Diagnose

Begriffsbestimmung und Klassifikation

Als Begriff ist die „Fibromyalgie“ (FM) oder das „Fibromyalgiesyndrom“ (FMS) seit der Festlegung der Klassifikationskriterien durch das American College of Rheumatology (ACR) im Jahr 1990 eine feststehende Krankheitsbezeichnung. Die vor dieser Zeit gebräuchlichen Begriffe „Fibrositis“ im angloamerikanischen oder „generalisierte Tendomyopathie“ im deutschen Schrifttum wurden dadurch ersetzt. Die ACR-Kriterien wurden in einer Multizenterstudie entwickelt und überprüft. Patienten mit entzündlich rheumatischen Erkrankungen und Osteoarthrosen wurden als Kontrolle herangezogen. Sensitivität und Spezifität der ACR-Kriterien betrugen in der Abgrenzung zu den genannten Erkrankungen 88% bzw. 81% [35]. Dadurch haben die Kriterien als Diagnostikum Eingang in den klinischen Alltag gefunden, denn durch die Art der Bestimmung des Krankheitsbegriffs per consensum sind Definition, Diagnose und Klinik ineinander greifend. Durch die Festlegung der Kriterien wurde eine Abgrenzung zu anderen weichteilrheumatischen Erkrankungen geschaffen. Letztere spielen denn auch in der Differenzialdiagnose zur FM eine maßgebliche Rolle (s. Abschn. „Differenzialdiagnose“).

Ausschlag gebend für die Definition dieses Krankheitsbilds, das konsensuell gefasst ist und keine nosologische Entität darstellt, war das Bemühen, den seit Jahrzehnten bekannten Symptomenkomplex, unter eine einheitliche Krankheitsbezeichnung zu stellen. Dabei bleiben, damals wie heute, das gleichmäßige Muster der Symptomenkonstellation auffallend konstant und die röntgenologische, laborchemische und klinische neuroorthopädische Diagnostik ohne fassbare Pathologika. Die klinisch fassbaren Störungen sind der Schmerz selbst und die durch die konkomitanten muskuloskelettalen, vegetativen und psychischen Störungen bedingten Beeinträchtigungen. Das Fehlen objektivierbarer Befunde, sowie die Formulierung der Klassifikationskriterien auf somatischer Ebene führten zu der Kritik, dass die Symptomatologie der FM kein eigenständiges Krankheitsbild darstelle, sondern der somatoformen Schmerzstörung bzw. der Somatisierungsstörung zuzuordnen sei [16]. Beide Tatbestände sind im Sinne einer konsensuellen Vereinheitlichung durchaus keine Schwäche, soll aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass es bei der Beurteilung der FM nur auf die Erfüllung der ACR-Kriterien auf der somatischen Ebene ankomme.

Eine weitere wichtige Gegebenheit der FM, die mit dem Fehlen objektivierbarer Befunde einhergeht, ist die Schwierigkeit der Begutachtung der Fibromyalgie [14]: Zwischen der nur partiellen Akzeptanz der Krankheitsbezeichnung Fibromyalgie (im ICD-10 unter M 79.0 aufgenommen) und den Versorgungs- und Entschädigungsansprüchen betroffener Patienten [4] besteht ein Spannungsfeld; deswegen bedarf die FM einer sachlichen und differenzierten Betrachtung auf der Basis wissenschaftlicher Studien [11].

Die Einteilung der FM in eine primäre und eine sekundäre Form wird unterschiedlich beurteilt: Während US-amerikanische Expertenkommissionen festlegen, dass die FM keine Ausschlussdiagnose ist sowie neben und unabhängig von einer anderen Erkrankung diagnostiziert werden kann, wird von Autoren im deutschsprachigen Raum eine primäre von einer sekundären FM unterschieden [18]. Eine Unterscheidung erscheint aus der Sicht der amerikanischen Experten deswegen fraglich, weil nach den ACR-Kriterien festliegt, ob eine FM vorliegt oder nicht, unabhängig von einer Grunderkrankung, die als primär anzusehen wäre. Andererseits gibt die Unterscheidung der deutschen Experten zwischen primärer und sekundärer FM vor, gezielt nach einer möglichen Grunderkrankung zu suchen.

Diagnostische Kriterien

Hauptbedingungen der ACR-Kriterien

Der Symptomenkomplex, der das Krankheitsbild der FM auszeichnet, besteht aus multilokulären ausgedehnten Dauerschmerzen mit wechselnder Intensität, die im Bereich der Muskulatur und der gelenknahen Weichteile empfunden werden, assoziiert mit funktionellen, vegetativen Beschwerden und psychischen Beeinträchtigungen. Das FMS wird definiert durch:

  1. 1.

    Ausgebreitete persistierende Schmerzen seit mindestens 3 Monaten („widespread pain“).

    Als „ausgebreitete Schmerzen“ werden Schmerzen im Bereich der rechten und/oder linken bzw. oberen und/oder unteren Körperhälfte, im Bereich der Wirbelsäule und in einer weiteren Schmerzregion definiert (Tabelle 1). Als zeitliches Kriterium gilt, dass die Beschwerden seit mindestens 3 Monaten bestehen müssen.

    Tabelle 1 Erläuterung des Begriffs „widespread pain“
  2. 2.

    Mindestens 11 von 18 definierten lokalen Druckschmerzpunkten („tender points“) reagieren positiv.

    Die nach den ACR-Kriterien festgelegte Lage der Tender points bei FM zeigt Tabelle 2.

    Tabelle 2 Lokalisation der „tender points“ bei der Fibromyalgiepalpationsdiagnostik

Beide Hauptbedingungen (Widespread pain und Tender points) müssen für die Diagnosestellung der FM erfüllt sein. Dass 18 Tender points definiert wurden, bedeutet nicht, dass es an anderen gleichartigen Strukturen keine entsprechenden Druckpunkte gäbe; anatomisch gibt es über 70 mögliche Stellen. Die Auswahl der Punkte erscheint daher etwas willkürlich. Sie sind jedoch so ausgesucht, dass sie bei Druckschmerzhaftigkeit der Bedingung von generalisierten, weit gehend symmetrischen Muskelschmerzen Rechnung tragen. Die Untersuchung ist für den Patienten nicht allzu belastend und in kurzer Zeit durchführbar; sie liefert auch gut reproduzierbare Befunde.

Kontrollpunkte

Die Lage der empfohlenen Kontrollpunkte zeigt Tabelle 3 [17]. Der Grundgedanke der Kontrollpunkte geht auf die Überlegung zurück, dass FM-Patienten und Gesunde hinsichtlich der Druckempfindlichkeit sich nicht an den Kontrollpunkten, wohl aber an den Tender points unterscheiden [25]. Die diagnostische Wertigkeit der Kontrollpunkte wurde zwischenzeitlich relativiert: Da heute die Auffassung vorherrscht, dass die Druckempfindlichkeit bei der FM eher ein Schwellenproblem der Empfindung darstellt, sollten Patienten mit positiven Kontrollpunkten nicht von der Diagnose einer FM ausgeschlossen werden. Wolfe [34] hat dies 1998 empfohlen, weil er bei 63% der FM-Patienten positive Kontrollpunkte gefunden hat. Die Kontrollpunkte als Ausschlusskriterium anzuwenden hieße, dass der Fehler einer falsch-negativen Diagnose zu häufig aufträte.

Tabelle 3 Lokalisation der Kontrollpunkte bei der Fibromyalgiepalpationsdiagnostik

Durchführung der Druckpalpation

Es wird empfohlen, die Palpation der Punkte entweder durch Daumendruck oder durch den Druckgeber eines Dolorimeters mit 4 kp/cm2 durchzuführen [17]. Die Unterscheidung eines positiven von einem negativen Tender point wird dabei allein durch die Angabe der Schmerzhaftigkeit durch den Patienten festgestellt. Wenn kein technisches Hilfsmittel zur Verfügung steht, kann das Verschwinden der Rosafärbung des Nagelbettes als Orientierung der Druckstärke dienen. Nach eigenen Tests tritt diese Entfärbung des Nagelbettes bei gesunden Normotonikern aber schon ab einem Druck von 1,7 kp/cm2 auf. Das Einüben einer Druckgebung mit Hilfe eines technischen Hilfsmittels, das ein Analogsignal abgibt oder den Druck digital anzeigt, ist daher empfehlenswert, weil die Druckgebung ungeübter Untersucher verhältnismäßig stark variiert. Der Arbeitskreis Fibromyalgie der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) hat auf seiner Oktobertagung 2002 empfohlen, den Druck auf jeden Tender point über 1 s möglichst gleichmäßig auszuüben und die Schmerzreaktion nicht auf die Angabe „schmerzhaft oder nicht“ zu beschränken, sondern den empfundenen Schmerz als Zahlenwert von 0–10 entsprechend der in der Schmerztherapie üblichen Quantifizierung angeben zu lassen. Auf diese Weise ist die Errechnung eines Scores über alle getesteten Punkte möglich. Weitere Untersuchungen zur Validierung dieses Vorgehens stehen noch aus.

Diagnostische Kriterien nach Müller und Lautenschläger

In der Praxis bereitet die Feststellung der positiven Tender points nach den ACR-Kriterien weniger Probleme als die Erfassung der vegetativen und funktionellen Störungen, insbesondere inwieweit sie für die Diagnosestellung der FM zu berücksichtigen sind. Durch Nebenkriterien erweitert sich der diagnostische Blick auf ein polysymptomatisches Beschwerdebild mit vegetativen funktionellen Beeinträchtigungen und psychischen Beschwerden. Hier sind baldmöglichst Fragen nach Untergruppen des FMS zu klären und eine klinisch sowie gutachterlich brauchbare Einteilung in Schweregrade, wie sie von Häuser [11] vorgeschlagen wird, umzusetzen.

Empfehlenswert sind hinsichtlich der Nebenkriterien die in Deutschland verwendeten Kriterien von Müller u. Lautenschläger (Tabelle 4). Sie berücksichtigen im klinischen Bild neben den Tender points zusätzlich die begleitenden autonomen Funktionsstörungen—ähnlich wie schon zuvor von Yunus beschrieben—sowie die psychischen Störungen.

Tabelle 4 Diagnostische Kriterien der Fibromyalgie nach Müller u. Lautenschläger [17]

Von den vegetativen Beschwerden stehen die Schlafstörung und die Müdigkeit im Vordergrund. Ferner zeigt sich bei den Betroffenen neben der Symptomatik am Bewegungssystem eine verminderte körperliche Leistungsfähigkeit; hierbei weist die Muskulatur eine schnelle Erschöpfbarkeit mit langsamer Erholbarkeit auf (s. Abschn. “Ätiologie und Pathogenese“).

Allen diesen vegetativen und funktionellen Störungen ist gemeinsam, dass sie im Einzelnen keinen Befund darstellen, der diagnostisch Weg weisend für die FM wäre. Auch stellen diese Störungen keine spezifischen Befunde dar. Jedoch lassen sie in ihrer Gesamtsicht und in ihrem Muster bei der FM eine gewisse Regelhaftigkeit erkennen, die für die FM, wenn auch nicht spezifisch, so doch typisch ist. Von den genannten Nebenkriterien sollen mindestens 3 erfüllt sein [10].

Differenzialdiagnostik

Trotz normaler Untersuchungsbefunde bei der FM bedarf es einer präzisen Differenzialdiagnostik zu anderen Erkrankungen, die mit regional begrenzten bzw. diffusen Dauerschmerzen in den Weichteilen des Bewegungssystems einhergehen (Tabelle 5).

Tabelle 5 Auszuschließende Erkrankungen bei der Differenzialdiagnostik der Fibromyalgie

Differenzialdiagnose zwischen Tender points und Trigger points

Eine besondere praktische Bedeutung kommt der Differenzialdiagnostik zwischen Tender points und myofaszialen Triggerpunkten zu, da Triggerpunkte lokal behandelt werden können. Diese sind bei einer FM zwar meist auch vorhanden; umgekehrt lassen sich bei einem myofaszialen Schmerzsyndrom aber keine Tender points finden [26]. Die folgenden typischen Erkennungszeichen eines Triggerpunktes sind in seiner Eigenschaft eines lokalen schmerzhaften Kontraktionsknotens begründet, die beim Tender point fehlen:

  • palpable Muskelverhärtung mit

  • „jump sign“ auf lokalen Druck ( = klingelknopfartige heftige Schmerzreaktion),

  • „taut bands“ (histologisch erkennbare sekundäre Dehnung der angrenzenden Muskelfasern) und

  • „twitch response“ (= Einzelzuckung auf lokale mechanische Reizung).

Die Unterscheidung zwischen Triggerpunkten und Tender points ist der Differenzialdiagnose zwischen myofaszialem Schmerzsyndrom und Fibromyalgie äquivalent (Tabelle 6).

Tabelle 6 Differenzialdiagnostik zwischen myofaszialem Schmerzsyndrom und Fibromyalgie

Dilemma der Früherkennung

Die Zeit bis zur Diagnosestellung beträgt im Mittel 7 Jahre. Es ist nicht möglich, eine beginnende FM mit noch lokal begrenzter Enthesiopathie schon als solche zu erkennen, denn bei fehlenden Prädiktoren für die FM lässt sich zwischen lokalen Enthesiopathien und dem Beginn einer FM nicht sicher unterscheiden. Somit wird verständlich, dass die Diagnose FM oft erst mit Eintreten der Generalisierung der Schmerzen gestellt wird.

Untersuchung

Zur Dokumentation und Therapieevaluation der Schmerzen werden eine Schmerzanamnese und -analyse mit standardisierten Erhebungsinstrumenten, wie in der Schmerzdiagnostik üblich, gefordert. Für die Verlaufsbeurteilung der Therapie von FM-Patienten kann der „Fibromyalgia Impact Questionnaire“ verwendet werden: Er besteht aus 10 Fragen und lässt sich leicht in andere Fragebogen ein- oder an sie anfügen [21]. Er erfasst die subjektiven Beeinträchtigungen in den alltäglichen Verrichtungen, eignet sich daher gut für die Therapieevaluation, aber wegen der ausschließlich subjektiven Eigenaussagen nicht für die gutachtliche Beurteilung. Alternativ steht der „Pain Disability Index“ (PDI) zur Verfügung.

Bei FM-Patienten ist eine psychologische Diagnostik generell erforderlich. Dafür bestehen 2 Gründe:

  1. 1.

    die relativ hohe Komorbidität mit psychischen Störungen bei FM-Kranken und

  2. 2.

    die generell bei chronisch Schmerzkranken nicht mehr verzichtbare Ausweitung der Diagnostik und Therapie auf die soziosomatopsychische Ebene.

Psychologische Diagnostik

Im Erstinterview der FM-Patienten sind 3 Besonderheiten zu berücksichtigen:

  1. 1.

    Die Kausal-und Kontrollattributionen der FM-Patienten spielen im Arzt-Patienten-Verhältnis eine große Rolle, da sie für die Prägung des Copingstils der Patienten im weiteren Verlauf der Erkrankung verantwortlich sind.

    Durch v. Arnim konnte gezeigt werden, dass alle Patientinnen einer in Erlangen durchgeführten Pilotstudie, die z. T. schon jahrzehntelang an FM erkrankt waren, ein Vermeidungsverhalten aufwiesen, nicht nur von körperlichen Aktivitäten, sondern auch von freudebringenden Hobbys. Sie zogen sich auf ihr Leiden zurück und bestimmten ihre Identität überwiegend durch die Diagnose „Fibromyalgiepatientin“ [1].

  2. 2.

    Damit im Zusammenhang steht die Beobachtung, dass FM-Patienten, wenn bei ihnen die Diagnose FM gestellt wurde, oft erleichtert in dem Sinne sind, dass sie „nun endlich wüssten, was sie hätten“, und sich schon während des Erstkontaktes auf eine organische Verursachung ihres Leidens fixiert zeigen. Der Empfehlung einer Mitbehandlung auf psychologischer Ebene begegnen sie zunächst mit Skepsis, sehr oft berichten sie als Grund dafür, dass sie sich von Vorbehandlern als Simulanten verunglimpft gefühlt hätten [1]. Daher bedürfen FM-Patienten schon zu Beginn der Arzt-Patienten-Beziehung einer entsprechenden Aufklärung und Motivation, auf der psychologischen Therapieebene mitzuarbeiten.

  3. 3.

    Besonders auffällig ist die Tatsache, dass bei etwa zwei Drittel der Patienten ein frühkindlicher Missbrauch oder Gewalt gefunden wurden [8].

Psychometrische Untersuchungen

Die psychologische Diagnostik hat demzufolge und unter Berücksichtigung der konkomitanten psychischen Beeinträchtigungen folgende Symptome und Gegebenheiten zu erfassen, die mit den beispielhaft in Klammern angegebenen Instrumenten erfragt bzw. ermittelt werden können:

  • Depressivität (z. B. mit ADS-K, allgemeine Depressivitätsskala nach Hautzinger u. Bailer),

  • Schmerzverhalten und soziale Unterstützung (z. B. mit SSQ-6, „Social Support Questionaire“),

  • frühkindlicher Missbrauch (z. B. mit CTQ, „Childhood Traumatization Questionnaire“),

  • posttraumatische Anpassungsstörung (z. B. mit PDS, „Posttraumatic Disease Scale“),

  • Verlust-und Versagungszustände (biographische Anamnese),

  • Erfahrungen mit bisherigen Therapien,

  • psychiatrisches Screening (SCL90-R, „Symptom Check List“ in der revidierten Fassung).

Alternativ zu den vorgenannten Erhebungsinstrumenten kann die SBAS (strukturierte biographische Anamnese für Schmerzpatienten), die die oben genannten Parameter und zusätzlich eine Einschätzung der Grundstimmung und der Übertragung des Patienten beinhaltet, verwendet werden [7].

Klinik

Epidemiologische Daten

Häufigkeit

Die FM findet sich

  • in ca. 3% der Bevölkerung (Raspe u. Baumgartner, 1992, zit. nach [1]),

  • bei ca. 6% der Patienten einer Allgemeinpraxis,

  • bis ca. 20% der Patienten in Rheumakliniken (Samborski u. Andren, 1992, zit. nach [1]).

Altersverteilung

  • Der Gipfel liegt bei 24–50 Jahren.

  • Der Erkrankungsbeginn liegt um das 35. Lebensjahr.

  • Das klinische Vollbild besteht meist zu Beginn der Menopause.

  • Retrospektiv lässt sich zeigen, dass die Zeit bis zur Diagnosestellung FM bis zu 7 Jahre beträgt.

Assoziierte Symptome

Die Häufigkeit assoziierter Symptome beträgt bei

  • Parästhesien etwa 60%,

  • Kopfschmerzen vom Spannungstyp über 50%.

Dazu finden sich andere vegetative Symptome wie in Tabelle 4 dargestellt.

Überlappungen mit anderen funktionellen somatischen Syndromen

Es bestehen Überschneidungen zu den folgenden Erkrankungen, die vegetative Störungen als charakteristisches Symptom besitzen [5]:

  • chronisches Müdigkeitssyndrom in 58% der Fälle,

  • Reizdarmsyndrom in 32–60% der Fälle,

  • Reizblase in 40–60% der Fälle,

  • „Restless-legs-Syndrom“ in 31% der Fälle,

  • Schlafstörungen 90–100% der Fälle, besonders Störung der Tiefschlafphase IV (Non-REM-Phase), die zu einem Gefühl der Zerschlagenheit am folgenden Morgen und dem Gefühl eines nichterholsamen Schlafes führt,

  • multiple Chemikalienunverträglichkeit in 52% der Fälle.

Psychische Störungen werden in insgesamt 60–78% der Fälle beschrieben; sie treten in den folgenden Formen auf [32]:

  • überschießende Reaktion auf physischen und psychischen Stress mit rascher Ermüdbarkeit und Erschöpfung, geringer Belastbarkeit, Leistungs-und Konzentrationsschwäche,

  • gehäuft depressive Störung,

  • gehäuft Angststörung.

Die Abgrenzung der FM gegenüber psychischen Störungen wird kontrovers diskutiert. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand lässt sich formulieren, dass mit dem FMS assoziierte psychische Störungen häufig, aber nicht obligat sind. So zeigt sich die Lebenszeitprävalenz von Angststörungen, depressiven Störungen und somatoformen Störungen bei FM-Patienten im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung und im Vergleich zu entzündlich-rheumatischen Erkrankungen erhöht [2, 5, 6]. Bei nur einem Teil der FM-Patienten lassen sich parallel die ICD-10-Kriterien einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung anwenden [3]. Dieser Tatbestand lässt anzweifeln, dass die FM eine Sonder- oder Unterform einer psychischen Erkrankung ist. Insbesondere bestehen z. Z. aus den bisher vorliegenden Untersuchungsergebnissen auch keine Hinweise darauf, dass die FM eine Variante einer Major Depression ist. Die Häufigkeit der FM ist bei Patienten mit einer Major Depression nicht höher als in der Gesamtbevölkerung.

Ätiologie und Pathogenese

Während im Jahre 1994 ein internationaler Expertenkonsens unter der Schirmherrschaft der Canadian Physical Medicine Research Foundation zum Ergebnis hatte [33], dass die unten genannten Faktoren weit gehend gesichert als FM auslösende bzw. chronifizierende Faktoren angesehen werden können, wurde im Jahre 1998 in Neuseeland unter der Schirmherrschaft der Accident Rehabilitation and Compensation Insurance auf einer nationalen Expertenkonferenz mehrheitlich dafür votiert, dass die Ursachen der FM nicht bekannt sind [23].

Eine mögliche Kaskade pathogenetischer Bedingungen und Abläufe für das Entstehen abnormer Schmerzempfindung und gesteigerten Schmerzerlebens wurde von Weigent et al. postuliert [31], an deren Ende die für die FM charakteristische erniedrigte Schmerzschwelle mit generalisiertem andauerndem Schmerz steht (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Konzept der Entstehung abnormer Schmerzempfindung bei der FM nach Weigent et al. [31]. (HPA) Hypothalamus-Hypophyse-Nebenniere, (HPT) Hypothalamus-Hypophyse-Schilddrüse, (HPG) Hypothalamus-Hypophyse-Gonaden, (GH) Wachstumshormon („growth hormone“), (LC) Locus coeruleus, (NE) Noradrenalin („norepinephrine“), (NGF) Nervenwachstumsfaktor („nerve growth factor“), (SP) Substanz P, (CGRP) „calcitonin-gene-related peptide“, (iCBF) intrazerebraler Blutfluss

Wahrscheinlich an der Fibromyalgie beteiligte pathophysiologische Mechanismen

Endokrine Dysfunktionen

Als Auffälligkeiten mit Verdacht auf pathogenetische Bedeutung für das Zustandekommen der FM, zumindest als Epiphänomen, gelten aufgrund der Bedeutung innerhalb einer möglichen Kaskade insbesondere folgende Störungen auf endokriner Ebene:

  • Dysfunktion auf der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse („hypothalamic-pituitary-adrenal axis“, HPA-axis) im Sinne einer Hyperreaktivität.

    Hyperfunktion der Nebennierenrinde mit insbesondere abends erhöhtem Kortisolspiegel und aufgehobener zirkadianer Rhythmik, aber mangelndem Anstieg des Kortisols unter körperlicher Belastung; erniedrigte Kortisolspiegel unter unstimulierten Bedingungen, eine reduzierte Kortikotropin- (ACTH-)Freisetzung nach exogener Verabreichung von „corticotropin releasing hormone“ (CRH) sowie eine Supersuppression der Kortisolfreisetzung nach Dexamethasongabe.

  • Ferner findet sich eine Dysfunktion der Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse („hypothalamus-pituitary-thyroid axis“, HPT-axis).

    Die Änderung betrifft eine Störung der Konversion von freiem Thyroxin (fT4) in freies Trijodthyronin (fT3); hieraus folgt ein Absinken des biologisch relevanten fT3 bei gleichzeitig niedrigem thyreoidstimulierenden Hormon (TSH).

  • Weiter wurden niedrigere Werte für freies und gebundenes Kalzium im Vergleich zu Gesunden gefunden, während Kalzitonin herunter- und Parathormon als Folge der niedrigen Kalziumwerte hochreguliert erscheint.

  • Außerdem zeigte sich eine v. a. nächtlich verminderte Sekretion von Wachstumshormon und damit als Konsequenz ein erniedrigtes Somatomedin C. Dies dürfte mit den Schlafstörungen zusammenhängen, da die Sekretion von Wachtumshormon physiologischerweise an den Schlaf gebunden ist.

Viele der endokrinen Regulationsänderungen finden ihre Entsprechungen in den Symptomen der die FM begleitenden funktionell organischen Störungen (Tabelle 7):

Tabelle 7

Unbestritten sind die in weiteren Untersuchungen zu klärende, z. T. beträchtliche Erhöhung von Substanz P im Liquor cerebrospinalis (bis zum 5-fachen) [24] sowie die Erniedrigung von Serotonin und Tryptophan in Serum und Liquor. Diese Abweichungen der Hormonregulation und der Transmitter können auch die Folge von Dysregulationen auf höherer Ebene sein.

Aus neuroendokrinologischen Untersuchungen ist schon länger bekannt, dass im Rahmen der chronischen Stressreaktion bei FM hypothalamische CRH-produzierende Neurone aktiviert werden [29]. „Corticotropin releasing hormone“ ist u. a. für die Ausschüttung einer Reihe von Zytokinen verantwortlich. Seine Aktivitätssteigerung führt auch zu Ängstlichkeit und Depressivität und könnte damit die begleitenden psychischen Störungen bei FM-Patienten erklären [30].

Schließlich sind FM-Patienten wesentlich empfindlicher für Stress. Überhaupt ist die Konstellation der endokrinologischen Dysfunktionen und der psychischen Störungen ein starkes Indiz für eine andauernde überschießende Antwort auf Stressreize. Neeck u. Riedel sehen im Verhalten und in den Veränderungen der Hormonregulation FM-Kranker Ähnlichkeiten mit dem „sickness behaviour“ kranker Individuen, wie es auch bei im Sozialverbund lebenden Tieren beobachtet werden kann. Die überhöhte „Stressantwort“ des FM-Kranken spielt dabei eine chronifizierende Rolle, indem die CRH-produzierenden Neurone des Hypothalamus auch auf vergleichsweise banale Reize des täglichen Lebens mit Stressantwort auf relativ hohem Niveau antworten [20].

Dysfunktion des autonomen Nervensystems

Es besteht ferner die Hypothese, dass die meisten Symptome der FM auf eine Dysfunktion des autonomen Nervensystems (vermehrte sympathische und verminderte parasympathische Aktivität) zurückgeführt werden können [15]. Ein andauernd erhöhter nozizeptiver Einstrom ist in der Lage, die Neuromodulation der sensiblen afferenten Impulse zu verändern. Noch ist nicht vollständig geklärt, welche Mechanismen den nozizeptiven Input zu Gunsten der schmerzhemmenden Modulation verstärken. Sicher scheint, dass eine anhaltende Hemmung des absteigenden schmerzhemmenden Systems auf supraspinaler Ebene zu dauerhafter Enthemmung aktivierender Neurone führen kann [16].

Wegbereiter für die FM auf der psychologischen Ebene sind nach Bennett [3], Ecker-Egle [6] und Wolfe [33]:

  • psychosoziale Belastungen und aktuelle/frühere psychische Störungen (bei FM häufig, aber nicht obligat),

  • sensorische Hypervigilanz (möglicherweise als Angstäquivalent),

  • biographische Belastungen im Sinne negativer Kindheitserfahrungen (emotionale Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch),

  • überaktiver Lebensstil (zur Kompensation eines niedrigen Selbstwertgefühls),

  • maladaptive Krankheitsbewältigung (geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugungen).

Autoren psychologischer Untersuchungen zur FM betonen, dass die Befunde der psychosozialen Belastungsfaktoren bei Patienten in der Tertiärversorgung gefunden wurden, die Befunde aber für dieses Patientenkollektiv nicht obligat sind. Die Bedeutung psychischer Komorbidität liegt mehr in der ungünstigen Auswirkung auf den Krankheitsverlauf und führt zu häufigeren Begleitsymptomen, stärkeren funktionellen Einschränkungen sowie zu höherer Inanspruchnahme medizinischer Leistungen [6].

Histologische Befunde

Reproduzierbare anatomische Veränderungen in der Muskel-Gewebsstruktur konnten bei chronischen Muskelschmerzen nachgewiesen werden, sind aber für die FM nicht spezifisch:

  • In einem geringen Prozentsatz FM-Kranker findet man eine diffuse Lipidvermehrung, die einem Karnitinmangel entspricht [28].

  • Überdurchschnittlich häufig ist dagegen das Zusammentreffen einer FM mit einem homozygoten Myoadenylatdesaminasemangel [27].

  • Weitere Veränderungen wie Muskel-Typ-II-Faser-Atrophie finden sich bei anderen inaktivitätsbedingten Zuständen [22].

Heutige Vorstellungen

Die aktuell attraktivste Interpretation all dieser Einzelbefunde besteht darin, dass aus chronischen, häufig lokalisierten Muskelschmerzen über spinale und supraspinale Mechanismen ein Syndrom generalisierter Muskelsehnenschmerzen entsteht und sich verselbstständigt. Dabei spielen eine zentrale Regulationsstörung und eine daraus folgende veränderte subjektive Schmerzwahrnehmung die Hauptrollen. Diese Vorgänge sind im engeren Sinne psychosomatisch bzw. somatopsychich, d. h. die Wechselwirkungen funktioneller somatischer Symptome, endokriner Regulation und psychischer Zustände und Geschehen beeinflussen sich wechselseitig negativ.

Verlauf und Krankheitsfolgen

Allgemein ist der Verlauf der FMS nicht sicher prognostizierbar. Er scheint von der Stufe der Versorgung, in der die FM-Patienten untersucht und behandelt werden, abzuhängen: Während 50% der FM-Patienten einer hausärztlichen Praxis nach 2 Jahren die ACR-Kriterien nicht mehr erfüllten [9], zeigten Patienten, die an rheumatologischen Zentren der Tertiärversorgung behandelt wurden, nach 7 Jahren unveränderte Schmerzen, Müdigkeit, Depressivität und Aktivitätseinbußen im Alltag [36].

Bei länger bestehender Erkrankung sind Folgen der FM objektivierbar; sie spielen eine bedeutende Rolle im Rahmen der Begutachtung [19]:

  • Reduktion der willkürlichen Muskelkraft der Flexoren und Extensoren an Knie und Ellbogen,

  • verminderte Ausdauerleistungsfähigkeit,

  • Verminderung der psychomotorischen Leistung mit Einschränkungen bei der Erledigung mentaler Aufgaben.

Die Hauptsymptomatik der FM (generalisierte Schmerzen, Erschöpfbarkeit) begrenzt qualitativ und quantitativ die Ausübung mittelschwerer und schwerer körperlicher bzw. andauernder leichter körperlicher Arbeiten, insbesondere in Zwangshaltungen und in klimatisch ungünstiger Umgebung [13]. Reizblasen- bzw. Reizdarmsymptomatik mit einhergehender Urge-Inkontinenz sowie mittelschwere und schwere Depressionen stellen weitere erhebliche Einschränkungen dar und können die Bemühung um geistige bzw. verantwortungsvolle Tätigkeiten vereiteln.

Durch die Diskrepanz zwischen zu erhebenden „objektiven“ Befunden bei der FM und den erheblichen Beschwerden der betroffenen Patienten kommt es in der Regel zu falsch-negativen Beurteilungen im Begutachtungswesen und im sozialen Entschädigungsrecht. Die Begutachtung hat sich daher bei Jahre bestehender Erkrankung auf die nachweisbaren Beeinträchtigungen und Funktionsstörungen und nicht auf das Fehlen „objektiver Befunde“ zu stützen. Dabei bleibt das Problem bestehen, die Beeinträchtigungen nach Größen zu bestimmen, die unabhängig von der subjektiven Darstellung des zu Untersuchenden erfasst werden können.

Ein gleich großes Problemfeld für die FM-Patienten stellt die gegenwärtige Situation in der Rehabilitation dar. Mit Stellung der Diagnose FM ist für die Betroffenen fast ein Jahrzehnt ins Land gegangen, das sie in die Chronifizierung und nicht auf den Weg von dort heraus gebracht hat. Diejenigen FM-Patienten, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, sind nach Ablauf weniger Jahre mit dieser Krankheit nicht mehr rehabilitierbar. Aufgrund dieser Erfahrungen kommen der korrekten und frühzeitigen Diagnosestellung sowie der multimodal/interdisziplinär zu konzipierenden Therapie mit dem Ziel der Symptomkontrolle und der Erhaltung der Funktion des Bewegungssystems wichtige präventive Bedeutung zu.