Die Fragestellung

Das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) von 1999 brachte die Professionalisierung des psychologischen Psychotherapeuten (PP) in Deutschland zu einem vorläufigen Abschluss. Es befreite die Psychotherapie aus der Enge eines „Heilhilfsberufes“, führte eine verbindliche und qualitativ hochwertige Ausbildung ein, die mit der Approbation, also der Befähigung zu selbstständiger und eigenverantwortlicher Ausübung der Psychotherapie abgeschlossen wird. Der Gesetzgeber hatte sich in seinem Entwurf einerseits an der jahrzehntelangen Praxis der Weiterbildung an privaten Instituten unter Kontrolle der Fachgesellschaften orientiert. Andererseits aber musste er die Verantwortlichkeit für diesen neuen Heilberuf an sich ziehen und eine bundeseinheitliche Ausbildung unter staatlicher Kontrolle durchsetzen.

Die Beratungen über das PsychThG hatten sich über viele Jahre hinweggezogen. Widerstand vonseiten der Ärzteschaft, ungelöste sozialrechtliche Fragen und Uneinigkeit der Psychotherapeuten untereinander führten dazu, dass 1978 ein erster und 1993 ein zweiter Versuch der Verabschiedung scheiterten. Trotz dieser langen Entstehungszeit wirkt das PsychThG heute wie „mit heißer Nadel gestrickt“ (Winter 2012), und es bedarf dringend einer Novellierung (s. a. Strauß 2013). So fehlt in der Approbationsordnung der Bezug zum Bologna-Prozess, und der Status der Psychotherapeuten in Ausbildung ist unhaltbar. Psychotherapeuten in Ausbildung arbeiten ohne jeden Anspruch auf Vergütung in klinischen Einrichtungen mit und ersetzen dort oftmals einen Teil der regulären Mitarbeiter.

Auch der Zugang zur Ausbildung muss neu geregelt werden. Vor Inkrafttreten des PsychThG konnten Absolventen zahlreicher sozialwissenschaftlicher Studiengänge zur Ausbildung zugelassen werden: Außer Psychologen und Ärzten durchliefen auch Soziologen, Philosophen, Theologen und Politikwissenschaftler die Ausbildungen, und zahlreiche wissenschaftlich anerkannte und einflussreiche Psychoanalytiker waren als „Nicht-Ärzte“ und „Nicht-Psychologen“Footnote 1 aufgenommen worden. Das PsychThG verengte den Zugang zur Ausbildung zum PP bzw. zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) auf Psychologen bzw. Pädagogen und Sozialpädagogen. Diese Verengung mag ordnungspolitischen und berufspolitischen Motiven gefolgt sein. Fachlich jedenfalls konnte sie kaum begründet werden, denn es liegen bis heute keine Nachweise darüber vor, dass zum Beispiel Theologen oder Philosophen weniger geeignete Psychotherapeuten werden können als Psychologen. Es ist wichtig, sich diese Geschichte des PsychThG vor Augen zu halten, wenn man eine grundlegende Reform der Ausbildung zum Psychotherapeuten wagen will.

Die Zugangsverengung erwies sich in den letzten Jahren noch aus einem anderen Grund als problematisch. Denn der § 5 Abs. 2 des PsychThG, der einen universitären Abschluss in Psychologie für die Zulassung zur Ausbildung zum PP vorschreibt, bedarf heute der Auslegung, weil nach dem Fortfall des Diplomstudiums und der Rahmenprüfungsordnung Psychologie ganz unterschiedliche psychologische Master-Abschlüsse mit klinischen, neuropsychologischen oder pädagogischen Schwerpunkten angeboten werden. Hinzu kommt, dass die Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge im Zuge des Bologna-Gedankens eine höhere Flexibilität der Bildungsbiografien ermöglichen soll. Die Hochschulen sollen sich heute auch Quereinsteigern öffnen, neuerdings sogar berufliche Vorerfahrungen bei der Einstufung in einen Studiengang anrechnen.

Die Landesprüfungsämter standen (und stehen) nun vor der schwierigen Aufgabe, über die Zulassung zur psychotherapeutischen Ausbildung bzw. zur Approbation bei sehr unterschiedlichen psychologischen Bildungsbiografien entscheiden zu müssen. Im Fall der Ausbildung zum PP hat sich die Mehrheit der Landesbehörden entschieden, nur solche universitären Master-Absolventen zuzulassen, die zuvor einen Bachelor Psychologie absolviert haben, alle anderen aber auszuschließen, auch dann, wenn diese anhand ihrer Zeugnisse nachweisen können, in anderen Studiengängen (zum Beispiel innerhalb eines Magister-Studienganges mit einem Zweitfach Psychologie) die für ein Bachelor-Studium Psychologie zu fordernden Module studiert zu haben.

Damit ist eine rechtlich problematische Situation entstanden: Während die für die Gestaltung und Durchführung der Studiengänge verantwortlichen Länderministerien die Universitäten ausdrücklich auffordern, Quereinstiege zu ermöglichen und nur darauf zu achten, dass die in dem modularisierten System dokumentierten Leistungsnachweise im Fach Psychologie auch erbracht wurden, bestehen die Landesprüfungsämter darauf, dass lediglich Absolventen von konsekutiven Bachelor- und Master-Studiengängen Psychologie zur Ausbildung zugelassen werden können. Das erscheint rechtlich unhaltbar: Ein Absolvent erhält von der Universität seines Bundeslandes einen vollgültigen Master-Abschluss Psychologie, der aber von einer anderen Behörde desselben Bundeslandes nicht für die Psychotherapeutenausbildung anerkannt wird, weil die Universität – völlig rechtmäßig – anderweitig erbrachte einschlägige Studienleistungen angerechnet hat.

Bezüglich der Ausbildung zum KJP ist die Rechtslage noch unsicherer. Als Voraussetzungen für den Zugang (genauer gesagt: für die Approbation) nennt das PsychThG neben denen für die Ausbildung zum Erwachsenenpsychotherapeuten auch Hochschulabschlüsse in den Studiengängen Pädagogik und Sozialpädagogik. Nun haben sich die pädagogischen Studiengänge (Diplom, Magister, Lehramt, neuerdings auch Bachelor und Master) in den letzten Jahren noch viel stärker als die psychologischen Studiengänge ausdifferenziert; ein Master-Abschluss „Pädagogik“ ohne eine Spezifizierung (zum Beispiel Rehabilitationspädagogik) ist heute nur noch selten anzutreffen. Wenn die Landesprüfungsämter das PsychThG sehr eng auslegen und nur noch Absolventen eines unspezifizierten Studienganges Pädagogik oder Sozialpädagogik zulassen wollen, wird sich die Zahl der potenziellen Bewerber drastisch verringern.

Hinzu trat die noch ärgere Problematik, dass die für die KJP-Ausbildung definierte Zulassungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 PsychThG von den Bundesländern unterschiedlich ausgelegt wurde und wird. Etwa die Hälfte der Bundesländer fordert einen Master-Abschluss in Psychologie oder Pädagogik bzw. Sozialpädagogik, während die andere Hälfte lediglich einen Bachelor-Abschluss in diesen Fächern voraussetzt. Ganz abgesehen davon, dass diese unterschiedliche Praxis wegen der Ungleichbehandlung auch rechtlich zu beanstanden sein dürfte, droht hier die Gefahr einer Dequalifizierung des Berufes des KJP. Kritik an dieser uneinheitlichen Festlegung der Zugangsvoraussetzungen wurde schon mehrfach vorgetragen; an dieser Stelle genügt wohl der Hinweis, dass keinerlei fachliche Gründe dafür zu erkennen sind, dass das Zugangsstudium zur KJP-Ausbildung kürzer sein könnte als zur PP-Ausbildung.

Das Bundesministerium für Gesundheit hat die Notwendigkeit einer Novelle des PsychThG erkannt und deutlich zu erkennen gegeben (Widmann-Mauz 2011; Grigutsch 2012), dass es eine umfassende Gesetzesreform wünscht mit dem Ziel, das bisherige Ausbildungssystem durch eine Ausbildung nach dem Muster des Medizinstudiums und der nachfolgenden Facharztweiterbildung zu ersetzen („Direktausbildung“Footnote 2). Demnach müsste die Ausbildung zum PP zumindest teilweise in Hochschulstudiengänge verwandelt werden, die dann mit einer Approbation – analog der Approbation des Arztes – abgeschlossen werden.

Ein solches Vorhaben wird freilich eine Reihe von Problemen zu lösen haben: Soll die Ausbildung zu einem Beruf, dem des Psychotherapeuten, oder zu zwei unterschiedlichen Berufen, dem des Psychotherapeuten für Erwachsene und dem für Kinder und Jugendliche führen? Lässt sich eine Universitätsausbildung in Länderhoheit mit einer staatlich gelenkten Ausbildung mit Approbation kombinieren? Könnte man die Staatsprüfung mit einem Master-Examen parallelisieren? Was soll ein approbierter Psychotherapeut nach fünf (oder sechs) Jahren gelernt haben? Wie kann erreicht werden, dass der approbierte PP wirklich selbstständig und eigenverantwortlich psychotherapeutisch handeln kann? Inwieweit soll er bis dahin bereits verfahrensspezifisch ausgebildet sein? Und: Wie kann die Bezahlung der Psychotherapeuten in Ausbildung erreicht werden?

Schließlich: Die Parallele mit medizinischen Studiengängen wird nicht leicht einzurichten sein. Denn der approbierte Arzt hat in seinem Studium in einem erheblich größeren Umfang praktisch-klinische Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, als dies derzeit in psychologischen Studiengängen möglich ist. Trotzdem ist der approbierte Arzt nur berufsrechtlich, nicht aber sozialrechtlich zugelassen. Erst die Facharztqualifikation, die er im Rahmen der anschließenden Weiterbildung erwerben kann, ermöglicht ihm die Niederlassung als Kassenarzt oder die Beschäftigung als Oberarzt.

Die Haltung der Professionen

Das Konzept eines Direktstudiums, das sich an diese Aus- und Weiterbildungsstruktur des Medizinstudiums anlehnt, ist in der Profession der Psychotherapeuten hoch umstritten. Insbesondere die Fachverbände der Psychoanalytiker befürchten einen Qualitätsverlust ihrer Ausbildung, die sehr stark klinisch und anwendungsorientiert ausgerichtet ist und zeitlich parallel theoretische Seminare, Behandlungen unter Supervision und mehrjährige Selbsterfahrung einschließt. Es wird mit guten Gründen bezweifelt, dass die an den Instituten entwickelte Didaktik (Körner 2002) mit klinisch sehr erfahrenen Dozenten und theoretisch versierten Supervisoren ohne Qualitätsverlust an die Universitäten abgegeben werden könnte. Fraglich sei auch, inwieweit die für psychoanalytische Ausbildungen obligatorische Selbsterfahrung an einer Universität (von wem?) angeboten und durchgeführt werden kann. Schließlich weisen die Fachvertreter der psychoanalytischen und tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeuten darauf hin, dass die Einrichtung von Direktstudiengängen an psychologischen Instituten wegen deren einseitiger Orientierung zu einem ganz überwiegend verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Ausbildungsangebot führen würde, denn gegenwärtig sind bundesweit weniger als 10 % aller Professuren für klinische Psychologie von psychodynamisch orientierten Hochschullehrern besetzt.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) vertritt den Standpunkt, dass das Psychologiestudium mit klinischem Schwerpunkt die einzig sinnvolle Voraussetzung für eine sich anschließende verfahrensbezogene Ausbildung zum PP darstellt. Sie legte im April 2012 einen Entwurf vor, der die Vorstellung der DGPs bereits konkretisiert (Deutsche Gesellschaft für Psychologie 2012).

Etwa zur gleichen Zeit verhandelte die Fachgruppe Klinische Psychologie in der DGPs auch mit der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE) und dem Fachbereichstag Soziale Arbeit (FBTS) über Mindeststandards für den Zugang zur derzeitigen Ausbildung zum PP bzw. zum KJP. Die erzielte Einigung vom 27.03.2012 auf Inhalte und zu erwerbende Leistungspunkte ist insofern bemerkenswert, als die Beteiligten darauf verzichteten, bestimmte Studienabschlüsse (zum Beispiel Psychologie oder Erziehungswissenschaften) vorzuschreiben, sondern sich darauf beschränkten, die fachlichen Kompetenzen zu definieren, die bei einer Aufnahme der Ausbildung zum PP oder KJP vorausgesetzt werden müssen.

Der Deutsche Psychotherapeutentag setzte sich mehrfach mit der Frage auseinander, welche Voraussetzungen zukünftig für eine PP- bzw. KJP-Ausbildung erfüllt sein müssten, und fasste in den Jahren 2010 und 2012 hierzu Entschließungen mit eindeutigen Mehrheitsverhältnissen (Bundespsychotherapeutenkammer 2010, 2012). Im selben Beschluss wurden so genannte Kernkompetenzen definiert, über die ein Psychotherapeut am Ende seiner Ausbildung, also mit der Approbation, verfügen muss.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), in der die großen Fachverbände der Psychoanalytiker zusammengeschlossen und vertreten sind, nimmt eine eher ablehnende Haltung gegenüber allen Modellvorstellungen eines Direktstudiums ein. Sie bat aber die zu diesem Thema arbeitenden Kollegen und Hochschullehrer um die Mitwirkung an „Eckpunkten für Modelle einer psychotherapeutischen Ausbildung an der Hochschule“ (Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie 2012).

Professionstheoretische Überlegungen

Der Vorschlag eines Direktstudiums Psychotherapie bedeutet, dass für einen schon etablierten Beruf eine völlig neue Ausbildung konzipiert werden müsste. Das wäre ein ungewöhnliches Vorhaben, denn üblicherweise entwickelt eine Profession nahezu gleichzeitig ihr Berufsbild, die dazu erforderlichen beruflichen Kompetenzen und die dorthin führenden Ausbildungsgänge. Das war im Fall der Psychotherapie zunächst auch so, bis das PsychThG mit der Beschränkung der Zugangswege zur Ausbildung diese Entwicklung unterbrach. Es wird daher sinnvoll sein, die Entwicklung des Berufes des Psychotherapeuten aus professionstheoretischer Sicht kurz zu rekapitulieren.

Die Professionalisierung des Psychotherapeutenberufes verlief ganz ähnlich wie die Verberuflichung anderer sozialer Berufe, wie sie sich etwa für die Pädagogen oder den Sozialarbeiter, neuerdings den Supervisor, den Mediator und ganz aktuell die Familienhebammen abzeichnet. All diese Berufe versuchen nach außen hin zu erreichen, dass 1) die Öffentlichkeit ihre Tätigkeit als gesellschaftlich nützlich, möglichst sogar als notwendig anerkennt, 2) diese Tätigkeit eine normierte Ausbildung voraussetzen muss (womit sie sich auch formal von der Laientätigkeit unterscheidet), 3) nur die einschlägigen Berufsverbände, die sich inzwischen gebildet haben, die Qualität dieser Ausbildung sichern und den Zugang zur Ausbildung und zum Beruf überwachen, 4) der Titel – in diesem Fall der des PP bzw. KJP – geschützt wird, um eine Monopolstellung zu festigen und 5) eine Gebührenordnung die Honorare festlegt, die ein Psychotherapeut für seine Leistungen berechnen kann. Dies alles haben die PP und KJP erreicht; ihr Beruf wurde sogar verkammert. Der Beruf könnte also – nach außen hin – als perfekt professionalisiert gelten, durchaus vergleichbar dem des Arztes, des Rechtsanwalts oder des Steuerberaters.

Nach innen hin aber stand der – im Vergleich zum Mediziner – junge Beruf des Psychotherapeuten vor der schwierigen Aufgabe, sein professionelles Handeln auf wissenschaftliche Grundlagen zu stellen und wissenschaftlich begründete Methoden des professionellen Handelns zu entwickeln, die ja erst den Anspruch auf deutliche Unterscheidung vom Laienhandeln rechtfertigen. Insbesondere soziale Berufe müssen nämlich zwei unterschiedliche Kompetenzen entwickeln und aufeinander beziehen: Eine wissenschaftliche Kompetenz, die gewährleistet, dass das professionelle Handeln nicht einfach der subjektiven Eingebung folgt, sondern durch ein „argumentationszugängliches“ Wissen (Körner 2003) begründet ist, das insofern unabhängig ist, als es sich nicht allein aus den Handlungserfahrungen der Professionellen speist. Zweitens müssen sie aber Handlungskompetenzen entwickeln, die sich nicht allein aus der wissenschaftlichen Kompetenz ableiten lassen, weil nämlich die Einzelfälle, mit denen zum Beispiel der PP und der KJP arbeiten, sehr viel komplexer sind, als dies die wissenschaftlichen Theorien abbilden könnten (Stichweh 1996; Buchholz 1999, 2000).

Jungen Professionen fällt es oft schwer, beide Kompetenzen gleichzeitig und gleichgewichtig zu entwickeln. Sie neigen dazu, einen von zwei möglichen Fehlern zu machen: Entweder sie überbewerten die wissenschaftliche Theoriebildung und deren Überprüfung und hoffen aufs Erste, auch für die Anwendung im Einzelfall hinreichend gerüstet zu sein. Dieser Fehler ist in der Entwicklung der Verhaltenstherapie zu beobachten gewesen. Der Fehler vom zweiten Typ besteht darin, dass eine Profession die Entwicklung einer unabhängig existierenden Theoriebasis vernachlässigt und sich ganz überwiegend auf ihre (klinische) Praxeologie verlässt. Das heißt, sie sammelt dann zwar ein differenziertes Wissen über die Methoden der Arbeit im Einzelfall, bleibt aber in der Theorieentwicklung etwas zurück, weil sie versucht, allein aus der Verallgemeinerung ihrer kasuistischen Erfahrung heraus theoretische Konzeptionen zu entwickeln. Dieser Fehler vom Typ 2 ist in der Profession der psychoanalytischen Psychotherapeuten gut zu erkennen.

Praxeologisch sehr gut, theoretisch aber weniger stark entwickelte Professionen wie die des Psychoanalytikers geben sich, so die Autoren Stichweh (1996) und Schaeffer (1990), dadurch zu erkennen, dass sie in ihren Ausbildungsgängen weniger auf notwendigerweise abstrakte Theorien hinweisen, sondern stattdessen gern charismatische Persönlichkeiten anführen. Dann werden fachliche Traditionen weniger mit wissenschaftlichen Begriffen überschrieben (wie zum Beispiel „Ich-Psychologie“ oder „intersubjektivistische Psychoanalyse“), sondern gern mit dem Namen bedeutender Autoren identifiziert (Freudianer, Jungianer, Adlerianer, Kleinianer, Bionianer usw.). Und in den Lehrveranstaltungen überwiegen Seminare, in denen charismatische Dozenten „selbst als indirekter Beweis für die Wirksamkeit der von ihnen proklamierten Vorstellungen gelten können“ (Schaeffer 1990, S. 211) im Vergleich zu Lehrangeboten, die sich auf von Personen unabhängige Theorien beziehen. Für die Teilnehmer einer praxeologisch dominierten Ausbildung ist immer sehr wichtig, die „richtige“ Sprache ihrer Ausbildungsinstitution zu lernen und bei der Beschreibung ihrer klinischen Praxis zu gebrauchen. Diese entwickeln nicht selten eine Tendenz zu einer gewissen Konfessionalisierung (Schaeffer 1990).Footnote 3

Eine solche einseitige Entwicklung der Profession des psychoanalytischen Psychotherapeuten und ihrer Ausbildungsgänge erschwert die Aufgabe, eine Ausbildung von der Profession, also vom Berufsbild, her zu konzipieren. So schwierig aber diese Aufgabe ist, so dringend geboten ist sie doch: Denn es ist unwahrscheinlich, dass eine Profession sich auf Dauer rein praxeologisch fortentwickeln kann.

Warum die Konzeption eines Studienganges zum Psychotherapeuten „von der Profession her?“

Die Beschränkung des Zuganges zur psychotherapeutischen Ausbildung auf Psychologen bzw. Pädagogen/Sozialpädagogen, die das PsychThG seit 1999 festschreibt, folgte – wie schon erwähnt – weniger fachlichen, sondern eher fachpolitischen und berufspolitischen Interessen. Zu keinem Zeitpunkt wurde ernsthaft die Frage erörtert, welches Studium die besten Voraussetzungen für die Ausbildung zum PP bzw. KJP biete. Der Ausschluss der Geistes- und Sozialwissenschaftler wurde denn auch festgeschrieben, ohne dass jemals begründete Zweifel an deren fachlicher Qualifikation als Psychotherapeuten bekannt geworden wären. Und schon die Tatsache, dass so unterschiedliche Studiengänge wie Medizin und Psychologie bzw. Pädagogik/Sozialpädagogik in die Ausbildung zum Psychotherapeuten münden können, deutet darauf hin, dass es offenbar kein „geborenes“ Zugangsstudium zu dieser Ausbildung gibt.

Ein Blick auf die Geschichte der Profession des Psychotherapeuten lässt erkennen, dass dies auch kaum anders sein kann. Die psychoanalytische Methode entstand überwiegend induktiv; Sigmund Freud und die erste Generation der Psychoanalytiker entwickelten die Behandlungstechnik entlang konkreter, oft konflikthaft erlebter Behandlungserfahrungen, und die theoretische Konzeptualisierung der Methode folgte diesen verallgemeinerten Behandlungserfahrungen mit einigem zeitlichen Abstand – und verlor manchmal auch den engen Kontakt zur Praxis. Relativ spät, nämlich 1923,Footnote 4 richteten die Psychoanalytiker (in Berlin) eine geregelte Ausbildung ein, mit den bis heute dominierenden drei Säulen des theoretischen Studiums, der Behandlung unter Supervision und der Eigenanalyse. In dieser frühen Zeit der Entwicklung der Psychoanalyse gab es noch keine Beschränkungen auf bestimmte Vorberufe. Das galt sowohl für Erwachsenenanalytiker als auch für die sich recht bald herausdifferenzierenden Kinderanalytiker. Unter den ersten Ausbildungsteilnehmern befanden sich neben Ärzten auch Psychologen (zum Beispiel Adelheid Fuchs-Kamp), Lehrerinnen (zum Beispiel Marie-Louise Werner), Erzieherinnen (zum Beispiel Ada Müller-Braunschweig), Krankengymnasten (zum Beispiel Gerda Leverkus) u. a. Melanie Klein, die bis heute sehr einflussreich ist, hatte gar keine akademische Ausbildung durchlaufen (Ludwig-Körner 1998).Footnote 5

Lange Zeit war die analytische Psychotherapie im Wesentlichen das einzige psychotherapeutische Verfahren. Erst gegen Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich in Deutschland die Verhaltenstherapie als zweites Verfahren, aber dieses entstand auf ganz andere Weise als die Psychoanalyse: Ihr lag eine bereits gut ausgearbeitete psychologische Theorie, die Lerntheorie, zugrunde, die nun auf die Krankenbehandlung Erwachsener, erst später dann auch auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen angewendet wurde – mit guten Erfolgen.

Der Unterschied in der Herkunft der analytischen Psychotherapie und der Verhaltenstherapie führte zu den bis heute unterschiedlichen Auffassungen über die Inhalte und die geeignete institutionelle Verankerung psychotherapeutischer Ausbildungen: Da die Verhaltenstherapie – auch wenn Wolpe Arzt war – aus einer psychologischen Disziplin heraus entstand,Footnote 6 lag es den Verhaltenstherapeuten nahe, die Ausbildung zum PP in die Hochschulausbildung zu integrieren. Dass ihnen dies nicht gelang, lag daran, dass den verhaltenstherapeutischen Ansätzen die „traditionelle-tiefenpsychologische außeruniversitäre Ausbildungsstruktur aufgedrängt (wurde), wollten sie ebenfalls GKV-Leistung werden; universitären Ausbildungen wurde, auch nach mehrjährigen Verhandlungen, die Anerkennung versagt“ (Rief et al. 2012, S. 56). Nach Auffassung der DGPs ist das Psychologiestudium aber gleichsam der natürliche Zugang zur psychotherapeutischen Ausbildung, und ihr aktueller Vorschlag, das Direktstudium in das Psychologiestudium zu integrieren, soll einen aus ihrer Sicht längst überfälligen Entwicklungsschritt nachholen.

Aus der Perspektive der Psychoanalytiker hingegen erscheint der Zusammenhang von psychologischer Ausbildung und sich anschließender Ausbildung zum PP durchaus nicht zwingend. Dass sie trotzdem dem PsychThG und seiner Beschränkung auf Psychologen bzw. Pädagogen/Sozialpädagogen im Fall der KJP-Ausbildung zustimmten, folgte keineswegs der Einsicht in die fachliche Notwendigkeit eines Psychologiestudiums, sondern – nach langer, kontroverser Diskussion – dem starken Wunsch nach einer berufsrechtlichen Absicherung des Psychotherapeutenberufes neben, oder besser: gegenüber dem des schon länger etablierten Berufs des ärztlichen Psychotherapeuten. Damit blieb aber die Frage nach dem geeigneten Zugangsberuf zur Ausbildung zum PP unbeantwortet.

Wenn heute die Frage aufgeworfen wird, welche akademische Vorbildung denn die geeignetste sei, mag es vielleicht opportun erscheinen, sich an die zuletzt bewährte Praxis des Zuganges für Psychologen bzw. Erziehungswissenschaftler anzulehnen.Footnote 7 Man könnte aber auch die Chance ergreifen, die Ausbildung gänzlich neu zu konzipieren und dieses Mal wirklich von einem Berufsbild auszugehen, das von der Profession definiert wurde. Ausgangspunkt wären dann die Fragen: Was ist ein guter Psychotherapeut? Welche Aufgaben hat der Psychotherapeut im Gesundheitswesen? Und auf welche Weise wird man ein guter Psychotherapeut? Der folgende Abschnitt wird empirische Erkenntnisse zu diesen beiden Fragestellungen zusammentragen und für einen eigenen Vorschlag eines Direktstudiums auswerten.

Was ist ein guter Psychotherapeut?

Inhalt und Text dieses Abschnittes wurde großenteils von meiner Mitarbeiterin Melanie Ratzek erarbeitet, der ich sehr herzlich für die Überlassung ihrer Rechercheergebnisse danke.

In historischer Betrachtung erscheint als wahrscheinlich erste Bemühung, den „guten Psychotherapeuten“ zu beschreiben, eine Zusammenstellung wünschenswerter Eigenschaften aus dem Jahr 1949 (Hermer 2012a). Auf einer wissenschaftlichen Konferenz in den USA verständigten sich die Teilnehmer auf folgende Merkmale: Ein Therapeut soll zugleich interpersonales Interesse und hohe Selbstreflexivität erkennen lassen; er soll tolerant sein und die Fähigkeit besitzen, eine hilfreiche und warmherzige zwischenmenschliche Beziehung einzugehen.

In der Folgezeit, man könnte mit A.E. Meyer von einer Rechtfertigungsphase in der Psychotherapieforschungsgeschichte von 1950–1980 sprechen, bemühten sich die Autoren, die Überlegenheit der Psychotherapie im Vergleich zu Spontanremission und Placebowirkung nachzuweisen (Eysenck 1952). Sie wehrten sich gegen den Vorwurf, Psychotherapie unterscheide sich eigentlich nicht von der Hilfe eines wohlmeinenden Laien, und suchten psychotherapeutisches Handeln als fundiertes, professionelles, regelgeleitetes Können darzustellen. Unter diesem Interesse lag es nahe, die psychotherapeutischen Techniken möglichst in „reiner Form“ zu erfassen. Deswegen suchten sie durch Manuale der individuellen Gestaltung des therapeutischen Prozesses entgegenzuwirken. Persönlicher Einfluss des Therapeuten und erst recht jede Abweichung vom Therapiekonzept galten als Störvariablen.

In den 1970er und 1980er Jahren formierten sich erste Forschungszweige, die ein vermehrtes Interesse an der therapeutischen Beziehungsgestaltung und an den persönlichen Beiträgen des Therapeuten zum tatsächlichen Therapieerfolg zeigten (Orlinsky et al. 2004). Im Rahmen kontrollierter Studien wurde in Anlehnung an den Begriff der evidenzbasierten Medizin bzw. Psychotherapie der Begriff der evidenzbasierten Beziehungsgestaltung (Norcross und Wampold 2011a) geprägt. Ziel war es, diejenigen Eigenschaften, Kompetenzen und therapiespezifischen Therapeutenmerkmale zu identifizieren, die einen positiven Einfluss auf den Therapieerfolg erwarten ließen.

Empirische Ergebnisse

Erste Versuche, den Therapeutenanteil am Behandlungserfolg numerisch anzugeben, führten zu folgender Ergebnislage: Es zeigte sich, dass die therapeutische Effektivität – ausgedrückt in Effektstärken – zwischen 0,13 und 0,74 schwankte (Najavits und Weiss 1994), sodass (unter Kontrolle der Patientenmerkmale zu Beginn der Behandlung) zwischen außerordentlich guten und ebenso außerordentlich schlechten Therapeuten unterschieden werden konnte. Diese Unterschiede konnten weder auf die therapeutische Schulrichtung noch auf ihre technischen Fertigkeiten oder ein unterschiedliches Ausmaß an Training oder beruflicher Erfahrung zurückgeführt werden. Vielmehr unterschieden sich gute von schlechten Therapeuten vor allem durch ihr Beziehungsverhalten.

Zu einem ähnlichen Schluss gelangt Wampold in seinen zahlreichen Untersuchungen über die Quellen therapeutischen Erfolges: Er weist nach, dass Effekte, die spezifisch für verschiedene Psychotherapeuten sind, so gut wie durchgängig diejenigen Effektunterschiede übertreffen, die auf die gewählten Behandlungsmethoden zurückgehen (Wampold 2001; nach Hermer 2012a).

Deutlicher noch tritt der spezifische Einfluss des Therapeuten in der naturalistischen Versorgungsforschung hervor, in der zwischen 5 und immerhin 17 % der Therapieeffekte den Therapeuten zugeschrieben werden (Lutz et al. 2007; Wampold und Brown 2005). Hermer (2012a) berichtet zudem von einer Studie, in der die 10 % besten Therapeuten bei ihren Patienten eine Besserungsrate von rund 44 % und eine Verschlechterungsrate von ca. 5 % erzielten. Demgegenüber erzielten diejenigen Therapeuten mit den schlechtesten Outcomes lediglich eine Besserungsrate von 28 % und eine Verschlechterungsrate von immerhin 11 %. Die methodische Ausrichtung konnte wiederum kaum die Varianz der Outcomes erklären.

Was nun zeichnet die guten Therapeuten aus? Eine Untersuchung von Orlinsky et al. (1996), in der mehrere Tausend Therapeuten nach den Merkmalen eines guten Therapeuten gefragt wurden, ergab folgendes Bild: Ein idealer Therapeut ist demnach akzeptierend und engagiert, tolerant und warmherzig sowie intuitiv (Hermer 2012a). Begeben sich Therapeuten selbst in eine Psychotherapie, so beschreiben sie – unabhängig von ihrer eigenen Orientierung – den idealen Therapeuten folgendermaßen: Er soll erfahren sein, Wärme, Respekt und Offenheit ausstrahlen sowie einen eher aktiven therapeutischen Stil verfolgen. Seine Forschungsaktivitäten sind weniger wichtig als seine Fähigkeit, eine tragende und vertrauenerweckende therapeutische Beziehung einzugehen. All diese Eigenschaften und Kompetenzen werden im Großen und Ganzen auch von der „normalen“ Patientenklientel geteilt. Interessanterweise bevorzugen Therapeuten, wenn sie sich selbst in Behandlung begeben, eher einsichts- und erlebnisorientierte Richtungen – auch wenn sie selbst behavioral-kognitiv orientiert sind.

Auch in Prozess-Outcome-Studien erscheint das interpersonelle Funktionsniveau als ausschlaggebend für den Behandlungserfolg: Zentrale Merkmale sind Empathie, Authentizität und Konkretheit des Behandlers. Er sollte klinisch erfahren sein; das scheint wichtiger zu sein als die Erfahrung mit einer bestimmten therapeutischen Methode (Huppert et al. 2001). Kächele (2007, S. 9) zog folgende Schlussfolgerung: „Alle Bemühungen um die ‚Persönlichkeit‘ des guten Therapeuten laufen darauf hinaus, dass es nichts Besseres für den Neuling gibt, als sich möglichst viel klinische, patienten-bezogene Erfahrung anzueignen. In dem Maße wie kognitive Orientierung verfügbar wird, ein therapiestrategisches Wissen internalisiert wird, findet psychotherapeutische Beeinflussung erst an den Möglichkeiten des Patienten ihre Grenze“.

Die berufliche Erfahrung lässt sich auch in weiteren Prozess-Outcome-Studien sowie in Metanalysen als Moderatorvariable identifizieren. So bestimmt das Ausmaß an klinischer Erfahrung maßgeblich, inwieweit der Einsatz von Manualen sich positiv aufs Behandlungsergebnis auswirken kann. Wie zu erwarten, profitieren vor allem unerfahrene Therapeuten eher vom unterstützenden Einsatz von Manualen. Erfahrene Therapeuten unterschiedlicher Orientierungen hingegen erzielen mit und ohne Manuale gleich gute Ergebnisse – man könnte also sagen, dass der Erfahrungsaspekt bei diesen Therapeuten den Manualisierungseffekt deutlich dominiert. Allerdings zeigt die Ergebnislage zum Einsatz von Manualen auch, dass ein striktes Befolgen von Manualen die Güte der therapeutischen Beziehung unter Umständen untergraben und in Gefahr bringen kann (Hermer 2012a).

Orlinsky und Howard (1987) untersuchten den Einfluss der „Passung“ zwischen Therapeut und Patient auf den Erfolg einer Behandlung. Ihre Ergebnisse: 1) Patient und Therapeut sollten gut miteinander kooperieren können. 2) Der Therapeut sollte mit der Störung des Patienten gut umgehen können. 3) Die Therapiemethode sollte für die jeweilig zu behandelnde Störung ein effektives Rationale anbieten. 4) Die Behandlungsmethoden sollten mit den Erwartungen, Motivationen und Kompetenzen des Patienten korrespondieren. Darüber hinaus weisen Tyrell et al. (1999) darauf hin, dass vor allem schwer gestörte Patienten dann von der Therapie profitieren, wenn sich ihr Aktivitätsstil von dem des Therapeuten komplementär unterscheidet: zurückhaltender Therapeut zu überengagiertem Patienten, engagiert-lebhafter Therapeut zu distanziertem Patienten.

Der Einfluss der therapeutischen Beziehung

Dass die therapeutische Beziehung großen Einfluss auf den Erfolg einer Behandlung nimmt, erscheint vielen fast selbstverständlich. Tatsächlich aber sind die empirischen Befunde durchaus heterogen. So berichten Beutler et al. (2004) in einem umfassenden Überblicksartikel über Zusammenhänge zwischen der therapeutischen Beziehungsqualität und dem Therapie-Outcome zwischen 0,04 und 0,78. Andere Metaanalysen gelangen zu „ranges“ zwischen 0,11 und 0,26 bzw. 0,17 und 0,29 – zum Teil in Abhängigkeit vom verwendeten Messinstrument zur Erfassung der therapeutischen Beziehungsqualität. Norcross und Lambert (2006) gehen in ihrem Wirkfaktorenmodell von einer 10 %igen Varianzaufklärung der therapeutischen Beziehung in Bezug auf das Outcome aus; Beutler kommt in seinem Überblick lediglich zu einer 7- bis 17 %igen Varianzaufklärung.

Trotz dieser uneinheitlichen Befundlage kann wohl nicht ernsthaft bestritten werden, dass die therapeutische Beziehung einen zentralen Prädiktor für den Therapieerfolg bildet. Aber wie ließe sich dieser Befund konkretisieren? Was zeichnet einen Therapeuten aus, der eine gute therapeutische Beziehung zu seinen Patienten aufzubauen pflegt? Oder anders: Welchen Beitrag leisten Therapeuten zur Gestaltung einer guten Beziehung?

Aus der Perspektive von Patienten ist eine von Vertrauen getragene Beziehung zum Therapeuten ganz wesentlich. Dessen Einfühlungsvermögen, Sympathie, Unterstützung bei Problemlösungen, Respekt, Offenheit und seine Fähigkeit des Zuhörenkönnens stiften eine vertrauensvolle Beziehung (Hermer 2012b). Patienten nennen diese Eigenschaften weitgehend unabhängig davon, in welcher Phase ihrer Therapie sie sich befinden. Ein einmal gefasster Eindruck (oder ein einmal bewusst gewordenes Gefühl) über die Güte der therapeutischen Beziehung bleibt meist stabil über den therapeutischen Prozess bestehen. Auch Konflikte oder Spannungen können eine als stabil und konstruktiv erfahrene Beziehung kaum infrage stellen. Vielmehr erleben Patienten dann auch solche Sitzungen als durchaus produktiv, die sie selbst weniger gut befinden, weil sie sich zum Beispiel mit ihrem Therapeuten auseinandersetzen mussten.

Die Einschätzungen der Patienten über die Güte der therapeutischen Beziehung können von denen ihrer Therapeuten erheblich abweichen. Eine Metastudie von Tyron et al. (2007, 2008) weist auf eine Korrelation von nur 0,36 zwischen den Patienten- und den Therapeuteneinschätzungen hin (Hermer 2012b). Es zeigte sich, dass Therapeuten die Beziehung im Mittel zwar als schlechter bewerten als ihre Patienten, aber sie bewerten sie viel seltener als ihre Patienten auch einmal als wirklich schlecht. Auch hier spielt die klinisch-therapeutische Erfahrung eine bedeutende Rolle und fungiert als eine Art Korrektiv: Erfahrene Therapeuten stimmen in ihren Einschätzungen eher mit ihren Patienten überein als unerfahrene Therapeuten.

Um eine Aufstellung derjenigen Elemente bemüht, die maßgeblich zu einer gelungenen therapeutischen Beziehung beitragen, kommen Norcross und Wampold (2011a, b) zu folgenden Behauptungen, die als gut empirisch gestützt betrachtet werden können: Einen positiven Beitrag zur therapeutischen Beziehung leistet eine gute therapeutische Allianz, also eine hohe Übereinstimmung im Hinblick auf die Notwendigkeit und die Ziele der Behandlung. Positiv wirken die Empathie des Therapeuten sowie sein Interesse an Feedback durch den Patienten. Folgende Einflüsse wirken sich negativ auf die therapeutische Beziehung aus: Ein von Konfrontationen dominierter Kontakt, ein feindseliges, zurückweisendes und beschuldigendes Therapeutenverhalten, Äußerungen des Therapeuten über die Zufriedenheit des Patienten (anstatt ihn danach zu fragen), dogmatische Methodenbeschränkung ohne hinreichende Berücksichtigung der Bedürfnisse des Patienten (Hermer 2012b).

Van Wagoner et al. (1991) betonen für psychoanalytisch begründete Verfahren, in denen das Konzept von Übertragung und Gegenübertragung eine zentrale Rolle spielt, die Bedeutung der Lehranalyse, um schädliche Gegenübertragungsreaktionen und beziehungsgefährdende Dynamiken zu verhindern. Eine Lehranalyse sollte demnach auf folgende Aspekte fokussieren: auf die Einsicht in eigene innere Konflikte, die Selbstintegration, auf einen konstruktiven Umgang mit der eigenen Angst, auf die Empathiefähigkeit des angehenden Therapeuten sowie auf seine Fähigkeit, das eigene therapeutische Handeln in ein therapeutisches Konzept einordnen und begründen zu können.

Die Bedeutung der Selbsterfahrung

Die Lehranalyse berührt auch den Bindungsstil des Therapeuten: Eine Untersuchung von Schauenburg et al. (2010) kommt zu dem Schluss, dass keine eindeutigen Einflüsse (im Sinne von Haupteffekten) der therapeutenseitigen Bindungseinstellung auf die therapeutische Beziehungsqualität erkennbar sind. Patienten mit massiven psychosozialen Problemen schätzen die Qualität der therapeutischen Beziehung durchweg als schlechter ein, als es weniger belastete Patienten tun – und zwar unabhängig von der Bindungseinstellung des jeweiligen Therapeuten. Diese Patienten profitieren dann aber von der Therapie, wenn sie von sicher gebundenen Therapeuten behandelt werden. Möglicherweise sind sicher gebundene Therapeuten flexibler im Umgang mit interpersonell stark eingeschränkten Patienten, vermuten die Autoren. Jedenfalls fehlen noch gründliche empirische Studien zur „Passung“ der Bindungsmuster von Patienten und Therapeuten.

Diese Vermutung wird auch durch ein Fazit Kächeles gestützt, der ebenfalls die Flexibilität des Therapeuten als zentrales Merkmal hervorhebt: „… nicht die statischen Elemente, die Eigenarten, die ein Psychotherapeut qua Person in die therapeutische Situation einbringt, sind die entscheidenden, sondern seine dynamische Fähigkeit, sich jeweils auf einen anderen Menschen und dessen Defizienzen einzustellen; dies, mehr alles andere, entscheidet über Erfolg und Misserfolg“ (2007, S. 12).

Zahlreiche Autoren haben sich bemüht, das therapeutische Handeln mithilfe von Manualen zum spezifischen Vorgehen bei bestimmten Störungen zu homogenisieren und zu standardisieren. Erfreulicherweise haben diese Bemühungen nicht die Individualität und den persönlichen Einfluss des Therapeuten und die daraus resultierenden Erfolgsunterschiede ausschalten können. Und trotzdem haben nach Hermer (2012b) die Beziehungsvariablen die großen Hoffnungen der Forscher auf eine substanzielle Aufklärung der Ergebnisvarianz bislang nicht erfüllen können. Als einzigen, empirisch hinreichend gut bewährten Prädiktor von Therapieerfolg betrachtet er sehr allgemein die interpersonelle Kompetenz des Psychotherapeuten und die Qualität der therapeutischen Beziehung (abweichend: Beutler et al. 2004). Allerdings verlangt auch dieser Befund noch weitere, erhebliche Forschungsbemühungen.

Die empirischen Befunde zur Frage nach dem „guten“ Therapeuten sind insgesamt unbefriedigend. Es dürfte schwierig sein, allein mit ihnen ein Direktstudium zum Psychotherapeuten zu konzeptualisieren, auch wenn einige Parameter unstrittig sein werden:

Die Ausbildung sollte ein hohes Maß an klinischer Erfahrung vermitteln. Sie sollte daher zahlreiche, frühzeitig einsetzende Veranstaltungen vorsehen, in denen der Studierende Erfahrungen sammeln kann, zunächst an Life-Mitschnitten von Erstgesprächen, dann als Beobachter und schließlich als Mitwirkender in beraterischen und therapeutischen Situationen. Die eigenen praktischen Erfahrungen sollten von Supervisionen begleitet werden.

Der Studierende soll in seinem gewählten Verfahren sicher sein, aber auch fähig werden, therapeutische Methoden flexibel an die Situation seines Patienten anzupassen. Daraus folgt: Die Ausbildung darf sich nicht nur auf die Vermittlung einer bestimmten Methode beschränken. Der Studierende braucht sehr viel Kontextwissen, um das gelernte Verfahren flexibel handhaben zu können.

Die Ausbildung muss die interpersonelle Kompetenz des zukünftigen Psychotherapeuten fördern. Er muss fähig werden, auch konflikthafte und belastende Beziehungssituationen zu ertragen, zu durchschauen und für den therapeutischen Prozess zu nutzen.Footnote 9 Eine lang dauernde, intensive Selbsterfahrung ist daher unerlässlich. Eine patientenorientierte Selbsterfahrung (zum Beispiel in Balint-Gruppen) genügt nicht, wäre aber eine gute Ergänzung.

Ein guter Psychotherapeut ist empathisch, zugewandt, interessiert und unterstützend. Er besitzt eine hohe Mentalisierungsfähigkeit, das heißt, er kann sich selbst von außen und andere gleichsam von innen wahrnehmen und verstehen. Hier stellt sich allerdings die Frage: Kann man diese Eigenschaften im Rahmen einer Ausbildung entwickeln? Oder muss man basale Merkmale, wie zum Beispiel Bindungssicherheit bei Studienanfängern voraussetzen?

Maximen eines Direktstudiums zum Psychotherapeuten

Die folgenden Vorschläge zielen auf Struktur und Inhalte eines Direktstudiums zum Psychotherapeuten. Sie sollen die professionstheoretischen Überlegungen anwenden und die empirischen Ergebnisse zur Frage nach einem „guten“ Psychotherapeuten berücksichtigen. Sie lehnen sich an die ärztliche Ausbildung an, die mit einer Staatsprüfung und der Approbation endet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein approbierter Psychotherapeut fähig sein muss, Psychotherapie selbstständig und eigenverantwortlich anzuwenden, auch wenn er aufgrund noch fehlender Fachkunde sozialrechtlich nur eingeschränkt (nämlich unter fachlicher Aufsicht) tätig sein darf.

Struktur und Aufbau eines Direktstudiums

Das Studium umfasst sechs Jahre, also zwölf Semester [entspricht 360 Punkten im European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS)] und endet mit der Approbation. Im letzten Drittel des Studiums (vom achten bis zwölften Semester) absolviert der Studierende studienbegleitend halbtags ein „praktisches Jahr“. Dieses wird also ein Teil des Studiums, unbezahlt (wie alle Studienleistungen), aber mit der Möglichkeit einer Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG).

Die Staatsprüfung besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil wird nach drei Studienjahren (sechs Semestern) absolviert, der zweite am Ende des Studiums. Eine Parallelisierung dieses Aufbaus mit einer Bachelor- und Master-Struktur ist denkbar, allerdings ist der erste Teil der Staatsprüfung nicht als ein berufsqualifizierender Abschluss (wie bei einem Bachelor vorgeschrieben) anzusehen.Footnote 10 Es werden keine Bachelor- und Master-Arbeiten geschrieben. Stattdessen schreibt der Studierende im sechsten, siebten und achten Semester jeweils eine große Hausarbeit (je 10 ECTS-Punkte).

Nach bestandenem erstem Teil der Staatsprüfung entscheidet sich der Studierende, auf welches wissenschaftlich anerkannte psychotherapeutische Verfahren er sich im zweiten Teil des Studiums spezialisieren will. Er wählt also zum Beispiel Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie oder analytische Psychotherapie als seine Studienrichtung. Eine Hochschule muss mindestens zwei Verfahren zur Schwerpunktbildung als Studienrichtungen anbieten und sollte die Schwerpunkte so weit wie möglich gegenseitig öffnen.

Nach bestandener Staatsprüfung wird die Approbation im Fach Psychotherapie erteilt. Erst anschließend entscheidet sich der Studierende, ob er sich für die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen oder der Erwachsenen (oder für beide) weiterbilden, das heißt, die entsprechende Fachkunde erwerben will.

Mit der Approbation kann der Psychotherapeut die Weiterbildung zum Erwerb einer Fachkunde beginnen. Diese dauert ganztags mindestens zwei Jahre; zumindest im Fall der psychodynamischen Verfahren sollte die Weiterbildung halbtags neben einer beruflichen Tätigkeit angeboten werden und dauert dann mindestens vier Jahre. Diese Konstruktion eröffnet dem Weiterbildungsteilnehmer die Möglichkeit, seine Selbsterfahrung über einen längeren Zeitraum fortzusetzen und Patienten auch über mehrere Jahre hinweg zu behandeln. Die Weiterbildung findet an den anerkannten Ausbildungsstätten statt und steht unter fachlicher Aufsicht der zuständigen Landespsychotherapeutenkammern.

Hochschulen, die das Direktstudium Psychotherapie anbieten wollen, müssen Promotionsrecht besitzen.Footnote 11 Sie müssen über eine psychotherapeutische Ambulanz verfügen, die auch für Forschungsarbeiten genutzt werden kann. Die Hochschulen sollten zur Sicherung der Strukturqualität für jedes wissenschaftlich anerkannte Verfahren, das sie anbieten, mindestens eine fachlich einschlägige Professur einrichten und qualifiziert besetzen. Sie sollten für Studieninteressenten ein Bewerbungsverfahren einrichten und in persönlichen Gesprächen die Eignung der Bewerber für das Direktstudium prüfen.

Inhalte des Direktstudiums

Die Inhalte eines Direktstudiums zum PP können in folgende sechs Studienbereiche gegliedert werden:

  • Kernfach klinische Psychologie und Psychotherapie,

  • Kontextstudium (Psychologie, Erziehungswissenschaften, Sozialwissenschaften, Medizin, Philosophie u. a.),

  • Studium generale,

  • klinische Praxeologie (die Methoden der Psychotherapie in der Anwendung),

  • Selbsterfahrung,

  • Praxis (Hospitationen, praktisches Jahr).

Diese Studienbereiche werden nebenaneinander studiert; sie bilden also eine horizontale Gliederung des Studiums. Allerdings verschieben sich die Gewichte im Laufe des Studiums: Das Studium generale bildet vor allem in den ersten Semestern einen Schwerpunkt; die Selbsterfahrung setzt erst mit dem fünften Semester ein. Aus dieser Verschiebung der Schwerpunkte ergibt sich eine vertikale Gliederung des Studiums (Tab. 1). Da das Studium zu einem Beruf ohne Altersschwerpunkt führt (dieser wird erst nach der Approbation gewählt), beziehen sich die Lehrinhalte auf die gesamte Lebensspanne.

Tab. 1 Muster eines Rahmenstudienplans Psychotherapie

Das Kernfach klinische Psychologie und Psychotherapie

Hiermit ist der systematisierte Wissensbestand der klinischen Psychologie und Psychotherapie gemeint, von der Entwicklungspsycho(patho)logie, der Störungslehre über die Diagnostik, Indikation bis zu den einzelnen Verfahren und ihren Methoden einschließlich wissenschaftlicher Forschung und Evaluation. Dieser Wissensbestand ist gut dokumentiert und zugänglich; auf eine ausführlichere Darstellung der Inhalte kann hier verzichtet werden. Große Teile dieser Lehrveranstaltungen werden bislang von den Ausbildungsinstituten angeboten. Die anbietende Hochschule könnte interessierte Dozenten der Ausbildungsinstitute um ihre Mitwirkung als Lehrbeauftragte bitten.

Sehr wichtig ist die Abgrenzung dieses Studienbereiches von dem Nachbarbereich „Praxeologie“ (s. Abschn. „Praxeologie“).

Das Kontextstudium

Hier sind wissenschaftliche Beiträge einzuplanen, die die Psychotherapie zwar nicht unmittelbar begründeten oder prägten, die aber die wissenschaftlichen Kontexte bilden, in denen sich die Psychotherapie als Wissenschaft bewegt und die den Hintergrund für das Selbstverständnis eines Psychotherapeuten bilden. Den Schwerpunkt bildet ohne Zweifel die Psychologie mit ihrer Geschichte, ihren Methoden und ihren Erkenntnissen über die Entwicklung des Menschen, sein Lernen, seine Motivation, seine Persönlichkeit und vieles mehr. Ferner die Sozialwissenschaften und die historische Anthropologie mit ihren Beiträgen über den Menschen als soziales und historisch-kulturelles Wesen. Außerdem die Philosophie mit ihren Konzepten über Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die Medizin mit ihrem Fokus auf den Menschen als körperliches Wesen und die Erziehungswissenschaft mit ihrem Verständnis für die seelische Entwicklung in den Kontexten und Institutionen der Bildung und Sozialisation.

Es wird nicht sinnvoll sein, das Kontextstudium als eine Reihe von „Einführungen in die …“ anzubieten. Vielmehr soll eine Balance gesucht werden zwischen der „Eigenart“ jeder Kontextwissenschaft, die sich ja weitgehend unabhängig von der wissenschaftlichen Psychotherapie entwickelt hat, einerseits und ihrem Einfluss auf die Psychotherapie und das Selbstverständnis des Psychotherapeuten andererseits.

Beispiele

Um die Diskussion über den wissenschaftstheoretischen Standort der Psychoanalyse verstehen und fortführen zu können, braucht der Student ein fundiertes philosophisches erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Wissen. Um zu verstehen, wie und warum Psychoanalytiker deuten, muss er mit Hermeneutik vertraut sein. Und um sich in der besonderen Situation eines psychoanalytischen Settings zurechtzufinden, muss er die soziologische Theorie des Rahmens einer Situation (Goffman) kennengelernt haben. All diese Theorien zählen nicht zu den Grundlagen der analytischen Psychotherapie (und jene sind ohne diese ganz vollständig), trotzdem aber brauchen wir sie – auf eine eher indirekte Weise. Denn in der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie und Methode wurde auf die Kontextwissenschaften zwar nur selten ausdrücklich Bezug genommen; vielmehr bildeten sie eine Art „schweigenden Hintergrund“ für die Entwicklung der Psychotherapie als Wissenschaft.

Das Studium generaleFootnote 12

Vermittelt werden Schlüsselkompetenzen, die fächerübergreifend eingesetzt werden können wie reflexive Kompetenz, kulturelle Kompetenz und Handlungskompetenz. Denkbar ist eine Abfolge von interdisziplinär gestalteten Themenschwerpunkten zum Beispiel aus den Kulturwissenschaften, der historischen Anthropologie, der Gender-Forschung oder Ethnologie. Oder es werden wiederkehrende Veranstaltungen vorgesehen über speziellere Themen wie kritisches Denken, „diversity competence“, „scientific writing“, Zeitmanagement, Rhetorik und Ähnliches. Die Veranstaltungen dieses Studienbereiches sind fächerübergreifend anzubieten.

Die Praxeologie

Während die bisher genannten Studienbereiche (Studium generale, Kontextstudium und das Kernfach Psychotherapie) weitgehend verfahrensübergreifend angeboten werden sollten, muss die Praxeologie ab dem siebten Semester verfahrensspezifisch ausgerichtet sein. Im Folgenden soll eine Praxeologie für die psychodynamischen VerfahrenFootnote 13 skizziert werden.

Die Psychoanalyse entstand im Gegensatz zur Verhaltenstherapie nicht als Anwendung von schon bereitliegenden, sondern induktiv als Verallgemeinerung von Praxiserfahrungen. Wesentliche Konzepte wie Übertragung und Gegenübertragung sind gleichsam verdichtete klinische Erfahrungen – genauer: Mit ihnen wurden komplizierte, vom Unbewussten geprägte Beziehungssituationen „begriffen“ und bewältigt. Bildlich gesprochen „erzählen“ sie die Beziehungsepisoden, welche die Konzeptualisierungen erzwangen – zum Beispiel ermöglichte es der Übertragungsbegriff, die überraschenden, oft sehr bedrängenden Beziehungsfantasien und -wünsche der Patientinnen jener Zeit begrifflich „einzufangen“ und zu beherrschen.

Die Lehrveranstaltungen zur Praxeologie sollen die Geschichte dieser Konzepte rekonstruieren und sie in ihre historischen Kontexte einbetten. Darin liegt aber nicht das hauptsächliche Anliegen der praxeologischen Seminare. Viel wichtiger ist es, dass die Studierenden die Werkzeugfunktionen dieser Konzepte kennenlernen, und zwar auf den gleichen induktiven Wegen, wie sie auch entstanden sind. Konkret: Die Studierenden lernen in der Auseinandersetzung mit echten (videografierten) therapeutischen Situationen, wie zum Beispiel „szenisches Verstehen“ einen Zugang zum Patienten (bzw. seiner Familie) erschließt, wie es das Übertragungskonzept erlaubt, die internalisierten Beziehungen (die „working models“) des Patienten zu verstehen und wie die Widerstandskonzepte helfen, Stagnationen im therapeutischen Prozess zu erkennen und zu überwinden. Der Studierende lernt also nicht „Was ist eine Übertragung?“, sondern er betrachtet eine therapeutische oder Erstinterview-Situation und greift nach dem Übertragungskonzept, um sich in der schwierigen Beziehungssituation zurechtzufinden. Er wird auch keine Vorlesung über „Das Unbewusste“ hören, sondern er wird lernen, wie ihm das Konzept vom Unbewussten hilft, zum Beispiel einen schwierigen inneren Konflikt eines Patienten zu verstehen.

In der Praxeologie erfahren die Studierenden, wie sich die psychoanalytisch-therapeutische Szene von Situationen des Alltags und auch von denen anderer therapeutischer Verfahren unterscheidet. Sie lernen, die Mehrdeutigkeit der Sprache zu entschlüsseln, werden sensibel für metaphorische Ausdrücke und üben das Erkennen (und Wiedererkennen) von thematisch ähnlichen Episoden in der Biografie des Patienten und in der aktuellen Übertragungssituation. Sehr wichtig ist es, dass sie die „Fiktionalität“ (Körner und Müller 2004) der therapeutischen Beziehungssituation erfassen und für die analytische Arbeit nutzen können. Damit ist gemeint, dass sie den Entwurfscharakter der Übertragung (und Gegenübertragung) verstehen und fähig sind, gemeinsam mit dem Patienten einen „utopischen Raum“ von Beziehung zu gestalten.

Die Praxeologie der Psychoanalyse ist gut ausgearbeitet. Es kommt nur darauf an, sie gemeinsam mit den Studierenden induktiv zu erschließen, anstatt zu lehren, wie man sie „anwendet“. Didaktisch kann man auf Konzepte des problemorientierten Lernens zurückgreifen, das in medizinischen Studiengängen erprobt wurde. Der erheblich höhere Lernaufwand, der im Fall des Medizinstudiums beobachtet wurde, muss im Fall des Direktstudiums analytische Psychotherapie nicht befürchtet werden, weil der „Weg“ zum Beispiel von einer beobachteten unklaren, ggf. konflikthaften Beziehungsepisode zum Werkzeugkonzept (etwa zu dem der Übertragung oder des Widerstandes) sehr „kurz“ ist, im Gegensatz zur Medizin, die für ein „einfaches“ Symptom (wie „Oberbauchbeschwerden“) eine kaum übersehbare Fülle von Wissen und diagnostischen Strategien bereithält.

Die Lehrveranstaltungen der Praxeologie können schon im fünften und sechsten Semester, in denen die Studierenden noch verfahrensübergreifend studieren, mit Seminaren zur psychotherapeutischen Situation beginnen. In diesem dritten Studienjahr besuchen also (spätere) Verhaltenstherapeuten und Psychoanalytiker gemeinsam die Seminare zur Praxeologie. Gegenstände sind vor allem qualitative Methoden der Analyse von Beziehungssituationen, der Rekonstruktion von Entwicklungsgeschichte und der Hypothesenbildung. Ausgangspunkt für den Lernprozess bilden Videoaufnahmen von (Erst-)Interviews, möglicherweise auch Life-Interviews hinter der Einwegscheibe, sowohl Einzel- als auch Paar- und Familiengespräche.

Die Selbsterfahrung

Ähnlich wie die Lehrveranstaltungen des Studienbereiches Praxeologie wird auch die Selbsterfahrung verfahrensspezifisch angeboten. Lediglich die ersten beiden Selbsterfahrungsseminare im fünften und sechsten Semester können – zum Beispiel als Gruppenselbsterfahrung – unabhängig von dem später zu wählenden Verfahren gewählt werden. Ab dem siebten Semester nehmen die Studierenden der psychodynamischen Verfahrensrichtungen an einer Balint-Gruppe teil, die parallel zu ihren ersten Hospitationen angeboten werden soll. Vom neunten bis zwölften Semester unternimmt jeder Studierende eine Einzelselbsterfahrung; diese umfasst zum Beispiel bei drei bis vier Stunden wöchentlich insgesamt ca. 200 Stunden. Die Selbsterfahrungsleiter sind beauftragte externe Mitglieder der kooperierenden Ausbildungsinstitute. Die Selbsterfahrung wird nicht benotet; die Teilnahme ist verpflichtend.

Die Praxis

Dieser Studienbereich ist mit zwei Praktika in verschiedenen Einrichtungen (Kinder, Erwachsene, Familien) im fünften und sechsten Studiensemester (je 60 Stunden) noch verfahrensunspezifisch, desgleichen natürlich das Vorpraktikum im Umfang von zwölf Wochen. Im siebten und achten Studiensemester schließen sich Hospitationen bei zwei Kurzzeittherapien (je 25 Stunden) und zwei psychodynamischen Verfahren (je 50 Stunden) an. Das „praktische Jahr“ wird als Halbtagspraktikum auf zwei Jahre verteilt (44 Wochen).

Entwurf eines Studienplanes

Die bis hierher entwickelten Vorstellungen über Struktur und Inhalte eines Direktstudiums könnten in einen Rahmenstudienplan münden, wie er in Tab. 1 zusammengestellt ist. Das Studium ist in die sechs Studienbereiche vertikal gegliedert. Horizontal ergibt sich eine Gliederung dadurch, dass die Studienbereiche im Verlauf des Studiums ihre Gewichte wechseln.

Das Studium umfasst insgesamt 360 ECTS-Punkte, die Summen in der untersten Zeile von Tab. 1 geben an, wie hoch die Studienbereiche gewichtet werden. Das Kontextstudium (mit Psychologie, Erziehungswissenschaft, Medizin etc.) umfasst demnach 111 ECTS-Punkte, das Kernfach Psychotherapie 94 ECTS-Punkte; dies sind die beiden höchstgewichteten Studienbereiche.

Die Tab. 1 zeigt, wie das Direktstudium gegliedert sein kann; selbstverständlich könnten die Gewichte auch anders gesetzt werden. Dabei sollte aber die gleichmäßige Belastung pro Semester (je 30 ECTS-Punkte) in etwa erhalten bleiben. Die Inhalte der drei Studienbereiche Studium generale, Kontextstudium und Kernfach Psychotherapie sind in Tab. 1 noch nicht definiert; sie sind in den allgemeinen Beschreibungen der zurückliegenden Abschnitte aber schon umrissen worden. Es sollte den Hochschulen freigestellt werden, die Studienbereiche fachlich zu füllen und damit vielleicht auch ein eigenes Profil zu schärfen.

Diejenigen Studieninhalte, die verfahrensspezifisch studiert werden, sind in Tab. 1 kursiv markiert. Alle anderen – es ist die Mehrzahl – sollen verfahrensübergreifend studiert werden können. Die Tab. 1 veranschaulicht nur die Variante mit der Studienrichtung tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie oder analytische Psychotherapie. Für andere Studienrichtungen, zum Beispiel die Verhaltenstherapie, würden die kursiv markierten Felder mit etwas anderen Inhalten gefüllt werden.

Der hier vorgelegte Rahmenstudienplan ist durchaus kompatibel zu den Vorstellungen der Profession (DGPs, DGPT, Deutscher Psychotherapeutentag) über die fachliche Qualifikation zukünftiger PP. Zum Beispiel ließe sich der Qualifikationskatalog „Gemeinsamer Vorschlag von Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE), der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und dem Fachbereichstag Soziale Arbeit (FBTS) zu gemeinsamen Eingangsqualifikationen einer reformierten Psychotherapeutenausbildung vom 27.3.2012“ vollständig in dem Rahmenstudienplan der Tab. 1 unterbringen, und es blieben immer noch sehr viele ECTS-Punkte frei, um die Ausbildung zum Psychotherapeuten innerhalb der hier vorgesehenen zwölf Semester zu gestalten und gleichzeitig dem Anspruch gerecht zu werden, ein breites, gezielt auf die Profession ausgerichtetes Studium anzubieten.

Die Befürchtungen der Fachverbände, mit dem Direktstudium ginge die bisherige postgraduale Ausbildung an den anerkannten Ausbildungsstätten der Gesellschaften verloren, sollten zerstreut werden können. Der hier vorgelegte Entwurf sieht eine vierjährige nebenberufliche Weiterbildung nach der Approbation an den anerkannten Ausbildungsstätten vor. Das ist nur ein Jahr weniger als die derzeit gültige Ausbildungs- und Prüfungsverordnung vorschreibt.

Es wäre höchst wünschenswert, wenn die Hochschulen in dem Direktstudium mehrere wissenschaftlich anerkannte Verfahren als unterschiedliche „Studienrichtungen“ nebeneinander anbieten würden. Denn, wie gezeigt, wird nur ein Teil der Lehrveranstaltungen verfahrensspezifisch ausgerichtet sein, der überwiegende Teil sollte verfahrensübergreifend studiert werden können. Im idealen Fall lernen also Studierende, die für den zweiten Teil ihres Studiums ein psychodynamisches Verfahren wählen, großenteils gemeinsam mit Studierenden, die sich für ein anderes Verfahren entscheiden. Das gemeinsame Studium über die Verfahrensgrenzen hinweg würde die Verständigung und die gegenseitige Achtung ganz gewiss fördern.