In der vorliegenden Arbeit stellen wir einen trinationalen Vergleich zwischen aktuell stark diskutierten „Richtlinien“ vor, die bei schwierigen Behandlungsentscheidungen am Lebensende ethische Orientierung geben sollenFootnote 1. Die Formulierung von medizinisch-ethischen „Richtlinien“Footnote 2 zu Fragen wie der Betreuung von Patienten am Lebensende, die gesellschaftlich und fachlich kontrovers diskutiert werden, hat in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen [21]. Dabei stand die Entwicklung der Kodifizierung von „Ethik“ in der biomedizinischen Forschung am Menschen Pate, die — spätestens seit der Verabschiedung des Nürnberger Kodex 1947 — Maßstäbe gesetzt hat, die international Bedeutung erlangt haben [27]. Fachgesellschaften und Berufsverbände formulieren Regelwerke mit der Zielsetzung, den Verantwortlichen bei der Entscheidungsfindung sowie der Begründung zu helfen; damit soll die ethische Dimension solcher Entscheidungen an Kriterien ausgerichtet werden, die rational vermittelt und nachvollzogen werden können. Dies gilt insbesondere für die sensible Problematik der Betreuung am Lebensende, die brisante Fragen des Sinns und der Grenzen von lebenserhaltenden Maßnahmen bei schwerstkranken und sterbenden Menschen aufwirft und vielen Ärzten in Klinik und Praxis nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten bereitet, wie dies u. a. für das Land Baden-Württemberg gezeigt werden konnte. Im Kommentar zu den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung führt Beleites aus, dass die „teils heftigen Reaktionen nach der Verabschiedung der Grundsätze zeigen, wie sehr das Thema Sterbebegleitung von gesamtgesellschaftlichem Interesse ist. (...) Ein umfassender Konsens zu dieser Thematik konnte bisher nicht erreicht werden“ [5].

Ebenso wie die Bundesärztekammer (BÄK) in Deutschland oder die British Medical Association (BMA) in Großbritannien, hat sich die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) in den letzten Jahren dafür eingesetzt, angemessene Richtlinien zu entwickeln bzw. bestehende Texte zu überarbeiten und an die Herausforderungen der praktischen Entscheidungen anzupassen [22, 24, 25]. In verschiedenen Untersuchungen, die unsere Arbeitsgruppe durchgeführt hatFootnote 3, konnten wir belegen, dass die Mitglieder der beteiligten klinischen Teams in deutschen Kliniken die „Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung“ der BÄK inhaltlich meist wenig kannten und diese selbst dann, wenn sie sie kannten, kaum anwenden konnten; dies zeigte sich v. a. in Interviewstudien im Bereich der Onkologie [18] sowie in klinisch-ethischen Fall-Serien in der Intensivmedizin [15]. Wir ziehen daraus jedoch nicht den Schluss, dass „die Grundsätze“ oder ethische Richtlinien insgesamt nicht geeignet seien, oder dass Kliniker diese prinzipiell ablehnten; wir haben vielmehr die Fragestellung weiter verfolgt, in welcher Weise eine sinnvolle Handhabung solcher Regelwerke am besten möglich sei und eine vergleichende Studie initiiert, in der wir die bestehenden Texte aus Deutschland, der Schweiz und Großbritannien an einem realen, sehr kontrovers diskutierten Fall erproben und evaluieren. Dafür ziehen wir die Regelwerke aus drei Ländern heran.

Medizinisch-ethische Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)

  • Medizinisch-ethische Richtlinien für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerst geschädigter Patienten (veröffentlicht Februar 1995), diese Richtlinie wurde nach Revision differenziert für Patienten am Lebensende einerseits und zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten andererseits (s. unten; [22]).

  • Neu: Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten. Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW (veröffentlicht 2004; [24]).

  • Neu: Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende. Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW (veröffentlicht 2005; [25]).

  • Medizinisch-ethische Richtlinien zu Grenzfragen der Intensivmedizin (veröffentlicht 1999; [23]).

Deutsche Bundesärztekammer (BÄK)

  • Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (veröffentlicht September 1998; [5]).

  • Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (veröffentlicht Mai 2004; [8]).

  • Ergänzend wird die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) hinzu gezogen: Grenzen der intensivmedizinischen Behandlungspflicht (veröffentlicht 1999; [10]).

British Medical Association (BMA)

  • Withholding and Withdrawing Life-Prolonging Medical Treatment. A Guidance for Decision Making (veröffentlicht 1999; [6]).

  • Guideline for End of life Decision — Views of the BMA (veröffentlicht 2000; [7]).

  • Ergänzend wird die „Guideline“ des General Medical Council (GMC) hinzu gezogen: Withholding and Withdrawing Life-Prolonging Treatments: Good Practice in Decision-making (veröffentlicht 2002; [12]).

Entwicklung, Qualität und Verbindlichkeit von „Richtlinien“ zu ethischen Fragen der Betreuung am Lebensende

In Deutschland bzw. im deutschen Sprachgebrauch werden folgende Begriffe verwendet: Richtlinien, Standards, Leitlinien, Empfehlungen und Grundsätze. Die Bundesärztekammer (BÄK) differenziert diese Begriffe nach ihrer VerbindlichkeitFootnote 4. Demnach sind Richtlinien „meist von Institutionen veröffentlichte Regeln des Handelns und Unterlassens, die dem einzelnen Arzt einen geringen Ermessensspielraum einräumen. Ihre Nichtbeachtung kann Sanktionen nach sich ziehen. Eine ähnliche Verbindlichkeit haben Standards, die als normative Vorgaben bezüglich der Erfüllung von Qualitätsanforderungen verstanden werden und durch ihre in der Regel exakte Beschreibung einen mehr technisch-imperativen Charakter haben.“

Leitlinien sind im Sinne der BÄK „systematisch entwickelte Entscheidungshilfen über angemessene Vorgehensweisen bei speziellen diagnostischen und therapeutischen Problemstellungen. Sie lassen dem Arzt einen Entscheidungsspielraum und Handlungskorridore, von denen in begründeten Einzelfällen auch abgewichen werden kann.“

Empfehlungen und Stellungnahmen „wollen die Aufmerksamkeit der Ärzteschaft und der Öffentlichkeit auf änderungsbedürftige und beachtenswerte Sachverhalte lenken. Ein Memorandum dient mit seinem Inhalt der umfassenden Information und Aufklärung. Seine Inhalte sollen für die Urteilsbildung des Arztes über den aktuellen Stand des Wissens ggf. auch über veraltetes Wissen von Nutzen sein“.

Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung gehören zur Rubrik der „Empfehlungen und Stellungnahmen“. Die Leitlinien „Grenzen der intensivmedizinischen Behandlungspflicht“ wurden von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin veröffentlicht.

Die SAMW formuliertFootnote 5: „Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) sieht als eine ihrer Hauptaufgaben die Bearbeitung medizinisch-ethischer Fragen. (...) Die 1979 gegründete Zentrale Ethikkommission (ZEK) soll hier zum Schutz der Patienten und der Gesellschaft neue Normen vorschlagen. Sie bildet dafür Arbeitsgruppen, deren Vertreter aus Medizin, Pflegeberufen, Rechtspflege und Ethik die einschlägigen Probleme studieren und dann ‚medizinisch-ethische Richtlinien‘ vorlegen. Diese sind zwar keine Gesetze, genießen aber hohe moralische Anerkennung“.

Zu diesen medizinisch-ethischen Richtlinien zählen auch die hier diskutierten und oben aufgeführten Richtlinien. In Großbritannien hat die British Medical Association (BMA) „Guidelines“ zu „end of life decisions“ erarbeitet; diese enthält relevante Stellungnahmen der BMA zu zentralen Fragen der Betreuung am Lebensende [7]. Des weiteren hat die BMA eine „Guidance“ in Form eines kleinen Buchs zum Verzicht und Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen veröffentlicht [6]. Aktuell sind die 2002 veröffentlichten Richtlinien des General Medical Council (GMC) für die Praxis bedeutsamer, da der GMC auch mit der Regulierung und Lizenzierung des ärztlichen Berufsstands betraut ist [12].

In Bezug auf medizinische Leitlinien sind inzwischen einige Anstrengungen in Richtung auf Qualitätssicherung zu verzeichnen. Sowohl auf nationaler Ebene in Deutschland [2, 9], in GroßbritannienFootnote 6 und in der SchweizFootnote 7, als auch auf internationaler Ebene [1] wurden Kriterien zur Förderung der Qualität der Entwicklung und Beurteilung von Leitlinien erarbeitet. Dazu gehören auch Fragen zu Inhalt und Format sowie Anwendbarkeit der Leitlinien. Bei Richtlinien zu Fragen der Therapieentscheidung am Lebensende stehen neben medizinischen Aspekten ethische Fragen und deren Regulierung im Vordergrund. Qualitätsanforderungen für ethische Regelwerke sind allerdings unklar. Während über Entstehung, Zielsetzung und über die Verantwortlichen der medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW und der „Guidelines“ bzw. „Guidance“ der BMA Angaben gemacht werden, fehlen solche Informationen bei den Grundsätzen der BÄK zur ärztlichen Sterbebegleitung weitgehend. Dies ist erstaunlich, da es sich bei Therapieentscheidungen am Lebensende um komplexe Probleme handelt, die kontrovers diskutiert werden. Beckmann verdeutlicht die den Grundsätzen zugrunde liegenden ethischen Prinzipien [4], während die Begründungszusammenhänge in den Grundsätzen selbst nicht deutlich genug werden. Die Grundsätze der Bundesärztekammer erheben als „Empfehlung bzw. Stellungnahme“ keinen Anspruch auf Verbindlichkeit; sie sind aber so formuliert, dass sie eher wie normative Rahmenbedingungen klingen. Aus rechtlicher Perspektive ist nach Ulsenheimer die Unterscheidung der Begriffe „Richtlinie“, „Standard“, „Leitlinie“ oder „Empfehlung“ für Fragen der Haftung irrelevant, da alle diese Texte Orientierungshilfen für den Regelfall darstellen und den gesetzlichen Terminus der „berufsspezifischen Sorgfalt“ konkretisieren helfen [28]Footnote 8. Diese juristische Stellungnahme trifft nicht nur für Deutschland, sondern grundsätzlich auch für Großbritannien [13] und die Schweiz zu. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Qualitätssicherung bei „Empfehlungen und Stellungnahmen“, also auch den Ethik-Richtlinien — gleich welchen Namens — mit großer Deutlichkeit, da sie sämtlich, gerade auch für den betreffenden Arzt, bei der Beurteilung einer getroffenen Behandlungsentscheidung sehr bedeutsam sein können.

Anwendung der verschiedenen „Richtlinien“ — ein realer Fall aus der Klinik

Wir nehmen nun die Frage der Anwendbarkeit existierender „Richtlinien“ auf Therapieentscheidungen am Lebensende auf und prüfen diese an einer Kasuistik; anschließend werden wir aus dieser exemplarischen Analyse Schlussfolgerungen für die Entwicklung ethischer „Richtlinien“ ziehen. Auch wenn bei der Richtlinien-Entwicklung immer wieder betont wird, dass sie keine direkte und einfache Anwendung am Fall gewährleisten können, so dienen sie doch dem Ziel, den individuellen Entscheidungsprozess zu unterstützen und zumindest den Regelfall einer Behandlung in einer spezifischen medizinischen Situation zu veranschaulichen und zu klären. Es handelt sich also bei der Konsultation einer „Richtlinie“ um einen Prozess der kontinuierlichen Überprüfung des Verhältnisses zwischen allgemeiner Regel und speziellem Einzelfall; dabei spielen die klinisch-ethische Interpretation und die klassische „moralische Urteilskraft“ der Betreffenden eine große Rolle.

Fallbeispiel

Es handelt sich um eine 68-jährige Frau, die in den letzten Jahren zwei Schlaganfälle erlitten und ein hirnorganisches Psychosyndrom entwickelt hatte. Trotzdem konnte die Frau sich selbst und ihren Ehemann, der dement war, zu Hause versorgen. Die Frau erlitt einen akuten Herzinfarkt mit Asystolie und wurde von dem hinzu gerufenen Notarzt reanimiert und intubiert. Tief komatös, intubiert und beatmet wurde sie auf die Intensivstation gebracht.

Es wurde eine koronare Dreigefäßerkrankung diagnostiziert und durch Ballonangioplastie und Stentimplantation revaskularisiert. Bei der nachfolgenden Untersuchung zeigte sich eine gute Herzfunktion. Im Verlauf konnte die Patientin von der Beatmung entwöhnt werden, Katecholamine konnten abgesetzt werden. Die Patientin wurde jedoch nicht wach und zeigte keine Reaktion. Am 3. Tag nach Aufnahme zeigte sich im Schädel-CT ein Multiinfarktsyndrom. Am 4. Tag nach Aufnahme fand sich im EEG keinerlei elektrische Aktivität.

Aufgrund der Gesamtsituation und dieser Befunde wurde am nächsten Tag in einer Besprechung zwischen Oberarzt, Ärzten auf Station und Pflegekraft eine Therapiebegrenzung diskutiert. Folgende Entscheidungen wurden getroffen: Keine Rücknahme an das Beatmungsgerät vorzunehmen, alle Medikamente bis auf die Analgosedation abzusetzen und auch die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr zu beenden.

Für die Pflegekraft der nachfolgenden Schicht war die Beendigung der Flüssigkeitszufuhr moralisch jedoch nicht vertretbar. Man dürfe „einen Patienten nicht verdursten lassen“. Die Pflegekraft besprach sich daraufhin mit dem zuständigen Arzt. Gemeinsam trafen sie die Entscheidung, der Patientin über die Magensonde wieder Tee zuzuführen. So wurde in der einen Schicht die Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit beendet, während in der anderen Schicht die Flüssigkeitszufuhr fortgeführt wurde.

Einen Tag später entwickelte sich eine zunehmende elektrische Instabilität mit folgender Asystolie. Auf Reanimationsmaßnahmen wurde verzichtet. Die Patientin verstarb noch am selben Tag.

Die Diskussion über die Frage, wie lange eine Zufuhr von Flüssigkeit und Nahrung bei Patienten angemessen ist, die sich dem Sterbeprozess nähern oder bereits in diesen eingetreten sind, gerade auch bei solchen Kranken, die ohne Bewusstsein sind, hat bisher keinen Konsens erbracht [3, 11, 20, 29]. Gerade in der Intensivmedizin dürften der Beginn der Sterbephase sowie das Hunger- und Durstempfinden sehr schwer zu beurteilen sein [19]. Es bleiben Fragen offen, für die weder Studien noch Richtlinien einfache Antworten bereit halten; gefordert ist die Urteilskraft der am Entscheidungsprozess Beteiligten, die es ihnen erlaubt, allgemeine ethische Gesichtspunkte — z. B. aus Richtlinien — im Einzelfall angemessen zu interpretieren und zur Geltung zu bringen [19]. Das Fallbeispiel wirft einerseits Fragen auf, die die grundsätzliche ethische Reflexion der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr am Lebensende betreffen, andererseits aber Fragen zum Procedere und Entscheidungsprozess: Wer soll aufgrund welcher Kriterien entscheiden? Wie soll bei Dissens vorgegangen werden?

Diese Fragen sollen auf der Grundlage des Fallbeispiels mittels der „Richtlinien“ der drei Länder, Schweiz, Deutschland und Großbritannien analysiert werden. In den Richtlinien werden weitere Aspekte behandelt, wie z. B. „aktive Sterbehilfe“ oder „Beihilfe zum Suizid“. Diesbezüglich sind wichtige Unterschiede zwischen den Ländern, z. B. zwischen der Schweiz und Deutschland, zu verzeichnen [17]. An dieser Stelle sollen die Richtlinien nur in Zusammenhang mit den Fragestellungen analysiert werden, die sich aus dem konkreten Fall ergeben. Die Fragen zur ethischen Reflexion der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr schließen Fragen ein, ob und wann überhaupt eine Therapiebegrenzung in Betracht kommen oder sogar geboten sein kann, und welche therapeutischen Maßnahmen grundsätzlich beendet werden können.

Wann kann eine Therapiebegrenzung in Betracht gezogen werden?

Die Richtlinien der SAMW von 1995 behandeln die Therapiebegrenzung als mögliche Ausnahme der Verpflichtung zur Lebenserhaltung. Als einer der 4 aufgelisteten Grundsätze wird festgehalten, dass die Ausnahmen bei Sterbenden und zerebral schwerst Geschädigten bestehen. „Hier lindert der Arzt die Beschwerden. Der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen und der Abbruch früher eingeleiteter Maßnahmen dieser Art sind gerechtfertigt.“

Die beiden neuen Richtlinien der SAMW unterscheiden explizit Patienten am Lebensende einerseits und Patienten mit irreversiblen schweren zerebralen Schädigungen andererseits. In der neuen Richtlinie für zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten wird zwischen der Pflicht, in jeder Weise zu helfen und Leiden zu lindern (a), und der Pflicht zur Lebenserhaltung (b) unterschieden. Während die erste (a) immer zu gelten habe, unterliege die Pflicht zur Lebenserhaltung (b) jedoch Einschränkungen, für die der Patientenwille vorrangiges Kriterium sei. „Vorrangig maßgebendes Kriterium für Entscheide, auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten oder sie abzubrechen, ist der Patientenwille. (...) Grundlage der Entscheidung über Ziele (und Ort) der Behandlung und Betreuung sind der Zustand und die Prognose bezüglich Lebensdauer und -qualität sowie Persönlichkeit und der mutmaßliche Wille des Patienten. (...) Eine Änderung des Behandlungsziels kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Krankheit weit fortgeschritten ist, so dass eine lebenserhaltende Behandlung nur Leiden verlängert. Unter diesen Umständen ist der Einfluss der therapeutischen Maßnahmen auf die Lebenserhaltung und -qualität zu berücksichtigen.“

Für Patienten am Lebensende wird Folgendes hervorgehoben: „Angesichts des Sterbeprozesses kann der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen oder deren Abbruch gerechtfertigt oder geboten sein. Bei der Entscheidung spielen Kriterien wie Prognose, voraussichtlicher Behandlungserfolg im Sinne der Lebensqualität sowie die Belastung durch die vorgeschlagene Therapie eine Rolle.“

In den schweizerischen Richtlinien zu Grenzfragen der Intensivmedizin (1999) werden neben dem geäußerten und mutmaßlichen Patientenwillen die „infauste Prognose“ und die Voraussicht, mit einer Behandlung lediglich den „Sterbeprozess zu verlängern“ als wesentliche Kriterien hervorgehoben. Dies soll auch für Patienten mit irreversiblen schweren zerebralen Schädigungen gelten.

Die Grundsätze der Bundesärztekammer (BÄK) halten Therapiebegrenzung ebenfalls als mögliche Ausnahmesituation gegenüber der allgemeinen Aufgabe des Arztes, „Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen“ fest. Wann tritt diese Ausnahmesituation ein? Die Grundsätze der BÄK von 2004 kategorisieren Patienten in drei Gruppen: 1. Sterbende, 2. Patienten mit infauster Prognose und 3. Patienten mit schwerster zerebraler Schädigung und anhaltender Bewusstlosigkeit (Gruppe 3 hieß zuvor: „sonstiger lebensbedrohender Schädigung“). Für diese drei Gruppen werden jeweils die Verpflichtungen des Arztes und die Ausnahmebedingungen, in denen eine Begrenzung der Therapie angemessen erscheint, dargestellt. Eine Therapiebegrenzung kann angemessen sein bei Sterbenden sowie Patienten mit infauster Prognose mit weit fortgeschrittener Krankheit, wo eine lebenserhaltende Behandlung nur Leiden verlängert. Die Entscheidung muss jeweils dem Willen des Patienten entsprechen. In den deutschen Grundsätzen wird betont, dass Patienten mit schwerster zerebraler Schädigung und anhaltender Bewusstlosigkeit, „wie alle Patienten, ein Recht auf Behandlung, Pflege und Zuwendung haben. Lebenserhaltende Therapien einschließlich — ggf. künstlicher — Ernährung ist daher unter Beachtung ihres geäußerten Willens oder mutmaßlichen Willens grundsätzlich geboten. Soweit bei diesen Patienten eine Situation eintritt, wie unter 1 bis 2 beschrieben, gelten die dort dargelegten Grundsätze.“

Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) „Grenzen der intensivmedizinischen Behandlungspflicht“ differenziert die Begriffe der aktiven, passiven und indirekten Sterbehilfe und legt den juristischen Rahmen dar. Hier wird, wie bei der Richtlinie der BMA (s. unten) nicht die Ausnahme von der Behandlungspflicht zu verdeutlichen versucht, vielmehr werden die Voraussetzungen für die Anwendung lebensverlängernder intensivmedizinischer Verfahren fokussiert: die Indikation therapeutischer Maßnahmen und die Einwilligung des Patienten.

Die British Medical Association (BMA ) nimmt v. a. gegenüber den deutschen Grundsätzen der BÄK eine deutlich andere Perspektive ein. Während die BÄK aufzuzeigen versucht, wann die Begrenzung oder Beendigung der Therapie in Ausnahmesituationen gerechtfertigt erscheint, ist der Fokus der British Medical Association darauf gerichtet, Behandlungsmaßnahmen — nicht hingegen Therapiebegrenzung — zu begründen, so auch den Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen. Wenn nicht eine andere Begründung vorliegt, kann die Behandlung, von welcher der Patient nicht profitiert („does not provide net benefit“), aus ethischer und rechtlicher Sicht beendet werden. Die Entscheidung soll im „best interest“ des Patienten getroffen werden. Was ist mit ‚“best interest“ gemeint? Solange der Patient entscheidungsfähig ist, repräsentiert der geäußerte Wille des aufgeklärten, informierten Patienten sein „bestes Interesse“. Für den Fall, dass der Patient nicht entscheidungsfähig ist (wie in unserem Fall), nennt die BMA medizinische (z. B. am besten Evidenz-basierte), ethische und rechtliche Kriterien, die bei der Bestimmung des „best interest“ herangezogen werden sollen. Es wird betont, dass der Prozess der Entscheidung unterstützt werden soll.

In den Richtlinien des General Medical Council wird dieser Punkt ähnlich behandelt: Unter den „guiding principles“ wird „best interest“ als oberstes Gebot festgehalten „to make their patient’s best interests their first concern“. Gemäß „best interest“ soll jene Therapie angeboten werden, bei der der mögliche Nutzen jeglichen mit der Therapie verbundenen Schaden, Leiden oder Risiko überwiegt; Behandlungen, die keinen „net benefit“ für den Patienten haben, sind zu unterlassen. Ebenso wie in der Richtlinie der BMA wird festgehalten, dass bei einem entscheidungsfähigen Patienten dieser selbst den Abwägungsprozess zu vollziehen hat und entscheidet, was für ihn akzeptabel und in seinem besten Interesse ist. Für einwilligungsunfähige Patienten werden hier keine weiteren Kriterien aufgelistet. Für den Abwägungsprozess wird betont, dass mit „best interest“ nicht nur medizinische Gesichtspunkte gemeint sind und dass der mutmaßliche Patientenwille entscheidend ist; wenn aber nichts über den Patienten bekannt oder zu eruieren ist, müsse der Arzt in einem gemeinsamen Prozess mit dem Team, den Nahestehenden oder Experten den „best interest“ beurteilen.

In allen Neufassungen und Revisionen der hier verwendeten Richtlinien wird das Selbstbestimmungsrecht der Patienten stärker hervorgehoben als in den jeweils vorausgehenden Fassungen. Nicht der Wille des Arztes, der Pflegenden oder Nahestehenden, sondern der Wille des Patienten soll entscheidend sein. Eine Behandlungsmaßnahme darf nicht gegen den Willen eines Patienten durchgeführt werden. In unserem Fallbeispiel geht es hingegen um die Beendigung einer lebenserhaltenden Maßnahme. Ob eine Behandlungsmaßnahme womöglich gegen den Willen des Patienten beendet werden kann, wird in den verschiedenen Richtlinien nicht immer eindeutig beantwortet. Als Grenze des Patientenwillens wird z. T. hervorgehoben, dass ein Arzt nicht verpflichtet ist, eine Therapie anzubieten, die er nicht für indiziert hält. Die Beachtung des „mutmaßlichen Patientenwillens“ wird in allen Richtlinien als wesentlich hervorgehoben, aber seine Gewichtung im Entscheidungsprozess ist weder einheitlich, noch immer eindeutig beschrieben.

Die Richtlinien der Länder unterscheiden sich bereits im Umfang deutlich. Während die schweizerischen und deutschen Richtlinien lediglich einige Seiten umfassen, handelt es sich bei den Richtlinien der BMA um ein kleines Buch und auch die Richtlinien der GMC sind deutlich umfangreicher. Grundsätzlich sind die Richtlinien der BMA eher prozessorientiert und versuchen, die Entscheidungsfindung und die Reflexion des klinischen Teams zu unterstützen. Die Richtlinien des GMC haben einen stärker handlungsanweisenden Charakter. Die schweizerischen und die deutschen „Richtlinien“ sind stärker ergebnisorientiert abgefasst und stellen den Konsens oder den Kompromiss einer Expertenkommission eher wie ein Ergebnisprotokoll dar, welches nun für die Adressaten in der Praxis zur Verfügung steht. Dabei legen die neuen schweizerischen Richtlinien für zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten mehr Gewicht auf den Entscheidungsprozess, während die alten Richtlinien noch den Charakter von Paragraphen hatten.

Inhaltlich bleiben z. B. folgende Fragen offen: Sind mit den unterschiedlichen Ausformulierungen zum Selbstbestimmungsrecht von Patienten auch unterschiedliche ethische Standpunkte verbunden? Wie sind die in den hier analysierten Richtlinien enthaltenen grundsätzlichen ethischen Positionen zu bewerten? Auf der einen Seite wird die Position vorausgesetzt, dass der Einsatz einer Therapie und damit auch der lebensverlängernden Maßnahmen stets begründet werden müsse (v. a. die Guideline für Großbritannien), auf der anderen Seite die Position, dass eine Begrenzung der Therapie und der lebensverlängernden Maßnahmen als Ausnahme von der allgemeinen Regel der Lebenserhaltung eine Rechtfertigung brauche (v. a. die Grundsätze der Bundesärztekammer, Deutschland). Dabei weisen die relevanten Kriterien in den verschiedenen Richtlinien durchaus Parallelen auf — auch die Richtlinien der BMA betonen als vorrangiges Ziel, die Gesundheit zu erhalten oder wieder herzustellen. Kommen wir zurück zu unserem Fall: Inwieweit sind die jeweiligen „Richtlinien“ für die Beantwortung der Fragen hilfreich, ob in diesem Fall die Beendigung der künstlichen Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr gerechtfertigt ist und wie im Falle eines Dissenses verfahren werden kann.

Konkretisierung für die drei Länder

Stellen wir uns ein klinisches Team in der Schweiz vor

Es existieren mehrere medizinisch-ethische Richtlinien, die hier herangezogen werden könnten, daher muss das Team zunächst entscheiden, welche in diesem Fall zu beachten sind. Die fragliche Patientin liegt mit einer schweren zerebralen Schädigung auf einer Intensivstation; die Diagnose eines persistierenden oder permanenten vegetativen Zustands kann jedoch wegen der Kürze der Zeit nicht diagnostiziert werden, so dass die vorliegenden Richtlinien der SAMW für zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten hier eigentlich nicht zutreffen. Ob die Patientin zu diesem Zeitpunkt bereits als sterbend zu betrachten ist, ist nicht eindeutig zu beantworten (was insbesondere in der Intensivmedizin häufig schwer zu beurteilen sein dürfte). Im Sinne der neuen SAMW-Richtlinien sind Patienten am Lebensende „Kranke“, bei welchen der Arzt aufgrund klinischer Anzeichen zur Überzeugung gekommen ist, dass ein Prozess begonnen hat, der erfahrungsgemäß innerhalb von Tagen oder einigen Wochen zum Tode führt. Der Verzicht oder die Beendigung der künstlichen Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr wird in keiner der Richtlinien grundsätzlich ausgeschlossen. In den neuen Richtlinien für die Betreuung von Patienten am Lebensende heißt es, dass zu den lebenserhaltenden Maßnahmen, „insbesondere die künstliche Wasser- und Nahrungszufuhr“ und weitere gehörten und somit grundsätzlich auch beendet werden könnten. Dies entspricht ungefähr den Formulierungen in den früheren schweizerischen Richtlinien; es hat diesbezüglich keine Neubewertung stattgefunden. Nach den inzwischen überholten Richtlinien träfe dies auch für Patienten mit schweren zerebralen Störungen zu. Eine Begründung für diesen Standpunkt wird in den Richtlinien allerdings nicht deutlich. Die Entscheidung zur Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr wird nicht von anderen Entscheidungen zu Unterlassung oder Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen unterschieden, somit kommen angesichts des Sterbeprozesses „Kriterien wie Prognose, voraussichtlicher Behandlungserfolg im Sinne der Lebensqualität sowie Belastung der vorgeschlagenen Therapie“ zur Abwägung. Der Patientenwille wird in der Richtlinie für Patienten am Lebensende im Abschnitt zum „Behandlungsverzicht oder -abbruch“ nicht mehr explizit erwähnt. An anderer Stelle (s. Richtlinie: „Recht auf Selbstbestimmung“, 2.2.2) wird hervorgehoben, dass dann, wenn nichts über die Wünsche der Patientin bekannt ist, eine Orientierung an „den wohlverstandenen Interessen“ der Patientin erfolgen solle (bedeutet: Maßnahmen, „denen ein hypothetischer vernünftiger Patient in der entsprechenden Situation voraussichtlich zustimmen würde“).

Nehmen wir an, das Team betrachtet die Patientin noch nicht als sterbend; es zieht die Richtlinien für zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten und die Richtlinien zu Grenzfragen in der Intensivmedizin heran, in der Annahme, dass die zerebrale Schädigung aufgrund der Befunde (CT und EEG) sowie der Vorgeschichte irreversibel ist. Gemäß der Richtlinie für zerebral schwerst geschädigte Langzeitpatienten sind Entscheidungen über Ziele und Ort der Behandlung auf der Grundlage des Zustands, der Prognose (bzgl. Lebensdauer und -qualität) sowie der Persönlichkeit und des mutmaßlichen Willens der Patientin zu treffen (s. oben). Die adäquate Zufuhr von Flüssigkeit und Nahrung (enteral und parenteral) ist ohne gegenteilige direkte oder indirekte Willensäußerung bei klinisch stabilen Patienten weiterzuführen (SAMW-Richtlinie, II.4.4). Da der mutmaßliche Patientenwille, wie so oft, nicht bekannt ist, müsste das schweizerische Team nach diesen Richtlinien am ehesten zu dem Schluss kommen, dass die Beendigung der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr in diesem Fall nicht angemessen wäre. Begründet werden müsste die Behandlungsstrategie mit dem fehlenden Patientenwillen und dem Behandlungsziel nach der Abwägung der genannten Kriterien.

Den Intensivmedizinischen Leitlinien sind keine spezifischen Angaben zur Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr zu entnehmen.

Die Richtlinien zur Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten widmen auch dem Entscheidungsprozess einen Abschnitt. Hier wird explizit die Abklärung des Patientenwillens (Patientenverfügung, Bevollmächtigter) in die Verantwortung der Ärzte und Pflegenden gelegt. Des weiteren sollen die „nächste Bezugsperson des Patienten sowie das Pflegeteam“ in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Auch „klinische Ethikkommissionen“ bzw. andere Formen der klinisch-ethischen Beratung können einbezogen werden. Die Entscheidung sollte von möglichst allen Beteiligten akzeptiert und mitverantwortet werden können. „Die letzte Entscheidung bleibt beim direkt verantwortlichen Arzt.“ „Entscheide, die zum Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen führen, müssen protokolliert werden.“

In unserem Fallbeispiel wurden beteiligte Pflegende der einen Schicht in den Entscheidungsprozess einbezogen. Probleme entstanden beim Schichtwechsel. Auch wenn wir nicht wissen, ob und wie die Entscheidung im Detail dokumentiert wurde, so ist nach unserer Kenntnis des Falles davon auszugehen, dass zumindest der Entscheidungsprozess und die Begründungen (pro und kontra) nicht transparent genug gehandhabt und besprochen worden waren.

Das Vorgehen bei Dissens im Team wird in keiner der Richtlinien näher ausgeführt, wobei aber die Letztverantwortung des beteiligten Arztes betont wird.

Die Richtlinien zu Grenzfragen der Intensivmedizin betonen bei der Entscheidungsfindung die Beteiligung von anderen klinischen Mitarbeitenden, die Berücksichtigung der Ansichten von Angehörigen wie auch das Anstreben eines Konsenses.

Stellen wir uns ein klinisches Team in Deutschland vor

Nach den Grundsätzen der Bundesärztekammer von 1998 verlagert sich das Problem der Entscheidungsfindung noch deutlicher auf das Problem der Kategorisierung der Patientin als bei den SAMW-Richtlinien, da dort das Verhalten der Ärzte für drei Patientengruppen differenziert wird: Dies sind 1. „Sterbende“, 2. „Patienten mit infauster Prognose“, 3. „Patienten mit sonstiger lebensbedrohender Schädigung“; zu den letztgenannten zählen auch Patienten mit irreversibler schwerster zerebraler Schädigung. Um zu entscheiden, welches Vorgehen gewählt werden sollte, muss zuerst beurteilt werden, in welche Gruppe die Patientin gehört. In der Neufassung der Grundsätze wird zum einen die Kategorisierung der Patienten dadurch erleichtert, dass die letzte Gruppe in Patienten mit „schwersten zerebralen Schädigungen und anhaltender Bewusstlosigkeit“ umbenannt und damit konkretisiert wurde. Zum anderen wird in der Präambel explizit erwähnt, dass „alle Entscheidungen individuell erarbeitet werden“ müssen. Durch die weiter bestehende Gruppierung der Patienten werden die Anwender allerdings nach wie vor zur Kategorisierung der Patienten aufgefordert.

Die Frage zum Verzicht oder zur Beendigung der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr ist in der Neufassung der Grundsätze der Bundesärztekammer präzisiert worden. Es heißt in der Präambel: „Art und Ausmaß einer Behandlung sind gemäß der medizinischen Indikation vom Arzt zu verantworten: dies gilt auch für die künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr. Er muss dabei den Willen des Patienten berücksichtigen“. Bezüglich der Behandlung und Betreuung von Sterbenden heißt es: „Die Hilfe besteht in palliativ-medizinischer Versorgung und damit auch in Beistand und Sorge für Basisbetreuung. Dazu gehören nicht immer Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr, da sie für Sterbende eine schwere Belastung darstellen können. Jedoch müssen Hunger und Durst als subjektive Empfindungen gestillt werden.“

Es wird deutlich, dass im Sterbeprozess die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr eher eine Belastung als ein Nutzen sein kann und in diesen Fällen grundsätzlich auch beendet werden kann. Die frühere Formulierung, dass der Arzt in jedem Fall für eine Basisbetreuung zu sorgen habe und zur Basisbetreuung unter anderem „das Stillen von Hunger und Durst“ zählt, ließ deutlich mehr Interpretationsspielraum zu und wurde in der Praxis auch ganz unterschiedlich interpretiert. Für „Patienten mit infauster Prognose“ wird die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr nicht speziell erwähnt und für Patienten mit „schwerster zerebraler Schädigung und anhaltender Bewusstlosigkeit“ heißt es: „Lebenserhaltende Therapie einschließlich — ggf. künstlicher — Ernährung ist daher unter Beachtung ihres geäußerten Willens oder mutmaßlichen Willens grundsätzlich geboten.“

Das deutsche Team müsste — angesichts der Konkretisierung der Fragen zur Zufuhr der künstlichen Nahrung und Flüssigkeit in der Neufassung der Grundsätze — zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Beendigung von Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn die Person sich bereits im Sterbeprozess befindet und weder Hunger noch Durst empfindet. Es muss argumentiert werden, ob die künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr nur den Sterbeprozess und das Leiden verlängern würde und ob die Entscheidung dem (mutmaßlichen) Willen der Patientin zu entsprechen scheint. Wenn kein Wille bekannt ist und sich kein mutmaßlicher Wille eruieren lässt, sollen jene Maßnahmen als im Interesse des Patienten gelten, die auch ärztlich indiziert seien; in Zweifelsfällen solle für die Lebenserhaltung entschieden werden. Nimmt das Team an, dass sich die Patientin noch nicht im Sterbeprozess befindet, was insbesondere auch bei Patienten mit irreversibler schwerer zerebraler Schädigung der Fall sein kann, so müsste das Team wohl zu dem Schluss kommen, dass es im Sinne der BÄK-Grundsätze als nicht angemessen erscheint, lebenserhaltende Maßnahmen zu beenden; dies trifft u. E. ganz besonders auf die künstliche Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit zu, deren Wert und Bedeutung im Lichte der schwer zu beurteilenden Empfindungen der Patientin umstritten sind. Hier wäre eine ausführlichere Darstellung der durchaus kontroversen Diskussion zur Fortführung und oder Beendigung der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr wie auch das Aufzeigen von Beurteilungsschwierigkeiten in der Praxis hilfreich.

Nach der intensivmedizinischen Leitlinie der DGAI müsste entschieden werden, ob die intensivmedizinische Maßnahme indiziert ist, für die Patientin eine Hilfe bedeutet und eine Einwilligung des Patienten oder Stellvertreters existiert. Eine Behandlung, die als „außergewöhnliches Mittel“ eingestuft wird, kann laut DGAI grundsätzlich beendet werden. Während die parenterale Ernährung als „außergewöhnliches Mittel“ betrachtet wird, werden z. B. nasogastrale Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sowie enterale Flüssigkeitszufuhr nicht erwähnt. Da nähere Ausführungen fehlen, würde das Team wohl am ehesten zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Flüssigkeitszufuhr als „gewöhnliches Mittel“ und damit als obligatorische Maßnahme zu betrachten ist. Des Weiteren müsste bei fehlenden Informationen über den mutmaßlichen Patientenwillen im Sinne der Leitlinie davon ausgegangen werden, dass ein Patient sich für lebensverlängernde Maßnahmen entscheiden würde, auch wenn diese nur noch eine geringe Chance bieten.

Den Grundsätzen der BÄK ist in der Präambel die Aussage zu entnehmen, dass der Arzt bei der Entscheidungsfindung „mit ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern einen Konsens suchen“ soll. Sonst sind keine weiteren Aussagen zum Verfahren der Entscheidungsfindung zu finden. Der Einbezug von Angehörigen und Nahestehenden wird in Zusammenhang mit der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens und im Rahmen der Vorsorgevollmacht erwähnt. Das Vorgehen bei Dissens ist in der Neufassung der Grundsätze im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Einberufung des Vormundschaftsgerichts erwähnt, wenn ein Bevollmächtigter eine ärztlich indizierte Maßnahme ablehnt.

In der intensivmedizinischen Leitlinie sind kaum Angaben zum Prozess der Entscheidung zu finden, außer bezüglich der Notwendigkeit der Bestellung eines Betreuers und der Hinzuziehung des Vormundschaftsgerichts in speziellen Situationen.

Stellen wir uns ein klinisches Team in Großbritannien vor

Nach den BMA Guidelines muss zunächst begründet werden, ob eine Entscheidung dem „best interest“ des Patienten entspricht. Dies gilt grundsätzlich auch für die Beendigung künstlicher Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr. Das Team muss die medizinischen, rechtlichen und ethischen Kriterien berücksichtigen, beurteilen und abwägen; aus den Richtlinien kann es dabei keine Gewichtung der Kriterien entnehmen, es findet dort aber einige begründete allgemeine Standpunkte der BMA (z. B. über die künstliche und die orale Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr oder die Einbeziehung von subjektiven Kriterien wie „Lebensqualität“). Die Richtlinien stoßen eher einen Entscheidungsprozess an, als dass sie versuchen, für bestimmte Patientengruppen eine angemessene Behandlung festzulegen.

Inhaltlich sind die Ausführungen des General Medical Council (GMC) sehr ähnlich. Durch die Form (Auflistung von geltenden Prinzipien, Ausführung zur Anwendung dieser Prinzipien) sowie durch den Umstand, dass es sich bei dem GMC um offizielle Regulatoren des ärztlichen Berufsstands mit juristischem Einfluss handelt, stellt sich diese Richtlinie verbindlicher dar. Das britische Team kann der Richtlinie entnehmen, dass das oberste Gebot gemäß dem „Best-interest-Standard“ des Patienten zu definieren sei, dass dafür Informationen über den Patienten notwendig sind und dass es um die Abwägung von Nutzen und Belastungen geht, wobei die Beurteilung aus der Sicht des Patienten erfolgen soll. Die Richtlinie sagt auch, dass sich bei der Beurteilung der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr viele Unsicherheiten und Einschätzungsschwierigkeiten ergeben. Die Beendigung der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr erscheint hier am ehesten dann angemessen, wenn sich der Patient bereits im Sterbeprozess befindet. Das englische Team müsste also einen Abwägungsprozess vollziehen, der den Nutzen und die Belastung für diese individuelle Patientin einschätzt. Für diesen Abwägungsprozess gibt es jedoch keine weiteren Hinweise. Da keine Informationen über die Patientin bekannt sind, könnte eine Beendigung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr nur dann gerechtfertigt werden, wenn sich die Patientin bereits im Sterbeprozess befindet oder wenn deutlich wird, dass bei einer Fortsetzung der Maßnahmen das Leiden den Nutzen überwiegt.

In den Guidelines der BMA gibt es einen Abschnitt zum Setting der Entscheidungsfindung, einen zum Prozess der Entscheidungsfindung sowie einen weiteren zu der Frage, was zu tun sei, wenn die Entscheidung getroffen wurde. In diesen Abschnitten werden die Beteiligung, das Vorgehen der Entscheidungsfindung, die Dokumentation und Evaluation der Entscheidung sowie die Unterstützung der Beteiligten behandelt. Grundsätzlich soll ein Konsens aller Beteiligten angestrebt werden, auch wenn Nahestehende kein Recht zur Entscheidung haben („No other individual has the power to give or withhold consent for the treatment of an adult who lacks decision making capacity“)Footnote 9. Etwas unklar bleibt das Vorgehen bei Dissens. Wenn mit anderen Mitteln keine Übereinstimmung der konsultierten Personen zu erreichen ist, sei eine juristische Beurteilung einzuholen. Bei der Beendigung der künstlichen Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr soll — laut Guideline — zusätzlich die Meinung eines außenstehenden, erfahrenen Arztes und juristischer Rat gesucht werden. Bei Patienten in einem permanenten vegetativen Status (oder einem diesem nahen Zustand) bedarf es grundsätzlich einer rechtlichen Abklärung (Empfehlung des „House of Lords“ in einem Urteil von 1993). Was würde dies in unserem Fall bedeuten? Offen bleibt, ob eine unabhängige Kollegenmeinung dann als „Zünglein an der Waage“ den Ausschlag geben, oder ob sie nur „gehört“ werden soll. Man mag diesen Vorschlag in einem insgesamt kriterienorientierten Vorgehen der Entscheidungsfindung als etwas inkonsistent ansehen; die Konsultation eines Außenstehenden enthält jedoch auch einen Aspekt, der in der ethischen Beratung wichtig ist: die Unparteilichkeit für die methodische Untersuchung der Argumente pro und kontra in Frage stehender Optionen stark zu machen. Genau hierzu bedarf es jedoch konkreterer Vorschläge für ein strukturiertes Vorgehen, die von den Erfahrungen der Ethik-Konsultation methodisch profitieren könnten [14].

Im Sinne des GMC sollen für die Einschätzung des Zustands und der Prognose eines Patienten die Sichtweisen und Einschätzungen der Teammitglieder berücksichtigt werden. Dem Patienten Nahestehende und Teammitglieder sollen ebenso zur Beurteilung des „best interest“ konsultiert werden, wenn der Patient nicht mehr entscheidungsfähig ist und sein Wille nicht bekannt ist. Ein Konsens sollte angestrebt werden. Des Weiteren gibt die Richtlinie Angaben und Anregungen zum Kommunikationsprozess. In der Richtlinie sind Angaben zu finden, welche Informationen bereit gestellt werden müssen, um Missverständnissen vorzubeugen, in welchen Situationen ein außen stehender Experte hinzugezogen werden solle und wann bei hartnäckigem Dissens juristische Klärung erforderlich ist.

Schlussfolgerungen

Können „Richtlinien“ die Entscheidung über die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr unterstützen?

Therapieentscheidungen erfolgen individuell und sind komplex. Meist handelt es sich um Entscheidungen, die unter Bedingungen von Unsicherheit getroffen werden müssen. Das können auch Ethik-“Richtlinien“ nicht grundsätzlich ändern. Nach den Ergebnissen unserer Analyse kämen die Teams in den drei Ländern gemäß den bearbeiteten Richtlinien in Bezug auf die Frage zur Fortführung der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr zu dem gleichen Ergebnis. Unterschiede ergeben sich bezüglich der Klarheit der Kriterien oder Prinzipien, auf die die Richtlinien zur Begründung der Entscheidungen jeweils rekurrieren und wie der Prozess der Entscheidungsfindung behandelt wird. Der Anwender der verschiedenen „Richtlinien“ wird in eine jeweils andere Position versetzt, die möglicherweise mit den mehr oder weniger erkennbaren Zielen der „Richtlinien“ korrespondieren. Während z. B. die Grundsätze der Bundesärztekammer dem Anwender v. a. den Rahmen aufzeigen, unter welchen medizinischen Bedingungen eine Beendigung oder Begrenzung überhaupt in Frage kommen kann (wobei die ethische Begründung dafür bzw. die ethische Reflexion der zu treffenden Entscheidung eher verborgen bleiben), wird in der „Guidance“ der British Medical Association gerade dem Entscheidungsprozess und den zu reflektierenden und abzuwägenden Kriterien besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Wenn das Ziel verfolgt wird, über den Einsatz oder die Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen ethische Orientierung zu bieten und den Prozess der Entscheidung zu unterstützen, so erscheint eine „Richtlinie“ dann umso hilfreicher, je mehr sie die kriterienorientierte Begründung von Optionen verdeutlicht und je deutlicher sie die vertretenen Standpunkte nachvollziehbar und argumentativ darlegt. Nicht nur das Ziel, eine Orientierung im Entscheidungsprozess zu bieten, auch der Prozess der Entwicklung einer Richtlinie verdient Beachtung. Dies wird z. B. an dem schweizerischen Verfahren der Erarbeitung einer medizinisch-ethischen Richtlinie der SAMW deutlich: Der Prozess der Stellungnahme erlaubt eine Verständigung des Berufsstands und weiterer interessierter Kreise über relevante ethische Themen, die auch ihre Bedürfnisse artikulieren können. Angesichts der fachinternen medizinischen Kontroverse über die Notwendigkeit einer Zufuhr von Flüssigkeit und Nahrung bis zum Eintreten des Todes und des Dissenses auf der Ebene moralischer Werturteile, was wir dem Sterbenden schulden, empfiehlt sich eine Prozeduralisierung der Entscheidungsfindung, in der auch die ethischen Implikationen explizit und einer Verständigung zugänglich gemacht werden. Eine solche Orientierung an einem kriterien- und regelgeleiteten Verfahren wird im Rahmen von Ethik-Beratungen („Ethik-Konsil“ bzw. „Ethik-Konsultation“) angestrebt [14, 16]. Wird die Suche nach einer richtigen Antwort bzw. das Ausscheiden von ethisch nicht zu rechtfertigenden Optionen übersichtlich, nachvollziehbar und fair gehandhabt, so wird die Akzeptanz der zustande gekommenen Antwort leichter zu erzielen sein. Vor diesem Hintergrund ist auch die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) zu verstehen, für Fragen der Behandlung und ihre Begrenzung am Lebensende sowie die Sterbebegleitung grundsätzlich ein Ethik-Konsil einzurichten und in Anspruch zu nehmenFootnote 10.

Können „Richtlinien“ helfen, Vorgehen bei Dissens im Team und Entscheidungsverantwortung zu klären?

Transparenz der relevanten Kriterien und Prinzipien sowie Begründungen ethischer Standpunkte können zu einer verbesserten Kommunikation über eine ethische Kontroverse im Team beitragen. Um wirksam zu werden, muss die Bearbeitung der Fragen mit Hilfe einer Richtlinie aber explizit und ausführlich sein. Wichtig ist dabei die Prozeduralisierung der Entscheidungsfindung und damit auch des möglichen Vorgehens bei einem anhaltenden Dissens im Team. Die Strukturierung des Entscheidungsprozesses mit Hilfe ethischer Regelwerke erscheint vielversprechend und sollte weiter entwickelt und ausgearbeitet werden. Im Sinne der Transparenz sollten die Autoren einer Richtlinie ihre ethischen Prämissen darlegen und argumentativ stützen. In allen hier diskutierten Richtlinien wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten betont und über die verschiedenen Revisionen auch zunehmend gefestigt. Wir halten es auch für notwendig, den Stellenwert der Selbstbestimmung im Entscheidungsprozess zu verdeutlichen, also zu konkretisieren, welche Bedeutung der erklärte oder der mutmaßliche Wille gegenüber anderen Kriterien für den Einsatz oder die Beendigung bzw. die Unterlassung einer Behandlung hat oder haben sollte.

Wie steht es mit der zu Beginn erwähnten Frage der Qualität von „Ethik-Richtlinien“? Bei Revisionen, z. B. von medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW, die ja wesentliche Änderungen mit sich bringen, stellt sich die Frage nach einer wissenschaftlichen Evidenz. Dies gilt umso mehr, da „Ethik-Richtlinien“, die von namhaften Körperschaften formuliert werden, auch in der rechtlichen Sphäre und der Öffentlichkeit stark beachtet werden, auch dann, wenn sie abgeschwächt „nur“ „Empfehlungen“ oder „Grundsätze“ heißen. Folgende Punkte scheinen uns für die Erarbeitung von ethischen Orientierungshilfen wichtig.

Fazit

Zehn Vorschläge zur Qualitätssteigerung von Ethik-Richtlinien in der Medizin

  1. 1.

    Klare Definition der Zielsetzung und der Zielgruppe.

  2. 2.

    Klärung der Auslöser und Gründe für die Entwicklung.

    Kommentar: Es macht einen Unterschied, ob die „Ethik-Richtlinien“ die Qualität eines Entscheidungsprozesses und die Kommunikation verbessern, ob sie den rechtlichen Rahmen aufzeigen bzw. gestalten, oder ob sie Kosten kontrollieren sollen.

  3. 3.

    Klärung des Verbindlichkeitsgrads.

  4. 4.

    Unterscheidung zwischen den rechtlichen Rahmenbedingungen und den ethischen Orientierungshilfen.

    Kommentar: Ethik ist nicht gleich Recht.

  5. 5.

    Aufzeigen der Grenzen, die der vorliegende Text hat.

    Kommentar: Richtlinien können individuelle Entscheidungen nicht ersetzen.

  6. 6.

    Definition zentraler Begriffe sowie Klärung, welche Begriffe subjektiv geprägt sind und sich einer allgemeinen inhaltlichen Definition entziehen (z. B. Lebensqualität).

  7. 7.

    Wenn im Autorengremium ein ethischer Standpunkt vertreten wird, sollte auch die Begründung dafür artikuliert werden.

  8. 8.

    Verdeutlichung der kontrovers diskutierten ethischen Aspekte bzw. wie mit der Pluralität der Positionen umgegangen wurde.

    Kommentar: Auch die Mitteilung, dass kein Konsens erreicht werden konnte, ist eine Information wert und potenziell hilfreich.

  9. 9.

    Verdeutlichung der Notwendigkeit, jeden Einzelfall stets individuell und nach Kriterien zu entscheiden.

  10. 10.

    Überprüfung, ob es wirklich sinnvoll ist, Entscheidungen zur Therapiebegrenzung nach Vorgaben zur Behandlung spezieller Patientengruppen auszurichten.