„Wer könnte leugnen, dass wir zu den letzten Ursachen von Rheumatismus, Hysterie und bösartigen Neubildungen nur wohlklingende Worte haben?“

Jakob Henle (1809–1885)

Die Pathologie in Deutschland hat zwar für die Entwicklung unserer rheumatologischen Fachgesellschaft nur eine nebensächliche Rolle gespielt, sie konnte aber in den gesamten ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die wissenschaftliche Diskussion der Rheumatologen weltweit prägen. Um die Leistungen der Pathologen richtig verstehen zu können, muss man sich die Situation bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts vorstellen, wie sie von W.H. Veil (1884–1964), dem bekannten Jenenser Kliniker, auf den Punkt gebracht wurde [48]: „Der Rheumatismus ist von Virchow und der Zellularpathologie nicht erfasst worden, wenn wir von der neuzeitlichen Forschung absehen wollen. Der allgemeine und spezielle Pathologe ärgerten sich über ihn nicht nur, wenn sie ihn selbst hatten, sondern auch, wenn sie ihn an anderen beobachteten und sich von seiner fragwürdigen und doch unzweifelhaften Wirklichkeit überzeugen mussten. Er stellte einen Rest Heidentum innerhalb der Ära der neuen Lehre dar.“

Ludwig Aschoff, Annäherung an einen Großen

An dieser Stelle soll wenigstens kurz der überragenden Persönlichkeit Ludwig Aschoffs gedacht werden (Abb. 1). Ausführlichere, auch kritische Würdigungen, die an dieser Stelle nicht möglich sind, stammen von F. Büchner (1957, 1965), W. Fischer und G.B. Gruber (1949) bzw. in neuerer Zeit von S.G. Solomon und J.L. Richter (1998) sowie C.J. Prüll (1999).

Aschoffs Arbeiten bildeten den Beginn und standen lange Zeit auch im Mittelpunkt der Diskussion über die Pathologie rheumatischer Erkrankungen.

Seine Bedeutung für die deutsche Medizin beschränkte sich aber keineswegs auf sein engeres Fachgebiet und schon gar nicht – trotz ihres großen Einflusses – auf die Rheumatologie. Von seiner Universalität zeugen die wissenschaftstheoretischen, medizinhistorischen und zeitkritischen Arbeiten. Schon 1898 war seine Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin erschienen, die 1945 in 6. Auflage zusammen mit Paul Diepgen herausgegeben wurde [7]. Seine Essays über Rudolf Virchow [4], Gottfried Herxheimer und Über die Bedeutung der pathologischen Anatomie für Medizin und Naturwissenschaft [3] sind noch heute lesenswert. Es gab wohl kaum einen deutschen Wissenschaftler, der in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen so viele Freunde und Gesprächspartner im Ausland hatte, wie Aschoff. Das war seinen Schülern aus aller Welt und seiner wissenschaftlichen Neugier zu verdanken, die ihn schon in seiner Ausbildungszeit nach London, Liverpool und an das Pasteur-Institut nach Paris führte. Aber auch später trieb ihn die Reiselust immer wieder in die Ferne, zweimal in die junge Sowjetunion, nach den USA und nach Japan. In seinem Institut, welches er über drei Jahrzehnte führte und prägte (von 1903 bis 1930), konnte man sich, wie Walter Fischer schrieb [14], „als Glied einer Familie fühlen, aber auch so benehmen“.

Abb. 1
figure 1

Ludwig Aschoff (1866–1942, [6])

Eine hoch interessante Lektüre ist es, die Eindrücke bei seinen Studienaufenthalten in den Briefen an seine Familie mitzuerleben [6]. So schreibt er 1930 aus dem Kaukasus: „Auf dem Heimwege sprachen H. [H. Hamperl] und ich uns über Russland aus. Wir mussten beide anerkennen, dass die kommunistische Herrschaft nicht nur für die Gesundheit, die Aufklärung und Schulung des Volkes Hervorragendes geleistet habe, sondern auch sonst das Leben im günstigsten Sinne beeinflusst“ – eine Einschätzung, die zur damaligen Zeit viele westeuropäische Intellektuelle mit ihm teilten. Besonders fiel den beiden das Fehlen obszöner oder sexuell aufreizender Bilder, von Reklame überhaupt auf: „Das ist ein Segen der Diktatur.“ Andererseits: „Dafür ist das Stadtbild bis in die Natur hinein durch politische Reklame verschandelt.“ Über I.P. Pawlow schreibt er, dessen kleine Gestalt würde ihn an Paul Ehrlich, der Kopf aber an ein Apostelbild erinnern: „Ich kann mir denken, dass er sich von den Bolschewisten nicht das Geringste gefallen lässt … Man erzählte mir, dass Pawlow eines seiner letzt erschienenen Werke dem Andenken seines ‚im Kampf gegen die Rote Armee gefallenen Sohnes‘ widmen wollte. Die Regierung verbot das. Darauf ließ P. das Buch nicht drucken. Da gab die Sowjetregierung nach und erlaubte die Widmung.“

Aschoffs Leistungen bestanden vor allem in der Verknüpfung von Struktur und Funktion

Aschoffs Leistungen in der Pathologie bestanden vor allem in der Verknüpfung der Klinik mit seinem Fachgebiet, also der Struktur mit der Funktion. Dies wurde besonders augenfällig mit der Entdeckung des Reizleitungssystems im Säugetierherzen (Aschoff-Tawara-Knoten) und der Prägung des Begriffs des retikuloendothelialen Systems mit seinem Schüler Max Landau (1886–1915).

Für die Rheumatologie bedeutete aber die Entdeckung der Aschoff-Knötchen, deren „Spezifität“ die Kontroversen in der Rheumatologie noch viele Jahrzehnte bestimmen sollten, einen ganz entscheidenden Impuls. Dabei war diese Beobachtung mehr oder weniger einem Zufall zu verdanken und stellte ein Nebenprodukt dar, welches in keinem Zusammenhang mit dem ursprünglichen Ziel der Untersuchungen stand. Wie der Namensgeber auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pathologie 1904 berichtete [1], ging es ihm vor allem um die „myogene oder neurogene Verursachung der automatischen Herzmuskelbewegung“ bzw. die tieferen Ursachen des Herzversagens. Dafür hatten die damals noch in Leipzig wirkenden Ernst v. Romberg und Ludolf Krehl eine interstitielle Myokarditis als kausal angenommen – Schlussfolgerungen, die von Aschoff nicht ohne Weiteres geteilt wurden.

Hören wir ihn selbst: „Eine weitere Nachprüfung erschien also wünschenswert. Ich habe durch Dr. Tawara 150 Herzen ohne besondere Auswahl untersuchen lassen … Das Resultat dieser Untersuchung ist zunächst eine Bestätigung der Angabe der Leipziger Schule über das Vorkommen interstitieller Veränderungen im Herzfleisch bei Herzklappenfehlern überhaupt. Sie erweitern aber die Angaben der Leipziger insofern, als es uns gelang, die histologische Zusammensetzung der Entzündungsprodukte genauer festzustellen und dabei eigentümliche Knötchen zu finden, welche für die rheumatische Myocarditis spezifisch zu sein scheinen.“ Im Weiteren werden diese Knötchen, die „freilich nur in 2 Fällen von recurrierender Endocarditis deutlich ausgeprägt“ waren, genau beschrieben. Dabei finden alle klassischen Merkmale, wie sie heute in jedem Pathologielehrbuch zu finden sind, Berücksichtigung: die Nachbarschaft zu den kleinen und mittelgroßen Gefäßen, die submiliare Größe, die Zusammenlagerung von großkernigen Zellen in der Peripherie zur Fächer- oder Rosettenform und der Nekrosebezirk im Zentrum des Granuloms.

Festzustellen bleibt, dass Aschoff diese Gebilde nicht in allen Fällen von rekurrierender Endokarditis nachweisen konnte und ihre Spezifität lediglich als Möglichkeit betrachtete. Letzteres drückt er im weiteren Verlauf seines Referates noch einmal klar aus: „Da wir die großzelligen Knötchenbildungen … nur bei rheumatischer Endocarditis, niemals im Typhusherzen, Diphtherieherzen etc. gefunden haben, glauben wir sie als besonders charakteristisch für die rheumatische Myocarditis ansehen zu dürfen.“

Bereits zwei Jahre nach dieser Mitteilung beschäftigte sich der Dresdner Pathologe Paul Geipel (Abb. 2) intensiv mit den Granulomen (Abb. 3) im Herzbeutel [15], die später nach Aschoff und ihm benannt wurden – worauf Aschoff in nobler Weise selbst bestanden hatte [2, 10]: „Ich möchte bitten, falls man nicht den von mir vorgeschlagenen Namen Noduli rheumatici wählen will, um der historischen Gerechtigkeit Willen von Aschoff-Geipelschen Knötchen zu sprechen.“

Abb. 2
figure 2

Paul Geipel (1860–1958, [37])

Abb. 3
figure 3

Rheumatisches Granulom (Aufnahme: G. Geiler, 1972)

In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden die Arbeiten Aschoffs vor allem von dem russischen Pathologen W.L. Talalajew (1886–1947) aufgegriffen und fortgeführt. Die Aschoff-Knötchen fand er nicht nur im Myokard, sondern auch in der Haut, den Herzklappen, in Aponeurosen und in Gelenkbeuteln [45, 46, 47]. In Russland werden noch heute diese Knoten mit dem Doppelnamen Aschoff-Talalajew bezeichnet. Meinungsverschiedenheiten, die später über die Bedeutung von Aschoffs Befunden entstanden und seine abschließende Stellungnahme kurz vor seinem Tode 1942 sollen weiter unten geschildert werden.

Genialer Experimentator: Fritz Klinge

Die wichtigsten Anstöße für die Rheumatologie hat – nach Aschoff – in Deutschland jedoch zweifellos Fritz Klinge (Abb. 4) gegeben. Klinges Tierversuche wurden weltweit zitiert, wiederholt und modifiziert, seine Theorien haben die späteren Forschungen nachhaltig beeinflusst.

1936 wurde er auf dem Internationalen Kongress der Europäischen Rheumaliga in Stockholm und Lund als einer der wenigen Deutschen zum Ehrenmitglied ernannt. Paul Klemperer, der „Vater der Kollagenosen“, zitiert ihn nicht nur in seiner großartigen Studie über die Pathologie des systemischen Lupus erythematodes von 1941, sondern auch in den wesentlichen Publikationen von 1950 und 1955 (u. a. bei dem 3. Internationalen Kongress für Innere Medizin in Stockholm), in welchen er sein Konzept der Bindegewebserkrankungen entwickelt [20, 21, 22, 23]. Hans-Georg Fassbender, einst Klinges Schüler und später selbst ein maßgeblicher Vertreter der Rheumapathologie, hat ihm ein Gedenkblatt gewidmet [13], dem wir bei der Schilderung seines Werdeganges folgen werden.

Abb. 4
figure 4

Fritz Klinge (1892–1974, [13])

Nach dem Abitur in seiner Geburtsstadt Peine absolvierte er das Medizinstudium an den Universitäten Berlin, Leipzig und München, welches durch seine Tätigkeit als Unterarzt im Krieg unterbrochen wurde. Nach dessen Beendigung konnte er das Studium und die Promotion abschließen und arbeitete einige Jahre als Assistent an der Chirurgischen Klinik München unter Geheimrat Sauerbruch. Danach wechselte er an das pathologisch-anatomische Institut von Max Borst in München, der ihn, ebenso wie sein späterer Lehrer Robert Rössle in Basel, nachhaltig beeinflusste. 1926 folgte er einem Ruf als Prosektor an das Institut in Leipzig unter Werner Hueck (Abb. 5), wo er als Kopf einer eigenen Arbeitsgruppe die für das Fachgebiet wichtigsten Arbeiten schuf. Das wissenschaftliche Werk von Klinge und seinen Schülern, das allein aus der Leipziger Zeit fast 100 Arbeiten und viele Vorträge im In- und Ausland umfasst, kann hier nur kurz wiedergegeben werden.

Abb. 5
figure 5

Werner Hueck (1882–1962, [19])

Abb. 6
figure 6

Klinge war nicht nur als Prosektor in Leipzig tätig [19]

Im Sommer 1927 begann er seine Tierversuche, deren Ergebnisse er in der wichtigen Publikation von 1929 [25] zusammenfasste. Die sechs Versuchsreihen sollen im Folgenden kurz dargestellt werden, da sie die Grundlage seiner späteren Überlegungen bildeten.

Klinge injizierte intraartikulär Pferdeserum, um entzündliche und allergische Reaktionen hervorzurufen

In den beiden ersten Gruppen (Vorversuche) führten einmalige intraartikuläre Injektionen von bis zu 2 ml Pferdeserum bei Kaninchen zu keinen erkennbaren Reaktionen. Injizierte man nach dem Pferdeserum ein zweites Mal Meerschweinchenserum, traten nur unbedeutende entzündliche Veränderungen auf. Ganz anders, wenn nach vier Wochen Sensibilisierungsdauer (mehrfach Pferdeserum subkutan) eine Reinjektion in das Kniegelenk vorgenommen wurde. Zwei Tage später fand sich eine stürmische, vorwiegend leukozytäre phlegmonöse Entzündung der Synovia mit „merkwürdigen herdförmigen subendothelialen Verquellungszuständen des Bindegewebes“ (Versuchsreihe III). Wurden die Erfolgsinjektionen in das Gelenk nicht nur einmalig verabfolgt, sondern fünf Mal über einige Monate wiederholt (IV) kam es zu einer chronisch rezidivierenden anaphylaktischen Entzündung.

Als wichtigste Veränderungen beobachtete er:

  • Eine Synovialitis mit Infiltrationen, die je zur Hälfte aus eosinophilen Leukozyten und Rundzellen bestanden. Diese enthielten knötchenförmige subendothelial gelegene schollige hyaline Bezirke, welche teils exulzerierten oder in Vernarbung übergingen. Die Knötchen wurden von einem gefäßreichen Granulationswall umgrenzt. Solche von Resorptionszellen umgebene Nekroseherde fanden sich auch am Kapsel-Band-Apparat.

  • Der Knorpel war von den Umschlagstellen der Synovia ausgehend durch Pannusgewebe zerstört.

  • Im Skelettmuskel traten wachsartige Nekrosen mit herdförmigen Wucherungen großer Resorptionszellen auf.

  • Auch in Arterien- und Venenwänden fanden sich subendotheliale, z. T. bis in die Media reichende hyaline Nekrosen.

  • Die Herzklappen zeigten Wucherungen eines „ödematös-myxödematösen jungen Bindegewebes mit Zellproliferationen“.

  • Im Herzmuskel hatten sich interstitielle Knötchen und große, mit Muskelnekrosen einhergehende Infiltrate gebildet.

Wurde die Sensibilisierung über den dritten Monat hinaus durch weitere Injektionen in das gegenseitige, d. h. in das bisher nicht vorbehandelte Kniegelenk fortgesetzt (V), dann entwickelte sich dort eine rein monozytär-histiozytäre Arthritis und Periarthritis mit hyalinen Nekroseherden der Synovia, Ulzerationen und herdförmigen Nekrosen der gelenknahen Muskulatur. Auch hier fiel die Bildung von großzelligen Knötchen auf. Eine weitere Versuchsreihe von vier Tieren sollte klären (VI), ob geringe Eiweißmengen im Kniegelenk gleiche Reaktionen hervorrufen und welche Langzeitveränderungen auftreten. Die Folgen wurden hier nur röntgenologisch dokumentiert und bestanden ebenfalls in einer schweren, destruierenden Arthritis und vernarbenden Periarthritis, die nach über einem Jahr – gerechnet vom Beginn der Vorbehandlung – noch deutlich progredient war. Der Autor schließt aus seinen Untersuchungen, dass man aus Dauer und Dosis der Sensibilisierung die Charakteristika des Entzündungsprozesses am Gelenk nach Belieben gestalten kann.

Ein leukozytär-phlegmonöser Prozess entwickelt sich bei kurzer Sensibilisierungsdauer und hoher Dosis; leukozytär-monozytär gemischte Reaktionen entstehen nach wiederholter Sensibilisierung und entsprechend langzeitige Versuchsanordnungen resultieren in einer rein monozytär-histiozytären Synovialitis. Das allen drei Formen gemeinsame Merkmal der herdförmigen hyalinen Nekrose der Bindegewebssubstanz in Synovia, Muskulatur, Gefäßen und Herz fasst er als Beweis für eine einheitliche Reaktion des mesenchymalen Gewebssystems im Sinne seines Lehrers Hueck auf.

Die herdförmige Verteilung der hyperergischen Entzündung wird mit unbekannten Ursachen oder Faktoren der Blutversorgung in Zusammenhang gebracht. Auf alle Fälle treten die Veränderungen, wie Klinge ebenfalls zeigen konnte, auch am denervierten Gelenk auf. Wiederholt wird die Ähnlichkeit der Veränderungen „zum menschlichen Rheumatismus“ betont, wobei – wie in fast allen Publikationen jener Zeit – niemals zwischen dem rheumatischen Fieber und der chronischen Polyarthritis unterschieden wird. „Eigene Untersuchungen haben uns bestätigt, dass hier dieselben eigenartigen Degenerationszustände an den parablastischen Substanzen im Vordergrund stehen. Das gilt auch für die ASCHOFF’schen Herzknötchen, die von LUBARSCH und SCHMORL ohne nachweisbaren Rheumatismus gefunden worden sind. …“ Dieser Satz war ein Paukenschlag und konnte als Affront des damals noch jungen Klinge gegen den Altmeister der deutschen Pathologie aufgefasst werden. Klinge weiter, selbstbewusst: „Wir kommen zu der Auffassung, dass auch zum Zustandekommen des rheumatischen Komplexes Überempfindlichkeitsvorgänge eine Rolle spielen. Wir halten den anatomischen Beweis am Modellversuch für erbracht: Der Rheumatismus entsteht durch eine allergische (hyperergische) Reaktion des Mesenchyms“.

Ergänzt werden diese tierexperimentellen Arbeiten von 1927 und 1928 durch die gleichfalls glanzvolle Serie von Publikationen der Jahre 1930 bis 1932, die sich mit einer Darstellung der Sektionsbefunde beim akuten Rheumatismus beschäftigten. Sie standen unter dem gemeinsamen Titel Das Gewebsbild des fieberhaften Rheumatismus [26, 27, 28, 29, 30, 33, 34, 35, 36] und beschrieben in Einzeldarstellungen u. a. das rheumatische Frühinfiltrat (Beitrag I), das subakut chronische Stadium des Zellknötchens (II. Mitteilung), die Narbe und das Rezidiv (Teil III), die Aortitis (VI), Befunde an operativ entfernen Gaumenmandeln und die Beziehungen zur Arteriosklerose (XII). In einem besonders ausführlichen Beitrag von über 60 Druckseiten wird auch der chronische Gelenkrheumatismus abgehandelt, der wie die akute Polyarthritis als „verschiedene Erscheinungsform ein und desselben wesensgleichen krankhaften Geschehens“ aufgefasst wird.

Untersuchungen des rheumatischen Frühinfiltrates auf Streptokokken, die zusammen mit dem in Leipzig hospitierenden, später bekannten amerikanischen Rheumatologen Currier McEwen (Abb. 7) vom Rockefeller Institute for Medical Research (New York) durchgeführt wurden, verliefen negativ [34]. McEwen war in den Jahren 1952/53 Präsident der ILAR und Mitautor einer der wertvollsten historischen Publikationen über die Rheumatologie [44].

Abb. 7
figure 7

Currier McEwen [39]

Klar und deutlich fasst Klinge seine Ansichten anlässlich eines Vortrages in Basel Rheuma und Trauma vor den Schweizer Arbeitsmedizinern zusammen [32]. Die Frage, ob eine „einheitliche Erkrankung Rheumatismus“ wissenschaftlich zu definieren sei, wird eindeutig bejaht. Der gleiche anatomische Gewebsschaden könne an verschiedenen Stellen des Körpers seinen Sitz haben: An Teilen des Bewegungsapparates (Sehnen, Faszien, Muskeln, Bändern, Gelenken, Wirbelsäule) und des Nervensystems (Gehirn, Ganglion Gasseri, periphere Nerven, Ischias), in allen Körperhöhlen, im Herz und in den Gefäßen, in den Hals-, Brust-, Baucheingeweiden und den endokrinen Drüsen. „Es gibt also einen Gelenk-, Sehnen-, Muskel-, Knochenhaut-, Gehirn-, Nerven- und Eingeweiderheumatismus und alle sind nur Erscheinungsformen einer einheitlichen Krankheit.“ Und er fährt fort: „Man kann aus der Fülle der Möglichkeiten – Erkrankung einzelner Organe bzw. des Gesamtorganismus – drei Verlaufsformen bzw. Erscheinungstypen unterscheiden, den polyarthritischen, den viszeralen und den peripheren Typ. In jedem Falle handelt es sich um eine Allgemeinkrankheit, wenn auch nur ein Organ, etwa die Halsmuskulatur beim rheumatischen Schiefhals, erkrankt erscheint.“ Und schließlich: „Trotz so großer Unterschiede, wie sie bei der akuten und der chronischen Polyarthritis bestehen, lässt sich doch sicher sagen, dass es sich um verschiedene Erscheinungsformen der gleichen Grundkrankheit handelt.“ Auch den Rheumatismus nodosus bei der akuten und chronischen Polyarthritis wertet er als völlig gleichartig.

Dabei erkennt er das rheumatische Fieber als Infektionskrankheit an, meint jedoch, dass eine Erkältung Vorbedingung der Angina sei, bevor dann der rheumatische Gelenkschaden sich entwickelt. Ausmaß und Ausprägung dieses Gelenkschadens hängt von der mechanischen Aktivität des betroffenen Organs ab. Sie ist am größten in der ständig aktiven Muskulatur des Herzens und des Zwerchfells und, soweit die Peripherie betroffen ist, am Muskel-Sehnen- und am Sehnen-Periost-Übergang. Als „Beweise“ für seine Theorie führt er das bevorzugte Entstehen der Rheumaknötchen an den druckbelasteten Stellen in der Nähe des Ellenbogens und die Klavierlehrerin an, bei der die chronische Polyarthritis an den Fingergelenken beginnt sowie tierexperimentelle Befunde, bei denen man durch Abkühlung bzw. Beklopfen (Auerscher Versuch) von Gelenken bei sensibilisierten Tieren die Entzündung gezielt in das so behandelte Gelenk lenken könne.

Nach seiner Leipziger Zeit hat Klinge nur noch Weniges von bleibendem Wert geschaffen. Er wurde 1934 auf den Lehrstuhl für Pathologie an der Universität Münster, 1941 an die damalige „Reichsuniversität Straßburg“ berufen. Ende 1944 geriet er in Kriegsgefangenschaft. Ab 1946 bekleidete er bis zu seiner Emeritierung 1959 den Lehrstuhl für Pathologie an der wieder gegründeten Universität Mainz. Er verstarb 1974 in Budenheim bei Mainz. Bei Fassbender [13] heißt es: „Seine letzten 15 Lebensjahre verbrachte der Verstorbene in völliger Abgeschiedenheit. Etwa um die Mitte der 50er Jahre war es still um ihn geworden.“

Klinges unitaristische Sicht hat sich als Irrtum erwiesen

Was bleibt von den Klingeschen Untersuchungen? Aus heutiger Sicht erscheinen seine Untersuchungen und seine „unitarische Sicht“ [12] des akuten und chronischen Rheumatismus, die in der Medizin jener Tage – besonders bei den Pathologen – weit verbreitet war, für die weitere Entwicklung der Rheumatologie eher hinderlich gewesen zu sein. Seine Konzeption, in welcher verschiedene rheumatische Erkrankungen letztlich durch Alter und Reaktionslage des Patienten modifizierte Verlaufsformen eines pathogenetisch und pathologisch-anatomisch einheitlichen „Rheumatismus“ sind, hat die deutschsprachigen Kliniker noch einige Jahrzehnte hindurch verwirrt. Wie man heute erkennt, waren es erst die Schweizer Rheumapädiater H. Wissler und G. Fanconi [11, 48], die mit ihren sorgfältigen klinischen Beobachtungen diese fehlerhaften Anschauungen ausräumten. Trotzdem bleibt es das große Verdienst von Klinge, den methodisch bedingten Rückstand der Morphologie gegenüber der Vielfalt klinischer Beobachtungen auf dem Gebiet „rheumatischer“ Erkrankungen nachgeholt und dem „Rheumatismus“ eine pathologisch-anatomische Plattform geschaffen zu haben [12]. In seinen Schlussfolgerungen, einer „einheitlichen Krankheit“ rheumatisches Fieber und rheumatoide Arthritis, irrte also der große Experimentator Klinge. Er könnte sich wohl auf seinen berühmten Vorgänger R. Virchow berufen: „Die falsche Deutung beeinträchtigt nicht die Richtigkeit der Beobachtung.“ Andererseits: Was nützt die richtige Beobachtung, wenn man sie falsch interpretiert?

Siegfried Gräff, der Aschoff-Schüler

Schärfster Kritiker Klinges und seiner Schule war Siegfried Gräff (Abb. 8), der seinem Lehrer – und Schwiegervater – zu dessen 70. Geburtstag die von ihm vertretenen Anschauungen auf den Gabentisch legt [18]. 1887 in Karlsruhe geboren, famulierte er schon 1907 während seines Studiums bei L. Aschoff in Freiburg, promovierte bei dessen Schüler Edgar von Giercke (1877–1947) in Karlsruhe und war von 1912 an mit Unterbrechungen bis zu seiner Hochzeit mit Aschoffs Tochter Hedwig 1920 in dessen Institut tätig. Nach einem Wechsel nach Heidelberg und einer Gastdozentur in Japan erreichte ihn der Ruf auf die Prosektur in Hamburg-Barmbek, die er bis zu seiner Pensionierung 1952 über 30 Jahre innehatte.

Gräff ging in seinen Beobachtungen von der menschlichen Leiche aus

Gräff war ein außergewöhnlich vielseitiger Forscher und unternehmungslustiger, ideenreicher Mensch – was sich auch außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit zeigte. So heißt es in seinem Nachruf [42]: „Ob als Mitglied einer deutschen Fußballmeister-Elf vor dem 1. Weltkriege, ob als Vorgesetzter, der mit seinen Mitarbeitern Kirschkernweitspucken und barfüßig Rasensport übte, ob beim Probedüngen mit Aszites in seinem Garten oder beim Schachspielen bis in den frühen Morgen: immer suchte und fand er das Außergewöhnliche.“ Gräff starb einige Monate vor Vollendung seines 80. Lebensjahres an seinem Alterswohnsitz im Schwarzwald.

Abb. 8
figure 8

Siegfried Gräff (1877–1947, [42])

In seinem wissenschaftlichen Werk – er war einer der Ersten in Deutschland, der sich der Histochemie widmete – ging er stets von Einzelbeobachtungen an der menschlichen Leiche aus. Was die Rheumatologie angeht, so glaubte er nicht, dass man für die Pathogenese der rheumatischen Erkrankungen wesentliche Erkenntnisse aus dem Tierversuch gewinnen kann. „Das Rheumaproblem muss in erster Linie durch die Forschung am Menschen gelöst werden“ – und hier hat er durchaus interessante Befunde zu bieten.

Gräff fasste „Rheumatismus“ als Symptom auf und spracht ihm den Krankheitscharakter ab.

Und er bezeichnete das heutige rheumatische Fieber als „Rheumatismus infectiosus spezificus“, der durch das Aschoff-Granulom charakterisiert sei. Dieses im Tierversuch zu reproduzieren, sei unmöglich. Von einem derart spezifischen Befund unterschied er das vorwiegend im straffen Bindegewebe liegende Sehnenknötchen. Die Ursache der Krankheit sei zwar infektiös, aber der Erreger unbekannt; eine Kokkengenese lehnte er ab. Als zweite zum „Rheumasymptom“ gehörige Krankheitsgruppe bezeichnete er die unspezifische chronische Polyarthritis, unsere heutige rheumatoide Arthritis. Dies sind Anschauungen, die natürlich sofort – schon in der Überschrift – (Die Unhaltbarkeit des symptomatischen Rheumabegriffes v. Neergaard 1941) schärfste Kritiken hervorriefen. Aschoff pflichtete seinem Schüler selbstverständlich voll bei. Man hatte ihn gebeten – wohl kein geringerer als der Generalsekretär der Internationalen Gesellschaft (Jan van Breemen) selbst –, in einem von der Europäischen Rheumaliga geplanten Handbuch für Rheumabekämpfung seine Anschauungen über die von ihm beschriebenen „Noduli rheumatici“ darzulegen.

Da das Werk aus kriegsbedingten Gründen nicht zustande kam, erschien der 1937 verfasste Text 1940 in der Zeitschrift für Rheumaforschung [5]. Aschoff beschränkte sich bei seinen Erörterungen explizit auf die Knötchen im Herzen und hält zumindest an deren Spezifität fest. Auf die Befunde von Klinge geht er u. a. mit folgenden Worten ein: „Daß Klinge in diesen Nekrosen, d. h. in der fibrinoiden Verquellung der Grundsubstanz, ein charakteristisches Merkmal der allergischen Entzündung sieht und aus diesem Grunde auch die beim infektiösen spezifischen Rheumatismus auftretenden Nekrosen zu den allergischen Phänomenen rechnet, ist bekannt. Ich habe mich wiederholt gegen diese einseitige Auffassung gewandt. Alle möglichen Bedingungen können solche fibrinoiden Verquellungen des Bindegewebes hervorrufen.“ Er spricht ganz im modernen Sinne von rheumatischem Fieber und setzt hinzu „oder den spezifischen infektiösen Rheumatismus, den man am besten ‚Bouillaud-Gräff’sche Krankheit‘ nennen sollte.“ Als Erreger aber nimmt er, wie viele Autoren in der damals heraufziehenden Ära der Virologie, ein Virus an. Am Schluss seines Beitrages fasst Aschoff noch einmal sein Credo in fünf Punkten zusammen, so in dem Postulat, der Pathologe könne eine frische rheumatische Karditis nur dann diagnostizieren, wenn rheumatische Knötchen nachgewiesen wurden – womit ihm wohl zuzustimmen ist.