Zusammenfassung
Der Autor gibt einen Überblick über die Arbeiten der Londoner Forschungsgruppe um Peter Fonagy. Sie verbinden zwei in der Entwicklungspsychologie derzeit prominente Forschungsgebiete, die Theory-of-mind-Forschung und die Bindungsforschung, mit der Psychoanalyse und zeichnen in einem umfassend angelegten Entwurf den stufenweisen Erwerb der Fähigkeit zur Mentalisierung nach. Die Fähigkeit, sich selbst und andere als Wesen mit seelischen Zuständen zu verstehen und sich mit dem eigenen Seelenleben und dem anderer auf gehaltvolle Weise zu befasssen, wird als abhängig von Bindungserfahrungen betrachtet. Die Architektonik der Theorie wird in sechs Schritten rekonstruiert: Nach einer Erläuterung des Mentalisierungsbegriffes (I) werden das Affektspiegelungsmodell (II) und die Playing-with-reality-theory (III) dargestellt. Diese beiden Theorieteile machen den zentralen theoretischen Kern aus und führen zu einer bestimmten Auffassung über die Merkmale interaktiver und symbolischer Affektregulierung, die im IV. Abschnitt dargestellt wird. Danach werden bestimmte Aspekte der Entwicklung des Selbst behandelt (V). Abschließend die Implikationen der dargestellten Themen für die Konzeptualisierung klinischer Phänomene wie der projektiven Identifizierung (VI). Der Autor sieht das Originelle dieses Ansatzes darin, dass Fonagy et al. auch im Zeitalter des Humangenomprojektes nicht, wie viele Kognitionspsychologen, eine Reifungsgeschichte der Entwicklung des Geistes schreiben, sondern eine Interaktionsgeschichte. Die Bedeutung der zwischenmenschlichen Interaktion für die Entwicklung des Denkens und Fühlens ist der rote Faden, der die Ausführungen zu den verschiedenen Themen durchzieht. Die Struktur (früher) zwischenmenschlicher Beziehungen wird als konstitutiv für normale und pathologische Varianten der Fähigkeit betrachtet, sich selbst und andere als denkende und fühlende Wesen zu verstehen.
Abstract
The author presents an overview of the work by the London research group around Peter Fonagy. This work combines two currently prominent research areas within developmental psychology—the theory of mind research and the attachment research—with psychoanalysis, and it outlines the stepwise acquisitation of the mentalization ability within a comprehensively planned design. The ability to understand oneself and others as entities with mental-emotional states and to deal meaningfully with one’s own inner life and that of others is seen as dependent on attachment experiences. The architecture of the theory is being reconstructed in six steps: After elucidating the mentalization concept (I), the affect-mirroring model (II) and the playing-with-reality-theory (III) are presented. Both segments of the theory constitute the central theoretical core and lead to a particular understanding of the features of the interactive and symbolic affect regulation which is presented in part IV. Particular aspects of the development of the self are then considered (V), and finally the implications of the presented issues with respect to the conceptualisation of such clinical phenomena as the projective identification. The author sees the original aspects of this approach in the fact that Fonagy et al. choose to write an interaction history as opposed to a maturation history favored by many cognitive psychologists in the era of the human genome project. The red thread pervading the discussion of divergent topics is the importance of interpersonal interaction to the development of thinking and emotional processes. The structure of (early) interpersonal relationships is considered as constitutive for normal and pathological variations of the ability to perceive oneself and others as thinking and feeling beings.
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Wie Menschen ihre persönlichen Erfahrungen verarbeiten und repräsentieren, beschäftigt die Psychoanalyse seit ihren Anfängen. Psychoanalytiker, wie Lacan, Winnicott, Melanie Klein, Bion und andere haben zwar umfassende Entwürfe zu einer Theorie der Symbolisierung von Erfahrung vorgelegt; ein Brückenschlag zu Befunden aus anderen Disziplinen wurde aber erst von Psychoanalytikern, die von der Kleinkindforschung inspiriert waren, vorgenommen (z. B. Lichtenberg 1983; Stern 1985). Ich habe darüber an anderer Stelle berichtet (Dornes 1993, Kap. 8; 1997, Kap. 3, 4, 10) und möchte mich in diesem Aufsatz den Arbeiten der Forschungsgruppe um Peter Fonagy zuwenden. Das Opus magnum liegt mittlerweile vor (Fonagy et al. 2002; Kurzfassung: Fonagy et al. 2003) und soll hier—unter Einbeziehung auch anderer Publikationen dieser Autoren—im Grundriss dargestellt werden.
Fonagy et al. verbinden zwei in der Entwicklungspsychologie derzeit stark beachtete Forschungsgebiete, die Theory-of-mind-Forschung und die Bindungsforschung, mit der Psychoanalyse und zeichnen in einem umfassend angelegten Entwurf den stufenweisen Erwerb der Fähigkeit zur Mentalisierung nach. Diese Fähigkeit entwickelt sich in Abhängigkeit von Bindungs- und Beziehungserfahrungen. Zugleich verändert sich unter ihrem Einfluss die Art und Weise, wie Affekte und Gedanken erlebt und Beziehungen wahrgenommen und gestaltet werden. Das subtile Ineinandergreifen von intersubjektiver Genese der Mentalisierungsfähigkeit und Transformation des Selbst- und Welterlebens durch diese Fähigkeit ist der rote Faden, der den Theoriekorpus durchzieht. Ich rekonstruiere ihn in den sechs Schritten, die in der Zusammenfassung genannt wurden.
Mentalisierung
Das Mentalisierungskonzept von Fonagy et al. stellt eine Fortführung psychoanalytischer Debatten über Symbolisierung dar (Überblick bei Lecours u. Bouchard 1997). Charakteristisch für die von Fonagy et al. vorgelegte Theorie—und in dieser Form einzigartig—ist die Einbeziehung kognitionspsychologischer Überlegungen. Die Autoren greifen die entwicklungspsychologische Theory-of-mind-Forschung auf, in der es u. a. um die Frage geht, wann und wie Säuglinge und kleine Kinder entdecken, dass sie selbst und andere Personen Wesen mit mentalen Zuständen sind. Der Geist ist nämlich etwas, das entdeckt werden muss. Entdeckt wird er nach Meinung der Autoren im Verhalten. Säuglinge, die die Gesichtsausdrücke anderer Personen oder deren Handlungen, wie Füttern, Tisch-Abwischen etc. beobachten, sehen zunächst nur Verhalten. Allmählich aber lernen sie, dieses Verhalten als Anzeichen für das Vorhandensein mentaler Zustände zu verstehen. Dies gilt nicht nur für die Wahrnehmung anderer Personen. Auch in Bezug auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers oder eigener Bewegungen muss der Säugling lernen, die damit verbundenen Empfindungen als Zeichen für mentale Zustände zu „lesen“. „Mentale Zustände werden generell aus den relevanten beobachtbaren Zeichen erschlossen, und dies trifft für die eigenen Zustände genauso zu wie für die des anderen, obschon die Arten der hinweisenden Zeichen in beiden Fällen unterschiedlich sein mögen“ (Gergely et al. 2002, S. 64).Footnote 1
Erwachsene verfügen wie selbstverständlich über eine „Alltagspsychologie“, mit deren Hilfe sie eigene und fremde Handlungen verstehen und vorhersagen können: Jemand öffnet das Fenster, weil er den Wunsch nach frischer Luft hat. Er lächelt, weil er sich freut; er zeigt auf ein Objekt, weil er die Aufmerksamkeit darauf lenken will. Diese mentalen Zustände des Wünschens, Fühlens und der Aufmerksamkeit werden als Gründe oder Ursachen von Handlungen betrachtet. Erwachsene sind keine Behavioristen, sondern Mentalisten, insofern sie sich Verhaltensäußerungen durch die Zuschreibung seelischer Zustände erklären. Ab wann nun und vor allem wie entwickeln kleine Kinder ein solches Verständnis von sich und anderen? Mit 9 Monaten kann man erste Anzeichen dafür beobachten, und über verschiedene Entwicklungsstadien hinweg wird mit etwa 4–5 Jahren ein Verständnis des Seelenlebens erreicht, das in etwa dem Erwachsener entspricht. Die Autoren bezeichnen die Fähigkeit, den anderen (und die eigene Person) als Wesen mit geistig-seelischen Zuständen zu betrachten, als Mentalisierung. Sie datieren den Erwerb dieser Fähigkeit auf das Alter von 1,5 Jahren. Damit beginnt ein mentales Selbst- und Weltbild. Unter Mentalisierung wird indes nicht nur die Fähigkeit verstanden, hinter Verhalten seelische Zustände zu vermuten, sondern auch die weiter gehende Fähigkeit, die vermuteten mentalen Zustände selbst wieder zum Gegenstand des (Nach-)Denkens zu machen. Diese Fähigkeit zum Denken über das Denken wird Metakognition genannt und entsteht mit etwa 4 Jahren. Dann verfügt das Kind nicht nur über ein mentales, sondern auch über ein repräsentationales Weltbild, in dem es den subjektiven Charakter seiner geistigen Hervorbringungen durchschaut. (Was das genauer heißt, wird noch erläutert.)
Die Innovation der Autoren besteht nun darin, die so verstandene Mentalisierungsfähigkeit nicht (nur)—wie viele Kognitionspsychologen—als Reifungserrungenschaft zu betrachten, die sich aufgrund bestimmter Module im Gehirn unter normalen Umweltbedingungen irgendwann einstellt, sondern nachzuweisen, dass die Entwicklung dieser Fähigkeit in hohem Maße von der affektiv-interaktiven Qualität der Primärbeziehungen abhängig ist. Als zentral wird die Erfahrung des Kindes betrachtet, in seinen eigenen Zuständen von Erwachsenen „gespiegelt“ zu werden. Wie führt Spiegelerfahrung zu Mentalisierung?
Affektspiegelung
Die Autoren gehen davon aus (s. Gergely u. Watson 1996, 1999; Fonagy u. Target 2002; Fonagy et al. 2002, Kap. 4), dass der Säugling zwar Emotionsausdrücke, wie Freude, Ärger oder Traurigkeit, zeigt, aber zunächst kein klares Bewusstsein der damit einhergehenden emotionalen Zustände hat. Nach ihrer Auffassung existiert allenfalls ein vages Empfinden der hedonischen Tönung und der Stärke des Zustands, d. h. der Säugling spürt, dass Ärger sich anders anfühlt als Freude und dass es unterschiedlich starke Ausprägungen dieser Gefühle gibt. Das vage Empfinden innerer Zustände nennen die Autoren „primary awareness“. Zu einer deutlicheren Bewusstwerdung dieser Zustände kommt es erst durch die Wahrnehmung der Reaktionen der Pflegepersonen auf diese Zustände. Subjektivität ist somit das Resultat von Intersubjektivität. Wie sieht dieser Prozess der zunehmenden Bewusstwerdung eigener Zustände im Detail aus?
Den differenzierten Emotionsausdrücken des Säuglings korrespondiert zwar kein entsprechend differenziertes Gefühl, aber seine Eltern reagieren auf seine Ausdrücke. Wenn er lächelt, beginnen sie ebenfalls zu lächeln. Sie sprechen dabei auch mit ihm. All das tun sie auf eine besondere, etwas künstlich und übertrieben wirkende Weise. Ihr Lächeln ist breiter als das des Säuglings, sie wiederholen es mehrfach in verschiedenen Variationen und Modulationen und tun damit etwas, was sie einem Erwachsenen gegenüber nicht tun würden. Auch ihre stimmlichen Äußerungen sind anders. Die typische Ammensprache ist dadurch charakterisiert, dass Erwachsene langsam, in hoher Stimmlage und mit immer variierten Wiederholungen sprechen, damit der Säugling merkt, was abläuft. Diese Verhaltensweisen sind biologisch vorprogrammiert (Papousek u. Papousek 1995). Die Erwachsenen der meisten bekannten Kulturen sprechen in dieser Ammensprache mit ihren Säuglingen, und auch Kinder tun dies ab einem Alter von 3–4 Jahren.
Markierung
Auf diese Weise akzentuieren Eltern die Äußerungen des Säuglings. Er hat vielleicht nur kurz gelächelt, aber die Eltern elaborieren dies nun. Ihre Affektantwort ist markiert. Wegen dieser Markierung bemerkt der Säugling, dass der von den Eltern gezeigte Affekt gewissermaßen nicht „echt“ ist. Er ist nicht (nur) ihr Affekt, sondern (auch) eine Übertreibung der vom Säugling gezeigten Zustände. Wenn die Eltern beispielsweise auf sein Lächeln so reagieren würden wie auf das anderer Erwachsener, wäre der Säugling mit der echten Freude eines Erwachsenen konfrontiert. So aber gehen seine Eltern in der affektspiegelnden Interaktion gerade nicht mit ihm um. Sie konfrontieren ihn mit einer „Als-Ob-Freude“. Zwar freuen sie sich auch wirklich über sein Lächeln, aber sie tun es auf eine besondere Weise. Sie „spielen“ in ihrer Antwort mit seinem Lächeln. Durch die damit einhergehende Übertreibung kommt es zu einer Markierung, die es dem Säugling erlaubt zu bemerken, dass die Eltern etwas darstellen und nicht nur etwas Eigenes ausdrücken.
Referenzielle Entkoppelung, referenzielle Verankerung, Bewusstwerdung
Nunmehr steht der Säugling vor der Aufgabe, die Darstellungen des Erwachsenen als eine Darstellung seiner eigenen Zustände zu verstehen. Nehmen wir als Illustration das Biofeedbackverfahren. Kein Erwachsener, der eine Biofeedbackübung macht, sitzt vor dem Signalanzeiger und glaubt, dieser würde innere Zustände zeigen. Er weiß, dass solche Geräte keine inneren Zustände haben. Er nimmt also automatisch eine referenzielle Entkoppelung vor. Er entkoppelt das Monitorbild von seinem Träger (dem Bildschirm). Da ihm gesagt wurde, dass der Bildschirm seine Zustände zeigt, bezieht er dessen Zeichen auf sich, d. h. er begreift sie als Darstellungen seiner eigenen Zustände. Genau das muss auch der Säugling mit den elterlichen Gesichtsausdrücken lernen. Nachdem er erstens wegen der Markiertheit die Besonderheit des Affektausdrucks im menschlichen Gesicht, seine „Als-Ob-Qualität“, bemerkt hat und zweitens deshalb den Ausdruck von seinem Träger (dem Gesicht) entkoppelt hat, muss er ihn nun drittens auf sich selbst beziehen—und zwar in einem ganz speziellen Sinn. Er muss ihn nicht nur so auf sich selbst beziehen, dass er sich davon angesprochen fühlt, sondern auch in dem Sinn, dass er ihn als Ausdruck und Widerspiegelung seines eigenen Affektzustands versteht. Dieser Prozess heißt referenzielle Verankerung. Auch beim Biofeedbacktraining genügt es ja nicht, zu bemerken, dass auf dem Bildschirm bestimmte prägnante und nicht zu übersehende Zeichen erscheinen (Markierung), um zu wissen, dass diese Zeichen keine Ausdrücke innerer Zustände des Monitors sind (referenzielle Entkoppelung), sondern wir müssen darüber hinaus wissen bzw. lernen, dass diese Zeichen die externe Darstellung von eigenen Biosignalen sind (referenzielle Verankerung), die wir bisher noch nicht bemerkt haben.
Der Säugling befindet sich an diesem Punkt der Argumentation genau so weit wie der Erwachsene, der Biofeedbacktraining vor dem Monitor macht und gesagt bekommt, dass die sich verändernde Kurve auf dem Bildschirm seine Muskelspannungen oder Temperaturschwankungen darstellt. Damit ist ihm ein innerer Zustand bewusst geworden, den er vorher nicht oder nicht deutlich bemerkt hatte. Analog dazu gewinnt der Säugling an den Reaktionen des anderen ein Bild von seiner eigenen Verfassung. Das Gesicht der Mutter ist wie ein Bildschirm, der dem Säugling zeigt, was er fühlt. Das zentrale Element bei diesem Prozess ist der spielerisch-markierende Umgang mit den Affekten des Säuglings. Ich habe andernorts im Detail dargestellt, wie der hier geschilderte Prozess der Affektspiegelung nach Auffassung der Autoren zur emotionalen Regulierung und Repräsentanzenbildung beiträgt (Dornes 2000 Kap. 5) und wende mich nun möglichen Einwänden gegen das Modell zu.
Mögliche Einwände gegen das Affektspiegelungsmodell
Das Modell geht davon aus, dass der Säugling anfangs nur diffuse innere Körpersignale bemerkt, die ihm nicht als bestimmte Gefühle, wie Ärger oder Freude, zugänglich sind, sondern nur als eher globale angenehme oder unangenehme Gefühlsqualitäten. Die inneren Signale kovariieren zwar mit den Emotionsausdrücken, sind also für Freudeausdrücke andere als für Ärgerausdrücke, aber dieser Zusammenhang zwischen innerem Zustand und äußerem Ausdruck soll vom Säugling zunächst nicht bemerkt werden. Er muss lernen, die verschiedenen inneren Körpersignale, die für Freude oder Ärger charakteristisch sind, zusammenzugruppieren. Erst dadurch wird ihm ein Zustand als Freude bewusst, ein anderer als Ärger, während er vorher allenfalls verschiedene innere Signale wahrnahm. Die diesbezügliche Grundidee der Autoren ist, dass dieses Zusammengruppieren diffuser Affektpartikel und das Bewusstwerden von diffusen inneren Zuständen als bestimmten Gefühlen durch die elterlichen Stellungnahmen zu den Affektausdrücken des Säuglings zustande kommt (s. Fonagy et al. 2002, S. 152 f., 161, 181).
Im Unterschied zu dieser Theorie und in Anlehnung an die diskrete Emotionstheorie von Tomkins, Izard und Ekman könnte man alternativ davon ausgehen, dass es eine Ausdruck-Gefühl-Konkordanz gibt (Dornes 1993, Kap. 5; s. auch Fonagy u. Target 2002, S. 844 f.; kritisch: Zepf et al. 1998). Dies bedeutet, dass der Säugling von Anfang an die Gefühle, die er ausdrückt, auch empfindet. Dem Ausdruck von Ärger korrespondiert ein entsprechendes Gefühl und dem von Freude ebenfalls. Dem Säugling sind in dieser Theorie seine verschiedenen Gefühlszustände nicht nur vage, sondern ziemlich differenziert bewusst, und es bedarf keiner elterlichen Rückmeldungen, um ihn für innere Zustände zu sensitivieren. Subjektivität ist dann weniger intersubjektiv konstituiert und stärker organismisch. Letztlich ist diese Frage jedoch durch empirische Forschung nicht direkt zu entscheiden, weil es keine Methode gibt, die den Grad der Bewusstheit eines Gefühls bei Säuglingen messen könnte. Dies räumen die Autoren auch ein (s. Gergely u. Watson 1999, S. 124).
Ihre Hypothese findet indes eine gewisse indirekte Unterstützung durch Befunde der Gehirnforschung. Eliot (1999, Kap. 12) beschreibt, dass bestimmte Bereiche des limbischen Systems, die für Affektausdrücke zuständig sind, sehr früh funktionieren, während andere Bereiche, die für die bewusste Empfindung von Gefühlen zuständig sind, erst ab 6 Monaten funktionieren. Dies bedeutet nicht, dass Neugeborene überhaupt nichts empfinden. So spüren sie nachweislich Schmerz. Außerdem ist eine, wenn auch eingeschränkte, Erregbarkeit der höheren, für die Bewusstheit von Empfindungen zuständigen Teile des limbischen Systems auch schon vor 6 Monaten nachweisbar. Dennoch scheinen die Gefühlsausdrücke in den ersten 6 Monaten differenzierter zu sein als die ihnen entsprechenden Gefühle. Wie viel differenzierter ist unklar.
Eine Kompromissbildung zwischen beiden Theorien würde besagen, dass zumindest die sog. Basisemotionen „automatisch“ mehr oder weniger bewusst und differenziert empfunden werden und die elterlichen Reaktionen nur über das Mehr oder Weniger, nicht aber über den Sachverhalt als solchen entscheiden. Damit wären auch die in Eliots Befunden angesprochenen Reifungsgrundlagen der Bewusstwerdung stärker berücksichtigt. Unstrittig bliebe aber, dass die (mehr oder weniger bewussten) Gefühlszustände vom Säugling noch nicht reguliert werden können. Die Affektspiegelungstheorie beschriebe in dieser modifizierten Lesart nicht in erster Linie den Prozess der initialen Bewusstwerdung von Gefühlen als vielmehr den der zunehmenden Bewusstwerdung und den Anteil der Umwelt daran sowie den Prozess der Ausbildung sekundärer Kontrollstrukturen (Repräsentanzen), die die Regulierung von Affektzuständen fördern.
Ein zweiter möglicher Einwand bezieht sich auf den (zu) stark dyadischen Charakter des Modells. Von Klitzing (2002, S. 882 ff.) hat geltend gemacht, dass triadische Beziehungen ebenfalls die Mentalisierungsfähigkeit fördern. Hierbei ist zwischen einer theoretischen und einer empirischen Kritik zu unterscheiden. Auf theoretischer Ebene wäre zu zeigen, dass der Dritte konstitutiv für die Mentalisierung von Erfahrung ist; auf empirischer Ebene genügt der Nachweis seines förderlichen Einflusses. Zumindest letzterer ist vorhanden. Untersucht man die Mentalisierungsfähigkeit vierjähriger Kinder anhand ihrer Begabung, spannende, gehaltvolle Narrative ihrer Erlebnisse zu erzählen, so ergibt sich ein Zusammenhang zwischen dieser Fähigkeit und hoher elterlicher triadischer Kompetenz. Elterliche Trianguliertheit führt zu kindlicher, und diese drückt sich in verbesserter Mentalisierung aus (von Klitzing, ebd.).
Ein dritter Einwand besagt, dass es möglicherweise zu weit geht, eine so grundlegende Funktion, wie die der Symbolbildung, von einem so speziellen Interaktionstyp, wie der Affektspiegelung, abhängig zu machen. Manche nichtwestlichen Kulturen zeigen erheblich weniger Affektspiegelung in der frühen Interaktion. Sollten wir deshalb annehmen, dass in ihnen auch Mängel in der Symbolbildungsfunktion erwartbar sind? Entsprechende kulturvergleichende Studien, die diese Frage klären könnten, fehlen bisher (Tomasello 1999, S. 309).
Mit der Realität spielen
In der nun zu behandelnden Playing-with-reality-Theorie“ (Fonagy et al. 2002, Kap. 6; ausführlicher: Fonagy u. Target 1996, 2000, 2004; Target u. Fonagy 1996) wird die Affektspiegelungstheorie ergänzt und weitergeführt. Beide Theorien sind unabhängig voneinander entstanden, und deshalb ist es geradezu verblüffend, wie sie zueinander passen. Um ihren Zusammenhang zu verdeutlichen, wird daran erinnert, dass ein wichtiger Aspekt beim Affektspiegelungsmodell der spielerisch-markierende Umgang mit den Affekten des Säuglings ist. Damit aber geht es nach einem Jahr zu Ende, weil sich der Horizont des Säuglings erweitert. Er lernt zu gehen, wendet sich vermehrt der Welt zu und verbringt weniger Zeit in der direkten Face-to-face-Interaktion mit der Mutter.
Die zentrale Behauptung der Playing-with-reality-Theorie ist, dass das symbolische Spiel in der Zeit zwischen 1,5 und 4 Jahren denselben Stellenwert einnimmt, den die Affektspiegelung im ersten Lebensjahr hatte. Aber diese Theorie ist noch mehr als die Fortführung des Affektspiegelungsmodells. Sie enthält eine eigenständige Konzeptualisierung der Verfassung des Seelenlebens in der Zeit zwischen 1,5 und 4 Lebensjahren—über die Natur von Subjektivität also, bevor es eine repräsentationale Theorie des Geistes gibt. (Was eine repräsentationale Theorie des Geistes ist, wird gleich erläutert.)
Die Autoren postulieren ab dem Alter von 1,5 Jahren zwei Modalitäten, in denen Gedanken und Gefühle erfahren werden: den Als-Ob-Modus („pretend mode“) und den Modus psychischer Äquivalenz („psychic equivalence mode“). Das Kind oszilliert zwischen beiden Modalitäten, die parallel nebeneinander existieren, hin und her. Eine Integration findet erst im Alter von 4 Jahren statt und wird durch die Art und Weise der elterlichen Stellungnahmen zu kindlichen Spielhandlungen und anderen Lebensäußerungen gefördert oder behindert. Die klinische „Anwendung“ dieser Theorie besteht in dem Nachweis, dass Borderlinepatienten aufgrund traumatischer Erfahrungen zwischen beiden Modalitäten oszillieren und ihnen die Integration in einen sog. reflektierenden Modus nicht gelingt.
Als-Ob-Modus
In ihm wird die Realität suspendiert. Das Kind spielt, dass die Tiere schlafen gehen, das Auto in die Garage fährt, die Puppe zum Arzt muss und dergleichen. Es nimmt Themen aus dem Alltag zum Vorbild und stellt sie im Spiel nach; hierbei modifiziert es sie auch. Es bezieht sich also zunächst auf die Realität und entkoppelt sich dann von ihr. Oder, wie Freud (1908, S. 214) sagt: „Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern—Wirklichkeit“. Man kann davon ausgehen, dass das Kind von Anfang an über ein Ahnungsbewusstsein vom fiktiven Charakter seines Spiels verfügt (abweichende Auffassungen bei Hoppe-Graff u. Mäckelburg 1991). Dann ist ihm zumindest intuitiv klar, dass es sich bei seiner Tätigkeit um ein Spiel handelt und nicht um Wirklichkeit. Im Spiel kommt der Teufel aus der Wand, aber gerade weil es kein realer Teufel ist, kann so etwas gespielt werden. Es finden Schießereien zwischen Indianern und Cowboys statt, und es wird auch gestorben, aber das ist nur möglich, weil das Kind „weiß“, dass sein als Gewehr verwendeter Stock keine wirklichen Kugeln schießt. Es versteht allerdings noch nicht, dass sein Stock ein Gewehr repräsentiert. Footnote 2
Fonagy et al. sind der Auffassung, dass der Umgang der Erwachsenen mit den spielerischen Äußerungen ihrer Kinder ab 1,5 Jahren dieselbe Funktion hat wie die Affektspiegelung im ersten Lebensjahr. Nun ist es nicht mehr das Gesicht der Eltern, das den Zustand des Kindes aufnimmt, modifiziert und zurückspiegelt, sondern es sind die Kommentare der Eltern zu den kindlichen Spielhandlungen. Die Kinder erschaffen im Spiel eine externe Darstellung ihrer eigenen Zustände, indem sie diese in den Spielfiguren verankern. Nicht mehr das elterliche Gesicht ist jetzt eine solche externe Darstellung, sondern die Spielfigur. Verinnerlicht wird nicht mehr nur das Bild, das das Kind im Gesicht der Eltern von sich vorfindet, sondern auch der Kommentar der Eltern zu seinem Spiel. Geht ein 6 Monate altes Kind zum Arzt und erhält eine Spritze, so wird die Mutter den Schmerz aufnehmen, indem sie ihr Gesicht schmerzhaft verzieht und mit der Stimme Einfühlung und Beruhigung signalisiert. Wird sie selbst von Schmerzen überwältigt, ist ihre Beruhigungsfähigkeit eingeschränkt. Gerade ihre Fähigkeit, auf den Schmerz des Kindes im spielerischen Als-Ob-Modus zu reagieren, ist ein essenzieller Bestandteil der Beruhigung.
Später, wenn das Kind spielen kann, werden solche Ereignisse im Spiel nachgestellt. Das Kind wird, wenn es wieder zu Hause ist, der Puppe eine Spritze geben, und die Mutter wird diese Handlung kommentieren und sagen: „Oh, das gibt einen Pieks“. Die Puppe jammert dann ein bisschen, wird getröstet und wieder in den Wagen gelegt. Die Kommentare der Eltern zu den Spielhandlungen sind implizite Kommentare zu den im Spiel dargestellten und externalisierten Selbstzuständen des Kindes und werden verinnerlicht wie vorher die in den Gesichtsausdrücken und Vokalisierungen zu Tage tretenden Kommentare der Eltern. In beiden Fällen wird mit der Realität gespielt.
Wichtig dabei ist, dass die Kommentare der Eltern ebenfalls im spielerischen Modus gegeben werden (Fonagy et al. 2002, S. 282). Spielt das Kind z. B. „Vater-Erschießen“, und der Vater reagiert darauf mit realem Ärger und schimpft mit dem Kind, so wird aus dem Spiel Ernst, und der Kommentar des Vaters hat nicht zur Regulierung des aggressiven Impulses beigetragen, sondern zu Eskalation, Angst oder Verwirrung. Reagiert er darauf aber „markiert“ bzw. im Als-Ob-Modus, indem er auf eine dramatisierte, künstliche Weise stirbt, so hat er dem Kind damit signalisiert, dass man mit den eigenen Impulsen und Wünschen spielen kann, ohne dass sie eine Auswirkung auf die Realität haben. Sie sind eben Wünsche und keine wirklichen Handlungen, Gedanken und keine Taten, Repräsentationen von Realität, nicht die Realität selbst.
Äquivalenzmodus
In diesem Modus erlebt das Kind seine Gedanken, als ob sie Realität wären. Damit ist nicht gemeint, dass das Kind Gedanken und Wirklichkeit verwechselt und sie wie Halluzinationen oder Träume erfährt, sondern eher, dass seine Gedanken einen ähnlichen Effekt haben wie ein wirkliches Ereignis. Der Gedanke an ein Krokodil unter dem Bett hat dieselbe ängstigende Wirkung wie ein wirkliches Krokodil, das Vorlesen einer Geschichte mit Einbrechern dieselbe Wirkung wie ein wirklicher Einbruch, oder—bei Erwachsenen—der Gedanke an eine Krebserkrankung dieselbe Wirkung wie die Diagnose Krebs. Gedanken sind also hinsichtlich ihrer Auswirkungen Ereignissen in der Realität äquivalent. Im Spiel werden Gedanken und Gefühle von der Wirklichkeit abgekoppelt und sind dann irreal, im Äquivalenzmodus sind sie überreal.
Der Umgang der Eltern mit diesem Erleben ist nun von erheblicher Bedeutung für die weitere Entwicklung. Eltern können im günstigsten Fall das Erleben des Kindes akzeptieren, wenn es im Modus psychischer Äquivalenz ist, aber sich gleichzeitig so verhalten, dass deutlich wird, dass sie nicht genau dasselbe erleben. Als Illustration kann der Fall eines kleinen Kindes dienen, das Angst vor einem hinter der Tür hängenden Bademantel hat und nicht einschlafen kann, weil es darin einen bedrohlichen Mann sieht. „Für das Kind ist das die Realität, und sein Erschrecken teilt sich auch ganz real und zwingend mit. Eltern sagen dem Kind dann nicht nur, daß der Bademantel kein Mann ist oder daß es dumm wäre, sich vor ihm zu fürchten. Sie nehmen den Bademantel auch weg und anerkennen damit die Realität des furchtauslösenden Gedankens, ohne gleichzeitig dieselbe Furcht zu zeigen. Eltern schließen sich also einerseits der Wahrnehmung des Kindes an, teilen sie, stellen aber gleichzeitig die Möglichkeit einer anderen Perspektive zur Verfügung und schaffen damit Distanz zur kindlichen Perspektive... Genau darum geht es in der analytischen Arbeit mit Borderline-Patienten“ (Fonagy u. Target 2000, S. 980).
Äquivalenzmodus und Theorie des Mentalen
Die Theory-of-mind-Forschung hat gezeigt, dass Kinder bis ins Alter von etwa 4 Jahren Gedanken nicht für Darstellungen oder Perspektiven auf Realität halten, sondern für Abbilder derselben. Ein Gedanke spiegelt die Realität wider wie ein Spiegelbild das Gesicht. Deshalb werden Gedanken, die nicht zur Realität passen, an diese angepasst („mind fits world“; Geist-auf-Welt-Ausrichtung), während der Psychotiker die Realität den Gedanken anpasst („world fits mind“; Welt-auf-Geist-Ausrichtung; Searle 1983). Ein schönes Beispiel für die Anpassung der Gedanken an die Realität findet sich in einer der Standardprozeduren der Theory-of-mind-Forschung (Perner et al. 1987; s. auch Wimmer u. Perner 1983). Ein Kind im Alter von 3 Jahren wird ins Untersuchungszimmer gerufen. Dort zeigt man ihm eine längliche Schachtel, die mit Bildern von Smarties bedruckt ist und fragt: „Was ist wohl in der Schachtel“? Die Antwort lautet plausiblerweise: „Smarties“. Die Schachtel wird geöffnet, und es sind Bleistifte drin. Jetzt fragt man weiter: „Nehmen wir an, draußen steht dein Freund. Wenn wir den hereinholen, ihm die verschlossene Schachtel zeigen und ihn dasselbe fragen—was meinst du, wird er sagen“? Dreijährige Kinder antworten: „Bleistifte“, Vierjährige antworten: „Smarties“. Die Dreijährigen können sich also noch nicht vorstellen, dass das Kind draußen—obwohl es gar nicht wissen kann, dass Bleistifte in der Schachtel sind—eine falsche Überzeugung („false belief“) in Bezug auf die Realität haben kann.
Sie können übrigens auch nicht glauben, dass sie selbst eine solche falsche Überzeugung hatten. Fragt man sie nämlich kurze Zeit später, was sie vorhin dachten, was in der Schachtel sei, so sagen sie im Brustton der Überzeugung: „Bleistifte“. Bei dieser Antwort handelt es sich nicht um ein Erinnerungsproblem und auch nicht um Konformismus oder durch Scham veranlasste Berichtigungen, sondern die Dreijährigen können einfach nicht glauben, dass sie etwas glaubten, das der jetzigen Realität nicht entspricht. Sie halten Gedanken für Abbilder von Realität, nicht für Repräsentationen von Realität und passen sie deshalb der Realität an. Ab etwa 4 Jahren verstehen sie das Problem falscher Überzeugungen und geben damit zu erkennen, dass sie Gedanken als Repräsentationen, nicht mehr als Abbilder von Realität verstehen.Footnote 3
Äquivalenzmodus und psychische Realität
Das Vorherrschen des Äquivalenzmodus über dieses Alter hinaus ist ein Indiz für Pathologie, weil es anzeigt, dass die kognitive Filterung des Erlebens, die dadurch zustande kommt, dass man Gedanken als bloße Gedanken erkennt (etwas ist „bloß“ ein Film, „bloß“ eine Geschichte, „bloß“ ein Gefühl) unzureichend funktioniert. Die Theorie des Erlebens im Äquivalenzmodus ist also ein Versuch, eine Eigenart von Subjektivität,—nämlich die Unmittelbarkeit, mit der Kinder in den ersten 4 Jahren ihre Gedanken und Gefühle erleben—auf das Fehlen einer repräsentationalen Theorie des Geistes zurückzuführen.
Damit wird nach meinem Eindruck eine kognitionspsychologische Erweiterung von Freuds Konzept der psychischen Realität anvisiert. In Freuds Konzept (s. dazu Freud 1916/17; Laplanche u. Pontalis 1967) wird die Überwertigkeit von Gedanken (z. B. Zwangsgedanken), auf den Einfluss unbewusster Phantasien zurückgeführt. In der Äquivalenzmodustheorie wird diese Überwertigkeit in gewissem Umfang als eine Eigenart des normalen kindlichen Denkens betrachtet. Wenn ein kleines Kind nach dem Betrachten eines Bilderbuchs mit Krokodilen anfängt sich zu fürchten, dann nicht unbedingt deshalb, weil es unbewusste Phantasien hat, z. B. eine unbewusste Angst vor der Mutter auf das Krokodil verschiebt, sondern weil es wegen kognitiver Unreife nur unzulänglich in der Lage ist, die eigenen Gedanken als Gedanken zu begreifen. Dies fällt besonders dann schwer, wenn es emotional labil ist, also müde, krank, wütend etc., weil in Stresssituationen auch bereits in Ansätzen erworbene kognitive Funktionen geschwächt werden können.
Das Originelle am Ansatz von Fonagy et al. besteht nun aber darin, dass die Autoren nicht, wie viele Kognitionspsychologen, eine Reifungsgeschichte der Entwicklung des Geistes schreiben oder eine normale Umwelt einfach unterstellen, in der diese Eigenart des Denkens schließlich überwunden wird, sondern dass sie eine Interaktionsgeschichte schreiben, in der der Erwerb einer reifungsmäßig gebahnten repräsentationalen Theorie des Geistes durch lebensgeschichtliche Erfahrungen, insbesondere Traumatisierungen, beeinträchtigt werden kann. Im Übrigen schließt die Erklärung eines Phänomens durch kognitive Unreife nicht aus, dass dasselbe Phänomen auch durch unbewusste Phantasien zustande kommen kann. Hopkins (1990) beschreibt in einem anrührenden Fallbeispiel einen zweijährigen Jungen, der Angst vor Bilderbüchern mit feuerspeienden Drachen entwickelte. Nähere Gespräche mit der Mutter ergaben, dass diese dem Kind bei Ungehorsam mit ihrer brennenden Zigarette drohte. Das Kind verschob die Angst vor der im wörtlichen Sinne qualmenden und feuerspeienden Mutter auf die Drachen und konnte so die Beziehung zur Mutter schützen. Hierbei spielt der Abwehrmechanismus der Verschiebung eine zentrale Rolle, und das wirkliche Angstobjekt ist unbewusst geworden. (Weitere Überlegungen dazu bei Dornes 1997, S. 303 ff.)
Reflektierender Modus
Ein Umgang der Eltern mit den kindlichen Lebensäußerungen, in dem das Als-Ob und das Reale nebeneinander Platz haben—von den Autoren mentalisierender Modus genannt (Fonagy u. Target 2000, S. 969)—führt zu Symbolisierung und schließlich auch zu einer Integration von Als-Ob- und Äquivalenzmodus. Diese Integration ermöglicht eine neue Weise des Erlebens der eigenen Gedanken- und Gefühlswelt im sog. reflektierenden Modus. In ihm verfügt das Kind über eine repräsentationale Theorie des Geistes, in der es seine Gedanken und Gefühle als Einstellungen zur Realität durchschaut, die von dieser zwar beeinflusst werden, aber keine äquivalenten Abbilder derselben sind. Sie könnten auch anders sein, und andere haben andere Einstellungen zur Realität als es selbst—sowohl andere Gefühle als auch andere Gedanken. Wenn die Mutter jetzt böse auf das Kind ist, so kann sich das Kind sagen: Meine Mutter glaubt oder denkt, ich sei böse, aber ich glaube und denke etwas anderes. Es kann nun mit der Realität spielen, weil es die eigenen Gedanken und Gefühle nicht als notwendigerweise durch die Realität hervorgerufen versteht, sondern als eigene subjektive Reaktion darauf.
Gemeinsame Merkmale verschiedener Formen von Affektregulation
Merkmale biologischer Regulation
Ich komme nun zu der Frage, aufgrund welcher Eigenschaften zwischenmenschliche Interaktionen, Spiel und symbolisches Denken einen affektregulierenden Einfluss haben (ausführlich Fonagy et al. 2002 Kap. 7). Zu Beginn des Lebens verfügt das Kind nur über sehr begrenzte Fähigkeiten zur Regulation seiner Zustände, wie Beruhigungssaugen am eigenen Daumen oder Blickab- und Zuwendung, die den sensorischen „input“ und damit das Erregungsniveau beeinflussen. Bei diesen Regulationsprozessen gibt es auch eine konstitutionelle Komponente. Die interaktionelle Komponente besteht aus den elterlichen Pflege- und Kommunikationshandlungen. Biologische Regulierung verläuft u. a. über Affektinduktionsprozesse. Säuglinge werden allein durch die Wahrnehmung elterlicher Affekte oft in denselben Zustand versetzt wie das beobachtete Vorbild. Sie werden auf automatische Weise von Affektzuständen des anderen angesteckt. Schon Neugeborene reagieren auf das Geschrei anderer Neugeborener ebenfalls mit Schreien. Auf die Affektausdrücke ihrer Eltern reagieren sie schon früh mit Nachahmung. Durch den Akt der mimischen Nachahmung geraten sie—ebenfalls automatisch—in denselben Affektzustand wie ihre Eltern, weil das Imitieren des Gesichtsausdrucks das entsprechende Gefühl induziert, einschließlich der spezifischen physiologischen Parameter und Elektroenzephalogramm- (EEG-)Muster, die für diese Gefühle kennzeichnend sind. Dies gilt für Beruhigung und Beunruhigung gleichermaßen. Letztlich handelt es sich hierbei ebenfalls um biologische oder quasi biologische Prozesse, in denen die Eltern ihre Aufregung, Niedergeschlagenheit, Freude oder Ärger auf den Säugling übertragen. Solche Stimmungsübertragungen gibt es bereits im Tierreich.
Merkmale spiegelnder und spielerischer Regulation
Die Affektspiegelungstheorie beschreibt darüber hinaus, wie Affekte durch spielerischen Umgang mit ihnen reguliert werden, d. h. durch einen bestimmten Interaktionstypus. Dieser ist humanspezifisch und findet sich nicht einmal bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen. Die regulative Kraft dieser „spielerischen“ Form zwischenmenschlicher Interaktion beruht, wie oben dargelegt, auf zwei Merkmalen: 1. Der Markierung bzw. dem Als-Ob-Umgang mit Affekten durch die Eltern; 2. dem daraus resultierenden Gefühl der Kontrolle über das Geschehen auf Seiten des Säuglings. Beim Spiel kommt noch ein drittes Merkmal hinzu: das der aktiven Modifizierung des Geschehens. Sowohl im Umgang mit Spielfiguren als auch in dem mit Spielpartnern kann das Kind das Geschehen nicht nur markieren und kontrollieren, sondern darüber hinaus aktiv modifizieren. Hat es selbst eine Spritze bekommen, so kann es jetzt eine Spritze geben. Ist es auf der Treppe hingefallen, so kann es in der entsprechenden Spielszene die Puppe ohne Probleme eine Treppe bewältigen lassen.
Merkmale symbolischer Regulation
Diese drei Eigenarten—der Als-Ob-Umgang mit der Realität, die Kontrolle über die Situation und ihre aktive Modifizierung—sind nicht nur für das Spiel kennzeichnend, sondern auch für die symbolische Tätigkeit. Im Tagtraum, in der Phantasie und im inneren Sprechen behandeln wir die Realität im Als-Ob-Modus. Wir tun im Geist, d. h. mit dem inneren Medium des Bildes und der Sprache, was Kinder im Spiel mit dem externen Medium der Spielfigur tun. Die Gemeinsamkeiten zwischen Spiel und Phantasie sind somit dreifach.
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Wie das Kind im Spiel seine Spielfiguren Affekte erleben lässt und dadurch seine eigenen Affekte in einen Als-Ob-Rahmen einbettet, so erleben wir in phantasierten Situationen unsere Affekte nicht wie in realen Situationen, sondern probeweise oder abgeschwächt. Wir verwechseln diese „simulierte“ Art des Erlebens nicht mit dem Erleben in einer wirklichen Situation, sondern wir vergegenwärtigen uns ein vergangenes Erleben eher, als dass wir es erneut durchleben. Wir erleben also im Als-Ob-Modus—“off-line“, nicht „on-line“.Footnote 4
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In Bild und Sprache können wir die Szene ebenso oder noch besser kontrollieren als im Spiel. Wir gestalten sie, sie stößt uns nicht zu, und wir sind bei ihrer Kontrolle nicht einmal an die Grenzen der Spielfiguren oder den guten Willen der Spielpartner gebunden.
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Wir kontrollieren die Szene nicht nur, sondern wir können sie auch aktiv gestalten und nach Belieben modifizieren, denn der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. So betrachtet ist—erstaunlicherweise—die regulatorische Kraft des Mentalen auf genau dieselben Eigenschaften zurückzuführen wie die regulatorische Kraft des interaktiven Spiegelns und des Spielens! Alle drei Aktivitäten beziehen ihre regulatorische Kraft aus den drei Eigenschaften des Als-Ob, der Kontrolle und der Modifizierung.
Zwischen den drei Formen des Umgangs mit Affekten—Affektspiegelung, Spiel und Phantasie—besteht also ein innerer Zusammenhang. Sie bauen aufeinander auf. Mängel in der Affektspiegelung führen, wie dargestellt, zu fehlenden oder verzerrten sekundären Repräsentanzen primärer Affektzustände, d. h. zu Nicht- oder Fehlrepräsentationen eigenen Erlebens. Dies beeinflusst nicht nur die interaktive Affektregulierung, sondern auch diejenige im Spiel und in der Phantasie, weil das Kind mit verzerrten Selbstrepräsentanzen nicht spielerisch umgehen kann, sondern sie loswerden will. (Genaueres dazu im weiter unten folgenden Abschnitt über „Das fremde Selbst und die projektive Identifizierung.) Aber nicht nur das Spiel, sondern auch die Phantasietätigkeit ist eingeschränkt. Zum einen, weil das unzureichend gespiegelte Kind eher phantasiearm und konkretistisch denkt; zum anderen, weil es selbst dort, wo es phantasiert, verstärkt im Äquivalenzmodus verhaftet bleibt. In ihm aber kann die regulatorische Kraft der Phantasie nicht genutzt werden kann, weil sie nicht als Phantasie erlebt wird, sondern so konkret wie die Realität.
Entwicklung des Selbst
Bisher wurden die Prozesse der Affektspiegelung, des Spiels und des Phantasierens unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie sie zur Affektregulierung beitragen. Die übergreifende Gemeinsamkeit bestand darin, dass beide Aktivitäten dem Kind ein Bild seiner Person zeigen, das im Gesicht oder im Geist der Eltern—d. h. in ihren mimischen, vokalen oder sprachlichen Kommentaren zu seinen Lebensäußerungen—aufscheint. Diese externen Darstellungen seiner eigenen Zustände führen zu einer zunehmenden Bewusstheit derselben und werden vom Kind allmählich verinnerlicht. Auf diesem Weg formen sie die Inhalte seiner Selbstrepräsentanz und verknüpfen seine primären Selbstzustände mit Bildern und Gedanken. Diese Verknüpfung stellt zum einen eine Anreicherung dieser Selbstzustände mit psychischem Gehalt dar und erlaubt es zum anderen, sie im Medium von Spiel und Phantasie „durchzuarbeiten“, denn nur in diesen Medien sind sie der kommunikativen und selbstreflexiven Korrektur zugänglich. Andernfalls können sie nur biologisch korrigiert werden, beispielsweise durch Medikamente, Massage oder andere körperliche Übungen, d. h. durch einen direkten Eingriff in die primären Zustände.
Man kann nun aber die Entwicklung des Selbst nicht nur unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie sich die Wahrnehmung von Affektzuständen, sondern auch wie sich die Wahrnehmung eigener und fremder Handlungen entwickelt und zunehmend mentalisiert. Dieser Aspekt der Theorie wird in verschiedenen Versionen dargestellt (Fonagy et al. 2002, Kap. 5; Kurzfassung: Gergely 2002; Erweiterungen: Gergely 2003) und lautet in äußerster Verkürzung zusammengefasst wie folgt: Zunächst einmal soll sich das Selbst ganz unmental als von anderen abgegrenzter Körper im Raum empfinden, der der Urheber von Handlungen ist, die sich auf die physikalische Welt beziehen. Die Handlungen werden vom Säugling noch nicht als von mentalen Zuständen verursacht wahrgenommen („self as physical agent“). Sofern die Handlungen im interaktiven Austausch mit anderen Personen erfolgen, wird sich der Säugling auch als sozialer Akteur verstehen („self as social agent“). Danach folgt (ab 9 Monaten) eine Stufe, in der das Kind eigene und fremde Handlungen als zielgerichtet interpretiert, aber immer noch nicht als durch mentale Zustände verursacht („self as teleological agent“). Erst mit 1,5 Jahren entsteht ein „self as mental agent“. Nun werden mentale Zustände als hinter dem Verhalten liegende Ursachen angenommen, separat von ihren Einbettungen in Verhalten oder expressive Äußerungen enkodiert, und ein mentalistisches Weltbild entsteht, das ab 4 Jahren von einem repräsentationalen abgelöst wird („self as representational agent“). Auf jeder dieser Stufen verändern sich Welt- und Selbstbild in charakteristischer Weise.
Ich bin den hoch interessanten entwicklungspsychologischen Details dieses Theorieteils, der einen Gesamtüberblick zum Thema „Soziale Kognition und Handlungsverstehen in der frühen Kindheit“ enthält, an anderer Stelle nachgegangen (Dornes 2004) und beschränke mich hier auf den Aspekt, der für das Verständnis von Borderlinestörungen wichtig ist.
Teleologie und Mentalität
Fonagy et al. nehmen an, dass sich Säuglinge menschliche Verhaltensweisen normalerweise bis zum Alter von 1,5 Jahren überwiegend oder ausschließlich im teleologischen Modus erklären. Diese entwicklungspsychologischen Überlegungen werden für das Verständnis klinischer Phänomene relevant, wenn man mit den Autoren davon ausgeht, dass Mängel in der zwischenmenschlichen Interaktion dazu führen, dass teleologische Formen der Selbst- und Fremdwahrnehmung nur unzulänglich überwunden werden und bei erwachsenen Patienten wieder aufleben (Fonagy et al. 2002, S. 225, 232 f., 250 f., 349, 361f.). Das Spezifikum der Theorie ist also die Behauptung eines teleologischen Stadiums in Abgrenzung zu einem mentalen sowie die Auffassung, dass Borderlinepatienten teilweise in diesem unmentalen, teleologischen Modus denken. In ihm empfinden sie ihre eigenen Regungen und die anderer zwar als zielgerichtet, nicht aber als von mentalen Zuständen verursacht und verstehen deshalb weder sich noch andere als mentale Akteure. Zwei Beispiele sollen den Unterschied zwischen Teleologie und Mentalität verdeutlichen.
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Ein Vater hört von seinem Sohn, dass der eine Lampe kaputt gemacht hat. Zunächst glaubt er den kindlichen Versicherungen, dies sei nicht mit Absicht geschehen. Er zeigt damit eine mentalisierende Einstellung, weil er nicht nur das Verhalten des Kindes, sondern dessen Motive berücksichtigt. Als er jedoch feststellt, dass es sich um seine Lieblingslampe handelt, gerät er so in Wut, dass er den Sohn schwer misshandelt. In emotionaler Erregung „regredierte“ er also von einem mentalisierenden Modus, in dem Motive oder Absichten galten, zu einem teleologischen, in dem schädigendes Verhalten unter Absehung von (mentalen) Motiven bestraft wird (Fonagy et al. 2002, S. 361).
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Ein zweites Beispiel soll den Unterschied zwischen Teleologie und Mentalität weiter illustrieren (modifiziert nach Fonagy et al. 2002, S. 355): Nehmen wir an, ich beobachte einen Bekannten, der mir auf dem Gehweg entgegenkommt. Auf unserer Seite ist viel Betrieb, auf der anderen Seite wenig. Der Bekannte überquert die Straße und geht auf der anderen Seite mit erhöhtem Tempo weiter. Eine teleologische Interpretation seines Verhaltens wäre z. B. die, dass er die Straße überquert, um schneller vorwärts zu kommen. Eine solche Schlussfolgerung kann sich ausschließlich auf die beobachtbaren Gegebenheiten stützen und muss keine mentalen Zustände oder Absichten als Ursachen des Verhaltens in Anspruch nehmen. Das geschlussfolgerte Ziel ist das schnellere Vorwärtskommen. Ich kann zwar auch einen Wunsch unterstellen, schneller vorwärts kommen zu wollen und hätte dann eine (intentionale) Erklärung aufgrund eines mentalen Zustands vorgenommen, aber das ist zur Erklärung des Verhaltens nicht notwendigFootnote 5
Erklärungen oder Beschreibungen, die auf mentale Zustände zurückgreifen, sind in der Regel reichhaltiger als teleologische. Bezogen auf das obige Beispiel könnte ich etwa annehmen, dass der Freund die Straßenseite wechselt, weil er den Wunsch hat, mich nicht zu sehen. Dann unterstelle ich einen auf mich bezogenen mentalen Zustand als Ursache seines Verhaltens. Außerdem kann ich annehmen, dass er glaubt, ich habe ihn noch nicht gesehen, sonst wäre sein Straßenwechsel unhöflich. Damit unterstelle ich einen weiteren mentalen Zustand—in diesem Fall keinen Wunsch („desire“), sondern eine Überzeugung („belief“). Außerdem operiere ich mit sog. Überzeugungen zweiter Ordnung („second order beliefs“): Ich glaube, dass er glaubt... Entwicklungspsychologisch kann man den Beginn solcher Überzeugungen auf das Alter von 6–7 Jahren (Perner u. Wimmer 1985) bzw. 5–6 Jahren (Sullivan et al. 1994) datieren. Die Alltagspsychologie Erwachsener ist voll mit solchen Zuschreibungen, die nicht korrekt sein müssen, aber Verhalten erklär- oder verstehbar machen. Erwachsene können indes auch zu teleologischen Beschreibungen greifen, um sich vor unangenehmen Wahrnehmungen zu schützen. Wenn ich mir das Verhalten des Freundes als Versuch erkläre, auf der anderen Seite schneller vorwärts zu kommen, habe ich mir die Beunruhigung erspart, die auftaucht, wenn ich das mentale Idiom bemühe und über seine Gedanken und Motive nachdenke. Habe ich etwas getan, das ihn verärgert hat? Hat er neuerdings etwas gegen mich? Gestern war er schon so komisch etc. Um sich solche Auseinandersetzungen mit der mentalen Welt des anderen und der eigenen zu ersparen „regredieren“ Erwachsene gelegentlich und Borderlinepatienten verstärkt auf den teleologischen Erklärungsmodus. Verhalten ist dann nicht mehr bedeutungsvoll.Klinisch wird solches Denken als konkretistisch bezeichnet.
Dieser Gedanke bedarf indes der Präzisierung. Wenn ich anfange, über die möglichen Motive meines Freundes oder meine eigenen nachzudenken, betreibe ich bereits Metakognition. Ich unterstelle nicht nur mentale Zustände als Motive (er will mich nicht sehen), sondern denke über die mentalen Zustände auch noch nach (warum will er das nicht?). Dies ist erst möglich, wenn ich über eine repräsentationale Theorie des Geistes verfüge, d. h. ab 4 Jahren. Kinder sehen ab diesem Alter nicht nur einen Gegenstand und wissen, dass sie ihn sehen, sondern können jetzt ihre Wahrnehmungs- und Denkinhalte auch zum Gegenstand des Nachdenkens machen. Vermutlich können Deutungen, sofern sie das explizite Nachdenken über die eigene Verfassung anregen sollen, erst ab 4 Jahren verstanden werden (Dornes 1997, S. 313 ff.). Will man die Auseinandersetzung mit seelischen Zuständen vermeiden, so hat man den bisherigen Ausführungen zufolge zwei Möglichkeiten: Entweder man blockiert die Zuschreibung mentaler Zustände, oder aber man schreibt mentale Zustände zu, über die man dann aber nicht mehr nachdenkt. Bezogen auf das obige Beispiel: Entweder ich erkläre mir den Straßenwechsel des Freundes mit seinem Ziel schneller vorwärts zu kommen, schreibe also keinen mentalen Zustand zu; oder aber ich erkläre ihn mit dem Wunsch, mich nicht sehen zu wollen, denke dann aber über diesen Wunsch nicht weiter nach.
Häufig zeigen Borderlinepatienten jedoch nicht nur die skizzierte Suspension von Bedeutung, sondern oszillieren zwischen Bedeutungsblockierung und unkorrekter Mentalisierung. Im obigen Beispiel der Begegnung mit einem Bekannten auf der Straße hat er, als Borderlinepatient, zunächst die Mentalisierung blockiert. Am nächsten Tag aber ist er in der Krise. Er findet, dass ihn alle meiden, weil er so unerträglich ist. Er begegnet seinem Freund, der in sich gekehrt scheint und „mentalisiert“ nun, auch der finde ihn unerträglich und sei deshalb zurückweisend. Er macht ihm deswegen Vorwürfe, und der Freund wird ihn dann tatsächlich unerträglich finden und zurückweisen—ein typischer Fall projektiver Identifizierung. Hier besteht das Mentalisierungsproblem nicht in einem Blockieren der Zuschreibung mentaler Zustände oder einem fehlenden Nachdenken darüber, sondern in einem Mangel an korrekter Identifizierung.
Eine weitere Variante von Mentalisierungsproblemen besteht in einer Übertreibung, die die Autoren „überaktive Mentalisierung“ nennen (Fonagy et al. 2002, S. 383, S. 431). Das forcierte Nachdenken über die seelische Verfassung anderer dient auch hier der Abwehr der Beschäftigung mit der eigenen. Häufig wird dabei psychologischer Jargon, wie „Falschgeld“, verwendet (Fonagy u. Target 2000, S. 970). Als Beispiel zur Illustration wird der Fall einer Frau geschildert, die am Vorabend ihren Sohn dazu missbraucht hat, ihr beim Schreiben eines Abschiedsbriefes zu helfen, in dem sie ihren Selbstmord ankündigt. Am nächsten Tag erwähnt sie diesen Vorfall nur flüchtig in der Therapie und befasst sich ansonsten ausführlich und abgehoben mit den möglichen Motiven des Geizes ihrer neuen Schwägerin.
Offene Fragen
Der Leser, der den Ausführungen bis zu dieser Stelle gefolgt ist, wird bemerkt haben, dass die Theorie über Mentalisierungsprobleme bei Borderlinepatienten mittlerweile recht kompliziert geworden ist. Verschiedene Modelle sind zur Erklärung der Eigenart ihres Fühlens und insbesondere ihres Denkens bemüht worden. Zusammengefasst lauten sie: 1. Borderlinepatienten sind teilweise im Als-Ob-Modus des Denkens fixiert, teilweise im Äquivalenzmodus, teilweise alternieren sie zwischen beiden; 2. Borderlinepatienten hemmen die Mentalisierung, indem sie auf den teleologischen Denkmodus regredieren. 3. Sie alternieren zwischen Bedeutungsblockierung (im teleologischen Modus) und unkorrekter und/oder überaktiver Mentalisierung. Eine weitere Variante, auf die ich weiter unten noch kurz zu sprechen komme, besagt, dass sie 4. „fraktioniert“ mentalisieren. Bei dieser Vielfalt von Erklärungen wäre eine theoretische Integration hilfreich. Ich beschränke mich auf eine deskriptive: Der gemeinsame Nenner all dieser Varianten ist, dass Borderlinepatienten sich schwer tun, eigene und fremde mentale Zustände (korrekt) zu identifizieren.
Ein zweites Problem ist das Verhältnis des Mentalisierungskonzeptes zum psychoanalytischen Begriff der Symbolisierung. Während sich das Mentalisierungskonzept vor allem mit den Fragen befasst, wie, wann und warum mentale Zustände (nicht oder fehlerhaft) wahrgenommen bzw. zugeschrieben werden, zielt der psychoanalytische Begriff der Symbolisierung auch auf die unbewusste Bedeutung, die mentalen Zustände haben oder gewinnen können. Die diesbezüglichen Ausführungen (Target u. Fonagy 1996, S. 467 ff.) sind instruktiv, aber eine weitere Ausarbeitung durch die Autoren wäre wünschenswert.
Damit hängt, drittens, die Frage zusammen, welchen Status das Konzept der unbewussten Phantasie im Rahmen der Mentalisierungstheorie haben kann. Dieses Problem scheint mir deshalb schwer zu lösen, weil dieses Konzept ebenso heterogen ist wie das der Mentalisierung. Die Übersichtsarbeiten verschiedener Autoren im Heft 1/1990 des Journal of the American Psychoanalytic Association sowie die von Lyon (2003) und Steiner (2003) machen deutlich, wie kontrovers nach wie vor diskutiert wird, was eine unbewusste Phantasie eigentlich ist. Die Autoren befassen sich zwar mit einigen dieser Fragen (Fonagy et al. 2002, S. 27 ff., 267 ff.), aber auch hier ist eine weitere Vertiefung ein Desiderat für die Zukunft. Sie kann in diesem Aufsatz nicht geleistet werden, weil ich mir hier nur eine Rekonstruktion der Mentalisierungstheorie vorgenommen habe, nicht aber ein kritische Würdigung.
Eine solche ist im Übrigen mittlerweile von den Autoren selbst skizziert worden (Fonagy u. Target 2003, S. 281 f.). Als mögliche Kritikpunkte an ihrer Theorie werden genannt: a) Sie gilt vorwiegend für schwere Persönlichkeitsstörungen und weniger für Neurosen. b) Sie ist etwas „kognitionslastig“ und hat wenig zu schweren sexuellen Problemen zu sagen, zumindest sofern sie nicht Folge von Mentalisierungsproblemen sind. c) Sie fokussiert (zu) stark auf einen einzigen Mechanismus, die Mentalisierung. d) Sie betont die frühkindliche Entstehung dieser Fähigkeit und lässt wenig Raum für deren späteren Verlust durch Traumata in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter. Alle diese Probleme verdienen ebenfalls weitere Ausarbeitung. (Eine kritische Diskussion einiger anderer Punkte findet sich bei Lansky 2003 und Olesker 2004.)
Implikationen für die Konzeptualisierung klinischer Phänomene
Die Grundaussage der Autoren bezüglich der Implikationen der bisher dargestellten Themen für das Verständnis von Borderlinestörungen lautet, dass die psychoanalytische Therapie von Borderlinepatienten auf eine Verbesserung ihrer Mentalisierungsfähigkeit abzielen sollte. Diese These wird ausführlich diskutiert, mit anderen Konzeptualisierungen des psychoanalytischen Prozesses verglichen und anhand ausführlicher Fallbeispiele illustriert (s. besonders Fonagy et al. 2002, Kap. 9–11). Vermutlich werden sich viele Kliniker bei der Lektüre der Kasuistiken sagen: „Das haben wir schon immer gewusst“. Wahrscheinlich stimmt das sogar.
Die Autoren beanspruchen nicht, neue klinische Phänomene entdeckt zu haben. Sie wollen vielmehr bekannte klinische Phänomene, wie projektive Identifizierung, Spaltung, die Neigung zum Agieren, zu Selbstbeschädigung, zu Gewalt und Suizidalität, zur emotionalen Instabilität und zum Chaos in zwischenmenschlichen Beziehungen, zur Trennungssensitivität, zum chronischen Leereempfinden und zu bekannten Schwierigkeiten in der Behandlung dieser Patienten, neu konzeptualisieren, indem sie das entwicklungs- bzw. kognitionspsychologische Unterfutter dieser Erkrankung darstellen (Fonagy u. Target 2000, S. 963). Welchen Beitrag können nun die dargestellten theoretischen Modelle zum Neuverständnis von Borderlineerkrankungen leisten? Ich erläutere drei Aspekte.
Zur Genese von Mentalisierungsproblemen bei Borderlinepatienten
Borderlinepatienten verfügen Fonagy et al. zufolge nur über eine eingeschränkte Fähigkeit, mentale Zustände bei sich und anderen zu verstehen. Die Autoren haben, als gute Empiriker, ihr Mentalisierungskonzept operationalisiert, um zu „messen“, ob und in welchem Umfang normale Erwachsene und verschiedene Patientengruppen in der Lage sind, zu mentalisieren. Zu diesem Zweck wurde eine „reflective self functioning scale“ entwickelt, mit deren Hilfe man Gespächstranskripte auswerten und angeben kann, wie hoch der Grad zutreffender Mentalisierung ist, der im Gespräch zum Ausdruck kommt. Ein Ergebnis umfassender empirischer Untersuchungen ist, dass Borderlinepatienten niedere Werte auf dieser Skala aufweisen (weitere Ergebnisse im Überblick bei Daudert 2002).Footnote 6
Die Autoren gehen von der gut belegten Tatsache aus, dass solche Patienten häufig eine Kindheitsgeschichte von Misshandlungen aufweisen und werfen die Frage auf, wie sich Misshandlung auf die Fähigkeit zur Mentalisierung auswirkt. Misshandelte Kinder befinden sich in einem Dilemma. Einerseits suchen sie, wie die Bindungstheorie gezeigt hat, bei Drohungen und Gefahr die Nähe vertrauter Personen; andererseits ist die potenzielle Quelle von Schutz im Falle der Misshandlung durch die Eltern zugleich die Quelle der Bedrohung. Dies führt dazu, dass misshandelte Kinder häufig eine desorganisierte Bindung entwickeln. Das Hauptmerkmal desorganisierter Bindung bei kleinen Kindern ist—im Unterschied zu sicherer oder unsicherer Bindung—, dass sie über keinerlei kohärente Strategie im Umgang mit bedrohlichen Situationen, wie z. B. Trennungen, verfügen; deshalb ist die Bezeichnung desorganisiert. (Mit zunehmendem Alter entwickeln auch desorganisiert gebundene Kinder Strategien; Überblick bei Solomon u. George 1999 und Jacobvitz et al. 2001). Die Vermutung liegt nahe und einige empirische Befunde sprechen dafür, dass desorganisierte Bindung in Kindheit und Erwachsenenalter mit beeinträchtigter Mentalisierung einhergeht. Wie lässt sich dieser Sachverhalt erklären?
Misshandlung beeinträchtigt die Mentalisierung, weil ein davon bedrohtes Kind seine Neigung, die mentalen Zustände seiner Eltern zu erforschen, hemmt, denn es würde bei dieser Erforschung nichts Angenehmes entdecken, sondern destruktive und übel wollende Absichten. Um sich vor dieser Entdeckung zu schützen, stellt das Kind seine Bemühungen ein, die Psyche der Eltern zu verstehen und richtet sich vorwiegend an ihrem Verhalten aus. Da dieses häufig unvorhersagbar ist, wird dadurch zwar auch keine Sicherheit gewonnen, aber zumindest die Wahrnehmung übel wollender Motive bei emotional wichtigen Personen vermieden. Der entwicklungspsychologische Ursprung von Mentalisierungspoblemen erwachsener Patienten liegt also in traumatischen Kindheitserfahrungen, die zu einer abwehrbedingten Hemmung führen, sich mit dem Seelenleben anderer (oder dem eigenen) zu befassen.
Da es im Seelenleben aber nie eindeutig zugeht, gibt es immer auch andere Wege der Verarbeitung. Einer davon ist, dass sich das misshandelte Kind, um die Gefahr zu bannen, nicht von den mentalen Zuständen des anderen abwendet, sondern sie im Gegenteil besonders aufmerksam beobachtet. Es wird hypersensibel für sie, nicht aber für seine eigenen, die nach wie vor chaotisch und verwirrend sind und es auch bleiben, weil das Kind die mentalen Zustände anderer nur als potenzielle Quelle von Gefahr betrachten und sie deshalb nicht, wie es eigentlich sein sollte, für die Regulierung und Organisation der eigenen Zustände verwenden kann.
Ganz allgemein ausgedrückt kann man sagen, dass autoritäre und strafende Erziehungsmethoden deshalb nicht die Fähigkeit zur Mentalisierung fördern, weil sie mit einer Familienatmosphäre einhergehen, die wenig von dem spielerischen Umgang mit Affekten an sich hat, der dem Affektspiegelungsmodell und der Playing-with-reality-Theorie zu folge wichtig ist, damit Kinder ihre Affekte symbolisieren und Fixierungen im Als-Ob- und Äquivalenzmodus des Erlebens überwinden lernen.
Ist die Mentalisierungsfähigkeit erst einmal beeinträchtigt, so führt diese Beeinträchtigung zur Perpetuierung der Probleme. Der Befund, dass Eltern trotz schlechter Kindheitserfahrungen dann im Erwachsenenbindungsinterview als sicher-autonom klassifiziert werden, wenn sie ihre Erfahrungen erkennbar verarbeitet haben, zeigt, dass die Fähigkeit, über solche Erfahrungen nachzudenken, ein Schutzfaktor gegen ihre unreflektierte Weitergabe ist. In anderen Worten: Die Fähigkeit zu Mentalisierung hilft, Traumen zu bewältigen bzw. die Wahrscheinlichkeit ihrer Weitergabe zu vermindern. Fehlt diese Fähigkeit, so werden die Traumen agiert. Es ist also nicht nur so, dass Traumatisierungen die Fähigkeit zur Mentalisierung hemmen, sondern auch so, dass die gehemmte Mentalisierung zu einer eingeschränkten Möglichkeit der Traumabewältigung führt (Fonagy u. Target 2000, S. 971). Umgekehrt kann Mentalisierung in der Therapie gelernt und damit Traumabewältigung gefördert werden.
Fremdes Selbst und projektive Identifizierung
Das Affektspiegelungsmodell hat klargemacht, dass ein markierter und kongruenter Umgang mit den Affekten des Säuglings ihm ermöglicht, an den Reaktionen des anderen ein Bild von den eigenen Zuständen zu gewinnen. Im Falle gelungener Spiegelung führt dies dazu, dass die so gebildeten sekundären Repräsentanzen den primären Zuständen des konstitutionellen Selbst entsprechen oder zumindest nahe kommen.Footnote 7 Die Autoren gehen davon aus, dass es eine biologische Neigung oder einen „Trieb“ gibt, solche sekundären Repräsentanzen primärer Affektzustände auszubilden. Reagieren die Eltern auf eine unpassende Weise, so wird das Kind dennoch ihre Reaktionen auf sich beziehen, aber an ihnen etwas ablesen, das nicht zu seinen Zuständen passt. Es entwickelt verzerrte sekundäre Repräsentanzen dieser Zustände. Ein gewisses Maß an Verzerrung ist wegen der Grenzen des menschlichen Einfühlungsvermögens unausweichlich. Elemente des falschen Selbst finden sich deshalb bei uns allen (Dornes 2000, Kap. 5; Fonagy et al. 2002, S. 12, S. 198).
Im Falle der Misshandlung wird die Selbstrepräsentanz jedoch grob verzerrt sein und kann einen verfolgenden Charakter haben, denn das Kind gewinnt an den Reaktionen der Eltern auf seine Regungen ein Bild von sich als Misshandlung auslösend, d. h. das Bild eines bösen, bestrafungswürdigen Selbst. Sein zunächst nicht klar bewusstes primäres Selbsterleben wird nicht elaboriert und modifiziert, sondern der Affektzustand der Eltern wird ihm aufgepflanzt. Das kleine Kind hat aber noch nicht die Möglichkeit sich zu sagen, dass seine Eltern es falsch sehen und behandeln, sondern die in ihren Äußerungen zum Ausdruck kommenden Einstellungen müssen von ihm internalisiert, d. h. auf seine Lebensäußerungen bezogen werden. Je weniger die Stellungnahmen der Eltern dazu passen und je weniger es sie beeinflussen kann, desto schwieriger wird deren bruchlose Verinnerlichung. Bei chronisch unpassenden Stellungnahmen entsteht mit deren Verinnerlichung zugleich ein Gefühl von Fremdheit, das in der klinischen Literatur als unassimiliertes Introjekt bezeichnet wird und mit dem Gefühl einhergeht, dass ein fremder anderer das Selbst kolonisiert.Footnote 8
Eine Möglichkeit des Umgangs damit ist es, diese quälenden Teile des in die Selbststruktur internalisierten fremden anderen zu reexternalisieren bzw. zu projizieren. Dadurch entstehen nach Fonagy et al. eine temporäre Entlastung und ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Dies ist allerdings nicht von Dauer, da sich das Objekt der Projektion in der Regel gegen die mit diesen Externalisierungen einhergehenden Zuschreibungen wehren wird. Es kommt zu Beziehungsabbrüchen und damit zur Rückkehr des projizierten fremden anderen in das Selbst. Beziehungsabbrüche sind für Borderlinepatienten in der Theorie von Fonagy et al. vor allem deswegen so bedrohlich, weil sie diesen Verarbeitungsmodus in Frage stellen. Entsprechend werden Selbstbeschädigungen und Suizide als Versuche verstanden, den fremden anderen in sich zur Ruhe zu bringen.
Diese Sichtweise der projektiven Identifizierung und ihrer Genese stimmt in hohem Maß mit Schilderungen in der kleinianischen Literatur überein. Die Autoren modifizieren sie allerdings in zweierlei Hinsicht. Zum einen weichen sie von der dort üblichen Lesart ab, der Patient wolle unerträgliche Selbstanteile evakuieren, um sie den anderen spüren zu lassen, d. h. um ihm etwas über den eigenen Zustand mitzuteilen. Stattdessen verstehen sie die projektive Identifizierung als einen Vorgang, in dem der Patient versucht, seinen inneren Zustand zu verstehen, der ihm anders nicht zugänglich ist. Er versteht ihn nämlich erst an den Reaktionen des anderen, also durch Externalisierung: Indem er im anderen Angst erzeugt, bemerkt er allererst, dass er selbst Angst hat. In der Angst des anderen wird ein, wenn auch rudimentäres, Bild des eigenen Zustands reflektiert (Fonagy u. Target 2000, S. 972 f.). Außerdem verlegen sie die entwicklungspsychologische Datierung dieses Prozesses eher auf das zweite und dritte Jahr, weil im ersten Lebensjahr noch nicht die kognitiven Voraussetzungen dafür gegeben sein sollen. Wie sieht das genauer aus?Footnote 9
Projektive Identifizierung als automatische Behelfssimulation
Aus dem Affektspiegelungsmodell ergibt sich, dass die Autoren Vertreter der Theorie-Theorie sind. In diesem Modell wird ja die Auffassung vertreten, dass Säuglinge zunächst kein Bewusstsein ihrer eigenen Zustände haben, das als Basis für eine Zuschreibung dienen könnte. Insofern sind die Voraussetzungen für eine Projektion von Selbstzuständen anfangs nicht gegeben. Dennoch bleibt auch im Affektspiegelungsmodell Platz für die Simulationstheorie—wenn auch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Fonagy et al. gehen davon aus, dass Kinder immer dann automatisch Zuflucht zu Selbstzuständen als Basis für die Zuschreibung mentaler Zustände bei anderen nehmen, d. h. sich mit Simulation „behelfen“, wenn sie—aus welchen Gründen auch immer—Schwierigkeiten haben, die relevanten Zeichen in den Verhaltensbekundungen anderer zu lesen (ähnlich Tuch 1999).
Als Illustration kann ein bekanntes Experiment von Repacholi u. Gopnik (1997) dienen. Kindern im Alter von 14 und 18 Monaten wird eine Schüssel mit Brokkoli und eine mit Crackern angeboten. Beide Altersgruppen bevorzugen die Cracker. Danach lässt man die Experimentatorin ihre eigenen Vorlieben bekunden. Sie probiert die Cracker, sagt „Mmmh“ und schaut entzückt; bei dem Brokkoli sagt sie „Igitt“ und verzieht angewidert das Gesicht. Bei einem anderen Versuchsdurchgang verfährt sie umgekehrt. Das Kind wird dadurch über die Präferenzen der Versuchsleiterin informiert. Obwohl auch schon 14 Monate alte Kinder die Unterschiede zwischen beiden Bekundungen wahrnehmen, bieten sie in beiden Fällen der Versuchsleiterin die Cracker an, auch wenn sie vorher ihre Abneigung dagegen bekundet hat. Sie geben ihr also das, was sie selbst mögen, unabhängig davon, was sie als ihre Präferenzbekundung wahrgenommen haben. Man könnte sagen, dass sie ihre eigenen Vorlieben auf die Versuchsleiterin „projizieren“ (hierbei erfolgt die Projektion hier nicht, um etwas abzuwehren, sondern ist eine Begleiterscheinung der kognitiven Unreife des Kindes); oder, in der obigen Terminologie ausgedrückt, dass sie die mentalen Zustände der Versuchsleiterin in Analogie zum Selbst nachempfinden oder vorstellen (simulieren). Achtzehn Monate alte Kinder hingegen bieten dann Brokkoli an, wenn sie gesehen haben, dass die Versuchsleiterin dabei positiv reagierte. Diese Befunde lassen sich so interpretieren, dass Kinder im Alter von 14 Monaten zwar die unterschiedlichen Verhaltensweisen anderer durchaus wahrnehmen, sie aber noch nicht als Schlussfolgerungsbasis für deren mentale Zustände benutzen (können). Stattdessen benutzen sie ihre eigenen Zustände/Präferenzen. Das Beispiel illustriert zugleich, dass Kinder erst ab dem Alter von 18 Monaten (frühestens ab 15 Monaten, s. Hobson 2002, S. 96) in der Lage sind, die eigenen Wünsche als mentale Zustände von denen anderer Personen zu unterscheiden.Footnote 10
Die oben geschilderte Hemmung der Mentalisierung schließt die Unfähigkeit ein, zustandsausdrückende Zeichen als indikativ für mentale Zustände zu lesen. Während Kinder unter 15/18 Monaten dazu unfähig sind, sind misshandelte Kinder dazu unwillig, weil die Exploration der mentalen Zustände der Eltern sie mit übel wollenden Absichten konfrontieren würde. Gergely et al. (2002, S. 64) schreiben, dass diese Hemmung zu einer generellen Aufmerksamkeitsstörung im Bezug auf das Verfolgen und Lesen solcher Zeichen führen kann. Das Kind muss sich dann den mentalen Zustand des anderen durch Behelfssimulation deuten.
Dies setzt allerdings voraus, dass sein Zustand für das Kind nach wie vor deutungsbedürftig ist. Dagegen behauptet gerade die Hemmungshypothese, das Kind interessiere sich für diesen Zustand nicht mehr. Wieso sollte es dann automatisch zur Simulation greifen? Fonagy et al. (2002, S. 60 ff., S. 354) stellen plausibel dar, dass die Hemmung nicht total, sondern „fraktioniert“ ist. Damit ist gemeint, dass die Fähigkeit zur Mentalisierung in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation und Person schwankt. In intimen und emotional bedeutsamen Beziehungen etwa treten Mentalisierungsprobleme stärker in Erscheinung als in neutralen. Oft wird die Mentalisierung auch gruppenspezifisch gehemmt. In Bezug auf Mitglieder der eigenen Gruppe wird sie angewendet, in Bezug auf andere nicht. Insgesamt laufen die Überlegungen zu den situations- und personenspezifischen Variationen der Mentalisierungsfunktion auf die These hinaus, dass diese Fähigkeit bzw. dieses Bedürfnis trotz unterschiedlicher Ausprägungsgrade nicht gänzlich still zu stellen ist.
Geht man also davon aus, dass ein Kind immer das Bedürfnis hat, sich das Verhalten ihm nahe stehender anderer zu erklären bzw. es zu verstehen, so muss es bei eingeschränkter Fähigkeit oder Willigkeit, die Zeichen für mentale Zustände bei ihnen zu beachten, andere Informationsquellen benutzen, um mentale Zustände zu attribuieren. Wie die 14 Monate alten Kinder im oben geschilderten Experiment, nimmt es eigene Zustände als Basis. Aber welche? Die Autoren sind der Auffassung, dass das Kind dabei auf die oben als „fremdes Selbst“ bezeichneten Zustände zurückgreift. „Wenn also der mentale Zustand des anderen als Folge der defensiven Hemmung der Mentalisierung... nicht durch Zeichenlesen identifiziert werden kann und auf Behelfssimulation zurückgegriffen werden muß, wird der auszustoßende fremde Teil der Selbstrepräsentanz als Informationsbasis schnell zur Verfügung stehen, um sich eine Vorstellung vom anderen zu bilden. Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen werden also eine Neigung zur automatischen Behelfssimulation des mentalen Zustand des anderen aufweisen, indem sie die internalisierten verfolgenden Repräsentanzen der mißbrauchenden Bezugsperson auf den anderen projizieren. Der Abwehrmechanismus der projektiven Identifizierung tritt so stark in den Vordergrund, weil Patienten mit Borderline-Störungen die mentalen Zustände anderer in dieser Weise in intimen Beziehungen und in der analytischen Übertragung verzerrend konstruieren“ (Gergely et al. 2002, S. 71). Kurz: Die erhöhte Neigung zur Projektion ergibt sich bei ihnen aus Mentalisierungsproblemen, die Inhalte der Projektion aus verinnerlichten Misshandlungserfahrungen.
Bei dieser kognitionspsychologisch gefärbten Reformulierung der projektiven Identifizierung ist unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten noch zu berücksichtigen, dass die eigenen Zustände als Informationsbasis für Zuschreibungen via Simulation nicht von Lebensanfang an zugänglich sind. Dem Affektspiegelungsmodell zufolge wird ja erst an den Reaktionen des anderen gelernt, in welchem Zustand man ist. Erst danach ist ein Projektionsprozess, der auf der Zuschreibung von bei sich selbst wahrgenommenen Zuständen basiert, möglich. Das Kind muss dazu über ein Bewusstsein seiner Zustände verfügen, das über die oben beschriebene primäre Bewusstheit hinausgeht. Obwohl sich die Autoren nicht auf einen genauen Zeitpunkt für diese weiter gehende Form von Bewusstheit festlegen, kann man ihrer Darstellung entnehmen, dass sie eine solche frühestens auf das Ende des erstens Lebensjahrs datieren (Fonagy u. Target 2002, S. 842, S. 847 f.). Vorher kann es keine (auf mentalen Zuständen oder Repräsentanzen beruhende) Projektion geben. Es ist natürlich denkbar und sogar wahrscheinlich, dass die Weltwahrnehmung des Säuglings quasi automatisch von seinem affektiven Zustand eingefärbt wird. Diesen Vorgang kann man indes kaum als „Projektion“ bezeichnen (s. Gergely 1992; für eine Kritik der kleinianischen Theorie der Spaltung s. ebenfalls Gergely 1992, 2000 und die Darstellung bei Dornes 2004).
Nachgedanken
Abschließend sollen noch zwei Ergänzungen nachgetragen werden—eine, die der Leser vielleicht schon vermisst hat und eine zweite, die von erheblicher wissenschaftspolitischer Aktualität ist.
In der Einleitung war von einer Integration von Psychoanalyse, Theory of mind und Bindungsforschung die Rede. Die Bindungsforschung wurde im weiteren Fortgang der Darstellung etwas stiefmütterlich behandelt. Der Grund dafür ist, dass sie mittlerweile auch in psychoanalytischen Kreisen recht umfassend rezipiert worden ist; dies kann man von der Theorie des Geistes nicht sagen.Footnote 11 Deshalb wurde der Akzent auf diesen Teil der Theorie gelegt. Er beeinflusst auch die Sicht der Autoren auf die Bindungstheorie und führt—neben der Darstellung empirischer Befunde zu Zusammenhängen zwischen Bindungsqualität und Mentalisierung—zu einer Neubestimmung der Funktion von Bindung, die zumindest erwähnt werden soll: Üblicherweise wird die evolutionäre Funktion von Bindung darin gesehen, dass sie dem Kind Schutz vor Gefahr gewährt und—unter stärker psychologischen Gesichtspunkten—ihm ein Sicherheitsgefühl vermittelt, das sowohl wünschenswert als auch entwicklungsfördernd ist. Fonagy et al. 2002 (Kap. 1; s. auch Fonagy 2001, S. 39 f. und passim) verlassen diesen bekannten Pfad und vertreten die Auffassung, dass es eine wesentliche Funktion der Bindungsbeziehung ist, eine Umwelt bereitzustellen, in der sich die Fähigkeit zur Mentalisierung entwickeln kann. Es ist also nicht so sehr die Bindungserfahrung selbst als vielmehr deren Auswirkung auf die Mentalisierungsfähigkeit, die die Autoren für bedeutsam halten. Bindung ist in dieser Sicht kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck—des Erwerbs von Mentalisierungsfähigkeit.
Eine ähnliche Umorientierung vom Psychobiologischen zum Kognitiven findet sich an anderen Stellen ihres Werkes (Fonagy et al. 2002, Kap. 3; Kurzfassung: Fonagy 2001), das der brennend aktuellen Frage nachgeht, was sich von einem psychosozialen Entwicklungsmodell im Zeitalter der Genetik noch halten lässt. Nach Durchmusterung der einschlägigen verhaltensgenetischen Forschungsergebnisse, die die Bedeutung genetischer Dispositionen für fast alle Formen von Erkrankung zu zeigen scheinen, schlagen die Autoren eine Neuinterpretation der Befunde vor. Der Kern ihrer Argumentation besteht in dem Nachweis, dass Genexpression sowohl umweltabhängig als auch von der Psyche abhängig ist. In äußerster Verkürzung heißt dies: Selbst wenn immer wieder und immer neue genetische Dispositionen von (seelischen) Erkrankungen gefunden werden, bedeutet das noch lange nicht, dass diese genetischen Dispositionen auch Wirklichkeit werden müssen. Ob das der Fall ist, hängt in hohem Maße von der Umwelt ab, in die ein entsprechend disponiertes Individuum gelangt, und es hängt von seiner psychischen Struktur ab, d. h. davon, wie es seine—möglicherweise genetisch bedingten—Erfahrungen interpretiert. Der Leser ahnt, dass diese Interpretation u. a. von der Fähigkeit zur Mentalisierung beeinflusst wird (ausführliche Darstellung bei Dornes 2004). Dieses Konzept erweist sich somit als eine Art Passepartout, mit dem sich die unterschiedlichsten Türen aufschließen und die verschiedensten Theorien und Forschungsergebnisse neu betrachten lassen. Diese etwas kursorischen Bemerkungen können die Durchschlagskraft der subtilen Argumentation der Autoren nur unzureichend vermitteln, mögen aber genügen, um den potenziellen Leser von der Fruchtbarkeit und Reichweite des Konzeptes zu überzeugen. Die klinischen Überlegungen tun ein Übriges. Niemand wird mit allen Einzelheiten übereinstimmen. Ich persönlich finde z. B. die Kritik an den Intersubjektivitätstheorien von Braten, Meltzoff, Trevarthen und Tomasello (s. besonders Fonagy et al. 2002, Kap. 5; Gergely 2002) beeindruckend, aber dennoch nicht restlos überzeugend und habe andernorts Alternativen vorgeschlagen (Dornes 2002). Dennoch ist die Auseinandersetzung mit den Autoren immer ein Gewinn und eine immense Herausforderung für das eigene Denken.
Resümee
Mit den Arbeiten der Forschungsgruppe um Fonagy liegt die systematische Darstellung einer psychoanalytisch-intersubjektiven Theorie des Geistes vor, die Befunde aus Nachbardisziplinen integriert und sie für die Neubetrachtung klinischer Phänomene nutzbar macht. Die Bedeutung der zwischenmenschlichen Interaktion für die Entwicklung des Denkens und Fühlens ist der rote Faden, der die Ausführungen zu den verschiedenen Themen durchzieht. Die Struktur zwischenmenschlicher Beziehungen wird als konstitutiv für normale und pathologische Varianten der Fähigkeit betrachtet, sich selbst und andere als denkende und fühlende Wesen zu verstehen. Dies ist, vom Ergebnis her, nicht unbedingt etwas Neues. Originell ist indes, wie sich die Autoren diesen „alten Hut“ der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie und des symbolischen Interaktionismus neu aufsetzen. Das bloße Resultat ist bekanntlich, nach einem Diktum von Hegel, der nackte Leichnam—entscheidend ist die Bewegung des Werdens. Wie die Bewegung des Werdens des Geistes entfaltet wird, ist das eigentlich Faszinierende an ihrem Werk.
Die Psychoanalyse kann sich, will sie aktuell und einflussreich bleiben, so wenig wie jede andere Theorie, mit Bestandsverwaltung begnügen. Es ist gerade die Umformulierung des Tradierten in eine zeitgenössische Theoriesprache, die eine Theorie am Leben erhält, ja ihre Überlebensfähigkeit entscheidend ausmacht. Die wirklich kreativen Neuformulierungen sind nicht (nur) semantische Innovationen, sondern auch inhaltliche Weiterentwicklungen. Verzichtet man auf solche Aktualisierungsbemühungen, so besteht die Gefahr, dass die Theorie museal und zu einer bloßen Gestalt der Geistesgeschichte wird. Der oft zu hörende Hin- oder Nachweis, die geistesgeschichtliche Bedeutung der Psychoanalyse bestünde darin, dass sie auf die Grenzen der menschlichen Vernunft und die Macht irrationaler Impulse hingewiesen habe, ist sicher richtig, erschöpft sich aber mit seiner häufigen Wiederholung—und schöpft auch die Potenziale dieser Theorie nicht aus. Die Psychoanalyse ist mehr als das und was sie auch sein kann, zeigt das Werk der Autoren in vorbildlicher Weise: eine Theorie der interaktiven Entwicklung des menschlichen Geistes auf Augenhöhe mit dem Wissen anderer Disziplinen und dennoch mit einem spezifischen Gepräge, das darin besteht, die individuellen Besonderheiten dieser Entwicklung und ihre Abhängigkeit von (frühen) Beziehungserfahrungen immer wieder neu herauszuarbeiten.
Notes
Diese Auffassung über den Erwerb des Wissens von mentalen Zustände heißt (aus Gründen, die hier nicht diskutiert werden können; s. dazu Dornes 2004) „Theorie-Theorie“. Eine Alternative wird unter dem Titel „Simulationstheorie“ diskutiert. Ihre Vertreter gehen davon aus, dass Kinder ein Wissen um mentale Zustände nicht durch Beobachtung von Verhalten bei anderen und anschließende Schlussfolgerungen erwerben, sondern durch Selbstbeobachtung und anschließende Projektion. Hier ein vereinfachtes Beispiel: Ich sehe, wie jemand vor einem wilden Tier flieht und dabei Zeichen von Angst zeigt. Automatisch versetze ich mich in die Situation des Beobachteten, frage mich, wie ich mich an seiner Stelle fühlen würde—lasse also den beobachteten Sachverhalt probeweise in mir ablaufen (Simulation)—und schreibe dann den so erlebten mentalen Zustand per Analogie dem anderen zu. Die Selbstwahrnehmung muss nicht bewusst sein. Man kann auch unreflektiert von der Annahme ausgehen, dass sich der andere so fühlt, wie man sich selbst in der entsprechenden Situation fühlen würde. Die Grundlage der Projektion ist eine Ähnlichkeitswahrnehmung. Unbelebte Gegenstände, wie Steine oder Fahrräder, werden nicht als ähnlich wahrgenommen und entsprechend unterbleibt die Projektion bzw. Zuschreibung mentaler Zustände. Fehlzuschreibungen werden üblicherweise als Animismus bezeichnet. Genauere Ausführungen zum Unterschied zwischen Theorie-Theorie und Simulationstheorie finden sich in den einschlägigen Einführungen zur Theory-of-mind-Forschung (z. B. Astington 1993 und Mitchell 1997). Auch in der „philosophy of mind“ wird dieses Thema diskutiert (s. Carruthers u. Smith 1996). Fonagy et al. sind primär Theorietheoretiker, finden aber auch Platz für simulationstheoretische Erklärungen. Ich gehe weiter unten ausführlicher darauf ein.
Der Unterschied zwischen einem intuitiven Wissen um den fiktiven Charkter des Spiels und einem expliziten Verstehen desselben spielt in der entwicklungspychologischen Literatur eine erhebliche Rolle, vor allem bei der Klärung der Frage, ab wann Kinder nicht nur symbolische Handlungen hervorbringen, sondern den symbolischen Charakter ihrer Hervorbringungen—auch den ihrer Gedanken—durchschauen. Den symbolischen Charakter von Gedanken zu durchschauen heißt, zu begreifen, dass mentale Gebilde nicht nur Dinge sind, die im Geist existieren, sondern Repräsentationen, die vom Geist hervorgebracht werden. Erst dann werden Gedanken als subjektive Schöpfungen verstanden, die die Realität nicht nur wiedergeben, abbilden oder sonstwie erfassen, sondern repräsentieren. Der Erwerb einer solchen repräsentationalen Theorie des Geistes wird üblicherweise auf das Alter von 4 Jahren datiert. Für Details der Debatte s. Perner (1991), Astington (1993), Mitchell (1997), Mähler (1999), Bischof-Köhler (2000) und Sodian (2003).
Ein implizites Wissen um falsche Überzeugungen gibt es schon ab 3 Jahren (Clements u. Perner 1994). Darauf kann ich hier nicht näher eingehen. Britton (1995) hat eine kleinianische Version des Problems falscher Überzeugungen entwickelt, das von Fonagy et al. (2002, S. 260 f., S. 350; Target u. Fonagy 1996, S. 470 f.) ebenfalls diskutiert wird. Auch auf die Abgrenzung des Äquivalenzmodustheorems von Segals Konzept der symbolischen Gleichsetzung (1957) kann hier nur hingewiesen werden (s. Target u. Fonagy 1996, S. 469; Fonagy u. Target 2000, S. 964; Fonagy 2001, S. 179).
Von dieser Form des „Durchdenkens“ unterscheiden die Autoren die „mentalisierte Affektivität“. Sie ist die am weitesten entwickelte Form der Mentalisierung und bezeichnet die Fähigkeit, über Affekte nachzudenken, während man in dem betreffenden Affektzustand ist (Fonagy et al. 2002 Kap. 10). Es wird nicht off-line über etwas nachgedacht, das man gestern erlebt hat, sondern on-line über etwas, das man gerade erlebt. In der Unmittelbarkeit des Erlebens läuft gewissermaßen als zweite Spur ein Umgang mit diesem Erleben mit, der ihm Tiefe und Bedeutung gibt. Er ermöglicht eine Form der Erlebnisverarbeitung, die nicht Kognitionen auf Affekte „anwendet“, sondern beide verknüpft. Am nächsten kommt diesem Konzept in der traditionellen Terminologie das der emotionalen Einsicht und das der therapeutischen Ich-Spaltung, die beide ebenfalls die Gleichzeitigkeit von Erleben und selbstbeobachtender Verarbeitung des Erlebens bezeichnen sollen. Dieses Endstadium der Entwicklung wird erst im Erwachsenenalter erreicht.
Dies ist eine diskussionswürdige Behauptung. Man kann sich nämlich fragen, ob die Wahrnehmung eines Ziels, schneller vorwärts zu kommen, nicht die Unterstellung eines Wunsches, schneller vorwärts zu kommen, impliziert. Csibra u. Gergely (1998) zeigen, dass dies nicht der Fall sein muss. Ohne Theorieaufwand zu betreiben, kann folgendes Beispiel den Unterschied zumindest illustrieren: Ein Huhn hat das Ziel, dem Metzger von der Schlachtbank zu springen, aber nicht den Wunsch dazu. Wir sehen seine Bemühungen als zielgerichtet, aber nicht unbedingt als von mentalen Zuständen kausal verursacht. Ähnlich (teleologisch) sehen Fonagy et al. zufolge Kinder unter 1,5 Jahren die Bewegungen/Handlungen von Personen (s. auch Gergely 2002, 2003; Dornes 2004).
Andere Verfahren zur Erhebung von Mentalisierung sind von Meins et al. (2001, 2002) und Oppenheim u. Koren-Karie (2002) entwickelt worden (zusammengefasst bei Dornes 2004).
Das Affektspiegelungsmodell weist starke Parallelen zu Bions (1959) Containmentmodell auf (s. auch Hinshelwood 1993, S. 282 f., 350 ff.). Die primären Affektzustände entsprechen Bions Beta-Elementen, der Prozess der markierten und kongruenten Spiegelung seinem Containmentkonzept und die sekundären Repräsentanzen primärer Zustände seinen Alpha-Elementen. Ein Unterschied besteht darin, dass bei Bion das containende Objekt verinnerlicht wird, im Affektspiegelungsmodell aber das Bild, das das containende Objekt vom Subjekt hat. Andernorts (Dornes 2000, Kap. 5) bin ich den Gemeinsamkeiten und Unterschieden des Affektspiegelungsmodells mit den Ideen Winnicotts und Lacans über Spiegelung nachgegangen.
Segal (1964, S. 104) schreibt, dass assimilierte innere Objekte (mit 6 Monaten) zu Symbolen werden. Abgesehen von der zeitlichen Datierung passt diese Behauptung gut zu der im Affektspiegelungsmodell enthaltenen Auffassung, dass gelungene Spiegelung zu assimilierten Introjekten führt, d. h. zu primären Zuständen, die in adäquaten sekundären Repräsentanzen (Symbolen) „aufgehoben“ sind. Das fremde Selbst ist übrigens etwas anderes als das falsche Selbst. Letzteres entsteht, wenn die Eltern auf die kindlichen Äußerungen zwar inkongruent, aber dennoch markiert reagieren, z. B. einen Ärgerimpuls des Kindes in spielerischer Weise in Müdigkeit umdeuten (ausführlich dazu Dornes 2000, Kap. 5 und Fonagy u. Target 2002, S. 856ff.). Das fremde Selbst hingegen entsteht, wenn etwa bei Misshandlung nicht nur die Kongruenz, sondern auch die Markierung fehlt und eine gewaltsamere Intropression der elterlichen Affektzustände stattfindet (Fonagy u. Target 2000, S. 982 ff.; Gergely et al. 2002, S. 66ff). Die Grenzen zwischen beiden Formen der Verzerrung der primären Zustände sind indes fließend. Das fremde Selbst scheint mir die gravierendere Pathologie.
Ich bezweifle, dass die projektive Identifizierung ein Versuch ist, etwas zu verstehen und auch, dass sie ein Versuch ist, etwas mitzuteilen. Ich halte das Verstehen des eigenen Zustands, das aus seiner Externalisierung resultiert, für eine unintendierte Nebenfolge der Externalisierung. Die Externalisierung selbst wird aber weder in der Absicht vorgenommen, etwas mitzuteilen noch in der, etwas zu verstehen. Sie ist eine unkontrollierbare Expression von Gefühlen, die eine Aufforderung zur Änderung des Zustands enthält, aber weder eine Verstehens- noch eine Mitteilungsabsicht. Das bedeutet indes nicht, dass der Therapeut sie nicht „kontrafaktisch“ so betrachten sollte. Im Gegenteil: Gerade indem er das tut, macht er sie zu etwas, was sie noch nicht ist, aber werden soll (s. dazu ausführlich Dornes 1997, S. 69 ff.).
Natürlich machen Kinder schon vor dem 15./18. Lebensmonat die Erfahrung, dass ihre Wünsche—oder vielleicht sollte man besser sagen: ihre Bedürfnisse—und die ihrer Eltern divergieren können. Mit 8 Monaten will das Kind mit dem Brei schmieren, und die Mutter unterbindet das. Es will mit dem Löffel Krach machen oder einen Gegenstand auf den Boden werfen, und die Eltern sagen „Nein, nein“. Diese Erfahrung von Divergenz der Bestrebungen wird indes noch nicht als Differenz von Wünschen als mentalen Zuständen wahrgenommen, weil die Kinder die Verhaltensbekundungen der Eltern zwar registrieren, auf sie auch reagieren, sie aber, wie das Experiment zeigt, noch nicht als Ausdruck mentaler Zustände verstehen. Vielleicht sollte man deshalb Bedürfnisse erst ab 18 Monaten als Wünsche bezeichnen, d. h. dann, wenn sie als Hinweise auf mentale Zustände verstanden werden. Andernorts habe ich ebenfalls dafür plädiert, zwischen Bedürfnissen einerseits und Wünschen als symbolischen Gebilden andererseits zu unterscheiden (Dornes 1993, S. 193 ff.). Gopnik et al. (1999, S. 55 ff.) leiten aus diesem neuen Verständnis des anderen als einem Wesen mit eigenen Wünschen ab dem Alter von 18 Monaten eine kognitionspsychologische Erklärung der analen Widersetzlichkeit ab. Kinder werden deshalb schwierig, weil sie nun beginnen, den entdeckten Unterschied zwischen den eigenen und den fremden Wünschen systematisch zu explorieren, während sie vorher nur situative Divergenzen erlebten und entsprechend nur situativ widersetzlich waren. Meltzoff et al. (1999, S. 32) sprechen explizit vom Ende des mentalen Garten Eden, in dem das Kind davon ausging, dass seine Wünsche und die des Objekts übereinstimmen. Der „Sündenfall“ (ebd., S. 36) besteht in der Erkenntnis, dass beide nicht nur verschieden sind, sondern oft auch im Konflikt miteinander liegen. Fonagy (1998, S. 146) konzeptualisiert diesen Sachverhalt in psychoanalytischer Terminologie und bezeichnet die Erkenntnis, dass das Objekt selbstständige, von den eigenen verschiedene und unabhängige mentale Zustände hat, als Schlag für den kindlichen Narzissmus und Herausforderung der kindlichen Omnipotenz. Kagan (1981) hat eine etwas andere Erklärung vorgeschlagen. Mit 18 Monaten entsteht beim Kind ein Selbstkonzept. Ab diesem Alter beziehen Kinder Verbote nicht mehr nur auf einzelne Lebensäußerungen, sondern auf ihr Selbst. Sie fühlen sich nunmehr von Verboten auch als Person abgelehnt und nicht nur in einzelnen Handlungen. Widersetzlichkeit ist also im wörtlichen Sinne Selbstbehauptung.
Ausnahmen sind Mayes et al. (1993), Mayes u. Cohen (1994, 1996), Tuch (1999) und Hobson (1993, 2002). Das zweite Buch von Hobson ist nicht nur inhaltlich, sondern auch didaktisch vorzüglich und in hohem Maß empfehlenswert. Es hat allerdings einen anderen Schwerpunkt als die Theorie von Fonagy et al., nämlich die Erklärung des kindlichen Autismus (zu Hobsons Theorie s. Dornes 2005).
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Danksagung
Ich danke Angela Dunker, Martin Löw-Beer, Birgit Diestel, Wilfried Datler und Peter Henningsen für Anregungen und Verbesserungsvorschläge.
Interessenkonflikt:
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Dornes, M. Über Mentalisierung, Affektregulierung und die Entwicklung des Selbst. Forum Psychoanal 20, 175–199 (2004). https://doi.org/10.1007/s00451-004-0195-4
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