der Therapie und unspezifischen Effekten (Zuwendung, Patientenkontakt) nicht unterschieden werden kann. Die Möglichkeiten, diese Einflussfaktoren im Rahmen von Studien zwischen Behandlungsgruppe und Kontrollgruppe auszugleichen, sind sehr begrenzt. Diskutiert wird z. B, einen Standarddialog für den Kontakt vorzugeben, der sich rein auf die Behandlung bezieht. Ein 2002 publizierter Review zur Wirksamkeit spinaler manueller Therapie bei Kopfschmerzen kommt bezüglich der Migräne zum Schluss, dass es sich hierbei um eine möglicherweise effektive Therapie handelt, die einen vergleichbaren Effekt wie die Einnahme von Amitriptylin haben soll [1]. Die Einzelfallerfahrungen und die ermutigenden Resultate der jedoch unzureichenden Studien sollten Anlass sein, diese Verfahren systematisch mittels geeigneter Studienprotokolle zu untersuchen.

Massage

Theoretische Konzepte

Massage soll über allgemeine Entspannung, das Lösen von muskulären Verspannungen, das Einwirken auf Triggerpunkte und die Verbesserung der lokalen Durchblutung positiv wirken.

Studien zur Massage bei Migräne

Identifiziert werden konnte nur eine kontrollierte randomisierte Studie ([22]; Tab. 1). Die Autoren selbst führen die Verringerung der Kopfschmerzhäufigkeit (Reduktion der mittleren Kopfschmerzfrequenz von 1,52 Attacken in der Baseline-Phase auf 1,07 im Follow-up, p<0,05) am ehesten auf eine Stressreduktion zurück. Die Massagen hatten keinen Einfluss auf die Intensität der Schmerzen oder den Medikamentenverbrauch (Tab. 1).

Bewertung der Studien

Ein klinisch nachhaltiger Therapieeffekt ist wenig überzeugend, die geringen Therapieeffekte am ehesten unspezifisch. Die Beobachtungszeit war mit einem Follow-up von 3 Wochen sehr kurz und betrug nur die Hälfte des Interventionszeitraums. Bedacht werden muss der Zeit- und Kostenaufwand einer 6-wöchigen Massagetherapie für letztlich geringe Effekte.

Lymphdrainage

Theoretische Konzepte

Pathophysiologische Konzepte zur Wirksamkeit der manuellen Lymphdrainage bei Migräne beruhen auf der Vorstellung, extern angewandte physikalische Reize seien in der Lage, neuronale Aktivität im trigeminalen System zu beeinflussen. Eine Rolle dabei sollen vagotonisierende bzw. sympathikolytische Effekte, eine Aktivierung antinozizeptiver Systeme und eine Hemmung noradrenerger Neurone spielen. Diese Effekte sollen über subkutane Mechanorezeptoren und die durch die Massagetechnik hervorgerufene Entspannung vermittelt werden [34, 19]. Letztlich sind die Hypothesen zum Wirkmechanismus der Lymphdrainage nach heutigen Vorstellungen nur unzureichend untermauert.

Studien zur Lymphdrainage bei Migräne

Lymphdrainage wird häufig im Rahmen sog. „Migränekuren“ angeboten. Zur Effektivität der Lymphdrainage bei Migräne liegen jedoch keine randomisierten Studien vor. Es findet sich lediglich eine kleine Fallserie über die Behandlung von 3 Einzelpatienten, deren Krankheitsverlauf und Behandlungserfolg mittels Tagebuch und SF-36 erfasst wurden. Keiner der 3 Patienten hatte in der Interventionsphase Migräneattacken. Die Werte 2 Wochen vor und 2 Wochen nach Behandlung waren vergleichbar, sodass sich kein über den Behandlungszeitraum hinausgehender Effekt zeigen ließ ([21]; Tab. 1).

Bewertung der Studien

Neben der kleinen Fallzahl müssen die kurze Baseline- und Follow-up-Phase kritisiert werden. Der Autor merkt korrekt an, dass die positive Erwartungshaltung der Patienten und ein Placeboeffekt zusätzlich Einfluss auf das Ergebnis hatten. Eine fundierte Aussage zur Wirksamkeit der Lymphdrainage lässt sich aufgrund der Datenlage nicht treffen.

Diskussion: Unzureichende Datenlage zur Beurteilung der Wirksamkeit in der Migränetherapie

Die Frage der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der vorgestellten Verfahren kann aufgrund der vorliegenden Studienlage nicht abschließend beantwortet werden. Auch wenn sich aus einigen Studien Hinweise auf eine mögliche Wirksamkeit ableiten lassen und klinische Erfahrungen mit einer Reihe von Patienten für eine Wirksamkeit sprechen, sind die Daten für eine auf höherem Evidenzlevel basierende Aussage nicht ausreichend. Die Arbeiten sind bezüglich der Zahl der eingeschlossenen Patienten überwiegend zu klein, um valide statistische Auswertungen vorzunehmen. Eine Metaanalyse ist aufgrund der Inhomogenität der Studien und der Daten nicht möglich. Die Daten sprechen dafür, dass spinal manipulative Verfahren (Manualtherapie) möglicherweise wirksam sind, hier sind immerhin einige positive Bewertungen aus den Daten ableitbar. Die im Hinblick auf den Evidenzlevel schlechte Datenqualität der Studien zum Thema erklärt sich durch eine Reihe methodischer Probleme der Studien. Es ist kaum möglich, physiotherapeutische Behandlung als Studieninterventionen zu verblinden, die Durchführung einer Scheinintervention (bzw. Einsatz von Placebo) in der Kontrollgruppe ist ebenso problematisch. Eine alleinige Wartegruppe als Kontrolle ist unzureichend, weil alle vorgestellten Verfahren mit Zuwendung, Gespräch u. Ä. einhergehen, die weit über die reine Manipulation an Gelenken, Muskeln oder Bändern hinausgehen und eine verfahrensunabhängige Wirkung haben könnten. Problematisch ist, dass Patienten, die primär eine nichtmedikamentöse Intervention wünschen, einer Randomisierung in einen rein pharmakologischen Behandlungsarm selten zustimmen; dies war auch bei den in Deutschland durchgeführten Studien zur Akupunktur beim Kopfschmerz bereits ein zentrales Problem. Anzustreben ist, dass zeitgleich keine medikamentöse Prophylaxe und keine Muskelrelaxanzien zusätzlich eingenommen werden, um die Therapieeffekte klar zuordnen zu können. Die Daten zur Massage und Lymphdrainage sind völlig unzureichend.

Unabdingbar ist, bei künftigen Studien die Studienpopulation klar zu definieren. Die Anwendung der Kriterien der IHS in der aktuellen Fassung (ICHD-II) ist zu fordern [20]. Bei der Untersuchung von Patienten mit Migräne sollte Migräne der alleinige (oder zumindest überwiegende) Kopfschmerz sein oder ein potenziell zusätzlicher Kopfschmerz standardisiert klassifiziert werden. Begleitend vorliegende perikranielle Myogelosen, auf die solche Therapieverfahren am ehesten Einfluss nehmen könnten, müssen standardisiert erfasst und im Verlauf nachverfolgt werden. In den vorliegenden Arbeiten sind die verwendeten Interventionen häufig schlecht beschrieben und nicht standardisiert angewandt. In der Literatur werden die Begriffe Chirotherapie, Manualtherapie und Physiotherapie teilweise unterschiedlich gebraucht, und es bleibt häufig offen, welche Behandlung tatsächlich durchgeführt wurde [5]. Unklar ist häufig, ob alle Therapeuten tatsächlich die gleiche Behandlung durchführten sowie eine vergleichbare Ausbildung und Berufserfahrung aufwiesen. Problematisch ist ferner, dass es sich um sehr individuell anzuwendende Verfahren handelt. Die Intervention, die vorgenommen wird, muss klar definiert sein.

Darüber hinaus waren die erfassten Zielgrößen sehr unterschiedlich. Hier sollten Kopfschmerzhäufigkeit und -intensität mit Tagebüchern wie in randomisierten, kontrollierten Studien mit pharmakologischen Wirkstoffen untersucht werden. Ziel wäre dann das Erreichen einer Halbierung der Kopfschmerztage/Monat bei 50% der eingeschlossenen Patienten. Zusätzlich sollten die Belastung durch Kopfschmerzen („burden of disease“) und die damit einhergehende Beeinträchtigung der Lebensqualität erfasst werden, geeignet sind hierzu MIDAS, HIT-6 und SF-12.

Um eine Nutzen-Risiko-Abschätzung vornehmen zu können, sollte die mögliche Auslösung von Attacken durch eine physiotherapeutische Behandlung oder andere Nebenwirkungen erfasst werden. Bedacht werden muss gerade bei ökonomischen Abwägungen, wie groß der Aufwand für die Patienten ist, z. B. 1- bis 2-mal wöchentlich eine physiotherapeutische Behandlung und die Wegstrecke zu dieser, Umkleidezeit usw. aufzubringen, wenn die Wirksamkeit nicht ausreichend belegt ist oder einer einfachen Einnahme von z. B. Amitriptylin gleichwertig ist [1].

Multimodale Therapieprogramme für Kopfschmerzpatienten, die auch Physiotherapie beinhalten, sind wirksam und unimodalen Ansätzen meist überlegen [23]. Die Daten zur Wirksamkeit hieraus sind jedoch nicht geeignet, den therapeutischen Effekt eines einzelnen Therapiebausteines (z. B. einer singulären physiotherapeutischen Maßnahme) zu quantifizieren. Wahrscheinlich erklärt sich die Wirksamkeit multimodaler Therapien weniger aus einem spezifischen physiologischen Effekt, sondern einem therapeutischen Konzept, welches unterschiedlichste Aspekte der Erkrankung berücksichtigt. Es werden unterschiedlichste Faktoren adressiert, die zu einer Verbesserung der Schmerzsymptomatik führen können (u. a. Aufbau einer therapeutisch tragfähigen Bindung, intensive therapeutische Zuwendung, Förderung schmerzbedingter Kontrollüberzeugungen, verbesserte Selbstwirksamkeit). Diese Dinge sind wohl auch für die Wirksamkeit von Physiotherapie bei der Migräne von Bedeutung.

Fazit für die Praxis

Im Gegensatz zu anderen Autoren [4], die schreiben, z. B. die Manualtherapie sei „keineswegs eine adjuvante Therapie in der Behandlung von Kopfschmerzen“, sondern „eine echte Alternative“, kommen wir zum Schluss, dass bei einzelnen Patienten physiotherapeutische Verfahren einen Stellenwert haben können, insgesamt eine abschließende Bewertung der Einzelverfahren aufgrund der schlechten Datenlage aber nicht möglich ist. Da sich physiotherapeutische Maßnahmen in Zeiten zunehmender Akademisierung mit Studiengängen nach dem Vorbild von Australien und den Niederlanden auch wissenschaftlich stärker in den Fokus des medizinischen Interesses rücken, ist zu wünschen, dass auch die spezifische Bedeutung physiotherapeutischer Maßnahmen bei der Migräne in einem geeigneten und differenzierten Paradigma überprüft wird. Der Stellenwert der genannten Verfahren in einem multimodalen Therapieprogramm im Zusammenspiel von schmerzpsychologischer Betreuung, Psychoedukation und medikamentöser Prophylaxe ist möglicherweise höher als in unimodalen Therapieansätzen, dies ist jedoch ebenfalls durch entsprechende Studien letztlich noch zu belegen.