In der aktuellen evidenzbasierten S3-Konsensusleitlinie zur Osteoporose des Dachverbandes deutschsprachiger wissenschaftlicher Gesellschaften der Osteologie (DVO) in der Fassung 2006 werden Empfehlungen zu Diagnostik, Prävention sowie Therapiemöglichkeiten der Osteoporose bei Frauen ab der Menopause und bei Männern ab dem 60. Lebensjahr sowie bei chronischer Einnahme von Glukokortikoiden gegeben. Die Weiterentwicklung sowie die fortlaufende Aktualisierung der bestehenden Leitlinie von 2003 liegt vor allem darin begründet, dass Osteoporose als in der Häufigkeit ansteigende Krankheit gesellschaftspolitisch sowie ökonomisch ein zunehmendes Problem darstellt. Aufgrund der das Gesundheitswesen beherrschenden Diskussionen um finanzielle Ressourcenverteilungen sowie gleichzeitig der Anspruch von Arzt und Patient an die Qualität der Therapie führen zur vermehrten Berücksichtigung einer auf Evidenz basierenden Medizin (die durch objektiven Wirkungsnachweis aufgrund klinischer Studien begründete Medizin) und damit Orientierung an Leitlinien von Fachgesellschaften im klinischen Alltag.

Seitdem im Jahr 1999 der DVO gegründet wurde, haben multidisziplinäre Arbeitsgruppen unter der Federführung von Herrn Prof. Pfeilschifter [16] einheitliche Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der Osteoporose erarbeitet. Diese S3-Leitlinien entsprechen den Anforderungen der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) und der ärztlichen Zentralstelle für Qualität (ÄZQ). Aktuell liegt die Leitlinie 2006 in einer überarbeiteten Version im Internet unter http://www.dv-osteologie.org und http://www.lutherhaus.de/osteo/leitlinien-dvo [9] vor.

Zusammenfassung der wichtigsten Änderungen in der neuen Leitlinienversion 2006

Prinzipiell wird eine Interventionsschwelle für eine medikamentöse Therapie bei einer 30%igen Zehnjahreswahrscheinlichkeit für das Auftreten von osteoporotischen Hüft- oder Wirbelkörperfrakturen empfohlen.

Im Unterschied zu der DVO-Leitlinie aus dem Jahr 2003 werden die postmenopausale Osteoporose und die Osteoporose im Alter in der neuen Version gemeinsam dargestellt. Zwar gibt es viele Besonderheiten im höheren Lebensalter, die für eine getrennte Leitlinie sprechen (z. B. periphere Frakturen im höheren Lebensalter als Sturzfolge), jedoch gibt es zahlreiche diagnostische, prognostische und therapeutische Gemeinsamkeiten, die eine gemeinsame Darstellung dieser beiden Osteoporoseformen sinnvoll erscheinen lassen.

Es werden allerdings Besonderheiten, welche das höhere Lebensalter mit sich bringt, hervorgehoben. Diese Besonderheit spiegelt sich schon in der zentralen Bedeutung des unterschiedlichen Lebensalters für die Empfehlung zur Veranlassung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen wider. Neu wurde in die aktualisierte DVO-Leitlinie die Diagnostik und Therapie der Osteoporose des älteren Mannes aufgenommen [2]. Die Studienlage zur Diagnostik und Therapie des Mannes ist gegenüber der Osteoporose der postmenopausalen Frau immer noch deutlich schlechter. Die Grundlage für die Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie sind zahlreiche neue Erkenntnisse, die in den letzten 3 Jahren publiziert wurden.

Seit der Verabschiedung der DVO-Leitlinie im Jahr 2003 stehen uns viele wichtige neue Ergebnisse aus epidemiologischen Studien in Bezug auf sich ergänzende Risikofaktoren für Frakturen zur Verfügung. Diese Studienergebnisse erlauben eine bessere Risikoabschätzung auf der Grundlage einer Kombination aus mehreren unabhängigen klinischen Faktoren und der Knochendichte, bei der nicht mehr das relative Risiko der einzelnen Faktoren im Mittelpunkt der Risikobetrachtung und der Therapieentscheidung steht, sondern das individuelle absolute Frakturrisiko in einem definierten Zeitraum, welches sich aus einem Algorithmus dieser Faktoren ergibt (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Empfohlene Vorgehensweise in Abhängigkeit individueller Risikoeinschätzung

So findet sinnvollerweise ein Umdenken von der relativen Risikobetrachtung zu einer absoluten Risikobetrachtung statt. Relative Risikobetrachtung bedeutet fixe Schwellenwerte einzelner Risikofaktoren wie z. B. der Knochendichte. Im Gegensatz dazu steht die absolute Risikobetrachtung mit variablen Stellenwerten der einzelnen Risikofaktoren. So wird beim Vorliegen eines oder mehrerer Risikofaktoren eine um einen T-Wert höher liegende Therapieschwelle empfohlen (Tab. 1). In der Zusammenschau der klinischen Gesamtsituation sowie der Risikofaktoren ändert sich somit die empfohlene Therapieschwelle (Abb. 2, dunkelgraue Felder).

Tab. 1 Die 9 wichtigsten Risikofaktoren für osteoporotische Frakturen. (Nach DVO-Leitlinie 2006; [9])
Abb. 2
figure 2

Empfehlung einer spezifischen medikamentösen Therapie (dunkelgrau 3% jährliches Frakturrisiko). (Gemäß DVO-Leitlinie 2006; [9]). Maximal 1 T-Wert nach links bei folgenden, nichtmodifizierbaren Zusatzrisiken: periphere Fraktur, SHF Eltern, rezidivierende Sturzereignisse, Nikotinabusus, Immobilität. Maximal 1  T-Wert nach rechts je nach klinischer Gesamtkonstellation

In den Therapieempfehlungen der Leitlinie 2006 wurden die seit 2003 neu zur Therapie zugelassenen Substanzen Strontiumranelat, Teriparatid und Ibandronat einbezogen.

Schließlich sind auch zahlreiche neue Studien zur Auswirkung osteoporotischer Frakturen auf Morbidität und Mortalität der Betroffenen durchgeführt und ausgewertet worden, welche es erlauben, die Osteoporose als Krankheitsbild besser zu verstehen [3]. Auch diese klinischen Erkenntnisse sind in die neue Version der Leitlinie einbezogen worden.

Zusätzlich gibt die Leitlinie 2006 nun Empfehlungen zur minimal-invasiven operativen Therapie (Vertebroplastie/Kyphoplastie).

Übersicht über die wesentlichen Änderungen: Basismaßnahmen, Diagnostik, Therapie, Verlaufskontrollen

Basismaßnahmen zur Osteoporose und Frakturprophylaxe

Allgemeine Basismaßnahmen erfahren in der neuen Version der Leitlinine 2006 eine höhere Bewertung und sollten vor jeder medikamentösen oder operativen Therapie durchgeführt werden. Letztendlich ist die größtmögliche Senkung von Osteoporose- und Frakturrisiken sowie der Folgekosten für die Gesellschaft am besten durch eine sinnvolle und gezielte Prävention der Erkrankung möglich [1].

Präventive Basismaßnahmen vor medikamentöser oder operativer Therapie

Unter den Begriffen „Koordination, Muskelkraft, Stürze“ sind eine große Anzahl an Basismaßnahmen zur Prävention von Osteoporose und den daraus folgenden Frakturen zusammengefasst. Empfohlen werden hier die regelmäßige körperliche Aktivität mit der Zielsetzung, Muskelkraft und Koordination zu fördern und die Immobilisierung der Patienten zu vermeiden.

Empfehlungen zur Basisdiagnostik

In den Empfehlungen zur Basisdiagnostik sind vor allem ein geriatrisches Assessment und spezifische klinische Untersuchungen („timed-up-and-go-test“ sowie „chair-rising-test“) neu bewertet worden [5]. Ebenso wird eine ausführlichere Anamnese mit Einbeziehung aller Frakturrisiken, und auch des Sturzrisikos beim älteren Menschen, der sinnvollen Einschätzung des individuellen Risikoprofils gerecht (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Indikation zur Basisdiagnostik

Neue Substanzen zur Therapie der Osteoporose – Strontiumranelat, Teriparatid, Ibandronat

Rekombinantes humanes Parathormon (rhPTH 1-34, Teriparatid)

Für die Therapie der manifesten Osteoporose bei postemenopausalen Frauen steht seit November 2003 Teriparatid (rekombinantes humanes Parathormon-Fragment 1-34, rhPTH 1-34) in einer Dosierung von täglich 20 µg s. c. als direkt osteoanabol wirkende Substanz zur Verfügung. Zugelassen ist Teriparatid für einen Therapiezeitraum von 18 Monaten. Bei einmal täglicher (pulsatiler) Gabe wirkt rhPTH 1-34 aktivierend auf Osteoblasten, Osteoklasten bleiben unbeeinflusst. Die Wirkung am G-Protein-gekoppelten membranständigen PTH-Rezeptor führt zu einer Reduktion der Osteoblastenapoptose und vermehrten Rekrutierung von Präosteoblasten. Die Vernetzung der Trabekel, die Kortikalisdicke, der Strukturmodellindex und die biomechanische Belastbarkeit des Knochens werden erhöht.

rhPTH 1-34 vermindert das Frakturrisiko und erhöht die Knochenmasse

In der multinationalen doppelblinden prospektiven plazebokontrollierten Studie mit rhPTH 1-34 (Fracture Prevention Trial; [15]) konnte gezeigt werden, dass die tägliche Gabe von 20 µg Teriparatid das Risiko für neuer vertebrale Frakturen nach im Mittel 19 Therapiemonaten um 65% vermindert. Das Risiko für mittelschwere und schwere Frakturen [10] wurde um 90% vermindert. Biopsiedaten einer kleinen Untergruppe der Neer-Studie zeigen, dass rhPTH 1-34 nicht nur die Knochenmasse bei Patienten mit Osteoporose erhöht, sondern auch positiven Einfluss auf die Mikroarchitektur des kortikalen und trabekulären Knochens nimmt [8].

Strontiumranelat

Seit Oktober 2004 ist Strontiumranelat für die Therapie der postmenopausalen Osteoporose zur Reduktion des Risikos von Wirbelsäulen- und Hüftfrakturen zugelassen. Die Substanz besteht aus 2 Atomen von stabilem, nichtradioaktivem Strontium und Ranelicsäure. Der Anteil stabilen Strontiums beträgt 34%. Strontiumranelat führt zu einer Stimulierung der Replikation von Präosteoblasten und zu einer Hemmung der Aktivität und der Differenzierung von Osteoklasten. Strontium wird in das Hydroxylapatit des neugebildeten Knochens eingelagert. Aufgrund des höheren spezifischen Gewichts wird das Ergebnis der Messung von Mineralsalzgehalt und der Knochendichte (DXA-Messung) beeinflusst.

In den 2 multizentrischen Doppelblindstudien zu Strontiumranelat (SOTI: „Spinal Osteoporosis Therapeutic Intervention“, [13]; TROPOS: „Treatment of Peripheral Osteoporosis Study“, [17]), erhielten postmenopausale Frauen 2 g Strontiumranelat oder Plazebo sowie eine Supplementierung von 1000 mg Kalzium und 400–800 IE Vitamin D3.

Für Strontiumranelat konnte eine signifikante Risikoreduktion für vertebrale wie auch für nichtvertebrale Frakturen nachgewiesen werden.

Ibandronat

Der bisherige Einsatz von Ibandronat erfolgte in der Onkologie in der Behandlung der tumorinduzierten Hyperkalzämie sowie bei ossären Metastasen beim Mammakarzinom. Am 19.09.2005 erfolgte die Zulassung von Ibandronat zur Therapie der postmenopausalen Osteoporose.

Ibandronat wird einmal monatlich in einer Dosierung von 150 mg oral gegeben. Die monatliche Gabe soll – bei gleicher Wirksamkeit – vor allem die Compliance der Patientinnen erhöhen.

Dieser Empfehlung liegen die Ergebnisse der BONE- [4, 7] und MOBILE-Studie [14] zugrunde. In der BONE-Studie konnte nachgewiesen werden, dass Ibandronat bei täglicher Einnahme (2,5 mg) und auch bei einem zyklischen Einnahmeschema mit therapiefreien Intervallen von >2 Monaten die vertebrale Frakturrate verglichen mit Plazebo um 62 bzw. 50% verringern kann. In der als „non-inferiority-trial“ konzipierten MOBILE-Studie wurde die monatliche und die tägliche Einnahme von Ibandronat mit dem primären Endpunkt Knochendichteentwicklung untersucht. Hinsichtlich der Knochendichte der Lendenwirbelsäule schnitten die Patientinnen, die einmal monatlich 150 mg Ibandronat einnahmen, signifikant besser ab als jene, die täglich 2,5 mg einnahmen. Auch für die Messorte Trochanter und Gesamthüfte war ein statistisch signifikanter Unterschied zugunsten der einmal monatlichen Behandlung mit 100 mg und 150 mg Ibandronat nachweisbar.

Therapie der Osteoporose des Mannes

In der aktuellen Version der Leitlinien 2006 erfolgen auch Empfehlungen zur Therapie der Osteoporose des Mannes: Alendronat und Teriparatid. Die Zulassung für Teriparatid besteht zurzeit nur in der Schweiz. Auch bei der Therapie der männlichen Osteoporose ist die Therapiedauer auf 18 Monate begrenzt.

Bei allen sonstigen medikamentösen Therapieoptionen (außer Teriparatid) beträgt der empfohlene Zeitraum der Therapie weiterhin 3–5Jahre. Anschließend wird eine Reevaluation anhand der Leitlinie und ggf. eine Weiterführung der Therapie unter Abschätzung des individuellen Risikos empfohlen.

Operative Verfahren: Empfehlungen zur Vertebroplastie und Kyphoplastie

Beim Vorliegen einer Osteoporose ist das perioperative Management von besonderer Bedeutung, da gemäß den DVO-Leitlinien 2006 zuvor eine medikamentöse Therapie eingeleitet werden sollte. Diese besteht zum einen aus der Supplementierung mit 1000 mg Kalzium und 800 IE Vitamin D sowie entweder einer antiresorptiven oder osteoanabolen Therapie.

Gemäß den aktuellen Empfehlungen der DVO-Leitlinie 2006 sind Vertebro- und Kyphoplastie Therapieoptionen zur Behandlung von lokalen, frakturbedingten, über 3 Monate andauernden Schmerzen, die nach multidisziplinärer Abwägung im Einzelfall im Rahmen klinischer Studien mit Langzeitbeobachtung in Frage kommen [12]. Eine evidenzbasierte Empfehlung zu Indikationsverfahren kann durch die Arbeitsgruppe der DVO-Leitlinie derzeit nicht gegeben werden. Gemäß den DVO-Leitlinien 2006 lassen sich die Verfahren Kypho- und Vertebroplastie folgendermaßen nach EBM-Kriterien zusammenfassen: Sie erscheinen beide nützlich für die Behandlung schmerzhafter Wirbelkörperfrakturen zu sein [11]. Die Kyphoplastie scheint momentan als das sicherere Verfahren. Als hauptsächliche Indikationsgebiete werden gesehen: schmerzhafte osteoporotische Wirbelkörpersinterungsfrakturen und schmerzhafte oder destabilitätsgefährdete Wirbelkörpermyelome. Die Anwendungsmöglichkeiten bei Knochenmetastasen oder bei traumatischen Wirbelkörperbrüchen können nach der aktuellen Studienlage nicht ausreichend beurteilt werden.

Der wichtigste postoperative Effekt dieser kombinierten operativen und medikamentösen Versorgung bei vorliegenden osteoporotisch bedingten Wirbelkörperfrakturen liegt vor allem in der sofort möglichen Mobilisierung des Patienten.

Verlaufskontrollen

Neuerungen in den Vorschlägen zur Verlaufskontrolle bestehen vor allem in der Empfehlung zur DXA-Messung: Zur Verlaufsbeurteilung der Indikation für eine medikamentöse Therapie werden inzwischen 2 Jahre empfohlen. Ebenso wird erwähnt, dass zur Abschätzung des medizinischen Therapieerfolgs die Osteodensitometrie nur bedingt tauglich ist [6]. Im klinischen Alltag hat sich jedoch die DXA-Messung in einjährlichem Abstand bewährt, da dies die Compliance der Patienten verstärkt.

Fazit für die Praxis

Die aktualisierte DVO-Leitlinie 2006 zur Behandlung der Osteoporose legt Schwellenwerte fest, ab welchen eine rationale medikamentöse Therapie der Osteoporose erfolgen sollte. Als Interventionsschwelle wird eine 30%ige Zehnjahreswahrscheinlichkeit für das Auftreten von osteoporotischen hüftgelenknahen Frakturen oder Wirbelkörperfrakturen empfohlen. Aufgrund der Verfügbarkeit europäischer epidemiologischer Daten ermöglicht die neue Leitlinie basierend auf dem Alter, der DXA-Messung und mehreren weiteren Risikofaktoren die Abschätzung eines individuellen absoluten Frakturrisikos. Es stehen zahlreiche wirksame nichtmedikamentöse, medikamentöse und auch minimal-invasive operative Verfahren und Möglichkeiten der Therapie zur Verfügung. Die Einzelheiten zur Diagnostik, Differenzialdiagnostik und individuellen Therapieentscheidung lassen sich unter http://www.dv-osteologie.org pdf-Datei, Kurz-, Langfassung und Kitteltaschenversion einsehen und herunterladen.